Thomas war wütend. Ich vermipßte ihn.
Klaus war so pünktlich, wie
er nur sein konnte, und klingelte um halb zehn. Für mich war das das Signal,
endlich meinen Arsch hochzukriegen. Ich hatte bereits die Zähne geputzt und das
Bett abgezogen, die Bettwäsche in die Maschine gepackt und war wieder auf mein
Zimmer zurückgegangen, um die Kisten anzustarren. Die ganze Nacht lang hatte
ich wach gelegen und nicht einmal an Schlaf denken können, anfangs nicht und
nachdem ich Mischa nach Mitternacht nach Hause kommen hörte schon gar nicht
mehr. Tausend Mal dachte ich, dass ich einen Fehler begannen hatte, tausend Mal
überlegte ich mich umzuentscheiden und tausend mal verwarf ich die Idee wieder.
Jetzt zu bleiben würde nichts bringen, rückgängig machen konnte ich nämlich
nichts.
Weiter kam ich ebenso wenig.
Meine Gedanken sprangen von Fehler zu nicht-rückgängig-machbar und wieder
zurück, ohne dass ich etwas dagegen hätte machen können. Sprung in der Platte,
eben. Aber das Schlimmste war die Unruhe. Das Blut schien mir in den Adern zu
kribbeln und ich wäre am liebsten dauernd aufgesprungen, nur um dann was zu
machen, das wusste ich nicht. Und deshalb lag ich mucksmäuschenstill, bis der
Wecker um sechs Uhr verkündete, dass es offiziell erlaubt war, aufzustehen.
Eine unmenschliche Zeit, eigentlich, aber heute willkommen.
Es klingelte noch einmal und
ich sprang endlich auf. Liegenbleiben und Klaus in der Kälte stehen lassen
macht schließlich auch nichts besser.
***
„Bist du dir sicher?“
Ich betrachtete die letzte
Kiste, die einsam im verlassenen Zimmer übrig geblieben war, und nickte.
Ja. Was sonst? Aus Spaß hatte
ich die anderen sicher nicht die Treppen runtergeschleppt – vor allem
nicht die Bücherkisten, die waren unverschämt schwer.
Und warum stehst du
hier und starrst das Ding an als wäre es Gregor Samsa höchstpersönlich?
Ich musste Klaus’ Gesicht
nicht sehen, um zu wissen, dass ihm genau das auf die Stirn geschrieben stand.
Weil die Kiste es so endgültig
machte. Klar, das war es schon seit gestern, aber diese letzte einsame Kiste
schien mir wie die Personifizierung meines Fehlers. Schlimmer noch, die
Personifizierung von Mischas traurigem Blick, der gestern unter all der Wut
trotzdem unverkennbar gewesen war. Wenigstens hatte ich ihn heute nicht sehen
müssen.
Ach, süße Feigheit.
„Hol du die Wäsche aus’m
Trockner“, brummte Klaus schließlich, „ich mach das.“
„Kay.“ Ich nickte erleichtert
und verschwand in den kleinen Abstellraum, der uns gleichzeitig als Waschküche
diente.
Das Programm war noch nicht
ganz durch und so wartete ich die wenigen Minuten ab. Danach faltete ich die
Bettwäsche und stapelte sie. Strich noch einmal glättend darüber. Reinigte den
Filter des Trockners. Kontrollierte, dass auch alles seine Richtigkeit hatte.
Schließlich, als mir die Ausreden ausgingen, ging ich zurück in mein Zimmer, wo
ich erneut auf die Kiste traf.
Häh?
Ich legte die Wäsche auf die Matratze
und trat zurück ins Wohnzimmer, auf der Suche nach Klaus … der wenige
Herzschläge später aus dem Zimmer neben meinem kam. Mischas Zimmer.
Was zum …?!
Ich stand da wie versteinert,
bis er die Zimmertür zuzog, dann eilte ich auf ihn zu.
„Klaus …!“
Doch er zuckte nur mit den
Schultern. „Der hat eh längst nicht mehr geschlafen.“
Das war nicht der Punkt! Das
war verdammt noch mal weder der verdammte Punkt noch der beschissene Kern der
Sache! Was hatte er in Mischas Zimmer zu suchen?
