Als wir ins Wohnzimmer kamen, begrüßte uns Megans gleichmäßige Stimme.
„There was another light in the room now, a thousand times brighter than
the night-lights, and in the time we have taken to say this, it had been in all
the drawers in the nursery, looking for Peter's shadow, rummaged the wardrobe
and turned every pocket inside out …“
Uäch. Ami-Englisch, ganz viel davon.
Als ich hochsah, erblickte ich Kitty mit Megan auf Betsy, beide bäuchlings
auf der Fleecedecke liegend. Megan hielt inne und sah zu uns.
„Hey Jungs!“ Sie lächelte uns freundlich an und sah von mir zu Rubin. Bei
ihm wurde ihr Blick fragend. „Na, habt ihr’s überstanden?“ Nach einer
Sekunde – noch vor Rubins Antwort – wurde ihr Lächeln um
einiges breiter.
Äh …
Nein. Darüber wollte ich nicht nachdenken. Sollte ich auch nicht,
denn ich wusste auch so, was für paranoide Schlüsse ich daraus ziehen und wie
ich auf diese Schlüsse reagieren würde.
Megan wusste von nichts. Garantiert nicht. Bitte nicht.
„Vyvyan macht große Fortschritte.“
„Das freut mich zu hören.“
„Meinst du, Vyvy besteht den Test?“, fragte Kitty Rubin mit großen,
hoffnungsvollen Augen.
Und er warf doch echt Megan einen Blick zu, bevor er Kitty anlächelte und,
freundlich wie eh und je, antwortete: „Ich bin guter Dinge, ja.“
Na, wenigstens einer.
„Super!“, rief Kitty und strahlte mich an, „Heißt das, du musst nicht mehr
so viel lernen und hast wieder mehr Zeit?“
War ja klar gewesen, dass sie das so interpretieren würde. Ich hob die
Augenbrauen und sah mit großen fragenden Augen zu ihm. „Ja, Rubin, heißt das,
ich muss jetzt nur noch jeden dritten oder vierten Tag herkommen?“
„Im Gegenteil“, erwiderte er zuckersüß lächelnd, „es bedeutet, dass wir uns
extra reinhängen müssen, damit wir das Beste aus dir rausholen.“ Er wandte sich
wieder an Kitty. „Ich weiß, dass das nicht toll für dich ist, aber du willst
doch sicher auch, dass Vyvyan einen guten Abschluss schafft, nicht
wahr?“
„Klar!“ Sie nickte und bekam dann plötzlich einen besorgten
Gesichtsausdruck. „Aber du darfst ihm nicht böse werden, wenn er bockig wird,
okay? Mum sagt, Vyvy wird immer so bockig, wenn er vom Lernen frusiert ist,
dass sie ihn in den Hintern treten möchte.“
„Frustriert, Kitty-Maus“, korrigierte ich sie und versuchte das Schmunzeln
seitens der beiden Amis zu ignorieren, „mit T und R.“
„Keine Angst“, antwortete Rubin, „damit ich böse werde, muss er schon etwas
Schlimmeres anstellen.“
Ah, toll. Ich dachte, wir hätten gestern abgeha…
„Und bisher macht er sich super, auch, wenn wir richtig lange lernen
müssen.“
„Ich hab’s gewusst, Mum übertreibt! Zu mir ist er nämlich auch nie bockig“,
erklärte sie mit ernstem Gesichtsausdruck, bevor sie wieder lächelte, „Vyvy ist
eben einfach toll! Nicht wahr?“
Diesmal warf er nicht Megan, sondern mir einen Blick zu – einen
höchst amüsierten. Bastard.
„Doch, das ist er.“
Kitty strahlte ihn an, als hätte sie ihn in diesem Moment zu ihrem neuen
besten Freund erkoren. Das musste nun echt nicht sein. Ebenso wenig, wie das
Kribbeln sein musste, das mich bei seiner Antwort kurz durchfahren hatte. Das
war alles andere als gut.
Wenigstens musste ich nicht weiter über seine Antwort an sich nachdenken,
denn dass er das nur Kitty zuliebe bestätigt hatte, war klar. Was das Kribbeln
noch uncooler machte.
„Helft ihr vorlesen?“, fragte meine Lieblings-kleinere-Schwester da und
zeigte auf das Buch in Megans Händen. Peter Pan. Aus dem sie eben noch auf Englisch
vorgelesen hatte.
„Äh – ich kann nicht“, antwortete ich schnell, „ich muss das
Tiramisu machen gehen. Sonst gibt’s heute keinen Nachtisch und das wäre doof,
meinst du nicht auch?“
„Doch sehr!“ Kitty verzog das Gesicht. „Und du?“
Rubin schüttelte den Kopf und sah zu mir. „Ich dachte, du zeigst mir, wie
man Tiramisu macht?“
„Kann ich, muss ich aber nicht. Ist ja sozusagen ein Bonus heute.“
„Ich würde es gerne wissen.“
„Dann komm.“ Ich sah zu Kitty. „Ist das okay für dich? Oder möchtest du
auch helfen?“
„Nein“, antwortete sie ohne zögern, „ich hör lieber weiter Peter Pan.“
Englisch ausgesprochen. Wunderbar. „Megan liest ganz toll vor – sie
macht die Stimmen fast so gut wie du!“
Ganz wunderbar. Wirklich. Megan ging mir langsam aber sicher auf den
Sack – und das, obwohl ich wusste, dass sie nichts dafür konnte.
Okay, fast nichts.
***
Als wir in der Küche standen, guckte ich mir noch einmal die Zutaten auf
der Anrichte an. Zucker, Eier, Amaretto, Mascarpone, Löffelbiskuits und Kakao.
Ja, alles da, super.
Rubin schlang von hinten seine Arme um meinen Bauch und drückte sein
Gesicht in meine Halsbeuge.
