Sein Anruf. Anitas wörtliche Interpretation. Hilfe?!
Der erste Januar verlief ruhig, mit hausgemachten
Maultaschen, lesen und hartnäckigen Zweifeln. Egal, wie oft ich mir sagte, dass
es richtig gewesen war, zu gehen, kam alle fünf Minuten der Gedanke zurück,
dass ich hätte bleiben sollen. Dass Mischa heute morgen nicht hätte alleine
aufwachen dürfen. Dass ich seinen ausgenüchterten aber verschlafenen Zustand
hätte nutzen sollen, um ihn mit der Holzhammermethode davon zu überzeugen, dass
Abstand eine wirklich ganz abscheuliche Idee war – und ich musste es
ja wissen, immerhin war es ursprünglich meine gewesen!
Ein großer Teil dieser Zweifel kam davon, dass ich
schlicht und einfach gerne neben ihm aufgewacht wäre. Und mir kurz, ganz kurz
während er noch schlief, eingeredet hätte, dass alles in Ordnung war.
Er wollte nicht mehr in mich verliebt sein, das
hatte er gesagt. Verdammt, das war doch ein beschissenes Statement! Das hieß
doch gleichzeitig, dass er eben noch verliebt in mich war, und, dass er
trotzdem, immer noch, Abstand wollte. Morgen wieder – als
heute. So eine Scheiße!
Kämpfen, hatte Opi gesagt. Wenn er es wert
war – und daran hatte sich gestern nichts geändert. Wie auch, wenn es
mir doch nur bewiesen hatte, dass er auch betrunken und nach Tequila schmeckend
nur einen einzigen Kuss brauchte, um mein Hirn auf Sparmodus zu schalten? Also
kämpfen. Um ihn. Ich.
Guter Witz.
Wie kämpfte man denn, ohne dem anderen auf die
Nerven zu gehen? Wie kämpfte man überhaupt? Anrufen? Mehrmals, bis er nachgab?
Blumen schicken? Ihm ‚zufällig‘ über den Weg laufen? Wo war noch mal die Grenze
zum Stalking?
Und wie viele Zurückweisungen würde ich wegstecken
können? Ich hatte ja die leise Vermutung, dass es nicht allzu viele waren. Mit
Hilfe von Anitas Ferse in meinem Hintern vielleicht noch ein oder zwei mehr,
aber wenn er sich wirklich entschieden hatte und hartnäckig
blieb – oder gar wütend wurde …
Und hier auf meinem Bett zu liegen und mir den Mut
auszureden, bevor ich angefangen hatte, das würde mir garantiert nicht helfen!
Ich soll…
Mein Handy klingelte und ich warf einen
hoffnungsvollen Blick darauf. Vielleicht jemand, der mich auf andere Gedanken
bringen – Mischa.
Mischa!
Mischa?!
Scheiße, was rief der jetzt an?
Um … kurz nach neun Uhr abends? Hätte er nicht mittags anrufen können,
als ich noch halbwegs auf einen Anruf oder einfach irgendein
Lebenszeichen gehofft hatte? Ich hatte mir doch vor gut einer Stunde
eingestanden, dass er es mir wohl nicht so einfach machen würde und – und jetzt
rief er an?
Ich – ich – sollte abnehmen.
Sofort, bevor er es sich wieder anders überlegte.
Hektisch drückte ich auf den grünen Knopf. „Ja?“
„Hallo Milo.“
„Hallo.“ Tolle Antwort, ganz genial! Scheiße,
wieso hatte mich niemand vorgewarnt, dass er jetzt anrufen würde?
Was, wenn er wütend war? Weil ich gegangen
war – weil ich überhaupt zu ihm nach Hause mit war – weil
ich im Club aufgetaucht war – weil ich ihn angerufen hatte?
Was, wenn er nur noch einmal klarstellen wollte,
dass heute das Morgen aus ‚Morgen wieder‘ war?
„Hast du eine Minute?“
„Sogar zwei.“
… ‚Sogar zwei’? Was war’n das für’n
Stuss?!
„Ich wollte mich entschuldigen“, fing er an und
seine Stimme vibrierte durch meinen Körper, „für das gestern. Ich habe mich
echt daneben benommen.“
Entschuldigen? Wofür jetzt, für die Küsse oder
fürs ‚Morgen wieder‘? Oder was ganz anderes – oder alles?
„Auch wenn ich, ehrlich gesagt, nicht mehr weiß,
was ‚das‘ alles beinhaltet.“
Ähm … häh?
Wie jetzt …
„Du erinnerst dich nicht?“
„Nicht an alles. An den Club, an den Anruf von
dir, gleich nachdem Thomas gegangen war …“ Er stockte.
