Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 8. Oktober 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 21:


Als wir ins Wohnzimmer kamen, begrüßte uns Megans gleichmäßige Stimme.
„There was another light in the room now, a thousand times brighter than the night-lights, and in the time we have taken to say this, it had been in all the drawers in the nursery, looking for Peter's shadow, rummaged the wardrobe and turned every pocket inside out …“
Uäch. Ami-Englisch, ganz viel davon.
Als ich hochsah, erblickte ich Kitty mit Megan auf Betsy, beide bäuchlings auf der Fleecedecke liegend. Megan hielt inne und sah zu uns.
„Hey Jungs!“ Sie lächelte uns freundlich an und sah von mir zu Rubin. Bei ihm wurde ihr Blick fragend. „Na, habt ihr’s überstanden?“ Nach einer Sekunde – noch vor Rubins Antwort – wurde ihr Lächeln um einiges breiter.
Äh …
Nein. Darüber wollte ich nicht nachdenken. Sollte ich auch nicht, denn ich wusste auch so, was für paranoide Schlüsse ich daraus ziehen und wie ich auf diese Schlüsse reagieren würde.
Megan wusste von nichts. Garantiert nicht. Bitte nicht.
Vyvyan macht große Fortschritte.“
„Das freut mich zu hören.“
„Meinst du, Vyvy besteht den Test?“, fragte Kitty Rubin mit großen, hoffnungsvollen Augen.
Und er warf doch echt Megan einen Blick zu, bevor er Kitty anlächelte und, freundlich wie eh und je, antwortete: „Ich bin guter Dinge, ja.“

Na, wenigstens einer.
„Super!“, rief Kitty und strahlte mich an, „Heißt das, du musst nicht mehr so viel lernen und hast wieder mehr Zeit?“
War ja klar gewesen, dass sie das so interpretieren würde. Ich hob die Augenbrauen und sah mit großen fragenden Augen zu ihm. „Ja, Rubin, heißt das, ich muss jetzt nur noch jeden dritten oder vierten Tag herkommen?“
„Im Gegenteil“, erwiderte er zuckersüß lächelnd, „es bedeutet, dass wir uns extra reinhängen müssen, damit wir das Beste aus dir rausholen.“ Er wandte sich wieder an Kitty. „Ich weiß, dass das nicht toll für dich ist, aber du willst doch sicher auch, dass Vyvyan einen guten Abschluss schafft, nicht wahr?“
„Klar!“ Sie nickte und bekam dann plötzlich einen besorgten Gesichtsausdruck. „Aber du darfst ihm nicht böse werden, wenn er bockig wird, okay? Mum sagt, Vyvy wird immer so bockig, wenn er vom Lernen frusiert ist, dass sie ihn in den Hintern treten möchte.“
„Frustriert, Kitty-Maus“, korrigierte ich sie und versuchte das Schmunzeln seitens der beiden Amis zu ignorieren, „mit T und R.“
„Keine Angst“, antwortete Rubin, „damit ich böse werde, muss er schon etwas Schlimmeres anstellen.“
Ah, toll. Ich dachte, wir hätten gestern abgeha…
„Und bisher macht er sich super, auch, wenn wir richtig lange lernen müssen.“
„Ich hab’s gewusst, Mum übertreibt! Zu mir ist er nämlich auch nie bockig“, erklärte sie mit ernstem Gesichtsausdruck, bevor sie wieder lächelte, „Vyvy ist eben einfach toll! Nicht wahr?“
Diesmal warf er nicht Megan, sondern mir einen Blick zu – einen höchst amüsierten. Bastard.
„Doch, das ist er.“
Kitty strahlte ihn an, als hätte sie ihn in diesem Moment zu ihrem neuen besten Freund erkoren. Das musste nun echt nicht sein. Ebenso wenig, wie das Kribbeln sein musste, das mich bei seiner Antwort kurz durchfahren hatte. Das war alles andere als gut.
Wenigstens musste ich nicht weiter über seine Antwort an sich nachdenken, denn dass er das nur Kitty zuliebe bestätigt hatte, war klar. Was das Kribbeln noch uncooler machte.
„Helft ihr vorlesen?“, fragte meine Lieblings-kleinere-Schwester da und zeigte auf das Buch in Megans Händen. Peter Pan. Aus dem sie eben noch auf Englisch vorgelesen hatte.
„Äh – ich kann nicht“, antwortete ich schnell, „ich muss das Tiramisu machen gehen. Sonst gibt’s heute keinen Nachtisch und das wäre doof, meinst du nicht auch?“
„Doch sehr!“ Kitty verzog das Gesicht. „Und du?“
Rubin schüttelte den Kopf und sah zu mir. „Ich dachte, du zeigst mir, wie man Tiramisu macht?“
„Kann ich, muss ich aber nicht. Ist ja sozusagen ein Bonus heute.“
„Ich würde es gerne wissen.“
„Dann komm.“ Ich sah zu Kitty. „Ist das okay für dich? Oder möchtest du auch helfen?“
„Nein“, antwortete sie ohne zögern, „ich hör lieber weiter Peter Pan.“ Englisch ausgesprochen. Wunderbar. „Megan liest ganz toll vor – sie macht die Stimmen fast so gut wie du!“
Ganz wunderbar. Wirklich. Megan ging mir langsam aber sicher auf den Sack – und das, obwohl ich wusste, dass sie nichts dafür konnte. Okay, fast nichts.

***

Als wir in der Küche standen, guckte ich mir noch einmal die Zutaten auf der Anrichte an. Zucker, Eier, Amaretto, Mascarpone, Löffelbiskuits und Kakao. Ja, alles da, super.
Rubin schlang von hinten seine Arme um meinen Bauch und drückte sein Gesicht in meine Halsbeuge.