„Liest du mir auch mal was vor? Mit Stimmen?“
Wie konnte er so anschmiegsam sein und sich trotzdem über mich lustig
machen? Aber ich würde mich garantiert nicht dafür schämen, ein guter Bruder zu
sein – oder generell gut mit Kindern umgehen zu können. Und noch viel
wichtiger:
„Hast du sie noch alle?!“ Ich machte mich von ihm los und nahm eine
Armlänge Abstand. „Sie sind gleich nebenan und die Küchentür ist offen!“
„Die Wohnzimmertür aber nicht“, erwiderte er gelassen, „Die ist original.
Glaub mir, die würden wir hören.“
Klar, würde ich garantiert, wenn er mich wieder so küsste wie vorhin in
seinem Zimmer. Ja, vom Hirntodland aus würde ich alles mitbekommen.
„Ich lasse es lieber nicht drauf ankommen“, entgegnete ich und zeigte dann
auf die Kaffeemaschine, „Weißt du, wie man die benutzt?“
Er nickte. „Natürlich.“
Na, so wie er sich ansonsten in der Küche auskannte, war das alles andere
als natürlich. Aber das behielt ich mal lieber für mich.
„Gut, machst du mir dann bitte Espresso? So … eine normale Kaffeetasse
voll?“
„Sicher“, antwortete er und schaltete die Maschine ein, „aber die muss erst
warm werden.“
„Dann kannst du schon mal eine große und eine kleine Schüssel nehmen und
die Eier trennen: Vier Eigelb kommen in die große, zwei Eiweiß in die kleine.“
„Im Eiertrennen bin ich nicht so gut.“
„Dann lernst du’s heute. Ich hab sechs mitgebracht und du hast noch welche
im Kühlschrank.“
Er holte die Schüsseln hervor und nahm eines der Eier in die Hand. Ein
bisschen skeptisch betrachtete er es, dann drehte er sich zu mir, kam die
eineinhalb Schritte, die uns trennten auf mich zu und fragte: „A kiss for
good luck?“
Ich rollte die Augen. Also bitte, so schwierig, dass er Glück dazu
brauchte, war das jetzt wirklich nicht. Aber bevor es wieder in eine
Kuschelgrundsatzdiskussion ausartete, bei der ich ihm dann am Ende noch mehr
Rech… will sagen, Erlaubnisse einräumte, versicherte ich mich, dass wir alleine
waren, beugte mich lieber vor und drückte meine Lippen auf seine.
„Nun mach aber!“
Er starrte mich schon wieder ungläubig an – was denn, er hatte
doch einen gewollt! Und nach eben in seinem Zimmer kam es auf einen mehr oder
weniger auch nicht mehr an. Leider.
Im nächsten Augenblick grinste er erfreut. „Zu Befehl, Chef!“ Und dann
knallte er das Ei mit viel zu viel Energie gegen den Schüsselrand, so dass der
Inhalt an beiden Seiten herunterlief und der Dotter platzte.
„Äh …“, machte er und ich konnte nicht anders – ich musste
einfach über seinen verdatterten Gesichtsausdruck lachen.
Er starrte mich einen Moment lang an und gerade, als ich doch tatsächlich
einen leichten Rotschimmer entdeckte, brummelte er: „That ain’t very nice,
y’know?“ und öffnete mit der Linken den Küchenschrank unter der Spüle, um
den Mülleimer hervorzuziehen und die Eierschale wegzuwerfen.
„Sorry“, erwiderte ich automatisch – er hatte ja Recht,
eigentlich, und er hatte bei mir bisher noch nie gelacht, aber ich konnte
einfach nicht anders, „es ist nur … was denkst du, warum man sagt,
dass man etwas oder jemanden wie rohe Eier behandelt?“
Er warf mir einen säuerlichen Blick zu, während er die Schüssel, Hände und
Anrichte säuberte. „Wieso kommst du nicht einfach her und zeigst mir, wie es
geht?“
Kein Problem. Ich stellte mich neben ihn, gerade, als er die Schüssel kurz
mit einem Küchentuch abrieb, und wollte nach einem Ei greifen, aber er hielt
meine Hand fest.
„Ich meinte so“, sagte er, nahm selbst ein Ei und legte meine Hand über
seine, „Vom bloßen Zusehen lernt man nicht viel; man muss es schon selber
spüren.“
Ich zog meine Hand zurück. „Vergiss es.“ Garantiert nicht.
„Wie…“ Er stoppte, sah auf seinen Handrücken und erinnerte sich dann wohl
daran, dass ich auf Händchenhalten generell nicht besonders euphorisch
reagierte. „Oh.“
Ja, oh. Dann konnten wir ja jetzt weitermachen.
„Was ist jetzt eigentlich dein Problem mit meinen Händen?“
Oder auch nicht.
„Ich habe kein Problem mit deinen Händen.“
„Und was war das eben? Und das gestern?“
Nichts, nur meine Anti-Händchenhalten-Politik.
„Nichts gegen deine Hände im Speziellen.“
„Also gegen Hände im Generellen?“
„Nichts gegen Hände, nur gegen Händchenhalten.“ Ich seufzte und deutete auf
das Ei, das er immer noch hielt. „Können wir jetzt dann weitermachen?“
„Wenn du mir sagst, warum du so allergisch aufs ‚Händchenhalten‘
reagierst.“
Weil es ganz klar Beziehungssache war. Niemand hielt mit einer Affäre oder
einem ‚Kumpel mit Extras‘ Händchen. Händchen halten bedeutete: Ich gehör zu ihm
und er zu mir. Rubin gehörte nicht zu mir und ich nicht zu ihm. Auch nicht im
stillen Kämmerlein. Und das würden wir auch nie – ergo kein
Händchenhalten.
