Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Montag, 25. Februar 2013

Wieder und wieder 13:

Thomas war wütend. Ich vermipßte ihn.


Klaus war so pünktlich, wie er nur sein konnte, und klingelte um halb zehn. Für mich war das das Signal, endlich meinen Arsch hochzukriegen. Ich hatte bereits die Zähne geputzt und das Bett abgezogen, die Bettwäsche in die Maschine gepackt und war wieder auf mein Zimmer zurückgegangen, um die Kisten anzustarren. Die ganze Nacht lang hatte ich wach gelegen und nicht einmal an Schlaf denken können, anfangs nicht und nachdem ich Mischa nach Mitternacht nach Hause kommen hörte schon gar nicht mehr. Tausend Mal dachte ich, dass ich einen Fehler begannen hatte, tausend Mal überlegte ich mich umzuentscheiden und tausend mal verwarf ich die Idee wieder. Jetzt zu bleiben würde nichts bringen, rückgängig machen konnte ich nämlich nichts.
Weiter kam ich ebenso wenig. Meine Gedanken sprangen von Fehler zu nicht-rückgängig-machbar und wieder zurück, ohne dass ich etwas dagegen hätte machen können. Sprung in der Platte, eben. Aber das Schlimmste war die Unruhe. Das Blut schien mir in den Adern zu kribbeln und ich wäre am liebsten dauernd aufgesprungen, nur um dann was zu machen, das wusste ich nicht. Und deshalb lag ich mucksmäuschenstill, bis der Wecker um sechs Uhr verkündete, dass es offiziell erlaubt war, aufzustehen. Eine unmenschliche Zeit, eigentlich, aber heute willkommen.
Es klingelte noch einmal und ich sprang endlich auf. Liegenbleiben und Klaus in der Kälte stehen lassen macht schließlich auch nichts besser.


***

„Bist du dir sicher?“
Ich betrachtete die letzte Kiste, die einsam im verlassenen Zimmer übrig geblieben war, und nickte.
Ja. Was sonst? Aus Spaß hatte ich die anderen sicher nicht die Treppen runtergeschleppt – vor allem nicht die Bücherkisten, die waren unverschämt schwer.
Und warum stehst du hier und starrst das Ding an als wäre es Gregor Samsa höchstpersönlich?  
Ich musste Klaus’ Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass ihm genau das auf die Stirn geschrieben stand.
Weil die Kiste es so endgültig machte. Klar, das war es schon seit gestern, aber diese letzte einsame Kiste schien mir wie die Personifizierung meines Fehlers. Schlimmer noch, die Personifizierung von Mischas traurigem Blick, der gestern unter all der Wut trotzdem unverkennbar gewesen war. Wenigstens hatte ich ihn heute nicht sehen müssen.
Ach, süße Feigheit.
„Hol du die Wäsche aus’m Trockner“, brummte Klaus schließlich, „ich mach das.“ 
„Kay.“ Ich nickte erleichtert und verschwand in den kleinen Abstellraum, der uns gleichzeitig als Waschküche diente.
Das Programm war noch nicht ganz durch und so wartete ich die wenigen Minuten ab. Danach faltete ich die Bettwäsche und stapelte sie. Strich noch einmal glättend darüber. Reinigte den Filter des Trockners. Kontrollierte, dass auch alles seine Richtigkeit hatte. Schließlich, als mir die Ausreden ausgingen, ging ich zurück in mein Zimmer, wo ich erneut auf die Kiste traf.
Häh?
Ich legte die Wäsche auf die Matratze und trat zurück ins Wohnzimmer, auf der Suche nach Klaus … der wenige Herzschläge später aus dem Zimmer neben meinem kam. Mischas Zimmer.
Was zum …?!
Ich stand da wie versteinert, bis er die Zimmertür zuzog, dann eilte ich auf ihn zu.
„Klaus …!“
Doch er zuckte nur mit den Schultern. „Der hat eh längst nicht mehr geschlafen.“
Das war nicht der Punkt! Das war verdammt noch mal weder der verdammte Punkt noch der beschissene Kern der Sache! Was hatte er in Mischas Zimmer zu suchen?
„Können wir?“, fragte er und ging Richtung Flur, „Und vergiss die Kiste nicht!“
„Was hast du gemacht?“
Er schenkte mir einen deutlichen „Na, was wohl?“-Blick.
„Kurz geredet.“
Das konnte ich mir denken.
„Worüber?!“, fauchte ich leise und schnappte mir die Kiste, um ihm nachzueilen. Klaus mochte Fremde nicht – ging ihnen zeitweise so sehr aus dem Weg, dass es fast schon an soziale Phobie grenzte. Aber er war in Mischas Zimmer gegangen. Von sich aus.
„Sorry, aber das war ein Männergespräch.“ In anderen Worten: Das geht dich nichts an. Er hielt mir die Tür auf, schloss sie hinter mir.
„Ich bin auch ein Mann!“ Einer, der versuchte, nicht daran zu denken, dass er gerade die Wohnung wirklich verlassen hatte. Einer, der lieber die Treppen hinunterstampfte, als das Gefühl in seinem Innern zu analysieren.
„Gerade verhältst du dich eher wie eine Maus.“
Manchmal, beschloss ich, war Freundesmord durch Strangulation absolut gesellschaftlich akzeptabel.