„Liest du mir auch mal was vor? Mit Stimmen?“
Wie konnte er so anschmiegsam sein und sich trotzdem über mich lustig machen? Aber ich würde mich garantiert nicht dafür schämen, ein guter Bruder zu sein – oder generell gut mit Kindern umgehen zu können. Und noch viel wichtiger:
„Hast du sie noch alle?!“ Ich machte mich von ihm los und nahm eine Armlänge Abstand. „Sie sind gleich nebenan und die Küchentür ist offen!“
„Die Wohnzimmertür aber nicht“, erwiderte er gelassen, „Die ist original. Glaub mir, die würden wir hören.“
Klar, würde ich garantiert, wenn er mich wieder so küsste wie vorhin in seinem Zimmer. Ja, vom Hirntodland aus würde ich alles mitbekommen.
„Ich lasse es lieber nicht drauf ankommen“, entgegnete ich und zeigte dann auf die Kaffeemaschine, „Weißt du, wie man die benutzt?“
Er nickte. „Natürlich.“
Na, so wie er sich ansonsten in der Küche auskannte, war das alles andere als natürlich. Aber das behielt ich mal lieber für mich.
„Gut, machst du mir dann bitte Espresso? So … eine normale Kaffeetasse voll?“
„Sicher“, antwortete er und schaltete die Maschine ein, „aber die muss erst warm werden.“
„Dann kannst du schon mal eine große und eine kleine Schüssel nehmen und die Eier trennen: Vier Eigelb kommen in die große, zwei Eiweiß in die kleine.“
„Im Eiertrennen bin ich nicht so gut.“
„Dann lernst du’s heute. Ich hab sechs mitgebracht und du hast noch welche im Kühlschrank.“
Er holte die Schüsseln hervor und nahm eines der Eier in die Hand. Ein bisschen skeptisch betrachtete er es, dann drehte er sich zu mir, kam die eineinhalb Schritte, die uns trennten auf mich zu und fragte: „A kiss for good luck?
Ich rollte die Augen. Also bitte, so schwierig, dass er Glück dazu brauchte, war das jetzt wirklich nicht. Aber bevor es wieder in eine Kuschelgrundsatzdiskussion ausartete, bei der ich ihm dann am Ende noch mehr Rech… will sagen, Erlaubnisse einräumte, versicherte ich mich, dass wir alleine waren, beugte mich lieber vor und drückte meine Lippen auf seine.
„Nun mach aber!“
Er starrte mich schon wieder ungläubig an – was denn, er hatte doch einen gewollt! Und nach eben in seinem Zimmer kam es auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr an. Leider.
Im nächsten Augenblick grinste er erfreut. „Zu Befehl, Chef!“ Und dann knallte er das Ei mit viel zu viel Energie gegen den Schüsselrand, so dass der Inhalt an beiden Seiten herunterlief und der Dotter platzte.
„Äh …“, machte er und ich konnte nicht anders – ich musste einfach über seinen verdatterten Gesichtsausdruck lachen.
Er starrte mich einen Moment lang an und gerade, als ich doch tatsächlich einen leichten Rotschimmer entdeckte, brummelte er: „That ain’t very nice, y’know?“ und öffnete mit der Linken den Küchenschrank unter der Spüle, um den Mülleimer hervorzuziehen und die Eierschale wegzuwerfen.
„Sorry“, erwiderte ich automatisch – er hatte ja Recht, eigentlich, und er hatte bei mir bisher noch nie gelacht, aber ich konnte einfach nicht anders, „es ist nur … was denkst du, warum man sagt, dass man etwas oder jemanden wie rohe Eier behandelt?“
Er warf mir einen säuerlichen Blick zu, während er die Schüssel, Hände und Anrichte säuberte. „Wieso kommst du nicht einfach her und zeigst mir, wie es geht?“
Kein Problem. Ich stellte mich neben ihn, gerade, als er die Schüssel kurz mit einem Küchentuch abrieb, und wollte nach einem Ei greifen, aber er hielt meine Hand fest.
„Ich meinte so“, sagte er, nahm selbst ein Ei und legte meine Hand über seine, „Vom bloßen Zusehen lernt man nicht viel; man muss es schon selber spüren.“
Ich zog meine Hand zurück. „Vergiss es.“ Garantiert nicht.
„Wie…“ Er stoppte, sah auf seinen Handrücken und erinnerte sich dann wohl daran, dass ich auf Händchenhalten generell nicht besonders euphorisch reagierte. „Oh.“
Ja, oh. Dann konnten wir ja jetzt weitermachen.
„Was ist jetzt eigentlich dein Problem mit meinen Händen?“
Oder auch nicht.
„Ich habe kein Problem mit deinen Händen.“
„Und was war das eben? Und das gestern?“
Nichts, nur meine Anti-Händchenhalten-Politik.
„Nichts gegen deine Hände im Speziellen.“
„Also gegen Hände im Generellen?“
„Nichts gegen Hände, nur gegen Händchenhalten.“ Ich seufzte und deutete auf das Ei, das er immer noch hielt. „Können wir jetzt dann weitermachen?“
„Wenn du mir sagst, warum du so allergisch aufs ‚Händchenhalten‘ reagierst.“
Weil es ganz klar Beziehungssache war. Niemand hielt mit einer Affäre oder einem ‚Kumpel mit Extras‘ Händchen. Händchen halten bedeutete: Ich gehör zu ihm und er zu mir. Rubin gehörte nicht zu mir und ich nicht zu ihm. Auch nicht im stillen Kämmerlein. Und das würden wir auch nie – ergo kein Händchenhalten.