„Können wir?“, fragte er und
ging Richtung Flur, „Und vergiss die Kiste nicht!“
„Was hast du gemacht?“
Er schenkte mir einen
deutlichen „Na, was wohl?“-Blick.
„Kurz geredet.“
Das konnte ich mir denken.
„Worüber?!“, fauchte ich
leise und schnappte mir die Kiste, um ihm nachzueilen. Klaus mochte Fremde
nicht – ging ihnen zeitweise so sehr aus dem Weg, dass es fast schon
an soziale Phobie grenzte. Aber er war in Mischas Zimmer gegangen. Von sich
aus.
„Sorry, aber das war ein
Männergespräch.“ In anderen Worten: Das geht dich nichts an. Er hielt
mir die Tür auf, schloss sie hinter mir.
„Ich bin auch ein Mann!“
Einer, der versuchte, nicht daran zu denken, dass er gerade die Wohnung
wirklich verlassen hatte. Einer, der lieber die Treppen hinunterstampfte, als
das Gefühl in seinem Innern zu analysieren.
„Gerade verhältst du dich
eher wie eine Maus.“
Manchmal, beschloss ich, war
Freundesmord durch Strangulation absolut gesellschaftlich akzeptabel.
***
Zwei Wochen. Zwei beschissene
Wochen. Nicht wegen Anita, die das Arbeitszimmer wirklich so gut wie auf die
Schnelle möglich leergeräumt hatte. Nicht wegen Klaus, der sich nicht beklagte,
dass er nun tagsüber im Schlafzimmer und nachts im Wohnzimmer mit seinem
Computer kuscheln musste. Nicht wegen der Uni, wo alles so rund lief, wie es
nur konnte – mit Ausnahme von Statistik, verstand sich. Da konnte ich
mich jetzt nämlich gar nicht mehr konzentrieren, sah statt der drei
Kolmogorov-Axiome grüne Sprenkel, Leberflecke und Zombiefilme. Nun, nächstes
Semester war auch noch ein Semester.
Nein, die Wochen waren
beschissen, weil er eben nicht da war. Ich wusste, dass es besser werden,
irgendwann schließlich verschwinden würde, aber ich hatte nicht erwartet, dass
ich so weit unten anfangen müsste. Ich hatte doch versucht, Abstand zu wahren.
Vor dem fatalen Wochenende hätte ich auch steif und fest behauptet, es durchaus
im Griff zu haben. Und nun kam ich zu nichts, einfach, weil er nicht da war.
Das war doch Bullenscheiße!
Ich kannte ihn knapp zwei Monate und hatte noch nicht einmal mit ihm
geschlafen. Michael war ein ganzes Jahr mein Partner gewesen und ich hatte ihn in
flagranti erwischt und – und trotzdem tat das jetzt zwar anders, aber
mindestens genauso weh. Mindestens.
So war das definitiv nicht
geplant gewesen.
Anita schien es sich zur
Aufgabe gemacht zu haben, mich abzulenken. Ich wusste nicht, ob ich darüber froh
oder genervt war, aber die letzten Tage hatten wir von Kino und mehreren
Cafébesuchen über Shopping zu einem Barbesuch mit Live-Band alles gemacht.
Alles möglichst Dinge, wo man keine Gelegenheit zum Nachdenken
hatte – was gut war. Allerdings konnte sie nicht ändern, dass ich
abends zwischen meinen Kisten auf der Luftmatratze lag und dann dennoch meiner
ganz persönlichen Art von nicht-nachdenken nachging.
Auch heute hatten wir uns
nach der Uni getroffen und eine Frühvorstellung eines modernen Theaterstücks
angesehen.
Nicht. Mein. Ding.
Das wusste ich jetzt und
konnte getrost mein Leben als Kunstbanause weiterleben. Das einzig Gute daran
war, dass ich nach der ersten Hälfte schwer vermissten Schlaf nachholen konnte.
Es reichte zwar immer noch nicht, aber es war ein Anfang. Vielleicht sogar der
Anfang vom Ende der ebenfalls beschissenen, emotional induzierten Insomnia. Das
wäre doch mal was.