***

Zwei Wochen. Zwei beschissene Wochen. Nicht wegen Anita, die das Arbeitszimmer wirklich so gut wie auf die Schnelle möglich leergeräumt hatte. Nicht wegen Klaus, der sich nicht beklagte, dass er nun tagsüber im Schlafzimmer und nachts im Wohnzimmer mit seinem Computer kuscheln musste. Nicht wegen der Uni, wo alles so rund lief, wie es nur konnte – mit Ausnahme von Statistik, verstand sich. Da konnte ich mich jetzt nämlich gar nicht mehr konzentrieren, sah statt der drei Kolmogorov-Axiome grüne Sprenkel, Leberflecke und Zombiefilme. Nun, nächstes Semester war auch noch ein Semester.
Nein, die Wochen waren beschissen, weil er eben nicht da war. Ich wusste, dass es besser werden, irgendwann schließlich verschwinden würde, aber ich hatte nicht erwartet, dass ich so weit unten anfangen müsste. Ich hatte doch versucht, Abstand zu wahren. Vor dem fatalen Wochenende hätte ich auch steif und fest behauptet, es durchaus im Griff zu haben. Und nun kam ich zu nichts, einfach, weil er nicht da war.
Das war doch Bullenscheiße! Ich kannte ihn knapp zwei Monate und hatte noch nicht einmal mit ihm geschlafen. Michael war ein ganzes Jahr mein Partner gewesen und ich hatte ihn in flagranti erwischt und – und trotzdem tat das jetzt zwar anders, aber mindestens genauso weh. Mindestens.
So war das definitiv nicht geplant gewesen.
Anita schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mich abzulenken. Ich wusste nicht, ob ich darüber froh oder genervt war, aber die letzten Tage hatten wir von Kino und mehreren Cafébesuchen über Shopping zu einem Barbesuch mit Live-Band alles gemacht. Alles möglichst Dinge, wo man keine Gelegenheit zum Nachdenken hatte – was gut war. Allerdings konnte sie nicht ändern, dass ich abends zwischen meinen Kisten auf der Luftmatratze lag und dann dennoch meiner ganz persönlichen Art von nicht-nachdenken nachging.
Auch heute hatten wir uns nach der Uni getroffen und eine Frühvorstellung eines modernen Theaterstücks angesehen.
Nicht. Mein. Ding.
Das wusste ich jetzt und konnte getrost mein Leben als Kunstbanause weiterleben. Das einzig Gute daran war, dass ich nach der ersten Hälfte schwer vermissten Schlaf nachholen konnte. Es reichte zwar immer noch nicht, aber es war ein Anfang. Vielleicht sogar der Anfang vom Ende der ebenfalls beschissenen, emotional induzierten Insomnia. Das wäre doch mal was.
Auch wenn er deswegen immer noch nicht da war.
Verdammt! Wo war ein Blitzdings, wenn man es brauchte?! Momentan hätte ich echt mein letztes Hemd dafür gegeben! Die einzige Frage wäre, wem ich es in die Hand geben würde. Anita? Gruselige Vorstellung, sie hatte mich so schon bei den Eiern. Klaus? Nein, dann würde ich wahrscheinlich entweder eine Erinnerung aus zwei oder drei Wörtern bekommen oder aber eine, die ich hinten und vorne nicht verstand. Blieb noch meine kleine Schwester, Rosa, die mir Vom Winde Verweht als Lieblingsfilm aufquatschen und mich mich zurück ins Dorf wünschen lassen würde. Und meine Eltern …
„Klaus hat den neuen James Bond gezogen“, sagte Anita und unterbrach meine Gedankengänge, als sie die Tür aufschloss, „wollen wir uns den heute Abend ansehen? Ich muss  mich erst noch auf das Seminar morgen vorbereiten, aber danach? Ich koche uns auch was Leckeres.“
„Gerne“, erwiderte ich und versuchte, nicht daran zu denken, wann das letzte Mal jemand – Michael – vom neuen James Bond-Film gesprochen hatte – an besagtem Samstag.