„Wenn du es dir nicht denken kannst, werde ich es dir auch nicht erklären.“
„Warum nicht?“
„Wieso sollte ich?“, entgegnete ich schärfer als gewollt, „Du weißt eh schon viel mehr über mich als umgekehrt.“
„Du möchtest etwas über mich wissen?“ Sein Gesicht hellte auf. „Was denn?“
„Nichts. Könntest du jetzt bitte das nächste Ei schlachten?“
Er stupste meine Schulter mit seiner an. „C’mon! Ansonsten wäre es dir nicht aufgefallen.“
Wenigstens schlug er das Ei dann gnädigerweise gegen den Schüsselrand. Zu vorsichtig, diesmal.
„Keine Ahnung. Ich weiß schließlich wirklich nichts, du aber kennst schon meine Familie, meine Freunde, meinen Lesegeschmack …“ Beim dritten Versuch war die Schale genug angeknackst. „Jetzt hältst du das Ei mit beiden Händen, teilst es, dann kannst du das Eiweiß rausfließen lassen …“ Ich nahm ein zweites und machte es ihm kurz vor. „Siehst du?“ Ich ging an ihm vorbei, warf die Schale in den Müll und wusch meine Hände.
„Hm …“, machte er und versuchte – das Eigelb plumpste mit in die Eiweiß-Schüssel. „Mist. Das ist echt tricky.“
Nicht wirklich, aber das rieb ich ihm nicht unter die Nase. „Nimm die größere Hälfte der Schalen, um es rauszufischen. Geht am einfachsten so, sogar, wenn der Dotter ausläuft.“
Er tat wie geheißen. Sehr schön.
„Nun brauchst du nur noch die Eigelbe“, erinnerte ich ihn und gab ihm einen Teller für das Eiweiß. Er nickte.
„Dann ändern wir das“, knüpfte er an das vorherige Thema an, während er sich auf das nächste Ei konzentrierte, „morgen. Überleg dir, was du wissen willst, und ich erzähl’s dir.“ Wieder zu viel Kraft, wieder flutschte der Dotter raus, aber zum Glück landete er intakt auf dem Teller. Rubin fischte ihn raus.
„Oder du kannst auch Samstag einfach mitkommen, dann lernst du meine Freunde kennen – oder Silvester. Das wäre noch besser, dann sind nämlich alle da.“
Äh, nein?
„Über Silvester haben wir gesprochen.“
„Ich habe versprochen, eine Einladung zu euch auszuschlagen“, erwiderte er und nahm das letzte Ei, „das bedeutet nicht, dass du nicht mit mir mitkommen kannst.“
„Ich werde das neue Jahr sicher nicht freiwillig auf einer Party begrüßen!“
„Wieso nicht? Deine ‚Freunde’ wären nicht dabei; du könntest dich entspannen.“
„Ob sie dabei sind oder nicht ändert an der Sache nichts.“
Er hielt inne uns sah mich verwundert an. „Du magst echt keine Partys? Überhaupt keine?“
„Nein.“
„Mh“, machte er, „wieso?“
„Zu laut, zu stickig, zu viele Leute, die mir nichts bedeuten – am besten besoffen – und dazu meistens die falsche Musik. Warum sollte ich so etwas mögen?“
Er musterte mich schweigend und zuckte schließlich mit den Schultern. „Weil es Spaß macht, Zeit mit seinen Freunden zu verbringen – zumindest, wenn man sie mag.“
Tja. Das war wohl die Krux bei der Sache.
„Jetzt mischt du Amaretto, Mascarpone und Puderzucker zum Eigelb.“
Thema beendet. Ich wünschte, bei Mum und Sue würde das auch so einfach gehen.

***

„Jetzt den Rest der Creme darauf verteilen oder kommt noch was?“
Es war fast zwölf, aber das Tiramisu sah endlich halbwegs nach Tiramisu aus. Und so, wie Rubin sich angestellt hatte, hatte ich die Hoffnung, dass er das Risotto auch nicht verhauen würde.
„Nein, nur noch den Rest der Creme, danach kommt als krönender Abschluss das Kakaopulver oben drauf.“ Ich schnappte mir ein Löffelbiskuit und biss hinein. Langsam bekam ich – nun, zwar nicht direkt Hunger, aber Appetit – wenigstens hatten wir Englisch schon hinter uns. Ich trat wieder zu ihm und sah ihm dabei zu, wie er die Creme glattstrich. „Ziemlich einfach, nicht?“
„Ja. Könntest du mir das Rezept trotzdem wieder aufschreiben?“
„Sicher, brauchst ja die Mengenangaben.“
Er sah mich über seine Schulter an.
„Danke.“ Dann erblickte er das Biskuit und grinste. „Darauf habe ich auch Lust.“
Er wollte zum Tisch, auf den ich die Packung gelegt hatte, damit sie nicht im Weg herumlag, aber ich hielt ihn am Arm fest.
Was brachte einem eine Lehrposition, wenn man sie nicht ausnutzen konnte? Genau: Gar nichts.
„Beim Kochen wird nicht genascht, das verdirbt den Appetit.“
„Tu naschst auch.“
„Ich koche nicht, ich gebe Anweisungen.“
„Und das hier muss deiner eigenen Aussage nach erst noch ein paar Stunden in den Kühlschrank, also verderbe ich mir gar nichts.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Regeln sind Regeln.“
Er grinste. „Das ist mein Haus; hier mache ich die Regeln.“
„Mag sein, aber es sind meine Löffelbiskuits. Ich habe sie bezahlt.“
„Du hast sie für mich mitgebracht.“
„Nur die, die ins Tiramisu kommen. Der Rest gehört mir.“
Er sah von dem Biskuit in meiner Hand zu meinem Gesicht und das Grinsen wurde breiter, schelmisch.
„Wie du willst.“
Einen Moment lang dachte ich, er würde irgend etwas tun, doch er drehte sich nur zurück zum Tiramisu und begann das Kakaopulver darüber zu streuen. Also ließ ich ihn wieder los und aß mein Biskuit zu Ende.