Auch wenn er deswegen immer
noch nicht da war.
Verdammt! Wo war ein Blitzdings,
wenn man es brauchte?! Momentan hätte ich echt mein letztes Hemd dafür gegeben!
Die einzige Frage wäre, wem ich es in die Hand geben würde. Anita? Gruselige
Vorstellung, sie hatte mich so schon bei den Eiern. Klaus? Nein, dann würde ich
wahrscheinlich entweder eine Erinnerung aus zwei oder drei Wörtern bekommen
oder aber eine, die ich hinten und vorne nicht verstand. Blieb noch meine
kleine Schwester, Rosa, die mir Vom Winde Verweht als Lieblingsfilm
aufquatschen und mich mich zurück ins Dorf wünschen lassen würde. Und meine
Eltern …
„Klaus hat den neuen James
Bond gezogen“, sagte Anita und unterbrach meine Gedankengänge, als sie die Tür
aufschloss, „wollen wir uns den heute Abend ansehen? Ich muss mich erst noch auf das Seminar morgen
vorbereiten, aber danach? Ich koche uns auch was Leckeres.“
„Gerne“, erwiderte ich und
versuchte, nicht daran zu denken, wann das letzte Mal
jemand – Michael – vom neuen James Bond-Film gesprochen
hatte – an besagtem Samstag.
„Klaus meinte heute Mittag
auch, er habe ein Bett gefunden, das wir nur abholen müssten. Kannst es dir ja
gleich mal anschauen.“
Wir zogen Jacken und Schuhe
aus und sie ging den schmalen Flur entlang, auf dem Weg ins Wohnzimmer.
„Scha…“, begann sie, blieb
aber mitten im Schritt stehen, „Oh.“
Oh?
‚Oh‘ war bei Anita nie gut.
Überraschungen mochte sie nicht besonders.
Ich stellte mich neben sie
und sah mich sofort Thomas’ Blick ausgesetzt. Thomas’ verdammt wütendem Blick.
Meine erste Reaktion: Fuck. Die zweite: Häh? Was hatte ich jetzt wieder
verbrochen? Ich hatte ihn doch seit dem Auszug nicht mehr gesehen, weder Thomas
noch ihn noch sowieso!
„Schatz, das ist Thomas. Aus
der WG“, erklärte Klaus ruhig, fast schon gelangweilt und stand auf.
„Hallo“, sagte sie
verwirrt-kühl und setzte zu noch etwas an – wahrscheinlich Was
machst du hier? – aber bevor sie sprechen konnte, nahm Klaus sie
beim Arm und drängte sie sanft aber bestimmt rückwärts in den Flur zurück.
„Komm, wir gehen in die
Küche.“
„Schatz? Was wird das?“
„Und bleiben da“, fügte er
hinzu, ohne auf ihre Frage einzugehen. Dann warf er mir einen undeutbaren Blick
zu und bugsierte Anita tatsächlich in die Küche. Und schloss die Tür hinter
ihnen.
Ähm … okay?
Ich wandte mich wieder zu
Thomas und zwang mich, trotz seines Gesichtsausdrucks einen Schritt ins
Wohnzimmer hinein zu machen.
„Hallo …“ Meine Stimme
erstarb. Im Hintergrund hörte ich Anita fragen, was das sollte.
„Milo.“ Er lächelte und das
Lächeln alleine sah fast aus wie immer, nur in Verbindung mit den Augen wurde
es beinahe – nein, streich das, es wurde verdammt gruselig.
„Lange nicht gesehen.“
Na ja, lange war relativ,
zwei Wochen waren doch …
„Oder gesprochen.“
… noch gar nicht …
„Getextet.“
Äh –
„Ge-irgendwas-t.“
Wo war mein Zimmer noch mal?
Zwei Schritte zurück in den Flur, an der Küche vorbei links? Wenn ich
sprintete, würde ich es schaffen?
„Setz dich doch.“ Der
freundliche Ton passte immer noch nicht zur Wirkung, die die Worte auf mich
hatten. Ich zögerte. Er hob einen Augenbraue. Ich zwang mich, der Aufforderung
Folge zu leisten.