„Klaus meinte heute Mittag auch, er habe ein Bett gefunden, das wir nur abholen müssten. Kannst es dir ja gleich mal anschauen.“
Wir zogen Jacken und Schuhe aus und sie ging den schmalen Flur entlang, auf dem Weg ins Wohnzimmer.
„Scha…“, begann sie, blieb aber mitten im Schritt stehen, „Oh.“
Oh?
‚Oh‘ war bei Anita nie gut. Überraschungen mochte sie nicht besonders.
Ich stellte mich neben sie und sah mich sofort Thomas’ Blick ausgesetzt. Thomas’ verdammt wütendem Blick. Meine erste Reaktion: Fuck. Die zweite: Häh? Was hatte ich jetzt wieder verbrochen? Ich hatte ihn doch seit dem Auszug nicht mehr gesehen, weder Thomas noch ihn noch sowieso!
„Schatz, das ist Thomas. Aus der WG“, erklärte Klaus ruhig, fast schon gelangweilt und stand auf.
„Hallo“, sagte sie verwirrt-kühl und setzte zu noch etwas an – wahrscheinlich Was machst du hier? – aber bevor sie sprechen konnte, nahm Klaus sie beim Arm und drängte sie sanft aber bestimmt rückwärts in den Flur zurück.
„Komm, wir gehen in die Küche.“
„Schatz? Was wird das?“
„Und bleiben da“, fügte er hinzu, ohne auf ihre Frage einzugehen. Dann warf er mir einen undeutbaren Blick zu und bugsierte Anita tatsächlich in die Küche. Und schloss die Tür hinter ihnen.
Ähm … okay?
Ich wandte mich wieder zu Thomas und zwang mich, trotz seines Gesichtsausdrucks einen Schritt ins Wohnzimmer hinein zu machen.
„Hallo …“ Meine Stimme erstarb. Im Hintergrund hörte ich Anita fragen, was das sollte.
„Milo.“ Er lächelte und das Lächeln alleine sah fast aus wie immer, nur in Verbindung mit den Augen wurde es beinahe – nein, streich das, es wurde verdammt gruselig. „Lange nicht gesehen.“
Na ja, lange war relativ, zwei Wochen waren doch …
„Oder gesprochen.“
… noch gar nicht …
„Getextet.“
Äh –
„Ge-irgendwas-t.“
Wo war mein Zimmer noch mal? Zwei Schritte zurück in den Flur, an der Küche vorbei links? Wenn ich sprintete, würde ich es schaffen?
„Setz dich doch.“ Der freundliche Ton passte immer noch nicht zur Wirkung, die die Worte auf mich hatten. Ich zögerte. Er hob einen Augenbraue. Ich zwang mich, der Aufforderung Folge zu leisten.
„Ich … tut mir leid“, murmelte ich, allerdings mehr, weil es offenbar erwartet wurde, als aus Überzeugung. Ich meine, Thomas war sein Kumpel. War doch klar, dass ich mich da zurückhielt. Ich hätte ja auch keine Freude daran gehabt, wenn Michael und Klaus nach der Trennung plötzlich dicke gewesen wären. Okay, Klaus und Michael hatten sich nie gut verstanden, also wäre das seltsam gekommen, aber …
„Tut es das?“ So, jetzt passte auch der Ton, der hart und abweisend geworden war. Leider machte das so gar nichts besser. Thomas wütend war … unheimlich.
„Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen“, erwiderte ich lahm, „Aber du bist … schon länger … und … ich dachte …“
„Hast du das? Nachgedacht?“
Vielleicht war es besser, wenn ich einfach die Klappe hielt.
… Nein. Denn mit jeder Sekunde, die stumm verstrich, kniff Thomas seine Augen ein bisschen stärker zusammen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie so blitzen konnten.
