Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Freitag, 12. April 2013

Wieder und wieder 18:


Sein Anruf. Anitas wörtliche Interpretation. Hilfe?!



Der erste Januar verlief ruhig, mit hausgemachten Maultaschen, lesen und hartnäckigen Zweifeln. Egal, wie oft ich mir sagte, dass es richtig gewesen war, zu gehen, kam alle fünf Minuten der Gedanke zurück, dass ich hätte bleiben sollen. Dass Mischa heute morgen nicht hätte alleine aufwachen dürfen. Dass ich seinen ausgenüchterten aber verschlafenen Zustand hätte nutzen sollen, um ihn mit der Holzhammermethode davon zu überzeugen, dass Abstand eine wirklich ganz abscheuliche Idee war – und ich musste es ja wissen, immerhin war es ursprünglich meine gewesen!
Ein großer Teil dieser Zweifel kam davon, dass ich schlicht und einfach gerne neben ihm aufgewacht wäre. Und mir kurz, ganz kurz während er noch schlief, eingeredet hätte, dass alles in Ordnung war.
Er wollte nicht mehr in mich verliebt sein, das hatte er gesagt. Verdammt, das war doch ein beschissenes Statement! Das hieß doch gleichzeitig, dass er eben noch verliebt in mich war, und, dass er trotzdem, immer noch, Abstand wollte. Morgen wieder – als heute. So eine Scheiße!
Kämpfen, hatte Opi gesagt. Wenn er es wert war – und daran hatte sich gestern nichts geändert. Wie auch, wenn es mir doch nur bewiesen hatte, dass er auch betrunken und nach Tequila schmeckend nur einen einzigen Kuss brauchte, um mein Hirn auf Sparmodus zu schalten? Also kämpfen. Um ihn. Ich.
Guter Witz.
Wie kämpfte man denn, ohne dem anderen auf die Nerven zu gehen? Wie kämpfte man überhaupt? Anrufen? Mehrmals, bis er nachgab? Blumen schicken? Ihm ‚zufällig‘ über den Weg laufen? Wo war noch mal die Grenze zum Stalking?
Und wie viele Zurückweisungen würde ich wegstecken können? Ich hatte ja die leise Vermutung, dass es nicht allzu viele waren. Mit Hilfe von Anitas Ferse in meinem Hintern vielleicht noch ein oder zwei mehr, aber wenn er sich wirklich entschieden hatte und hartnäckig blieb – oder gar wütend wurde …
Und hier auf meinem Bett zu liegen und mir den Mut auszureden, bevor ich angefangen hatte, das würde mir garantiert nicht helfen! Ich soll…
Mein Handy klingelte und ich warf einen hoffnungsvollen Blick darauf. Vielleicht jemand, der mich auf andere Gedanken bringen – Mischa.

Mischa!
Mischa?!
Scheiße, was rief der jetzt an? Um … kurz nach neun Uhr abends? Hätte er nicht mittags anrufen können, als ich noch halbwegs auf einen Anruf oder einfach irgendein Lebenszeichen gehofft hatte? Ich hatte mir doch vor gut einer Stunde eingestanden, dass er es mir wohl nicht so einfach machen würde und – und jetzt rief er an?
Ich – ich – sollte abnehmen. Sofort, bevor er es sich wieder anders überlegte.
Hektisch drückte ich auf den grünen Knopf. „Ja?“
„Hallo Milo.“
„Hallo.“ Tolle Antwort, ganz genial! Scheiße, wieso hatte mich niemand vorgewarnt, dass er jetzt anrufen würde?
Was, wenn er wütend war? Weil ich gegangen war – weil ich überhaupt zu ihm nach Hause mit war – weil ich im Club aufgetaucht war – weil ich ihn angerufen hatte?
Was, wenn er nur noch einmal klarstellen wollte, dass heute das Morgen aus ‚Morgen wieder‘ war?
„Hast du eine Minute?“
„Sogar zwei.“
… ‚Sogar zwei’? Was war’n das für’n Stuss?!
„Ich wollte mich entschuldigen“, fing er an und seine Stimme vibrierte durch meinen Körper, „für das gestern. Ich habe mich echt daneben benommen.“
Entschuldigen? Wofür jetzt, für die Küsse oder fürs ‚Morgen wieder‘? Oder was ganz anderes – oder alles?