„Und? Bestanden?“ Grinsend präsentierte er mir sein Werk und sah mich abwartend an.
„Das sehen wir, wenn wir davon probieren – der ultimative Test ist sowieso Kitty, nicht ich.“
Er öffnete den Kühlschrank und versuchte, genug Platz für das Tiramisu zu machen.
„Könntest du die Schüssel kurz abspülen und dann in die Maschine tun?“
„Sicher.“ Ich ging zur Spüle, legte Schüssel, Kelle und die anderen Utensilien, die wir benutzt hatten, hinein und begann. Als nur noch die Kelle übrig war, schloss Rubin mit einem leisen „Na also!“ den Kühlschrank und ging dann hinter mir vorbei, wahrscheinlich, um die Kaffeemaschine auszu…
Ich zuckte zusammen, ließ die Kelle ins Spülbecken fallen und drehte mich ruckartig um.
„Was soll das?!“
Der Mistkerl hatte mich in den Nacken gebissen, einfach so! Gut, nicht so fest, dass es wehgetan hätte, aber – ich war da empfindlich, verdammt noch mal!
… Was er natürlich wusste und den war zufriedenen Gesichtsausdruck erklärte.
„Was hast du denn? Ich bin fertig mit Kochen, also solltest du nichts dagegen haben, wenn ich ein bisschen naschen will.“
„Dann nimm dir einen Keks, nicht mich.“
„Wo bliebe da der Spaß?“
Ja, war auch sehr spaßig mit Kitty im Nebenzimmer. Wusste er denn nicht, wie schnell sich kleine Schwestern zu den ungünstigsten Zeitpunkten in ein Zimmer beamen konnten?
„Bastard“, grummelte ich, drehte mich demonstrativ wieder um und fischte die Kelle aus dem Spülbecken.
„Na-na-na“, sprach’s, trat an mich heran und legte die Hände auf meine Hüften, „Be nice. Sonst muss ich am Ende heute doch noch auf eine Kuscheleinheit bestehen. Als Entschädigung für die harschen Worte.“
„Kitty ist hier“, erwiderte ich und schob seine Hände bestimmt von mir; dabei tropfte Wasser von der Kelle auf den Boden. „Und du hast behauptet, du würdest dich ‚beherrschen können‘, wenn wir nicht alleine sind.“
„Wir sind alleine.“
Ich ließ die verdammte Kelle wieder ins Spülbecken fallen und drehte mich noch einmal zu ihm um.
„Sind wir nicht“, zischte ich, aber Rubin schien unbeeindruckt.
Vyvyan, entspann dich“, erwiderte er und hob die Hand, um schon wieder an einer meiner Strähnen herumzuzupfen. Konnte er das bitte lassen? „Die beiden liegen oben auf Betsy und kommen da nicht so schnell runter. Und wenn würden wir sie hören.“
Ich wiederhole: er vielleicht.
Er kam näher, drängte mich gegen die Anrichte und beugte sich vor. Mein Blick raste von ihm zur offenen Küchentür und wieder zurück. Das war keine gute Idee – ich konnte es mir nicht leisten, wieder die Zeit zu vergessen wie vorhin in seinem Zimmer. Hirntodland hatte sich super angefühlt, aber nur, weil die Tür verschlossen gewesen war! Ich spürte Rubin Atem auf meiner Haut und erschauderte. Vielleicht, nur kurz – er hatte ja gesagt, er würde sie hören – seine Finger waren auch schon wieder unter meinem Shirt und – war da ein Geräusch gewesen? Ein Knarzen?!
Ich schob ihn von mir und sah zur Küchentür. Nichts. Trotzdem, mein Puls war auf Hochtouren – und nicht auf die angenehme Art.
Vyv…“, begann er und wollte wieder näher kommen, aber ich hielt ihn auf Abstand und unterbrach ihn.
„Nein!“ Ich trat beiseite, um nicht mehr zwischen ihm und der Anrichte eingequetscht zu sein, und verschränkte die Arme. „Rubin, das ist mir zu viel!“
Er sah mich erschrocken an. „Sorry, ich …“ Mein Handy piepste laut und unterbrach ihn. Wunderbar, SMS bedeuteten auch immer so schöne Sachen in meiner Welt, wie Mütter, die irgendetwas von einem wollten oder Freundinnen, die einen daran erinnerten, dass man sich noch nicht von ihnen getrennt hatte.
Rubin kam einen kleinen Schritt auf mich zu, behielt aber genug Abstand. „Es tut mir leid, Vyvyan. Ich wollte dich nicht überfordern oder bedrängen.“ Er streckte seine Hand aus, zog sie dann aber wieder zurück und zuckte schief lächelnd mit den Schultern. „Ich bin dir einfach gerne nah. Ich habe nicht nachgedacht.“
Er … was?
Konnte er nicht einfach sagen, dass seine Hormone mit ihm durchgegangen waren oder er gerade schrecklich geil war oder etwas Ähnliches? ‚Ich bin dir gerne nah‘, das hörte sich so … ugh an. Ich meine, ich wusste, dass er mir gerne auf die Pelle rückte, das hatte ich unweigerlich mitbekommen, aber – aber wenn er das so formulierte und es auch noch so … ehrlich (?) sagte, dann bekam das Ganze unschöne Konnotationen.
Ich suchte einen Moment lang in seinem Gesicht nach etwas, das der Situation eine andere Färbung geben würde – Spott, von mir aus, oder – keine Ahnung was – irgendwas – ich fand nichts. Um weder antworten noch weiter darüber nachdenken zu müssen, nahm ich mein Handy aus der Hosentasche und öffnete die SMS.
Du, Vic& ich, diesen Samstag bei mir zocken?
Theo.
Äh, nein. Nein, nein, nein!
Ich verzog mein Gesicht.
Nein.