Das Problem war, dass mein Mund immer trockener und meine Kehle immer enger wurde, und ich bald sicher war, nie mehr auch nur einen Pieps herauszubekommen. Ich hatte mich anscheinend schon wieder falsch verhalten, es wieder verkackt, obwohl ich diesmal nichts gemacht hatte. Und genau das war der Fehler gewesen. Aber mich bei Thomas zu melden, das … abgesehen davon, dass es schwierig gewesen wäre, weil ich da auch an ihn hätte denken müssen …
Ich zuckte verhalten mit einer Schulter.
Verdammt noch mal, Milo!“ Thomas schoss vom Sofa auf und ich zuckte zusammen, nicht nur wegen der Bewegung, sondern auch wegen der Lautstärke. „Wenigstens auf die ‚Lebst du noch?!‘-SMS hättest du antworten können!“
„Ich …“
„Ja, du!“, unterbrach er mich, „Du bist nicht der einzige Mensch auf Erden, ist dir das eigentlich bewusst? Wir anderen sind auch keine bloßen Statisten oder Sprechrollen, die nur dazu da sind, damit die Straßen nicht so leer aussehen!“
Er kam auf mich zu, bis er vor meinem Sessel stand und über mir aufragte wie der Rachegott Anteros persönlich.
„Ich bin niemand, der vier Monate mit einem anderen Menschen zusammenleben kann ohne dass mir sein Wohlergehen ans Herz wächst – gerade nach dem, was zwischen euch passiert ist! Das sollte dir eigentlich bewusst sein!“
Ich schluckte. Thomas’ Stimme war laut genug, um selbst die am weitesten entfernten Nachbarn noch an dem hier teilhaben zu lassen.
„Ich …“
„Du hältst jetzt mal die Klappe!“
In der kurzen Pause, die auf die Worte folgte, hörte ich erneut Stimmen aus der Küche, aber sie klangen verschwommen, unwirklich. Weit, weit weg. Thomas dagegen war hier und füllte den ganzen Raum mit seiner Präsenz aus.
„Warum versuchst du nicht mal, dich in andere hineinzuversetzen?! Mir ist auch klar, dass du da deine Schwierigkeiten hast, aber Übung macht den verfluchten Meister!
Aber – das hatte ich doch versucht. Ich hatte versucht, zu tun, was richtig war, nachdem ich die WG verlassen hatte. Thomas war sein Freund, die beiden kannten sich schon … keine Ahnung, wie lange, aber länger als wir uns kannten.
Vier Monate und ich wusste nicht einmal, wie lange sie sich kannten oder weshalb sie zusammenwohnten.
Ich blinzelte, starrte in seine Augen und fühlte mich plötzlich richtig mies. Das Selbstmitleid bisher war ein Witz dagegen gewesen, denn jetzt – scheiße, ich konnte es nicht in Worte fassen, ich konnte nicht sagen, wo genau der Fehler lag, dazu war ich zu aufgewühlt und Thomas zu nah, mittlerweile zu stark über mich gebeugt und sein Blick zu lodernd und – verletzt. Enttäuscht. Verständnislos. Das war schlimmer als die Wut, denn ich hatte nun wirklich gar keinen Grund, auch keinen aus feigem Selbstschutz, Thomas zu verletzen. Thomas war von Anfang an für mich da gewesen, grundlos.
Ich hatte nichts gemacht. Und Thomas damit verletzt.
Er schien plötzlich zu bemerken, wie nah er über mir stand und dass ich mich in den Sessel drängte, erstarrte und atmete zitternd aus. Dann ging er zurück zum Sofa und setzte sich hin. 
Die Stille war wie Nägel auf Wandtafel.
Ich war mir ziemlich sicher, dass es an mir war, etwas zu sagen, aber mir fiel rein gar nichts ein. Nichts, was irgendetwas erklärt oder entschuldigt oder besser gemacht hätte. Nichts, das auf dem Weg von meinem Bauch zu meinem Mund nicht zu einem gestammelten Unsinn verkommen wäre. Nichts.
Thomas Blick lag auf mir, immer noch wütend, immer noch enttäuscht und verletzt, auch wenn das jetzt wieder in den Hintergrund getreten war.
„Du siehst scheiße aus“, sagte er irgendwann, „geschieht dir recht.“