„Auch wenn ich, ehrlich gesagt, nicht mehr weiß, was ‚das‘ alles beinhaltet.“
Ähm … häh?
Wie jetzt …
„Du erinnerst dich nicht?“
„Nicht an alles. An den Club, an den Anruf von dir, gleich nachdem Thomas gegangen war …“ Er stockte. „Dafür … sorry. Das war echt – dass ich dich auf die Weise dazu gebracht habe, ins Bifröst zu kommen, war … erbärmlich.“ Er seufzte und ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie er sich durch die Haare fuhr. „Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich war wirklich sehr betrunken.“
„Du bist nicht erbärmlich!“ Wie konnte er das Wort mit sich selbst in Verbindung bringen? „Und du musst dich nicht entschuldigen. Nicht dafür und nicht … für den Rest der Nacht.“
Vor allem nicht für die Küsse. Die sollte er lieber wiederholen. Ganz oft und ganz heftig und ganz bald, verdammt! So langsam wurde mir nämlich bewusst, wie masochistisch ein Telefongespräch mit Mischa war: Ich hörte seine wunderbare Stimme ganz nah neben meinem Ohr und wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir vorstellen, dass auch der Rest von ihm ganz nah war, aber sobald ich die Augen wieder öffnete oder auch nur die Hand ausstreckte, fiel die Illusion in sich zusammen.
„Ich habe dir Silvester versaut.“
„Da gab’s nichts zu versauen“, erwiderte ich wahrheitsgemäß und fügte dann noch etwas wahrheitsgemäßer hinzu: „Ich habe Silvester gerne mit dir verbracht. Ansonsten hätte ich ja wieder gehen können.“
Stille.
… War das jetzt zu viel gewesen? Was, er hatte mir mehrmals sagen dürfen, dass er in mich verliebt war, aber ich durfte jetzt, da er nicht mehr in mich verliebt sein und lieber Abstand halten wollte, nicht mal mehr zugeben, dass ich gerne Zeit mit ihm verbrachte?
„Milo …“
Ja?
„Hatten wir gestern Sex?“
Ich blinzelte die Zimmerdecke an. „Daran würdest du dich erinnern, glaub mir“, gab ich spitz zurück.
„Also nicht?“
Musste er so hoffnungsvoll klingen? Ich meine, klar, einerseits sagte mir das, dass es gut gewesen war, zu gehen, aber – aber andererseits wäre es ja wohl auch kein Weltuntergang gewesen, oder? Immerhin hatte er es gewollt – betrunken zwar, ja, aber bedeutete das nicht, dass er es wollte, solange ihm sein Verstand nicht in die Quere kam?
… Oh, hervorragend. Wir hatten endgültig die Plätze getauscht.
„Woran erinnerst du dich denn?“, fragte ich statt einer Bestätigung.
„Wie gesagt, den Anruf und das … im Club …“ Er räusperte sich. „Dann habe ich dich rausgezogen. Du wolltest eigentlich lieber da bleiben, aber ich …“
„Nein, wollte ich nicht“, unterbrach ich ihn, „du hast es im Suff nur falsch verstanden. Weiter?“
Ich klang genervt. Ich war genervt, irgendwie, plötzlich. Von ihm, weil er die Stunden und die Küsse und die Nähe im Club mit einem schlichten ‚das‘ zusammenfasste und weil er Dinge in die Geschehnisse interpretierte, die da nicht hineingehörten, vor allem, weil sie so negativ waren, und – und weil er angerufen hatte statt herzukommen, wahrscheinlich, weil er eben Abstand wollte. Ich hatte nicht erwartet, dass er seine Meinung so mir nichts, dir nichts von gestern auf heute ändern würde, aber – verdammt, warum hatte er seine Meinung nicht von gestern auf heute ändern können?