„Ich … tut mir
leid“, murmelte ich, allerdings mehr, weil es offenbar erwartet wurde, als aus
Überzeugung. Ich meine, Thomas war sein Kumpel. War doch klar, dass ich
mich da zurückhielt. Ich hätte ja auch keine Freude daran gehabt, wenn Michael
und Klaus nach der Trennung plötzlich dicke gewesen wären. Okay, Klaus und
Michael hatten sich nie gut verstanden, also wäre das seltsam gekommen,
aber …
„Tut es das?“ So, jetzt
passte auch der Ton, der hart und abweisend geworden war. Leider machte das so
gar nichts besser. Thomas wütend war … unheimlich.
„Ich wollte dich nicht vor
den Kopf stoßen“, erwiderte ich lahm, „Aber du bist … schon
länger … und … ich dachte …“
„Hast du das? Nachgedacht?“
Vielleicht war es besser,
wenn ich einfach die Klappe hielt.
… Nein. Denn mit jeder
Sekunde, die stumm verstrich, kniff Thomas seine Augen ein bisschen stärker
zusammen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie so blitzen konnten.
Das Problem war, dass mein
Mund immer trockener und meine Kehle immer enger wurde, und ich bald sicher
war, nie mehr auch nur einen Pieps herauszubekommen. Ich hatte mich anscheinend
schon wieder falsch verhalten, es wieder verkackt, obwohl ich diesmal nichts
gemacht hatte. Und genau das war der Fehler gewesen. Aber mich bei Thomas zu
melden, das … abgesehen davon, dass es schwierig gewesen wäre, weil
ich da auch an ihn hätte denken müssen …
Ich zuckte verhalten mit
einer Schulter.
„Verdammt noch mal,
Milo!“ Thomas schoss vom Sofa auf und ich zuckte zusammen, nicht nur wegen der
Bewegung, sondern auch wegen der Lautstärke. „Wenigstens auf die ‚Lebst du
noch?!‘-SMS hättest du antworten können!“
„Ich …“
„Ja, du!“, unterbrach
er mich, „Du bist nicht der einzige Mensch auf Erden, ist dir das
eigentlich bewusst? Wir anderen sind auch keine bloßen Statisten oder
Sprechrollen, die nur dazu da sind, damit die Straßen nicht so leer aussehen!“
Er kam auf mich zu, bis er
vor meinem Sessel stand und über mir aufragte wie der Rachegott Anteros
persönlich.
„Ich bin niemand, der vier Monate
mit einem anderen Menschen zusammenleben kann ohne dass mir sein Wohlergehen
ans Herz wächst – gerade nach dem, was zwischen euch passiert ist!
Das sollte dir eigentlich bewusst sein!“
Ich schluckte. Thomas’ Stimme
war laut genug, um selbst die am weitesten entfernten Nachbarn noch an dem hier
teilhaben zu lassen.
„Ich …“
„Du hältst jetzt mal die
Klappe!“
In der kurzen Pause, die auf
die Worte folgte, hörte ich erneut Stimmen aus der Küche, aber sie klangen
verschwommen, unwirklich. Weit, weit weg. Thomas dagegen war hier und
füllte den ganzen Raum mit seiner Präsenz aus.
„Warum versuchst du nicht
mal, dich in andere hineinzuversetzen?! Mir ist auch klar, dass du da deine
Schwierigkeiten hast, aber Übung macht den verfluchten Meister!“
Aber – das hatte ich
doch versucht. Ich hatte versucht, zu tun, was richtig war, nachdem ich die WG
verlassen hatte. Thomas war sein Freund, die beiden kannten sich
schon … keine Ahnung, wie lange, aber länger als wir uns kannten.
Vier Monate und ich wusste
nicht einmal, wie lange sie sich kannten oder weshalb sie zusammenwohnten.