„Wenn du es dir nicht denken kannst, werde ich es dir auch nicht erklären.“
„Warum nicht?“
„Wieso sollte ich?“, entgegnete ich schärfer als gewollt, „Du weißt eh
schon viel mehr über mich als umgekehrt.“
„Du möchtest etwas über mich wissen?“ Sein Gesicht hellte auf. „Was denn?“
„Nichts. Könntest du jetzt bitte das nächste Ei schlachten?“
Er stupste meine Schulter mit seiner an. „C’mon! Ansonsten wäre es
dir nicht aufgefallen.“
Wenigstens schlug er das Ei dann gnädigerweise gegen den Schüsselrand. Zu
vorsichtig, diesmal.
„Keine Ahnung. Ich weiß schließlich wirklich nichts, du aber kennst schon
meine Familie, meine Freunde, meinen Lesegeschmack …“ Beim dritten Versuch
war die Schale genug angeknackst. „Jetzt hältst du das Ei mit beiden Händen,
teilst es, dann kannst du das Eiweiß rausfließen lassen …“ Ich nahm ein
zweites und machte es ihm kurz vor. „Siehst du?“ Ich ging an ihm vorbei, warf
die Schale in den Müll und wusch meine Hände.
„Hm …“, machte er und versuchte – das Eigelb plumpste mit in
die Eiweiß-Schüssel. „Mist. Das ist echt tricky.“
Nicht wirklich, aber das rieb ich ihm nicht unter die Nase. „Nimm die
größere Hälfte der Schalen, um es rauszufischen. Geht am einfachsten so, sogar,
wenn der Dotter ausläuft.“
Er tat wie geheißen. Sehr schön.
„Nun brauchst du nur noch die Eigelbe“, erinnerte ich ihn und gab ihm einen
Teller für das Eiweiß. Er nickte.
„Dann ändern wir das“, knüpfte er an das vorherige Thema an, während er
sich auf das nächste Ei konzentrierte, „morgen. Überleg dir, was du wissen
willst, und ich erzähl’s dir.“ Wieder zu viel Kraft, wieder flutschte der
Dotter raus, aber zum Glück landete er intakt auf dem Teller. Rubin fischte ihn
raus.
„Oder du kannst auch Samstag einfach mitkommen, dann lernst du meine
Freunde kennen – oder Silvester. Das wäre noch besser, dann sind
nämlich alle da.“
Äh, nein?
„Über Silvester haben wir gesprochen.“
„Ich habe versprochen, eine Einladung zu euch auszuschlagen“, erwiderte er
und nahm das letzte Ei, „das bedeutet nicht, dass du nicht mit mir mitkommen
kannst.“
„Ich werde das neue Jahr sicher nicht freiwillig auf einer Party
begrüßen!“
„Wieso nicht? Deine ‚Freunde’ wären nicht dabei; du könntest dich
entspannen.“
„Ob sie dabei sind oder nicht ändert an der Sache nichts.“
Er hielt inne uns sah mich verwundert an. „Du magst echt keine Partys? Überhaupt
keine?“
„Nein.“
„Mh“, machte er, „wieso?“
„Zu laut, zu stickig, zu viele Leute, die mir nichts
bedeuten – am besten besoffen – und dazu meistens die
falsche Musik. Warum sollte ich so etwas mögen?“
Er musterte mich schweigend und zuckte schließlich mit den Schultern. „Weil
es Spaß macht, Zeit mit seinen Freunden zu verbringen – zumindest,
wenn man sie mag.“
Tja. Das war wohl die Krux bei der Sache.
„Jetzt mischt du Amaretto, Mascarpone und Puderzucker zum Eigelb.“
Thema beendet. Ich wünschte, bei Mum und Sue würde das auch so einfach
gehen.
***
„Jetzt den Rest der Creme darauf verteilen oder kommt noch was?“
Es war fast zwölf, aber das Tiramisu sah endlich halbwegs nach Tiramisu
aus. Und so, wie Rubin sich angestellt hatte, hatte ich die Hoffnung, dass er
das Risotto auch nicht verhauen würde.
„Nein, nur noch den Rest der Creme, danach kommt als krönender Abschluss
das Kakaopulver oben drauf.“ Ich schnappte mir ein Löffelbiskuit und biss
hinein. Langsam bekam ich – nun, zwar nicht direkt Hunger, aber
Appetit – wenigstens hatten wir Englisch schon hinter uns. Ich trat
wieder zu ihm und sah ihm dabei zu, wie er die Creme glattstrich. „Ziemlich
einfach, nicht?“
„Ja. Könntest du mir das Rezept trotzdem wieder aufschreiben?“
„Sicher, brauchst ja die Mengenangaben.“
Er sah mich über seine Schulter an.
„Danke.“ Dann erblickte er das Biskuit und grinste. „Darauf habe ich auch
Lust.“
Er wollte zum Tisch, auf den ich die Packung gelegt hatte, damit sie nicht
im Weg herumlag, aber ich hielt ihn am Arm fest.
Was brachte einem eine Lehrposition, wenn man sie nicht ausnutzen konnte?
Genau: Gar nichts.
„Beim Kochen wird nicht genascht, das verdirbt den Appetit.“
„Tu naschst auch.“
„Ich koche nicht, ich gebe Anweisungen.“
„Und das hier muss deiner eigenen Aussage nach erst noch ein paar Stunden
in den Kühlschrank, also verderbe ich mir gar nichts.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Regeln sind Regeln.“
Er grinste. „Das ist mein Haus; hier mache ich die Regeln.“
„Mag sein, aber es sind meine Löffelbiskuits. Ich habe sie bezahlt.“
„Du hast sie für mich mitgebracht.“
„Nur die, die ins Tiramisu kommen. Der Rest gehört mir.“
Er sah von dem Biskuit in meiner Hand zu meinem Gesicht und das Grinsen
wurde breiter, schelmisch.
„Wie du willst.“
Einen Moment lang dachte ich, er würde irgend etwas tun, doch er drehte
sich nur zurück zum Tiramisu und begann das Kakaopulver darüber zu streuen.
Also ließ ich ihn wieder los und aß mein Biskuit zu Ende.