„Wir haben ein Taxi genommen, glaube ich, aber wie wir von da in mein Zimmer gekommen sind …“ Eine kurze Pause, dann fuhr er fort: „Eigentlich weiß ich nur noch, dass du mir Aspirin gegeben hast. ‚Schlucken, nicht beißen!‘, an so was glaube ich mich erinnern zu können, aber das kann auch an deinem Zettel liegen.“ Noch eine Pause. „Meine nächste Erinnerung ist von heute morgen, als ich mit deinem Hemd und einem Mordskater aufgewacht bin – der ohne die Schmerztabletten wohl noch schlimmer gewesen wäre. Danke dafür.“
„Und du möchtest, dass ich dir die Lücken fülle?“
„Bitte.“
Ich seufzte. „Wir sind in dein Zimmer, haben rumgemacht, ich hab im Gegensatz zu dir nur mein Hemd verloren, bevor mir klar geworden ist, dass du das wohl bereuen würdest. Dann habe ich dir zwei Aspirin gegeben und gewartet, bis du eingeschlafen bist.“
„Dir ist klar geworden, dass ich es bereut hätte?“
„Ja.“ Als er nichts sagte, fragte ich: „Hättest du das etwa nicht?“
„Doch.“ Die Antwort war viel zu schnell und viel zu bestimmt gekommen, zumindest für meinen Geschmack. Wenigstens kurz zögern hätte er können. Das tat er dafür, als er die nächste Frage stellte: „Hättest … du es bereut?“
„Nein.“
Was gäbe es schon zu bereuen, wenn es um Sex mit Mischa ging? Außer natürlich, es nicht getan zu haben. Und, sich die Chance auf regelmäßigen Sex mit ihm vermasselt zu haben. Aber danach hatte er nicht gefragt.
Mischa schwieg. Ich wusste nicht, ob er jetzt von mir erwartete, dass ich die Stille unterbrach oder ob er sie brauchte, um nachzudenken, aber sie machte mich nervös.
Wie konnte es sein, dass er sich auch schweigend so nah anfühlte? Auf gewisse Weise noch näher als in der vergangenen Nacht, denn nun war er geistig klar. Scheiß Telefon, scheiß Illusion. Scheiß moderne Technik, denn ohne, müsste er vor mir stehen, wenn er reden und sich entschuldigen und Lücken auffüllen wollte.
Verdammt, warum schwieg er? Hatte er denn gar nichts zu sagen? Zu gestern, zu heute, zu uns?
… 
Offenbar nicht.
Aber – aber wenn die vergangene Nacht eines bewiesen hatte, dann doch das, dass er mich immer noch mochte. Und ich ihn ja auch. Wenn er in mich verliebt war und ich in ihn, warum wollte er mir dann noch nicht einmal die Chance zu einem Date geben? Vor allem zu einem Abendessen – gab’s irgendetwas Unschuldigeres als das? Etwas, das mehr ‚Ich will nicht einfach nur ficken‘ schrie?
Vielleicht sollte ich ihn einfach noch mal fragen? Fragen kostete ja nichts, wie meine Mutter immer gesagt hatte. Wie alle Mütter wahrscheinlich immer sagten.
Ich öffnete den Mund, aber nichts kam raus. Ich hatte wirklich keine Lust auf eine Abfuhr, schon gar nicht so kurz nach dem ‚Morgen wieder‘. Und ja, das ging mir nicht aus dem Kopf, verdammt noch mal! Aber wenn er Abstand wollte, warum schwieg er mich dann nun übers Telefon an? Wenn er nichts mehr zu sagen hatte, warum verabschiedete er sich nicht?
Es klopfte.
„Milo?“ Anita.
„Moment kurz“, murmelte ich ins Telefon und legte es dann an mein Schlüsselbein, „Ja?“
Sie öffnete die Tür und hielt inne.
„Oh. Ich – wollte nicht stören“, machte sie und setzte mit den Augen ein Fragezeichen hinterher.
Ich schüttelte den Kopf. Die Stille war leider nicht angenehm gewesen, die hatte sie gerne stören dürfen. „Schon okay. Was gibt’s?“
„Wir wollten den Film schauen – aber wir können noch warten“, fügte sie hinzu.
„Danke, Ta. Ich komme gleich, ja?“
Sie nickte und verschwand. Sie war heute den ganzen Tag über schon … so nett. Das war irgendwie gruselig. Vor allem, weil es mir zeigte, dass ich wie ein Häufchen Elend aussehen musste. Dabei war gar nichts Großes passiert, gestern. Ich hatte nichts erfahren, was ich nicht schon vorher gewusst hatte. Es war alles beim Alten, nur war das Alte aufgefrischt worden.
„War das Anita?“, fragte er, als ich mit einem Brummen zu verstehen gegeben hatte, wieder bei ihm zu sein.
„Ja.“
Schweigen. Schon wieder. Das konnte doch nicht sein gottverdammter Ernst sein!