Scheißegal, ob ich eine gute Ausrede fand oder nicht, aber ich würde den Samstag nicht mit Theo und Vic auf Theos Bett mit dem Controller in der Hand verbringen. Ich hatte die beiden Hampelmänner erst vorgestern gesehen und auch wenn sich der Kinobesuch wie eine weit entfernte Erinnerung anfühlte, so war es dennoch noch keine achtundvierzig Stunden her. In keinem möglichen Universum hatte ich die Pflicht, mich schon wieder für übermorgen zu verabreden. Hallo? So eng war die Freundschaft noch nicht einmal in ihren Köpfen. Maximal noch ein Treffen während der Ferien, das musste reichen – eigentlich, da sie wussten, dass ich dauernd bei Rubin rumhockte, sollten sie den gesunden Menschenverstand – und den Anstand – haben, sich mit einem Treffen zufrieden zu geben. Mal ehrlich, wieso wollten sie auch mehr? Und da hieß es im Fernsehen immer, Frauen würden dauernd aufeinanderhocken, aber hier in der Gegend schien das bei Männern nicht besser zu sein. Rubin war das beste Beispiel, der wollte auch immer –
La la la! Falsche Richtung, liebe Gedanken.
„Da kannst du nicht.“
Äh, wie?
Ich sah auf, zu Rubin, der plötzlich neben mir stand und auf mein Display sah. Zitronengras, mal wieder.
„Samstag wolltest du mit uns mitkommen.“
Wann hatte ich da denn bitte zugestimmt? Zocken mit Theo und Vic oder unbekanntes Unternehmen mit Rubins Freunden – das war doch wie sich zwischen Salat ohne Dressing und veganen Muffins entscheiden zu müssen: Von dem einen wusste man, dass es scheiße war, weil man es schon mal probiert hatte, und vom anderen wusste man es, weil es vegane Muffins waren. Wieso sollte ich Bock auf Rubins Clique haben, wenn ich noch nicht einmal Bock auf meine eigene hatte? Hirnsinnig.
„Wollte ich, ja?“, fragte ich betont unbegeistert und er grinste spitzbübisch.
„Oder doch Silvester?“ Bevor ich dazu was sagen konnte, zuckte er mit den Schultern. „Das kannst du dir ja noch überlegen. Samstag kannst du aber so oder so nicht, denn wenn du nicht bei deiner Familie bleibst, will ich Kuschelstunden einlösen.“
„Von den unendlich vielen, die du hast.“
Er grinste. „Genau!“ Dann stupste er mich mit dem Ellenbogen an. „Komm schon, du willst da doch eh nicht hin, ich seh’s dir an der Nasenspitze an.“
„Eigentlich hatte ich aber sehr wohl vor, bei meiner Familie zu bleiben.“
„Dann tu das“, erwiderte er, „Ich bin ja auch verabredet. Ich dachte nur, du hättest vielleicht gerne eine Ausrede – wenn du nur für eine Stunde oder zwei herkommst, hast du den Rest des Tages für Kitty und musst niemanden direkt anlügen.“
Hmmm …
Stimmt. Ich könnte sagen, dass ich zu Rubin muss, ohne Zeit- oder Tätigkeitsangaben. Theo würde sich seinen Teil denken und ich wäre aus dem Schneider. Und sogar Mum müsste ich nicht anlügen, falls sie mittels ihrer mumschen Hexenkraft Wind davon bekommen sollte – war ja nicht meine Schuld, wenn ich dann schon früh wieder von Rubin zurückkam.
Obwohl – Moment! Mum würde nicht davon erfahren – wie auch? Sie ließ mein Handy schließlich in Ruhe und anrufen würde weder Theo noch Vic, wenn ich absagte. Und die beiden würden auch ein simples ‚Sorry, aber möchte zum ersten Mal in den Ferien einen Tag mit meiner kleinen Schwester verbringen‘ reichen. Warum also sollte ich schon wieder zu Rubin dackeln, hm? Dafür gab’s nun wirklich keinen …
„Außerdem müssen wir noch ganz viel experimentieren. Die Ferien sind so arg kurz.“ Er sah mich an und zwinkerte mir zu, aber so ganz nahm ich ihm die Leichtigkeit nicht ab.
Die Ferien waren also arg kurz, ja? Irrte ich mich, oder war das nur dann relevant, wenn ‚das hier‘ mit Schulanfang endete? Es müsste nicht enden; wir könnten einfach sagen, dass wir die Nachhilfe fortführten, um mich auf die Abschlussklausuren im Frühling vorzubereiten. Aber Rubin ging offenbar trotzdem davon aus. Hm.
War das jetzt gut oder schlecht?
Da fiel mir etwas ein, was er vorhin im Zimmer gesagt hatte.
„Wie meintest du das, wir müssten ‚alle Szenarien durchspielen‘?“ Was genau bedeutete für ihn ‚alle‘? Alle-alle?
Er musterte mich kurz, lächelte dann und hob die Hand. Mitten in der Bewegung stockte er, warf einen prüfenden Blick zur Küchentür und lauschte, dann wandte er sich wieder mir zu und zupfte an einer meiner Strähnen.
Was zum Hades hatte er heute mit meinen Haaren?!
„Alle, die du ausprobieren möchtest“, erwiderte er leise, „Wie gesagt: Müssen tun wir gar nichts. Wollen dagegen …“ Sein Lächeln wurde zu einer seltsam anziehenden Mischung aus verschmitzt, schmutzig und verschwörerisch und mein Kopf wurde mit Bildern geflutet. Von ihm und mir, von Bettlaken und Schweiß und Kratzspuren. Seltsamerweise war ich mir sicher, dass da Kratzspuren über bleiben würden.