„Und? Bestanden?“ Grinsend präsentierte er mir sein Werk und sah mich abwartend
an.
„Das sehen wir, wenn wir davon probieren – der ultimative Test
ist sowieso Kitty, nicht ich.“
Er öffnete den Kühlschrank und versuchte, genug Platz für das Tiramisu zu
machen.
„Könntest du die Schüssel kurz abspülen und dann in die Maschine tun?“
„Sicher.“ Ich ging zur Spüle, legte Schüssel, Kelle und die anderen
Utensilien, die wir benutzt hatten, hinein und begann. Als nur noch die Kelle
übrig war, schloss Rubin mit einem leisen „Na also!“ den Kühlschrank und ging
dann hinter mir vorbei, wahrscheinlich, um die Kaffeemaschine auszu…
Ich zuckte zusammen, ließ die Kelle ins Spülbecken fallen und drehte mich
ruckartig um.
„Was soll das?!“
Der Mistkerl hatte mich in den Nacken gebissen, einfach so! Gut, nicht so
fest, dass es wehgetan hätte, aber – ich war da empfindlich, verdammt
noch mal!
… Was er natürlich wusste und den war zufriedenen Gesichtsausdruck
erklärte.
„Was hast du denn? Ich bin fertig mit Kochen, also solltest du nichts
dagegen haben, wenn ich ein bisschen naschen will.“
„Dann nimm dir einen Keks, nicht mich.“
„Wo bliebe da der Spaß?“
Ja, war auch sehr spaßig mit Kitty im Nebenzimmer. Wusste er denn nicht,
wie schnell sich kleine Schwestern zu den ungünstigsten Zeitpunkten in ein
Zimmer beamen konnten?
„Bastard“, grummelte ich, drehte mich demonstrativ wieder um und fischte
die Kelle aus dem Spülbecken.
„Na-na-na“, sprach’s, trat an mich heran und legte die Hände auf meine
Hüften, „Be nice. Sonst muss ich am Ende heute doch noch auf eine
Kuscheleinheit bestehen. Als Entschädigung für die harschen Worte.“
„Kitty ist hier“, erwiderte ich und schob seine Hände bestimmt von mir;
dabei tropfte Wasser von der Kelle auf den Boden. „Und du hast behauptet, du
würdest dich ‚beherrschen können‘, wenn wir nicht alleine sind.“
„Wir sind alleine.“
Ich ließ die verdammte Kelle wieder ins Spülbecken fallen und drehte mich
noch einmal zu ihm um.
„Sind wir nicht“, zischte ich, aber Rubin schien unbeeindruckt.
„Vyvyan, entspann dich“, erwiderte er und hob die Hand, um schon
wieder an einer meiner Strähnen herumzuzupfen. Konnte er das bitte lassen? „Die
beiden liegen oben auf Betsy und kommen da nicht so schnell runter. Und wenn würden
wir sie hören.“
Ich wiederhole: er vielleicht.
Er kam näher, drängte mich gegen die Anrichte und beugte sich vor. Mein
Blick raste von ihm zur offenen Küchentür und wieder zurück. Das war keine gute
Idee – ich konnte es mir nicht leisten, wieder die Zeit zu vergessen
wie vorhin in seinem Zimmer. Hirntodland hatte sich super angefühlt, aber nur,
weil die Tür verschlossen gewesen war! Ich spürte Rubin Atem auf meiner Haut
und erschauderte. Vielleicht, nur kurz – er hatte ja gesagt, er würde
sie hören – seine Finger waren auch schon wieder unter meinem Shirt
und – war da ein Geräusch gewesen? Ein Knarzen?!
Ich schob ihn von mir und sah zur Küchentür. Nichts. Trotzdem, mein Puls
war auf Hochtouren – und nicht auf die angenehme Art.
„Vyv…“, begann er und wollte wieder näher kommen, aber ich hielt ihn
auf Abstand und unterbrach ihn.
„Nein!“ Ich trat beiseite, um nicht mehr zwischen ihm und der Anrichte
eingequetscht zu sein, und verschränkte die Arme. „Rubin, das ist mir zu viel!“
Er sah mich erschrocken an. „Sorry, ich …“ Mein Handy piepste laut und
unterbrach ihn. Wunderbar, SMS bedeuteten auch immer so schöne Sachen in meiner
Welt, wie Mütter, die irgendetwas von einem wollten oder Freundinnen, die einen
daran erinnerten, dass man sich noch nicht von ihnen getrennt hatte.
Rubin kam einen kleinen Schritt auf mich zu, behielt aber genug Abstand.
„Es tut mir leid, Vyvyan. Ich wollte dich nicht überfordern oder
bedrängen.“ Er streckte seine Hand aus, zog sie dann aber wieder zurück und
zuckte schief lächelnd mit den Schultern. „Ich bin dir einfach gerne nah. Ich
habe nicht nachgedacht.“
Er … was?
Konnte er nicht einfach sagen, dass seine Hormone mit ihm durchgegangen
waren oder er gerade schrecklich geil war oder etwas Ähnliches? ‚Ich bin dir
gerne nah‘, das hörte sich so … ugh an. Ich meine, ich wusste, dass
er mir gerne auf die Pelle rückte, das hatte ich unweigerlich mitbekommen,
aber – aber wenn er das so formulierte und es auch noch
so … ehrlich (?) sagte, dann bekam das Ganze unschöne Konnotationen.
Ich suchte einen Moment lang in seinem Gesicht nach etwas, das der
Situation eine andere Färbung geben würde – Spott, von mir aus,
oder – keine Ahnung was – irgendwas – ich
fand nichts. Um weder antworten noch weiter darüber nachdenken zu müssen, nahm
ich mein Handy aus der Hosentasche und öffnete die SMS.
Du, Vic& ich, diesen Samstag bei mir zocken?
Theo.
Äh, nein. Nein, nein, nein!
Ich verzog mein Gesicht.
Nein.