Ich blinzelte, starrte in
seine Augen und fühlte mich plötzlich richtig mies. Das Selbstmitleid bisher
war ein Witz dagegen gewesen, denn jetzt – scheiße, ich konnte es
nicht in Worte fassen, ich konnte nicht sagen, wo genau der Fehler lag, dazu
war ich zu aufgewühlt und Thomas zu nah, mittlerweile zu stark über mich
gebeugt und sein Blick zu lodernd und – verletzt. Enttäuscht.
Verständnislos. Das war schlimmer als die Wut, denn ich hatte nun wirklich gar
keinen Grund, auch keinen aus feigem Selbstschutz, Thomas zu verletzen. Thomas
war von Anfang an für mich da gewesen, grundlos.
Ich hatte nichts gemacht. Und
Thomas damit verletzt.
Er schien plötzlich zu
bemerken, wie nah er über mir stand und dass ich mich in den Sessel drängte,
erstarrte und atmete zitternd aus. Dann ging er zurück zum Sofa und setzte sich
hin.
Die Stille war wie Nägel auf
Wandtafel.
Ich war mir ziemlich sicher,
dass es an mir war, etwas zu sagen, aber mir fiel rein gar nichts ein. Nichts,
was irgendetwas erklärt oder entschuldigt oder besser gemacht hätte. Nichts,
das auf dem Weg von meinem Bauch zu meinem Mund nicht zu einem gestammelten
Unsinn verkommen wäre. Nichts.
Thomas Blick lag auf mir,
immer noch wütend, immer noch enttäuscht und verletzt, auch wenn das jetzt
wieder in den Hintergrund getreten war.
„Du siehst scheiße aus“,
sagte er irgendwann, „geschieht dir recht.“
Ich wusste nicht, wie lange
Thomas und ich uns schweigend gegenübergesessen waren, bis er mir sagte, dass
sie einen neuen Mitbewohner gefunden und ich deshalb ab Dezember keine Miete
mehr zahlen musste. Gut für mich, half mir aber auch nur am Rande. Und
eigentlich war es unwichtig.
Schließlich stand er auf und
ich brachte ihn zur Tür, wortlos. Er nahm seine Jacke, schlüpfte in die Schuhe,
öffnete die Tür und trat hindurch. Ging auf die Treppe zu.
„Thomas?“
Drehte sich um.
„Wie … also … wie
geht’s …?“
Sein Blick blieb ruhig, die
Stimme kühl. „Warum fragst du ihn nicht selbst?“
Mein Mund imitierte den eines
Goldfisches für mehrere Augenblicke, bevor ich stammelte: „Ich … ich
kann – ich … habe …“ und wieder abbrach. Ja, Eloquenz
war wirklich mein Ding heute. Ich hätte Dichter werden sollen.
Thomas Augen verengten sich
und die Wut blitzte erneut auf, als er plötzlich auf mich zu kam, sich an mir
vorbei durch die Tür drängte und den Stift auf der Kommode nahm, um etwas auf
den farbigen Notizblock zu kritzeln, den Anita und Klaus für Einkaufslisten und
Kurznachrichten à la „Bin bei Freundinnen. Komme gegen 8“ benutzten.
„Hier.“ Er drückte mir den
pinkfarbenen Zettel in die Hand und verließ die Wohnung diesmal endgültig.
„Lass mich wissen, was dir sonst noch alles für Ausreden einfallen.“ Dann war
er weg.
Auf dem Zettel stand eine
Handynummer. Nicht Thomas’.
***
Anita war stinksauer und
Klaus angepisst. Ich hatte das Gekeife erst bemerkt, als ich mich endlich dazu
durchgerungen hatte, die Tür hinter Thomas zu schließen, aber eins war klar:
Aus dem gemütlichen Abend vor der Glotze wurde nichts. Darauf hätte ich aber
sowieso keine Lust mehr gehabt, also kam es mir entgegen – wenn man
von der Tatsache absah, dass sich nun auch meine beiden besten Freunde wegen
mir stritten. Ganz großes Kino.
Und kurz darauf stürmte Anita
raus. Ich ging zu Klaus, der mit verkniffenem Gesicht in der Küche stand und so
intensiv ins Leere starrte, als wolle er es vernichten.