„Dafür … sorry. Das war echt – dass ich dich auf die Weise
dazu gebracht habe, ins Bifröst zu kommen, war … erbärmlich.“
Er seufzte und ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie er sich durch die
Haare fuhr. „Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich war wirklich
sehr betrunken.“
„Du bist nicht erbärmlich!“ Wie konnte er das Wort
mit sich selbst in Verbindung bringen? „Und du musst dich nicht entschuldigen.
Nicht dafür und nicht … für den Rest der Nacht.“
Vor allem nicht für die Küsse. Die sollte er
lieber wiederholen. Ganz oft und ganz heftig und ganz bald, verdammt! So
langsam wurde mir nämlich bewusst, wie masochistisch ein Telefongespräch mit
Mischa war: Ich hörte seine wunderbare Stimme ganz nah neben meinem Ohr und
wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir vorstellen, dass auch der Rest von
ihm ganz nah war, aber sobald ich die Augen wieder öffnete oder auch nur die
Hand ausstreckte, fiel die Illusion in sich zusammen.
„Ich habe dir Silvester versaut.“
„Da gab’s nichts zu versauen“, erwiderte ich
wahrheitsgemäß und fügte dann noch etwas wahrheitsgemäßer hinzu: „Ich habe
Silvester gerne mit dir verbracht. Ansonsten hätte ich ja wieder gehen können.“
Stille.
… War das jetzt zu viel gewesen? Was, er
hatte mir mehrmals sagen dürfen, dass er in mich verliebt war, aber ich durfte
jetzt, da er nicht mehr in mich verliebt sein und lieber Abstand halten wollte,
nicht mal mehr zugeben, dass ich gerne Zeit mit ihm verbrachte?
„Milo …“
Ja?
„Hatten wir gestern Sex?“
Ich blinzelte die Zimmerdecke an. „Daran würdest
du dich erinnern, glaub mir“, gab ich spitz zurück.
„Also nicht?“
Musste er so hoffnungsvoll klingen? Ich meine,
klar, einerseits sagte mir das, dass es gut gewesen war, zu gehen,
aber – aber andererseits wäre es ja wohl auch kein Weltuntergang
gewesen, oder? Immerhin hatte er es gewollt – betrunken zwar, ja,
aber bedeutete das nicht, dass er es wollte, solange ihm sein Verstand nicht in
die Quere kam?
… Oh, hervorragend. Wir hatten endgültig die
Plätze getauscht.
„Woran erinnerst du dich denn?“, fragte ich statt
einer Bestätigung.
„Wie gesagt, den Anruf und das … im
Club …“ Er räusperte sich. „Dann habe ich dich rausgezogen. Du wolltest
eigentlich lieber da bleiben, aber ich …“
„Nein, wollte ich nicht“, unterbrach ich ihn, „du
hast es im Suff nur falsch verstanden. Weiter?“
Ich klang genervt. Ich war genervt, irgendwie,
plötzlich. Von ihm, weil er die Stunden und die Küsse und die Nähe im Club mit
einem schlichten ‚das‘ zusammenfasste und weil er Dinge in die Geschehnisse
interpretierte, die da nicht hineingehörten, vor allem, weil sie so negativ
waren, und – und weil er angerufen hatte statt herzukommen,
wahrscheinlich, weil er eben Abstand wollte. Ich hatte nicht erwartet, dass er
seine Meinung so mir nichts, dir nichts von gestern auf heute ändern würde,
aber – verdammt, warum hatte er seine Meinung nicht von
gestern auf heute ändern können?
„Wir haben ein Taxi genommen, glaube ich, aber wie
wir von da in mein Zimmer gekommen sind …“ Eine kurze Pause, dann fuhr er
fort: „Eigentlich weiß ich nur noch, dass du mir Aspirin gegeben hast.
‚Schlucken, nicht beißen!‘, an so was glaube ich mich erinnern zu können, aber
das kann auch an deinem Zettel liegen.“ Noch eine Pause. „Meine nächste
Erinnerung ist von heute morgen, als ich mit deinem Hemd und einem Mordskater
aufgewacht bin – der ohne die Schmerztabletten wohl noch schlimmer
gewesen wäre. Danke dafür.“
„Und du möchtest, dass ich dir die Lücken fülle?“
„Bitte.“
Ich seufzte. „Wir sind in dein Zimmer, haben
rumgemacht, ich hab im Gegensatz zu dir nur mein Hemd verloren, bevor mir klar
geworden ist, dass du das wohl bereuen würdest. Dann habe ich dir zwei Aspirin
gegeben und gewartet, bis du eingeschlafen bist.“
„Dir ist klar geworden, dass ich es bereut hätte?“
„Ja.“ Als er nichts sagte, fragte ich: „Hättest du
das etwa nicht?“
„Doch.“ Die Antwort war viel zu schnell und viel
zu bestimmt gekommen, zumindest für meinen Geschmack. Wenigstens kurz zögern
hätte er können. Das tat er dafür, als er die nächste Frage stellte:
„Hättest … du es bereut?“
„Nein.“
Was gäbe es schon zu bereuen, wenn es um Sex mit
Mischa ging? Außer natürlich, es nicht getan zu haben. Und, sich die
Chance auf regelmäßigen Sex mit ihm vermasselt zu haben. Aber danach
hatte er nicht gefragt.