Ich wusste nicht, wie lange Thomas und ich uns schweigend gegenübergesessen waren, bis er mir sagte, dass sie einen neuen Mitbewohner gefunden und ich deshalb ab Dezember keine Miete mehr zahlen musste. Gut für mich, half mir aber auch nur am Rande. Und eigentlich war es unwichtig.
Schließlich stand er auf und ich brachte ihn zur Tür, wortlos. Er nahm seine Jacke, schlüpfte in die Schuhe, öffnete die Tür und trat hindurch. Ging auf die Treppe zu.
„Thomas?“
Drehte sich um.
„Wie … also … wie geht’s …?“
Sein Blick blieb ruhig, die Stimme kühl. „Warum fragst du ihn nicht selbst?“
Mein Mund imitierte den eines Goldfisches für mehrere Augenblicke, bevor ich stammelte: „Ich … ich kann – ich … habe …“ und wieder abbrach. Ja, Eloquenz war wirklich mein Ding heute. Ich hätte Dichter werden sollen.
Thomas Augen verengten sich und die Wut blitzte erneut auf, als er plötzlich auf mich zu kam, sich an mir vorbei durch die Tür drängte und den Stift auf der Kommode nahm, um etwas auf den farbigen Notizblock zu kritzeln, den Anita und Klaus für Einkaufslisten und Kurznachrichten à la „Bin bei Freundinnen. Komme gegen 8“ benutzten.   
„Hier.“ Er drückte mir den pinkfarbenen Zettel in die Hand und verließ die Wohnung diesmal endgültig. „Lass mich wissen, was dir sonst noch alles für Ausreden einfallen.“ Dann war er weg.
Auf dem Zettel stand eine Handynummer. Nicht Thomas’.