„Mischa?“, fragte ich, als ich ihm noch einmal zehn lange Sekunden gegeben hatte, „Warum hast du angerufen?“
„Um mich zu entschuldigen.“
„Und warum schweigen wir uns jetzt an?“
„Weil …“ Er zögerte, fing neu an. „Milo, bist …“ Und noch mal. „Ges…“
Langsam wurde es aufreibend. Als er schließlich einen ganzen Satz hervorbrachte, hätte ich meinen Abschluss darauf verwettet, dass er  eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen.
„Wie … gesagt, sorry wegen gestern. Ich werd auch Thomas bitten, solche Späße von nun an sein zu lassen.“
„Okay …?“
„Einen schönen Abend noch, Milo.“ Täuschte ich mich oder hörte er sich frustriert an? „Und ein frohes neues Jahr.“
„Dir auch“, erwiderte ich automatisch. Als kurz darauf das Tuten ertönte, ließ ich mein Handy sinken und starrte auf das Display. Warum hatte ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben? Ich meine – erst schwieg er mich minutenlang an und dann hängte er so plötzlich auf? Was sollte das?

***

„War er das?“
Die Frage schoss auf mich zu, sobald ich auch nur in die Nähe des Wohnzimmers kam. Anita zog es immer noch vor, Mischas Namen nicht auszusprechen, aber langsam hatte ich das Gefühl, das war mehr Show als etwas anderes.
„H-hm“, brummte ich.
„Und?“
„Nichts und. Er hat sich entschuldigt und dann haben wir eine Runde ‚Wer kann am längsten die Klappe halten?‘ gespielt.“
Das Licht war gedämpft, der Fernseher auf lautlos, zeigte aber bereits das Starmenü der DVD, und es roch nach gezuckertem Popkorn. Die beiden saßen auf dem Sofa und ich ließ mich schwerfällig in den Sessel fallen. Wortlos nahm ich die kleinere Schüssel entgegen und stopfte mir eine Handvoll in den Mund.
Unzufrieden. Genau das war ich. Das Telefonat war nicht nur unbefriedigend, sondern unzufrieden-machend gewesen. Wieso zum Teufel lief das so schief? Wieso schwieg er mich an und wieso brachte ich es nicht über mich, ihn noch einmal einzuladen? Das Letzte, was ich wollte, war noch einmal einen ganzen ewig langen Mischa-losen Monat, verdammt noch mal! Also warum hatte ich ihn nicht einfach gefragt, eben, mitten in die Stille hinein? Mehr als Nein konnte er nicht sagen und das hatte ich schon einmal überlebt. Ich hatte absolut keinen Bock auf eine Abfuhr, aber noch weniger darauf, nicht zu wissen, was die verfickte Stille zu bedeuten hatte und ob nicht eine winzige Chance bestand, dass er mittlerweile vielleicht doch zu dem Schluss gekommen war, dass ein Abendessen mit mir keine schlechte Idee wäre – wo er sich doch die ganzen Wochen über hatte beherrschen müssen, um mich nicht anzurufen. Das hatte er gestern nämlich auch gesagt. Also! Und wenn alles andere nichts half, dann konnte ich immer noch so tief sinken, und das Abendessen als ‚Wiedergutmachung‘ für den ‚versauten‘ Silvesterabend fordern. Stolz war eh überbewertet. Fairness auch. In der Liebe und dem Krieg halt, ne. Und dann musste ich ihm bei besagtem Abendessen nur so vom Hocker hauen, dass er seine von mir verursachten Zweifel vergaß und mir noch eine Chance gab, die ich dann hoffentlich nicht in den Sand setzte. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte, aber darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn ich die Zusage hatte.
Seit wann war ich eigentlich so auf dieses Abendessen fixiert?
… Egal. Ich wollte ein Ja oder Nein, jetzt!
Unter den musternden Blicken meiner besten Freunde schoss ich vom Sessel auf, stellte die Schüssel auf den Fernsehtisch und kramte mein Handy hervor.
„Moment noch“, sagte ich, ohne die beiden anzusehen und wählte seine Nummer, während ich zurück in mein Zimmer ging.
Es tutete.
Und tutete.