Scheißegal, ob ich eine gute Ausrede fand oder nicht, aber ich würde den
Samstag nicht mit Theo und Vic auf Theos Bett mit dem Controller in der Hand
verbringen. Ich hatte die beiden Hampelmänner erst vorgestern gesehen und auch
wenn sich der Kinobesuch wie eine weit entfernte Erinnerung anfühlte, so war es
dennoch noch keine achtundvierzig Stunden her. In keinem möglichen Universum
hatte ich die Pflicht, mich schon wieder für übermorgen zu verabreden. Hallo?
So eng war die Freundschaft noch nicht einmal in ihren Köpfen. Maximal noch ein
Treffen während der Ferien, das musste reichen – eigentlich, da sie
wussten, dass ich dauernd bei Rubin rumhockte, sollten sie den gesunden
Menschenverstand – und den Anstand – haben, sich mit
einem Treffen zufrieden zu geben. Mal ehrlich, wieso wollten sie auch mehr? Und
da hieß es im Fernsehen immer, Frauen würden dauernd aufeinanderhocken, aber
hier in der Gegend schien das bei Männern nicht besser zu sein. Rubin war das
beste Beispiel, der wollte auch immer –
La la la! Falsche Richtung, liebe Gedanken.
„Da kannst du nicht.“
Äh, wie?
Ich sah auf, zu Rubin, der plötzlich neben mir stand und auf mein Display
sah. Zitronengras, mal wieder.
„Samstag wolltest du mit uns mitkommen.“
Wann hatte ich da denn bitte zugestimmt? Zocken mit Theo und Vic oder
unbekanntes Unternehmen mit Rubins Freunden – das war doch wie sich
zwischen Salat ohne Dressing und veganen Muffins entscheiden zu müssen: Von dem
einen wusste man, dass es scheiße war, weil man es schon mal probiert hatte,
und vom anderen wusste man es, weil es vegane Muffins waren. Wieso sollte
ich Bock auf Rubins Clique haben, wenn ich noch nicht einmal Bock auf meine
eigene hatte? Hirnsinnig.
„Wollte ich, ja?“, fragte ich betont unbegeistert und er grinste
spitzbübisch.
„Oder doch Silvester?“ Bevor ich dazu was sagen konnte, zuckte er
mit den Schultern. „Das kannst du dir ja noch überlegen. Samstag kannst du aber
so oder so nicht, denn wenn du nicht bei deiner Familie bleibst, will ich
Kuschelstunden einlösen.“
„Von den unendlich vielen, die du hast.“
Er grinste. „Genau!“ Dann stupste er mich mit dem Ellenbogen an. „Komm
schon, du willst da doch eh nicht hin, ich seh’s dir an der Nasenspitze an.“
„Eigentlich hatte ich aber sehr wohl vor, bei meiner Familie zu bleiben.“
„Dann tu das“, erwiderte er, „Ich bin ja auch verabredet. Ich dachte nur,
du hättest vielleicht gerne eine Ausrede – wenn du nur für eine
Stunde oder zwei herkommst, hast du den Rest des Tages für Kitty und musst
niemanden direkt anlügen.“
Hmmm …
Stimmt. Ich könnte sagen, dass ich zu Rubin muss, ohne Zeit- oder
Tätigkeitsangaben. Theo würde sich seinen Teil denken und ich wäre aus dem
Schneider. Und sogar Mum müsste ich nicht anlügen, falls sie mittels ihrer
mumschen Hexenkraft Wind davon bekommen sollte – war ja nicht meine
Schuld, wenn ich dann schon früh wieder von Rubin zurückkam.
Obwohl – Moment! Mum würde nicht davon erfahren – wie
auch? Sie ließ mein Handy schließlich in Ruhe und anrufen würde weder Theo noch
Vic, wenn ich absagte. Und die beiden würden auch ein simples ‚Sorry, aber
möchte zum ersten Mal in den Ferien einen Tag mit meiner kleinen Schwester
verbringen‘ reichen. Warum also sollte ich schon wieder zu Rubin dackeln, hm?
Dafür gab’s nun wirklich keinen …
„Außerdem müssen wir noch ganz viel experimentieren. Die Ferien sind so arg
kurz.“ Er sah mich an und zwinkerte mir zu, aber so ganz nahm ich ihm die
Leichtigkeit nicht ab.
Die Ferien waren also arg kurz, ja? Irrte ich mich, oder war das nur dann
relevant, wenn ‚das hier‘ mit Schulanfang endete? Es müsste nicht enden;
wir könnten einfach sagen, dass wir die Nachhilfe fortführten, um mich auf die
Abschlussklausuren im Frühling vorzubereiten. Aber Rubin ging offenbar trotzdem
davon aus. Hm.
War das jetzt gut oder schlecht?
Da fiel mir etwas ein, was er vorhin im Zimmer gesagt hatte.
„Wie meintest du das, wir müssten ‚alle Szenarien durchspielen‘?“ Was genau
bedeutete für ihn ‚alle‘? Alle-alle?
Er musterte mich kurz, lächelte dann und hob die Hand. Mitten in der
Bewegung stockte er, warf einen prüfenden Blick zur Küchentür und lauschte,
dann wandte er sich wieder mir zu und zupfte an einer meiner Strähnen.
Was zum Hades hatte er heute mit meinen Haaren?!
„Alle, die du ausprobieren möchtest“, erwiderte er leise, „Wie gesagt: Müssen
tun wir gar nichts. Wollen dagegen …“ Sein Lächeln wurde zu einer seltsam
anziehenden Mischung aus verschmitzt, schmutzig und verschwörerisch und mein
Kopf wurde mit Bildern geflutet. Von ihm und mir, von Bettlaken und Schweiß und
Kratzspuren. Seltsamerweise war ich mir sicher, dass da Kratzspuren über
bleiben würden.