***

Anita war stinksauer und Klaus angepisst. Ich hatte das Gekeife erst bemerkt, als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, die Tür hinter Thomas zu schließen, aber eins war klar: Aus dem gemütlichen Abend vor der Glotze wurde nichts. Darauf hätte ich aber sowieso keine Lust mehr gehabt, also kam es mir entgegen – wenn man von der Tatsache absah, dass sich nun auch meine beiden besten Freunde wegen mir stritten. Ganz großes Kino.
Und kurz darauf stürmte Anita raus. Ich ging zu Klaus, der mit verkniffenem Gesicht in der Küche stand und so intensiv ins Leere starrte, als wolle er es vernichten.
Ich klopfte an den Türrahmen und er sah auf. Musterte mich. Brummte:
„Na also. Hast’s ja überlebt.“
Ich nickte. Hatte ich. Nur wissen, was ich nun tun sollte, tat ich nicht. Mich bald mal – nicht mehr heute, aber in den nächsten Tagen – bei Thomas melden, das war klar. Und sonst …
Der Notizzettel knisterte, als ich meine Hand darum ballte.
Das ging doch nicht. Ich konnte mich nicht bei ihm melden. Wie käme das denn? Hey, ich weiß, ich hab mich voll scheiße benommen, aber ich wollte trotzdem mal wissen, wie’s dir jetzt so geht?
Nein.
Ich stopfte den Zettel in meine Hosentasche und sah wieder zu Klaus. Ich wusste, dass er mit Streit nicht besonders gut umgehen konnte, vor allem nicht, wenn der Streit mit Anita war.
„Lust auf ein Bierchen oder zwei?“
Er sah mich einen Moment unbewegt an, dann nickte er. „Oder zehn.“

***

Am nächsten Morgen hatte ich den Kater meines Lebens. Es war nicht bei zehn Bier geblieben. Oder besser: Es war nicht bei Bier geblieben. Oder der Zahl zehn. Wir hatten uns einmal durch die Bar getrunken, von Absinth über Tequila zu Whisky. Keine. Gute. Idee.
Ich erwachte neben der Luftmatratze und bemerkte einen dumpfen Schmerz in meiner Schulter, bevor mein Kopf explodierte und mein Hals Feuer fing. Und dann erwachte mein Magen und ich stemmte mich hoch, trotz der Schmerzen und der Karussellfahrt, die mein Kopf gerade im Alleingang durchzog, während meine Füße Tango tanzen und meine Knie Radfahren wollten. Ich schaffte es bis ins Bad, gerade so. Und nachdem ich mir nicht nur die Seele, sondern gleich auch Hirn und Herz und Verstand und Karma und Schutzengel und was es sonst noch so alles gab aus dem Leib gekotzt hatte, schaffte ich es, die Spülung zum dritten und hoffentlich letzten Mal zu betätigen und meinen Oberkörper über den Badewannenrand zu hieven, um an sauberes Wasser zu kommen. Dass ich im ersten Moment vergaß, das Wasser vom Duschkopf auf den Hahn umzustellen, war nebensächlich. Vielmehr war stolz darauf, dass ich den Mund sogar kurz halbpatzig ausspülte, bevor ich zu trinken begann.
Viel war mir vom vergangenen Abend – der vergangenen Nacht – nicht mehr geblieben. Ich hatte erstaunlicherweise keinen Blackout, aber es war alles schemenhaft. Wie ein Bild, das nur kurz durch das Blitzen eines Fotoapparates erhellt wird: Der Barstuhl, der so klein und unbequem war, dass man dachte, die Besitzer wollten die Leute vom Bleiben und somit Trinken abhalten; der dreckige Tresen, der beißende Geschmack von Hochprozentigem; „Warum handelst du nicht einfach mal aus dem Bauch raus, statt danach, was du denkst, dass richtig ist – oder andere sagen, dass richtig sei?“; die verschwommenen Gesichter von zwei Mädchen, die beleidigt irgendwelche vergessenen Beschimpfungen ausspuckten; „Wenn dein Bauch falsch liegt, liegt er halt falsch. Is’ scheiße, aber nic’‘ tödlich.“; Nüsse in einer dunkelgrünen Schale; „Wenn isch dir das sagn muss, haste echt ’n Problem.“; noch mehr Alkohol;  der Barkeeper, der sich weigerte, uns noch mehr zu geben, bis wir ihm einen Zwanziger zur Aufbewahrung fürs Taxi hinhielten; „Mach doch!“; der wenig elegante Versuch, etwas vom Boden aufzuheben; ein Licht, das gleichzeitig zu grell und zu matt war; „Keene Ahnng. Wasagt’n dein Bauch?“; Tasten, klein, viel zu klein und friemelig; der Barkeeper, diesmal plötzlich nicht mehr hinter der Bar; „Das Taxi ist da.“; viele vorbeizischende Lichter; „Wssa? Chwas, sowiel hamma nüsch gtrunkn.“; Anita im Schlafanzug; „Selber schuld.“
Irgendwas störte mich. Irgendwas … aber erst mal mehr Wasser. Mehr und mehr und mehr und – oh Scheiße, das war zu viel gewesen!
Kurz darauf spülte ich noch ein viertes Mal. Und ich hatte immer noch Durst. Noch mehr als zuvor, so schien es mir. Und mein Hirn versuchte in einem Moment, sich auf Nanogröße zusammenzuziehen, und im nächsten, sich mit Gewalt einen Weg aus meinem Schädel zu schlagen. Uach. 
Eine Hand erschien vor meinem Gesicht mit drei Aspirin darauf. Ich nahm sie, wollte sie schlucken und – „Hilft schneller so.“ – biss dann entschieden darauf.
Uwäh!
Ich spukte die Dinger hastig aus und drehte das Wasser auf, um meinen Mund auszuwaschen, aber der beißend-bittere Geschmack blieb auf meiner pelzigen Zunge kleben wie Öl auf Vogelfedern.
Ein Schnalzen. Knistern. Drei neue Pillen.
„Hier. Schlucken, diesmal. Mit Wasser!“
Ich tat wie geheißen. Danach wurde mir buchstäblich unter die Arme gegriffen.
„Boah, du musst echt unter die Dusche! Aber wenigstens hast du nicht neben das Bett gekotzt.“
Sie bugsierte mich zurück in mein Zimmer und hatte die Güte, die Vorhänge zuzuziehen.
„Ich bring dir Wasser, noch zwei Aspirin für später und einen Eimer, falls da noch mehr rauswill.“ Dann war sie gegangen und ich driftete weg.