Und … Mailbox. Aber ich wollte keine Nachricht hinterlassen, ich wollte eine Antwort! Also versuchte ich es noch mal und als ich wieder nur die unpersönliche Ansprache bekam, noch ein drittes Mal. Und dann, dann gestand ich mir ein, dass er mich ignorierte. Wunderbar.

Als ich diesmal ins Wohnzimmer kam, mussten sie nicht erst fragen.
„Ist nicht rangegangen.“ Ich schlurfte zu meinem Sessel, die ganze Energie, die ich eben gespürt hatte, verpufft. Immerhin hatte er meine Nummer nicht blockiert. Und … weggedrückt hatte er mich auch nicht, also konnte ich mir einreden, dass er das Klingeln einfach nicht bemerkt hatte.
Ja, genau. So kurz nach dem letzten Gespräch. Was auch sonst.
Scheiße.
„Kann losgehen.“ Erneut schnappte ich mir das Popkorn und erneut stopfte ich es mir mehr in den Mund als dass ich es aß.
Klaus wählte ‚Film abspielen‘. „Gibst du auf?“, fragte er wie nebenbei.
„Nein, verdammt“, schnauzte ich, obwohl ich wusste, dass er es nicht verdient hatte, angeschnauzt zu werden. Er konnte ja nichts dafür. Aber – ich konnte einfach nicht anders! Es war gerade alles so – so – argh! Verdammt frustrierend, das war es. Dabei sollte es doch so einfach sein.
„Ich habe nur noch keinen Schlachtplan“, hängte ich bemüht ruhiger an und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.
Das Logos der Produktionsfirma, des Tonsystems und von noch ein paar andere Dingen, die mir ganz knapp an meinen vier Buchstaben vorbeigingen, flimmerten über die Matschscheibe. Ich spürte, dass sie etwas sagen wollten, aber ich hatte genug fruchtlose Gespräche für einen Abend geführt.
„Können wir bitte den Film schauen?“
Sie nickten, obwohl ich Anita ansah, dass sie etwas zu sagen hatte.

***

Am nächsten Morgen flüchtete ich zu unmenschlicher Zeit aus dem Bett. Ich hatte schlecht geschlafen, mal wieder, und war viel zu früh viel zu wach. Und ich war keinen Schritt weiter. Wenn Mischa vorhatte, von nun an generell keine Anrufe von mir mehr entgegenzunehmen, dann fiel Telefonterror als Kampfart schon mal weg. Aber das hatte er nicht, oder? Das wäre nämlich kein gutes Zeichen. Nein, er war gestern sicher einfach … noch verkatert gewesen.
Kurz nach meinem dritten Kaffee kam Anita in die Küche, verstrubbelt und mit Morgenmantel über dem Pyjama. Sie grummelte eine Begrüßung und setzte sich mir gegenüber, während sie Maschine ihre Tasse füllte.
Ein Blick.
Eine Mischung aus Kopfschütteln und Schulterzucken.
Ein Schnauben.
Die Kaffeemaschine piepste, Anita stand auf. Nahm einen Schluck. Schnaubte noch einmal, stellte die Tasse auf den Tisch und verschwand kurz. Dann kam sie mit dem Laptop zurück und schaltete ihn ein.
Ich widmete mich wieder dem ersten Band von Charles de Lints neuster Reihe, Under My Skin, und ignorierte sowohl ihr rasches Tippen als auch ihr Aufstehen und gleich darauf ihr Kritzeln. Als sie mir den Zettel mitten auf die Buchseite legte, konnte ich das allerdings nicht mehr ignorieren.
„Geh da heute hin“, sagte sie, als ich sie fragend ansah, „mach einen Termin.“
Irgendwie kam mir die Adresse bekannt vor. „Termin wofür?“
„Das, worauf die sich da spezialisieren. So viele Möglichkeiten wird’s nicht geben.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und wenn doch, ist es mir egal, welche du wählst.“
Ich sah von Anita zu dem Zettel und wieder zurück. Dann griff ich nach dem Computer und drehte ihn so, dass ich auf das Display sehen konnte. Sie hielt mich nicht zurück.
„Nein“, rief ich, als ich den Suchbegriff und die Fotos sah, die Google freundlicherweise gleich dazu stellte, „du spinnst doch!“
„Du wolltest doch mit Sport anfangen“, erwiderte sie ruhig und nippte an ihrem Kaffee.