Alle?“, fragte ich ohne nachzudenken, einfach nur, um die Bilder auszulöschen, bevor er sie mir an der Nasenspitze ansah, „Auch eine Orgie?“
Kurze Stille, dann: „Willst du an einer Orgie teilnehmen, Vyvyan?“ Nicht direkt Schulstimme, aber dennoch auch ohne die Leichtigkeit, die so eine dumme Frage eigentlich zurückbringen sollte. Der fragte mich das doch nicht im Ernst, oder? Was dachte er denn, dass ich zwar noch keinen Bock auf Pärchensex mit ‘nem Typen hatte, aber für eine Orgie mit fünf Typen sehr wohl zu haben wäre? Fünf weitgehend unbekannten Typen, wohlgemerkt, denn ich kannte keine fünf schwulen Kerle – nicht hier, zumindest.
Ich hatte nicht vorgehabt, auf diese dämliche Gegenfrage überhaupt zu antworten, aber Rubin hielt meinen Blick und hatte offenbar seinerseits nicht vor, mich ohne Antwort davonkommen zu lassen. Bastard.
„Natürlich nicht“, antwortete ich schließlich.
„Gut.“ Da, ein kleines Lächeln. „Ich auch nicht. Einen Dreier will ich übrigens auch nicht, nur damit wir das geklärt hätten. I wanna have you all to myself.
Er wollte … also, wenn ich das jetzt richtig verstanden hatte, dann wollte er mich ganz für – also eben kein Gruppensex. Genau. Passte mir super, da ich grundsätzlich keinen Sex haben wollte. Bilder und Schwulsein und Zitronengrasshampoo und Grübchen und Kratzspuren hin oder her! Sowieso – hätten wir diese Unterhaltung ein paar Stunden früher geführt, hätten wir gar nicht so weit gehen und mögliche Orgien und Dreier besprechen müssen, sondern hätten ein anderes, naheliegenderes Desaster verhindern können.
„Ich wollte ja noch nicht mal küssen“, grummelte ich vor mich hin, als ich mich wieder der mittlerweile sicher vereinsamten Kelle in der Spüle zuwenden wollte. Wirklich bewusst, was ich gerade gesagt – und vor allem, dass ich es ausgesprochen statt nur gedacht hatte, wurde mir erst, als Rubin fragte:
„Wen wolltest du nicht mal küssen?“
Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig zu ihm, um die Erkenntnis in seinem Gesicht aufflackern zu sehen.
„Oh.“
Dann kam die Enttäuschung und die flackerte nicht, sie explodierte. „Das … I didn’t know – you didn’t say anything …
Scheiße, Scheiße, Scheiße! Rubin sah nicht nur enttäuscht, sondern regelrecht verletzt aus – nicht schon wieder! Diesmal versuchte er noch nicht mal, es gleich zu verstecken oder überspielen.
„Wieso hast du nichts gesagt?“ Die Frage kam leise und … ängstlich? Das wollte ich doch nicht, das war doch nur so dahingesagt gewesen!
„Ich war überrascht – also, ich hatte nicht damit gerechnet. Ich meine, wir hatten Streit und dann …“ Was konnte ich sagen? Irgendetwas, das es wieder besser machte?
„Du hast Recht, wer rechnet in so einer Situation auch damit. Ich habe dich überrumpelt.“ Er machte einen Schritt zurück, nahm Abstand und mir wurde unweigerlich kühler. „Ich dachte nur, wir hätten gestern geklärt, dass du rein gar nichts musst, wenn du es nicht willst.“
„Ich dachte auch nicht, dass ich es muss, nur …“
„Wollen tatest du es auch nicht“, vollendete er meinen Satz. Dann: „Tut mir leid.“
Nein, mir tat es leid! Er hatte mich überrumpelt, ja, aber danach – es war ja nicht so, als ob es sich schlecht angefühlt – im Gegenteil, verglichen mit meinen bisherigen Erfahrungen war es – 
„Ich werde es von jetzt an lassen.“
Das war kein Lächeln, als er sich an mir vorbeischob und die Kelle aus der Spüle nahm, das war Galaxien von einem Lächeln entfernt, auch wenn sich alle Muskeln in die richtige Richtung bewegt hatten.
„Rubin …“ Ich griff nach seinem Arm, aber er machte sich los, verstaute die Kelle in der Spülmaschine und wischte sich die Hände am Küchentuch ab.
„Lass uns zu den Mädels gehen.“
Die konnten warten. Kitty würde sich schon melden, wenn sie etwas brauchte und – was verdammt noch mal konnte ich sagen, damit er nicht mehr so aussah, als hätte ich gerade vor seinen Augen sein Hundchen auf brutalste Weise umgebracht? Ich hatte ihn nicht küssen gewollt, aber woher hätte er das wissen sollen? Ich hatte ihm ja – wie er ganz richtig festgestellt hatte – nicht gesagt, dass ich erst ein Viertel Jahrhundert alt werden wollte, bevor ich mit meinem ersten Kerl rumknutschte! Aber nun war es eh schon passiert und – also, ganz ehrlich, hätte ich es nicht gemocht, hätte ich ihm das klargemacht, sobald die erste Schockstarre von mir abgefallen war. Was hatte ich stattdessen getan? Erwidert! Und wie! Der konnte doch jetzt nicht ernsthaft denken, ich würde es immer noch nicht wollen! Und vor allem sollte er nicht so scheiße traurig aussehen, verflucht noch mal!
„Nun schau nicht so“, sagte er doch da tatsächlich, kam zu mir und zupfte eine meiner Strähnen zurecht. „Du hast nichts falsch gemacht.“
Doch, hatte ich. Ganz kolossal falsch, das konnte sogar ein Blindfisch sehen, alleine daran, wie seine Schultern hingen, als er mich am Handgelenk nahm, um mich aus der Küche zu führen – ganz zu schweigen davon, wie er mich losließ, als hätte er sich verbrannt und ein Sorry nuschelte.