***

Als ich das nächste Mal erwachte, tat die Welt zwar weniger weh, aber immer noch genug. Und mein Magen war – flau. Oder mau? Oder was auch immer Mägen waren, wenn es ihnen nicht gut ging, sie aber noch deutliche Erinnerungen an noch beschissenere Zeiten hatten.
Die Aspirin waren das erste, was dran glauben musste. Dann die Hälfte von einer der beiden Wasserflaschen, die neben dem Bett standen. Besser. Aber irgendetwas hämmerte immer noch gegen meine Schädeldecke, etwas von und mit Tasten und schwachem Licht und Nachricht versendet.
Moment – Nachricht?
Mit einem Schlag war mir eiskalt und ich wünschte mir die Kloschüssel herbei, obwohl ich wusste, dass mein Magen nichts mehr hergab.
Ich fischte auf dem Boden nach meiner Hose – hatte ich die vorher nicht noch angehabt? – und zog mein Handy hervor. Ein Knopfdruck und die Uhrzeit – 17:16 – blinkte mir entgegen. Also hatte ich weder Anrufe noch Nachrichten bekommen. Gut. Das machte Hoffnung. Wenn niemand reagiert hatte, dann vielleicht deshalb, weil es nichts gab, worauf man reagieren konnte. Ich drückte mich durch, bis ich zum Gesendetordner der Nachrichten kam. Und dann wäre ich am liebsten gestorben. Da war tatsächlich eine neue, heute Morgen um halb vier verschickt. Und da keine Fehlermeldung zurückgekommen war … aber vielleicht hatte ich mich in der Nummer vertippt. Ich war schließlich – ja, jetzt konnte ich es zugeben – sturzbesoffen gewesen! Sich nicht zu vertippen wäre ein Wunder.
Also suchte ich in den Hosen nach dem Zettel und fand ihn tatsächlich wieder. Nach dreimaligen überprüfen musste ich dann allerdings einsehen, dass Karma wirklich ein Miststück war, denn die Nummer war so ziemlich das einzige, bei dem ich keine Fehler gemacht hatte.
Tut so alles leid. Vermipß dich.

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