„Aber nicht mit Boxen! Schon gar nicht in Mischas Studio!“
„Du wolltest lernen zu kämpfen.“
„Aber nicht wortwörtlich!“ Ich klappte den Laptop zu und schüttelte heftig den Kopf. „Boxen ist nichts für mich.“
„Das kannst du nicht wissen, wenn du es nicht ausprobierst.“ Bevor ich auch nur den Mund aufgekriegt hatte, fragte sie: „Oder hast du eine bessere Idee? Einen Schlachtplan?“
Diesmal war ich es, der schnaubte. Sie wusste ganz genau, dass ich das nicht hatte, ansonsten wäre ich um die Uhrzeit nicht für meine vierte Tasse Latte Macchiato bereit gewesen.
„Nein“, gab ich zu, „aber das geht echt nicht. Ich kann nicht boxen! Ich will nicht boxen! Ich hab keinen Bock, jemandem die Faust in die Fresse zu schlagen!“
„Für Leute, die etwas nicht können, gibt es Anfängerkurse.“ Sie stand auf. „Und ich schätze, du wirst erst einmal nur dem Sandsack die Fresse polieren. Damit solltest du kein Problem haben. Schokopops?“
„Und einen Kaffee“, knurmelte ich. Natürlich hatte sie Recht mit den Anfängerkursen, das war mir auch ohne ihren trockenen Sarkasmus bewusst gewesen. Und mit dem Sandsack wahrscheinlich auch. Oder? Doch, sicher. Man schlug sich garantiert nicht schon beim ersten Mal die Zähne ein. Trotzdem. Boxen. Urgs.
Mal ehrlich, das einzig interessante an dem Sport war Mischa. Ich hatte mich nie dafür interessiert, und das, obwohl die Typen dem Körperbau nach meinem Typ entsprachen. Aber … boxen war so … Silvester Stalone. Urgs!
Mischa war nicht Silvester Stalone. Und von mir aus durfte er so viel boxen, wie er wollte, aber ich musste da doch echt nicht mitmachen. Andererseits: Letztes Mal, als ich aus Eigeninitiative etwas mitgemacht hatte, das absolut seins und so gar nicht meins gewesen war – den Zombiefilm – hatten wir danach die Nacht zusammen verbracht. Und Silvester – also vorgestern, nicht der Schauspieler – der Club, das war auch eher sein Ding und da hätten wir danach die Nacht zusammen verbringen können. Wenn ich nicht gegangen wäre. Wenn er nicht betrunken gewesen wäre.
Hm.
Ich bekam eine Schüssel Schokopops vor die Nase gestellt und einen Milchkaffe daneben. Dann setzte sich Anita mir gegenüber.
„Guten.“
Ich brummte zustimmend und wir begannen zu essen. Zucker am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, so sagte man doch, oder?
„Es war nur ein Vorschlag, Mi“, sagte sie nach einer Weile, „Aber es wäre eine Möglichkeit, ihn wiederzusehen. Regelmäßig. Das ist eine gute Voraussetzung fürs sprichwörtliche Kämpfen.“
Ich brummte erneut, diesmal weniger zustimmend und mehr nachdenklich.
„Und du würdest zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
Ja. Aber bei Sport hatte ich an ein Fitnesscenter gedacht, wo man anfangen und aufhören konnte, wann man wollte, wo man machen konnte, was man wollte – und nicht an Gruppenunterricht im Sich-gegenseitig-Zusammenschlagen. Ich musste nicht unbedingt lernen, welche Körperstelle meine Faust auf welche Art treffen musste, damit es dem anderen möglichst großen Schaden zufügte. Echt nicht.
Aber ich wollte Mischa sehen. Und ja, am liebsten regelmäßig. Täglich, auch wenn das wohl zu viel verlangt war. Sich im Boxstudio über den Weg laufen war um einiges besser, als sich wieder eine Ewigkeit lang nicht sehen.
Ich brummte ein drittes Mal, diesmal mehr für mich. Der Rest des Frühstücks verlief schweigend.

***

Nach meiner Morgendusche hatte ich die Wohnung verlassen wollen, um den Kopf freizukriegen – was in meiner Welt bedeutete, dass ich mich entweder in die Bibliothek setzen und mit der ersten Semesterarbeit anfangen oder aber mich in ein Café setzen und mich meinem Buch widmen würde. Wäre Sommer, hätten auf jeden Fall der nächstgelegene Park und das Buch gewonnen, aber darauf musste ich noch ein paar Monate warten. Als ich die Jacke anzog, war Anita zu mir in den Flur gekommen und hatte mir den Zettel in die Hand gedrückt.