So ging das doch nicht! Ich streckte noch einmal meine Hand nach ihm aus und wollte ihn zurückhalten – was ich sagen oder tun sollte wusste ich nicht, aber alles war besser als nichts – doch bevor ich ihn berührte, straffte er die Schultern, schlüpfte aus der Küche und sagte: „Let’s go!“ Und das in einem Ton, der klarmachte, dass er jetzt nicht darüber reden oder länger mit mir in der Küche bleiben wollte.  
Scheiße. Wieso musste ich es gleich wieder verbocken, wo wir doch erst gerade meinen … ‚Ausrutscher‘ von gestern hinter uns gebracht hatten? Aber nein, ich setzte gleich einen weiteren Schlag unter die Gürtellinie nach. Warum hatte ich nicht einfach einmal den Mund halten können? Ich konnte ihm auch nicht verübeln, dass er jetzt erst mal zurück zu Megan und Kitty wollte; ich an seiner Stelle hätte gerade herzlich wenig Bock auf mich. Ich an seiner Stelle hätte vielmehr die Schnauze gestrichen voll. So … generell. Immerhin konnte er das, was er von mir ‚bekam‘, wahrscheinlich einfacher und ohne emotionale Faustschläge woanders bekommen – und mehr auch.
Oh.
Ja, sicher konnte er das. Schien ja absolut nicht unerfahren zu sein.
Hm.
Dann stellte sich die Frage, wie lange er die Scheiße noch mitmachen würde – andererseits, hey! Ich hatte nicht damit angefangen! Ich hatte mit ganz normaler Nachhilfe gerechnet, stattdessen hatte er angefangen mit Rummachen und Kuscheln und Küssen. Eigentlich konnte er von Glück reden, dass ich ihm keine reingehauen hatte, denn bei anderen Jungs aus unserer Klasse wäre wohl genau das passiert. Und bitte, wenn es ihm zu bunt wurde, dann sollte er sich doch irgendeinen geouteten Idioten suchen und mit dem ‚kuscheln‘. Ich würde ihm da sicher nicht im Weg stehen, immerhin brachte er meinen Homo-Zeitplan gehörig durcheinander – und wer wollte das schon? Eben.
Ach …
Fick dich Welt.

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„And how exactly is this your fault?“ Megan stand mit verschränkten Armen vor mir und musterte mich forsch. „Soweit ich das verstanden habe, hat er dich doch zurückgeküsst, oder?“
„Ja, aber …“ Wieso verstand sie es denn nicht? Megan verstand doch sonst immer alles – Lilly dagegen war eher bereit, auf Konfrontationskurs zu gehen. „Er hat ja gesagt, es ginge ihm alles zu schnell – und natürlich geht es ihm das, vor zwei Wochen haben wir außer Hallo und Tschüss kein Wort gewechselt und jetzt war er bereit, mir unbegrenztes Kuschelrecht einzuräumen!“ Unbegrenzt! Das hieß, ich konnte jeden Tag was einfordern – also könnte er eigentlich gleich den Koffer packen und für die nächsten zehn Tage hier einziehen. Natürlich war ich nicht dumm genug, im das wirklich vorzuschlagen, aber ich könnte es und er hatte mir die Möglichkeit dazu gegeben. Das hätte er doch niemals getan, wenn er nicht gerne hier war – im Gegenteil, wir hatten ja bereits festgestellt, dass nur gekuschelt wurde, wenn er es auch wollte. Daran, dass er den Wunsch nicht aussprechen konnte, würden wir auch noch arbeiten, aber das war erst einmal zweitrangig. Wichtig war, dass er es wollte. Mit mir. Nur küssen wollte er mich nicht. Wie konnte er es nicht wollen? Es war so … perfekt gewesen. Seine Lippen auf meinen, sein Körper an meinem und seine Arme um mich – er hatte mich doch festgehalten, nicht weggedrückt. Wie hätte ich da wissen sollen, dass er dafür nicht bereit war?
Einfach: Indem ich nur kurz nachgedacht und die Situation ohne rosarote Brille betrachtet hätte. Es war offensichtlich, dass Vyvyan Zeit brauchte; wieso musste ich ihn erst soweit bringen, mir zu sagen, dass es zu schnell ging, bevor ich das sah? Es war schließlich nicht nur offensichtlich, sondern auch verständlich – er war immer noch mit Felizitas zusammen, for God’s sake! Was hatte ich denn erwartet? Dass er zwar eine Alibifreundin hatte, aber ansonsten völlig offen war, was homosexuelle Erfahrungen anging und sich am besten auch noch vor Weihnachten in mich verliebte, damit wir glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende bleiben konnten?
Natürlich nicht. Mal ehrlich, vor einer Woche hätte ich niemals gedacht, dass er mir jemals an die Wäsche gehen würde – und genau das hat er gestern gemacht. Oder dass er freiwillig mehr Zeit als nötig mit mir verbringen würde – und das tat er doch schon die ganze Zeit über. Und schon gar nicht, dass er mich zurückküssen würde, sollte ich die Eier haben, um ihn zu küssen – er hatte, nur hatte er es nicht gewollt, grundsätzlich. Und das war auch nicht sein übliches knurriges Verhalten gewesen, nein. Er hatte mich wirklich nicht küssen wollen, das hatte ich ihm angesehen, als er es gesagt hatte. Mein einziger Trost war mir einzureden, dass er nicht mich nicht hatte küssen wollen, sondern Männer im Allgemeinen. Das machte auch mehr Sinn, vor allem nach dem ‚unbegrenzten Kuscheln‘. Aber ich Idiot hatte ja nicht warten können. Und dabei wusste ich doch, hatte miterlebt, wie schwierig es für viele war, zu akzeptieren, dass man nicht in das hetero-normative cis-gegenderte Schema passte. Nur leider erzeugte jeder noch so kleine Schritt Vyvyans auf mich zu einen unglaublichen Rausch an Glücksgefühlen, der einerseits mein Hirn ausschaltete und mich andererseits glauben ließ, dass er dasselbe wollte wie ich.