„Alle?“, fragte ich ohne nachzudenken, einfach nur, um die Bilder
auszulöschen, bevor er sie mir an der Nasenspitze ansah, „Auch eine Orgie?“
Kurze Stille, dann: „Willst du an einer Orgie teilnehmen, Vyvyan?“
Nicht direkt Schulstimme, aber dennoch auch ohne die Leichtigkeit, die so eine
dumme Frage eigentlich zurückbringen sollte. Der fragte mich das doch nicht im
Ernst, oder? Was dachte er denn, dass ich zwar noch keinen Bock auf Pärchensex
mit ‘nem Typen hatte, aber für eine Orgie mit fünf Typen sehr wohl zu
haben wäre? Fünf weitgehend unbekannten Typen, wohlgemerkt, denn ich kannte
keine fünf schwulen Kerle – nicht hier, zumindest.
Ich hatte nicht vorgehabt, auf diese dämliche Gegenfrage überhaupt zu
antworten, aber Rubin hielt meinen Blick und hatte offenbar seinerseits nicht
vor, mich ohne Antwort davonkommen zu lassen. Bastard.
„Natürlich nicht“, antwortete ich schließlich.
„Gut.“ Da, ein kleines Lächeln. „Ich auch nicht. Einen Dreier will
ich übrigens auch nicht, nur damit wir das geklärt hätten. I wanna have you
all to myself.“
Er wollte … also, wenn ich das jetzt richtig verstanden hatte,
dann wollte er mich ganz für – also eben kein Gruppensex. Genau.
Passte mir super, da ich grundsätzlich keinen Sex haben wollte. Bilder und
Schwulsein und Zitronengrasshampoo und Grübchen und Kratzspuren hin oder her!
Sowieso – hätten wir diese Unterhaltung ein paar Stunden früher
geführt, hätten wir gar nicht so weit gehen und mögliche Orgien und Dreier
besprechen müssen, sondern hätten ein anderes, naheliegenderes Desaster
verhindern können.
„Ich wollte ja noch nicht mal küssen“, grummelte ich vor mich hin, als ich
mich wieder der mittlerweile sicher vereinsamten Kelle in der Spüle zuwenden
wollte. Wirklich bewusst, was ich gerade gesagt – und vor allem, dass
ich es ausgesprochen statt nur gedacht hatte, wurde mir erst, als Rubin fragte:
„Wen wolltest du nicht mal küssen?“
Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig zu ihm, um die Erkenntnis in seinem
Gesicht aufflackern zu sehen.
„Oh.“
Dann kam die Enttäuschung und die flackerte nicht, sie explodierte.
„Das … I didn’t know – you didn’t say anything …“
Scheiße, Scheiße, Scheiße! Rubin sah nicht nur enttäuscht, sondern
regelrecht verletzt aus – nicht schon wieder! Diesmal
versuchte er noch nicht mal, es gleich zu verstecken oder überspielen.
„Wieso hast du nichts gesagt?“ Die Frage kam leise
und … ängstlich? Das wollte ich doch nicht, das war doch nur so
dahingesagt gewesen!
„Ich war überrascht – also, ich hatte nicht damit gerechnet. Ich
meine, wir hatten Streit und dann …“ Was konnte ich sagen? Irgendetwas,
das es wieder besser machte?
„Du hast Recht, wer rechnet in so einer Situation auch damit. Ich habe dich
überrumpelt.“ Er machte einen Schritt zurück, nahm Abstand und mir wurde
unweigerlich kühler. „Ich dachte nur, wir hätten gestern geklärt, dass du rein
gar nichts musst, wenn du es nicht willst.“
„Ich dachte auch nicht, dass ich es muss, nur …“
„Wollen tatest du es auch nicht“, vollendete er meinen Satz. Dann: „Tut mir
leid.“
Nein, mir tat es leid! Er hatte mich überrumpelt, ja, aber
danach – es war ja nicht so, als ob es sich schlecht
angefühlt – im Gegenteil, verglichen mit meinen bisherigen
Erfahrungen war es –
„Ich werde es von jetzt an lassen.“
Das war kein Lächeln, als er sich an mir vorbeischob und die Kelle aus der
Spüle nahm, das war Galaxien von einem Lächeln entfernt, auch wenn sich alle
Muskeln in die richtige Richtung bewegt hatten.
„Rubin …“ Ich griff nach seinem Arm, aber er machte sich los,
verstaute die Kelle in der Spülmaschine und wischte sich die Hände am
Küchentuch ab.
„Lass uns zu den Mädels gehen.“
Die konnten warten. Kitty würde sich schon melden, wenn sie etwas brauchte
und – was verdammt noch mal konnte ich sagen, damit er nicht mehr so
aussah, als hätte ich gerade vor seinen Augen sein Hundchen auf brutalste Weise
umgebracht? Ich hatte ihn nicht küssen gewollt, aber woher hätte er das wissen
sollen? Ich hatte ihm ja – wie er ganz richtig festgestellt
hatte – nicht gesagt, dass ich erst ein Viertel Jahrhundert alt
werden wollte, bevor ich mit meinem ersten Kerl rumknutschte! Aber nun war es
eh schon passiert und – also, ganz ehrlich, hätte ich es nicht
gemocht, hätte ich ihm das klargemacht, sobald die erste Schockstarre von mir
abgefallen war. Was hatte ich stattdessen getan? Erwidert! Und wie! Der konnte
doch jetzt nicht ernsthaft denken, ich würde es immer noch nicht wollen! Und
vor allem sollte er nicht so scheiße traurig aussehen, verflucht noch
mal!
„Nun schau nicht so“, sagte er doch da tatsächlich, kam zu mir und
zupfte eine meiner Strähnen zurecht. „Du hast nichts falsch gemacht.“
Doch, hatte ich. Ganz kolossal falsch, das konnte sogar ein Blindfisch
sehen, alleine daran, wie seine Schultern hingen, als er mich am Handgelenk
nahm, um mich aus der Küche zu führen – ganz zu schweigen davon, wie
er mich losließ, als hätte er sich verbrannt und ein Sorry nuschelte.