Ich klopfte an den Türrahmen
und er sah auf. Musterte mich. Brummte:
„Na also. Hast’s ja
überlebt.“
Ich nickte. Hatte ich. Nur
wissen, was ich nun tun sollte, tat ich nicht. Mich bald mal – nicht
mehr heute, aber in den nächsten Tagen – bei Thomas melden, das war
klar. Und sonst …
Der Notizzettel knisterte,
als ich meine Hand darum ballte.
Das ging doch nicht. Ich
konnte mich nicht bei ihm melden. Wie käme das denn? Hey, ich weiß, ich hab
mich voll scheiße benommen, aber ich wollte trotzdem mal wissen, wie’s dir
jetzt so geht?
Nein.
Ich stopfte den Zettel in
meine Hosentasche und sah wieder zu Klaus. Ich wusste, dass er mit Streit nicht
besonders gut umgehen konnte, vor allem nicht, wenn der Streit mit Anita war.
„Lust auf ein Bierchen oder
zwei?“
Er sah mich einen Moment
unbewegt an, dann nickte er. „Oder zehn.“
***
Am nächsten Morgen hatte ich
den Kater meines Lebens. Es war nicht bei zehn Bier geblieben. Oder besser: Es
war nicht bei Bier geblieben. Oder der Zahl zehn. Wir hatten uns einmal durch
die Bar getrunken, von Absinth über Tequila zu Whisky. Keine. Gute. Idee.
Ich erwachte neben der
Luftmatratze und bemerkte einen dumpfen Schmerz in meiner Schulter, bevor mein
Kopf explodierte und mein Hals Feuer fing. Und dann erwachte mein Magen und ich
stemmte mich hoch, trotz der Schmerzen und der Karussellfahrt, die mein Kopf
gerade im Alleingang durchzog, während meine Füße Tango tanzen und meine Knie
Radfahren wollten. Ich schaffte es bis ins Bad, gerade so. Und nachdem ich mir
nicht nur die Seele, sondern gleich auch Hirn und Herz und Verstand und Karma
und Schutzengel und was es sonst noch so alles gab aus dem Leib gekotzt hatte,
schaffte ich es, die Spülung zum dritten und hoffentlich letzten Mal zu
betätigen und meinen Oberkörper über den Badewannenrand zu hieven, um an
sauberes Wasser zu kommen. Dass ich im ersten Moment vergaß, das Wasser vom
Duschkopf auf den Hahn umzustellen, war nebensächlich. Vielmehr war stolz
darauf, dass ich den Mund sogar kurz halbpatzig ausspülte, bevor ich zu trinken
begann.
Viel war mir vom vergangenen
Abend – der vergangenen Nacht – nicht mehr geblieben. Ich
hatte erstaunlicherweise keinen Blackout, aber es war alles schemenhaft. Wie
ein Bild, das nur kurz durch das Blitzen eines Fotoapparates erhellt wird: Der
Barstuhl, der so klein und unbequem war, dass man dachte, die Besitzer wollten
die Leute vom Bleiben und somit Trinken abhalten; der dreckige Tresen, der beißende
Geschmack von Hochprozentigem; „Warum handelst du nicht einfach mal aus dem
Bauch raus, statt danach, was du denkst, dass richtig
ist – oder andere sagen, dass richtig sei?“; die verschwommenen
Gesichter von zwei Mädchen, die beleidigt irgendwelche vergessenen
Beschimpfungen ausspuckten; „Wenn dein Bauch falsch liegt, liegt er halt
falsch. Is’ scheiße, aber nic’‘ tödlich.“; Nüsse in einer dunkelgrünen Schale;
„Wenn isch dir das sagn muss, haste echt ’n Problem.“; noch mehr Alkohol; der Barkeeper, der sich weigerte, uns
noch mehr zu geben, bis wir ihm einen Zwanziger zur Aufbewahrung fürs Taxi
hinhielten; „Mach doch!“; der wenig elegante Versuch, etwas vom Boden
aufzuheben; ein Licht, das gleichzeitig zu grell und zu matt war; „Keene Ahnng.