„Egal, wie viel er gibt, ich will noch mehr, noch schneller, noch dringender. Ich habe ihn überfordert und – mal ehrlich, hätte ich auch nur eine Sekunde nachgedacht, hätte mir das klar sein müssen.“ Ich seufzte und ließ mich auf den Stuhl fallen. „Leider funktioniert nachdenken in Vyvyans Nähe nicht.“
Megan biss auf ihrer Lippe herum, während sie mich betrachtete, dann wandte sie sich abrupt um zum Kühlschrank. „Ich mag Vyvyan“, begann sie und holte die Reste des Tiramisus heraus, „zumindest das, was ich von ihm gesehen habe, wenn er mit Catherine zusammen ist – den Rest zu beurteilen ist sinnfrei, da es nur eine Maske ist.“ Sie holte zwei dampfende Teller aus der Spülmaschine. „But we all wear masks, right? Some are just … a lot bigger and sturdier than others.“ Gabeln – nein, doch Esslöffel. „Und ich mag, wie du auf ihn reagierst. Es tut dir gut, endlich mal richtig verliebt zu sein.“ Sie wollte die Teller und Löffel nehmen und entschied sich dann noch einmal um – stattdessen nahm sie nur die Löffel und das Tiramisu und stellte beides vor mich hin. „Auch wenn es leichter gewesen wäre, wenn du dir jemand weniger Kompliziertes ausgesucht hättest …“
„Ich hab ihn nicht ‚ausge…“
I know“, unterbrach sie mich und drehte sich schon wieder weg, diesmal, um zwei Gläser mit gekühltem Sweet Tea zu füllen, „Du weißt, wie ich das meine. Die Ausgangssituation bei euch war alles andere als ideal und Anlaufschwierigkeiten vorprogrammiert. Obwohl ich zugeben muss, dass ich mit deutlich größeren Anlaufschwierigkeiten gerechnet hatte.“ Sie setzte sich mir gegenüber und schob ein Glas vor mich. „Let’s be honest here: Weder die Ausgangssituation noch der Zeitpunkt war ideal, und in Kombination … du bist eh schon nicht der Geduldigste, aber unter Zeitdruck potenziert sich das.“
Ich verzog mein Gesicht. Das wollte ich nicht hören. Meine Laune war eh schon im Eimer.
„Die Achterbahnfahrt, auf der ihr euch befindet, ist eine direkte Konsequenz daraus.“ Sie lächelte und hielt mir demonstrativ einen Löffel hin. „But it is, what it is, right? I say enjoy the ride!
„Hab ich vor. Aber wenn ich so weitermache, bricht er die Fahrt noch vorzeitig ab“, erwiderte ich und schob mir einen Bissen in den Mund. Lecker! Kochen konnte er wirklich – auch wenn theoretisch ich das Tiramisu gemacht hatte, bildete ich mir darauf nichts ein. Ohne Vyvyan wäre es nie was geworden. Nun verstand ich wenigstens, was alle an kochenden Männern so sexy fanden. Meine Küche, Vyvyan und Schokosauce war eine erstklassige Kombination.
„Vielleicht solltest du Lukas anrufen.“
Say what?
„Ich meine ja nur“, sagte sie und zuckte mit den Schultern, „dann wärest du wenigstens eine Art von Druck los und dadurch vielleicht weniger ungeduldig. Denk darüber nach.“

2 Kommentare:

  1. OMG
    Perfekt.
    Hab's ernsthaft so vermisst, was von dir zu lesen! :-)
    Kapitel war super und mal wieder typisch Vyv hat er's geschafft es wieder zu verbocken :D Aber dafür liebe ich ihn.
    Und ich muss mal kurz ein Lob ausprechen. Wir sind im 21 Kapitel und Hurray, Vyv akzeptiert seine Homosexualität immer noch nicht. Ich find's grausig, wenn der 'plötzlich schwule Protagonist' nach 2 kapiteln feststellt, 'oh nein, der Boy ist voll heiß, oh man ich bin schwul' *glitzer*
    Deswegen und einfach wegen der Charaktere und deren Art und Eigenschaften, bei denen du es schaffst sie bei zu behalten machen deine Geschichte so unglaublich gut :3

    Wie immer LG und bin jetzt Bubu machen :3
    Gut's Nächtle

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    1. Freut mich, dass es dir gefallen hat. :)
      Ja, das ist wirklich typisch - nicht mal einen Tag hat er ausgehalten, ohne es in den Sand zu setzen. Aber nun ja, wenigstens hat er ein schlechtes Gewissen. Baby Steps (keine Ahnung, wie oft ich mir das beim Schreiben schon sagen musste, damit ich ihm nicht den Hals umgedreht hab).
      Ja, dieses Phänomen in Geschichten, wo die Jungs sich selbst und alles innerhalb von gefühlten Sekunden akzeptieren, ist auch nicht mein Ding. Ich muss zugeben, dass ich drum mit meiner eigenen Geschichte auch Probleme hab - einerseits sinds zwar schon 21 lange Kapitel, andererseits aber ist in der Geschichte selbst noch gar nicht so viel Zeit vergangen; ich hab immer Zweifel, obs nicht zu schnell geht - und gleichzeitig SIND es schon 21 lange Kapitel und ich reg mich drüber auf, dass es so langsam vorwärts geht. xD
      Aber solange es sich beim Schreiben richtig anfühlt und keine Beschwerden kommen, denk ich mal ist alles okay.
      Vielen Dank für dein Review! :D

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