So ging das doch nicht! Ich streckte noch einmal meine Hand nach ihm aus
und wollte ihn zurückhalten – was ich sagen oder tun sollte wusste
ich nicht, aber alles war besser als nichts – doch bevor ich ihn
berührte, straffte er die Schultern, schlüpfte aus der Küche und sagte: „Let’s
go!“ Und das in einem Ton, der klarmachte, dass er jetzt nicht darüber
reden oder länger mit mir in der Küche bleiben wollte.
Scheiße. Wieso musste ich es gleich wieder verbocken, wo wir doch erst
gerade meinen … ‚Ausrutscher‘ von gestern hinter uns gebracht hatten?
Aber nein, ich setzte gleich einen weiteren Schlag unter die Gürtellinie nach.
Warum hatte ich nicht einfach einmal den Mund halten können? Ich konnte ihm
auch nicht verübeln, dass er jetzt erst mal zurück zu Megan und Kitty wollte;
ich an seiner Stelle hätte gerade herzlich wenig Bock auf mich. Ich an seiner
Stelle hätte vielmehr die Schnauze gestrichen voll. So … generell.
Immerhin konnte er das, was er von mir ‚bekam‘, wahrscheinlich einfacher und
ohne emotionale Faustschläge woanders bekommen – und mehr
auch.
Oh.
Ja, sicher konnte er das. Schien ja absolut nicht unerfahren zu sein.
Hm.
Dann stellte sich die Frage, wie lange er die Scheiße noch mitmachen
würde – andererseits, hey! Ich hatte nicht damit angefangen!
Ich hatte mit ganz normaler Nachhilfe gerechnet, stattdessen hatte er
angefangen mit Rummachen und Kuscheln und Küssen. Eigentlich konnte er von
Glück reden, dass ich ihm keine reingehauen hatte, denn bei anderen Jungs aus
unserer Klasse wäre wohl genau das passiert. Und bitte, wenn es ihm zu bunt
wurde, dann sollte er sich doch irgendeinen geouteten Idioten suchen und mit
dem ‚kuscheln‘. Ich würde ihm da sicher nicht im Weg stehen, immerhin brachte
er meinen Homo-Zeitplan gehörig durcheinander – und wer wollte das
schon? Eben.
Ach …
Fick dich Welt.
*********
„And how exactly is this your fault?“ Megan stand mit verschränkten
Armen vor mir und musterte mich forsch. „Soweit ich das verstanden habe, hat er
dich doch zurückgeküsst, oder?“
„Ja, aber …“ Wieso verstand sie es denn nicht? Megan verstand doch
sonst immer alles – Lilly dagegen war eher bereit, auf
Konfrontationskurs zu gehen. „Er hat ja gesagt, es ginge ihm alles zu
schnell – und natürlich geht es ihm das, vor zwei Wochen haben wir
außer Hallo und Tschüss kein Wort gewechselt und jetzt war er bereit, mir
unbegrenztes Kuschelrecht einzuräumen!“ Unbegrenzt! Das hieß, ich konnte jeden
Tag was einfordern – also könnte er eigentlich gleich den Koffer
packen und für die nächsten zehn Tage hier einziehen. Natürlich war ich nicht
dumm genug, im das wirklich vorzuschlagen, aber ich könnte es und er hatte mir
die Möglichkeit dazu gegeben. Das hätte er doch niemals getan, wenn er nicht
gerne hier war – im Gegenteil, wir hatten ja bereits festgestellt,
dass nur gekuschelt wurde, wenn er es auch wollte. Daran, dass er den Wunsch
nicht aussprechen konnte, würden wir auch noch arbeiten, aber das war erst
einmal zweitrangig. Wichtig war, dass er es wollte. Mit mir. Nur küssen
wollte er mich nicht. Wie konnte er es nicht wollen? Es war
so … perfekt gewesen. Seine Lippen auf meinen, sein Körper an meinem
und seine Arme um mich – er hatte mich doch festgehalten, nicht
weggedrückt. Wie hätte ich da wissen sollen, dass er dafür nicht bereit war?
Einfach: Indem ich nur kurz nachgedacht und die Situation ohne rosarote
Brille betrachtet hätte. Es war offensichtlich, dass Vyvyan Zeit brauchte;
wieso musste ich ihn erst soweit bringen, mir zu sagen, dass es zu schnell
ging, bevor ich das sah? Es war schließlich nicht nur offensichtlich, sondern
auch verständlich – er war immer noch mit Felizitas zusammen, for
God’s sake! Was hatte ich denn erwartet? Dass er zwar eine Alibifreundin
hatte, aber ansonsten völlig offen war, was homosexuelle Erfahrungen anging und
sich am besten auch noch vor Weihnachten in mich verliebte, damit wir glücklich
und zufrieden bis an unser Lebensende bleiben konnten?
Natürlich nicht. Mal ehrlich, vor einer Woche hätte ich niemals gedacht,
dass er mir jemals an die Wäsche gehen würde – und genau das hat er
gestern gemacht. Oder dass er freiwillig mehr Zeit als nötig mit mir verbringen
würde – und das tat er doch schon die ganze Zeit über. Und schon gar
nicht, dass er mich zurückküssen würde, sollte ich die Eier haben, um ihn zu
küssen – er hatte, nur hatte er es nicht gewollt, grundsätzlich. Und
das war auch nicht sein übliches knurriges Verhalten gewesen, nein. Er hatte
mich wirklich nicht küssen wollen, das hatte ich ihm angesehen, als er
es gesagt hatte. Mein einziger Trost war mir einzureden, dass er nicht mich
nicht hatte küssen wollen, sondern Männer im Allgemeinen. Das machte auch mehr
Sinn, vor allem nach dem ‚unbegrenzten Kuscheln‘. Aber ich Idiot hatte ja nicht
warten können. Und dabei wusste ich doch, hatte miterlebt, wie schwierig
es für viele war, zu akzeptieren, dass man nicht in das hetero-normative
cis-gegenderte Schema passte. Nur leider erzeugte jeder noch so kleine Schritt
Vyvyans auf mich zu einen unglaublichen Rausch an Glücksgefühlen, der
einerseits mein Hirn ausschaltete und mich andererseits glauben ließ, dass er
dasselbe wollte wie ich.