Wasagt’n dein Bauch?“; Tasten, klein, viel zu klein und friemelig; der
Barkeeper, diesmal plötzlich nicht mehr hinter der Bar; „Das Taxi ist da.“;
viele vorbeizischende Lichter; „Wssa? Chwas, sowiel hamma nüsch gtrunkn.“;
Anita im Schlafanzug; „Selber schuld.“
Irgendwas störte mich.
Irgendwas … aber erst mal mehr Wasser. Mehr und mehr und mehr
und – oh Scheiße, das war zu viel gewesen!
Kurz darauf spülte ich noch
ein viertes Mal. Und ich hatte immer noch Durst. Noch mehr als zuvor, so schien
es mir. Und mein Hirn versuchte in einem Moment, sich auf Nanogröße
zusammenzuziehen, und im nächsten, sich mit Gewalt einen Weg aus meinem Schädel
zu schlagen. Uach.
Eine Hand erschien vor meinem
Gesicht mit drei Aspirin darauf. Ich nahm sie, wollte sie schlucken
und – „Hilft schneller so.“ – biss dann entschieden
darauf.
Uwäh!
Ich spukte die Dinger hastig
aus und drehte das Wasser auf, um meinen Mund auszuwaschen, aber der beißend-bittere
Geschmack blieb auf meiner pelzigen Zunge kleben wie Öl auf Vogelfedern.
Ein Schnalzen. Knistern. Drei
neue Pillen.
„Hier. Schlucken, diesmal.
Mit Wasser!“
Ich tat wie geheißen. Danach
wurde mir buchstäblich unter die Arme gegriffen.
„Boah, du musst echt unter
die Dusche! Aber wenigstens hast du nicht neben das Bett gekotzt.“
Sie bugsierte mich zurück in
mein Zimmer und hatte die Güte, die Vorhänge zuzuziehen.
„Ich bring dir Wasser, noch
zwei Aspirin für später und einen Eimer, falls da noch mehr rauswill.“ Dann war
sie gegangen und ich driftete weg.
***
Als ich das nächste Mal
erwachte, tat die Welt zwar weniger weh, aber immer noch genug. Und mein Magen
war – flau. Oder mau? Oder was auch immer Mägen waren, wenn es ihnen
nicht gut ging, sie aber noch deutliche Erinnerungen an noch beschissenere
Zeiten hatten.
Die Aspirin waren das erste,
was dran glauben musste. Dann die Hälfte von einer der beiden Wasserflaschen,
die neben dem Bett standen. Besser. Aber irgendetwas hämmerte immer noch gegen
meine Schädeldecke, etwas von und mit Tasten und schwachem Licht und Nachricht
versendet.
Moment – Nachricht?
Mit einem Schlag war mir
eiskalt und ich wünschte mir die Kloschüssel herbei, obwohl ich wusste, dass
mein Magen nichts mehr hergab.
Ich fischte auf dem Boden
nach meiner Hose – hatte ich die vorher nicht noch
angehabt? – und zog mein Handy hervor. Ein Knopfdruck und die
Uhrzeit – 17:16 – blinkte mir entgegen. Also hatte ich
weder Anrufe noch Nachrichten bekommen. Gut. Das machte Hoffnung. Wenn niemand
reagiert hatte, dann vielleicht deshalb, weil es nichts gab, worauf man
reagieren konnte. Ich drückte mich durch, bis ich zum Gesendetordner der
Nachrichten kam. Und dann wäre ich am liebsten gestorben. Da war tatsächlich
eine neue, heute Morgen um halb vier verschickt. Und da keine Fehlermeldung
zurückgekommen war … aber vielleicht hatte ich mich in der Nummer
vertippt. Ich war schließlich – ja, jetzt konnte ich es
zugeben – sturzbesoffen gewesen! Sich nicht zu vertippen wäre ein
Wunder.
Also suchte ich in den Hosen
nach dem Zettel und fand ihn tatsächlich wieder. Nach dreimaligen überprüfen
musste ich dann allerdings einsehen, dass Karma wirklich ein Miststück war,
denn die Nummer war so ziemlich das einzige, bei dem ich keine Fehler gemacht
hatte.
Tut so alles leid.
Vermipß dich.
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