„Überleg’s dir.“
Hatte ich. Den ganzen langen Tag lang. Und nun war drei Uhr Nachmittag und ich stand zum zweiten Mal vor dem Eingang zum Hof und starrte auf das Schild. Und wieder wollte ich gleichzeitig hinein und doch wieder auch nicht. Schön zu sehen, dass ich mich im vergangenen Monat offenbar nicht verändert hatte, was das anging.
Eigentlich könnte man meinen, ich hätte mich schon entschieden, denn ansonsten würde ich nicht hier stehen – aber nein, Pustekuchen. Ich hatte die Entscheidung herausgeschoben und mir gesagt, ich würde mich entscheiden, wenn ich hier ankam. Reingehen oder umdrehen. Das war mir im Bus einfacher erschienen als ‚kämpfen oder aufgeben‘. Nur jetzt, wo ich hier stand, schien es das nicht mehr.
Aber … so ganz eigentlich hatte ich mich eben doch schon entschieden. Schon längst. Ich war nur noch auf der Suche nach meiner Courage. Meinem Schneid. Meiner Mannhaftigkeit – okay, genug zweifelhafte Synonyme gesucht, rein in …
„Hey, kann ich dir helfen?“, kam eine mir vage bekannte Stimme von links. Ich drehte mich um und erkannte den Trainer vom letzten Mal in derselben Sekunde, in der sich sein Gesicht aufhellte. „Mischas Kumpel, oder? ‚Milo’? Na, hast du’s dir anders überlegt?“
„Vielleicht …?“, antwortete ich und versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. „Gutes Gedächtnis.“
Er lachte. „Das liegt daran, dass Mischa nicht gerade oft abgeholt wird. Eigentlich nie, außer von Jan, aber der trainiert ja auch hier. Außerdem – sorry, wenn ich das so sag, aber du hast ziemlich nervös gewirkt.“ Er musterte mich kurz und grinste dann. „Wie heute auch.“
Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern. Dass man mir meine Nervosität ansah, half nicht gerade dabei, sie zu vertreiben. „Bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich machen soll.“
„Da hilft nur eins: ausprobieren!“ Er klopfte mir auf die Schulter und ließ die Hand da, als er losging. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. „Ich bin übrigens Ecki, falls ich mich letztes Mal nicht vorgestellt hatte.“
Doch, hatte er. Ich war mir sicher, dass er das auch wusste, und es nur noch einmal wiederholte, um mir eventuell eine Peinlichkeit zu ersparen.
„Einer der Trainer.“
Er sah zu mir und grinste. „Genau!“
Wäre ich alleine gewesen, hätte ich vor der Tür erneut gezögert, aber Ecki ließ mir keine Chance, sondern scheuchte mich hinein.
„Ich hab in fünfzehn Minuten einen Kurs, aber vorher gucken wir noch, wo wir dich unterbringen.“
Aha.
Wir betraten das Studio und gingen direkt zur Theke rechts, wo sich Ecki gleich hinter den Computer stellte. Als ob man mich verarschen wollte, spielte die Titelmusik von Rocky leise im Hintergrund.
„Ich könnte dir heute Abend um sieben das Einführungstraining geben. Man kann immer in die Anfängerkurse einsteigen und das Schnuppertraining auch gerne in der Gruppe mitmachen, aber wenn man richtig anfangen will, ist ein Einführungstraining bei uns Pflicht. Da lernst du das Bandagieren und die Grundlagen der richtigen Schlagtechnik, damit du dich nicht selbst verletzt.“ Er lächelte freundlich und sah mich erwartungsvoll an.
Heute?“, brachte ich hervor. Schon? So schnell? Ich hatte gedacht, mindestens ein paar Tage Vorbereitungszeit zu bekommen.
„Ja, dann könntest du morgen bei den Anfängern mitmachen, die trainieren immer Dienstag und Freitag“, erwiderte er, „Mischa kommt heute übrigens auch, sein Training mit Mike beginnt um halb acht. Passt doch wunderbar, oder? Dann hast du seelische Unterstützung.“
Ganz fantastisch. Einfach genial. Jetzt konnte ich ja gar nicht mehr Nein sagen, nicht, wenn er mir Mischa vor die Nase hielt.