„Egal, wie viel er gibt, ich will noch mehr, noch schneller, noch dringender. Ich
habe ihn überfordert und – mal ehrlich, hätte ich auch nur eine
Sekunde nachgedacht, hätte mir das klar sein müssen.“ Ich seufzte und ließ mich
auf den Stuhl fallen. „Leider funktioniert nachdenken in Vyvyans Nähe nicht.“
Megan biss auf ihrer Lippe herum, während sie mich betrachtete, dann wandte
sie sich abrupt um zum Kühlschrank. „Ich mag Vyvyan“, begann sie und holte die
Reste des Tiramisus heraus, „zumindest das, was ich von ihm gesehen habe, wenn
er mit Catherine zusammen ist – den Rest zu beurteilen ist sinnfrei, da es
nur eine Maske ist.“ Sie holte zwei dampfende Teller aus der Spülmaschine. „But we all wear masks,
right? Some are just … a lot bigger and sturdier than others.“
Gabeln – nein, doch Esslöffel. „Und ich mag, wie du auf ihn reagierst. Es
tut dir gut, endlich mal richtig verliebt zu sein.“ Sie wollte die Teller und
Löffel nehmen und entschied sich dann noch einmal um – stattdessen
nahm sie nur die Löffel und das Tiramisu und stellte beides vor mich hin. „Auch
wenn es leichter gewesen wäre, wenn du dir jemand weniger Kompliziertes
ausgesucht hättest …“
„Ich hab ihn nicht ‚ausge…“
„I know“, unterbrach sie mich und drehte sich schon wieder weg, diesmal,
um zwei Gläser mit gekühltem Sweet Tea zu füllen, „Du weißt, wie ich das meine.
Die Ausgangssituation bei euch war alles andere als ideal und
Anlaufschwierigkeiten vorprogrammiert. Obwohl ich zugeben muss, dass ich mit deutlich
größeren Anlaufschwierigkeiten gerechnet hatte.“ Sie setzte sich mir gegenüber
und schob ein Glas vor mich. „Let’s be honest here: Weder die Ausgangssituation
noch der Zeitpunkt war ideal, und in Kombination … du bist eh schon
nicht der Geduldigste, aber unter Zeitdruck potenziert sich das.“
Ich verzog mein Gesicht. Das wollte ich nicht hören. Meine Laune war eh
schon im Eimer.
„Die Achterbahnfahrt, auf der ihr euch befindet, ist eine direkte
Konsequenz daraus.“ Sie lächelte und hielt mir demonstrativ einen Löffel hin. „But it is, what it
is, right? I say enjoy the ride!“
„Hab ich vor. Aber wenn ich so weitermache, bricht er die Fahrt noch
vorzeitig ab“, erwiderte ich und schob mir einen Bissen in den Mund. Lecker!
Kochen konnte er wirklich – auch wenn theoretisch ich das Tiramisu
gemacht hatte, bildete ich mir darauf nichts ein. Ohne Vyvyan wäre es nie was
geworden. Nun verstand ich wenigstens, was alle an kochenden Männern so sexy
fanden. Meine Küche, Vyvyan und Schokosauce war eine erstklassige Kombination.
„Vielleicht solltest du Lukas anrufen.“
„Say what?“
„Ich meine ja nur“, sagte sie und zuckte mit den Schultern, „dann wärest du
wenigstens eine Art von Druck los und dadurch vielleicht weniger ungeduldig. Denk
darüber nach.“
OMG
AntwortenLöschenPerfekt.
Hab's ernsthaft so vermisst, was von dir zu lesen! :-)
Kapitel war super und mal wieder typisch Vyv hat er's geschafft es wieder zu verbocken :D Aber dafür liebe ich ihn.
Und ich muss mal kurz ein Lob ausprechen. Wir sind im 21 Kapitel und Hurray, Vyv akzeptiert seine Homosexualität immer noch nicht. Ich find's grausig, wenn der 'plötzlich schwule Protagonist' nach 2 kapiteln feststellt, 'oh nein, der Boy ist voll heiß, oh man ich bin schwul' *glitzer*
Deswegen und einfach wegen der Charaktere und deren Art und Eigenschaften, bei denen du es schaffst sie bei zu behalten machen deine Geschichte so unglaublich gut :3
Wie immer LG und bin jetzt Bubu machen :3
Gut's Nächtle
Freut mich, dass es dir gefallen hat. :)
LöschenJa, das ist wirklich typisch - nicht mal einen Tag hat er ausgehalten, ohne es in den Sand zu setzen. Aber nun ja, wenigstens hat er ein schlechtes Gewissen. Baby Steps (keine Ahnung, wie oft ich mir das beim Schreiben schon sagen musste, damit ich ihm nicht den Hals umgedreht hab).
Ja, dieses Phänomen in Geschichten, wo die Jungs sich selbst und alles innerhalb von gefühlten Sekunden akzeptieren, ist auch nicht mein Ding. Ich muss zugeben, dass ich drum mit meiner eigenen Geschichte auch Probleme hab - einerseits sinds zwar schon 21 lange Kapitel, andererseits aber ist in der Geschichte selbst noch gar nicht so viel Zeit vergangen; ich hab immer Zweifel, obs nicht zu schnell geht - und gleichzeitig SIND es schon 21 lange Kapitel und ich reg mich drüber auf, dass es so langsam vorwärts geht. xD
Aber solange es sich beim Schreiben richtig anfühlt und keine Beschwerden kommen, denk ich mal ist alles okay.
Vielen Dank für dein Review! :D