Halb acht. Wie lange trainierte er wohl? Eine Stunde? Mehr? Ob ich auf ihn warten konnte? Vielleicht – vielleicht konnten wir ja heute schon miteinander reden, vielleicht konnte ich ihn überreden, wenigstens diesem verdammten Abendessen zuzustimmen …
„Und du hast wirklich Zeit?“
„Klar, sonst hätte ich es nicht angeboten.“ Ecki lachte. „Ich hab eigentlich um sieben Feierabend, aber meine Freundin ist eh noch bis Mittwoch in Amsterdam, also stört sich niemand, wenn ich später komme.“ Sein Lächeln wurde richtiggehend spitzbübisch. „Außerdem habe ich das Gefühl, bei dir muss man Nägel mit Köpfen machen, sonst machst du doch noch einen Rückzieher.“
Pf, von wegen. Ich war so was von entschlossen, mir in absehbarer Zukunft die Nase brechen zu lassen und Mischa damit von meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen! Der hatte ja keine Ahnung.
„Die erste Stunde ist auch gratis“, hängte Ecki unnötigerweise an. Er konnte ja nicht ahnen, dass er mich schon seit ‚Mischa wird da sein‘ an der Angel hatte.
„Was muss ich mitbringen?“
Er lachte schon wieder. Frohnaturen, bäh.
„Sporthose, T-Shirt, Sportschuhe mit sauberer Sohle, ein Handtuch, eine Wasserflasche und Motivation. Wenn du ein Schloss für den Spind hast, dann das auch, ansonsten leihen wir dir eins.“
„Hab ich zu Hause“, erwiderte ich, „alles. Nur das mit der Motivation wird schwierig; ich hab fast nicht geschlafen.“
„Na, dann passt das doch: Wir powern dich heute so aus, dass du zu Hause sofort ins Bett fällst und morgen mit einem ordentlichen Muskelkater ins Training kommst. Wie hört sich das an?“
Ich sah in sein breites, braungebranntes Gesicht. „Ist das dein Ernst?“
„Keine Angst, so schlimm wird’s schon nicht. Man sagt mir nach, dass ich ganz umgänglich bin.“ Er zwinkerte verschwörerisch und senkte die Stimme zu einem flüstern. „Aber freitags bei Teres musst du aufpassen; sie ist unser Drillsergeant mit Engelszunge. Wenn du Samstag keinen mörderischen Muskelkater hast, war sie Freitag krank.“
Ich schloss resigniert die Augen. „Du weißt echt, wie man Leute ihre Entscheidung nur Sekunden danach bereuen lässt.“
Er grinste nur breit und offen. „Ich trag dich ein, ja?“
Ich nickte. Für Mischa. Für eine Chance mit Mischa. Bei Mischa. Für Mischa.
Scheiße, ich wollte echt nicht.

***

„Warum hast du nicht geantwortet?“, bekam ich statt einer Begrüßung von Anita, als ich die Wohnung betrat.
„Worauf?“ Ich hängte die Jacke auf und schlüpfte aus den Schuhen. Ich hatte noch genug Zeit, in Ruhe etwas zu essen und mein Zeus zu packen, bevor ich wieder los musste.
„Die SMS? Ich wollte wissen, wie du dich entschieden hast.“
Ich runzelte die Stirn, suchte meine Hosentaschen und dann die Jackentaschen ab. Nichts. „Hab wohl das Handy zu Hause liegen lassen.“ Ich zuckte mit den Schultern und ging in die Küche. Solange Mischa sich nicht meldete, war es eh nichts Wichtiges. Meine Familie war immer noch bei meiner Tante, Anita und Klaus hier und Thomas meldete sich meist einige Tage im Voraus, so dass es nichts ausmachte, wenn ich erst am folgenden Tag antwortete.
„Und?“, fragte sie ungeduldig, als ich den Kopf in den Kühlschrank steckte und nach etwas Essbarem suchte.
„Heute um sieben hab ich Einführungstraining. Wenn ich es dann wirklich durchziehen will, kann ich jeweils Dienstag und Freitag hin.“
Als ich mich mit Butter und Marmelade in den Händen wieder aufrichtete, lächelte sie mich an.
„Na also.“

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