Mischa schwieg. Ich wusste nicht, ob er jetzt von
mir erwartete, dass ich die Stille unterbrach oder ob er sie brauchte, um
nachzudenken, aber sie machte mich nervös.
Wie konnte es sein, dass er sich auch schweigend
so nah anfühlte? Auf gewisse Weise noch näher als in der vergangenen Nacht,
denn nun war er geistig klar. Scheiß Telefon, scheiß Illusion. Scheiß moderne
Technik, denn ohne, müsste er vor mir stehen, wenn er reden und sich entschuldigen
und Lücken auffüllen wollte.
Verdammt, warum schwieg er? Hatte er denn gar
nichts zu sagen? Zu gestern, zu heute, zu uns?
…
Offenbar nicht.
Aber – aber wenn die vergangene Nacht
eines bewiesen hatte, dann doch das, dass er mich immer noch mochte. Und ich
ihn ja auch. Wenn er in mich verliebt war und ich in ihn, warum wollte er mir
dann noch nicht einmal die Chance zu einem Date geben? Vor allem zu einem
Abendessen – gab’s irgendetwas Unschuldigeres als das? Etwas, das
mehr ‚Ich will nicht einfach nur ficken‘ schrie?
Vielleicht sollte ich ihn einfach noch mal fragen?
Fragen kostete ja nichts, wie meine Mutter immer gesagt hatte. Wie alle
Mütter wahrscheinlich immer sagten.
Ich öffnete den Mund, aber nichts kam raus. Ich
hatte wirklich keine Lust auf eine Abfuhr, schon gar nicht so kurz nach dem
‚Morgen wieder‘. Und ja, das ging mir nicht aus dem Kopf, verdammt noch mal!
Aber wenn er Abstand wollte, warum schwieg er mich dann nun übers Telefon an?
Wenn er nichts mehr zu sagen hatte, warum verabschiedete er sich nicht?
Es klopfte.
„Milo?“ Anita.
„Moment kurz“, murmelte ich ins Telefon und legte
es dann an mein Schlüsselbein, „Ja?“
Sie öffnete die Tür und hielt inne.
„Oh. Ich – wollte nicht stören“, machte
sie und setzte mit den Augen ein Fragezeichen hinterher.
Ich schüttelte den Kopf. Die Stille war leider
nicht angenehm gewesen, die hatte sie gerne stören dürfen. „Schon okay. Was
gibt’s?“
„Wir wollten den Film schauen – aber wir
können noch warten“, fügte sie hinzu.
„Danke, Ta. Ich komme gleich, ja?“
Sie nickte und verschwand. Sie war heute den
ganzen Tag über schon … so nett. Das war irgendwie gruselig. Vor
allem, weil es mir zeigte, dass ich wie ein Häufchen Elend aussehen musste.
Dabei war gar nichts Großes passiert, gestern. Ich hatte nichts erfahren, was
ich nicht schon vorher gewusst hatte. Es war alles beim Alten, nur war das Alte
aufgefrischt worden.
„War das Anita?“, fragte er, als ich mit einem
Brummen zu verstehen gegeben hatte, wieder bei ihm zu sein.
„Ja.“
Schweigen. Schon wieder. Das konnte doch nicht
sein gottverdammter Ernst sein!
„Mischa?“, fragte ich, als ich ihm noch einmal
zehn lange Sekunden gegeben hatte, „Warum hast du angerufen?“
„Um mich zu entschuldigen.“
„Und warum schweigen wir uns jetzt an?“
„Weil …“ Er zögerte, fing neu an. „Milo,
bist …“ Und noch mal. „Ges…“
Langsam wurde es aufreibend. Als er schließlich
einen ganzen Satz hervorbrachte, hätte ich meinen Abschluss darauf verwettet,
dass er eigentlich etwas anderes hatte
sagen wollen.
„Wie … gesagt, sorry wegen gestern. Ich
werd auch Thomas bitten, solche Späße von nun an sein zu lassen.“
„Okay …?“
„Einen schönen Abend noch, Milo.“ Täuschte ich
mich oder hörte er sich frustriert an? „Und ein frohes neues Jahr.“
„Dir auch“, erwiderte ich automatisch. Als kurz
darauf das Tuten ertönte, ließ ich mein Handy sinken und starrte auf das
Display. Warum hatte ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben? Ich
meine – erst schwieg er mich minutenlang an und dann hängte er so
plötzlich auf? Was sollte das?
***
„War er das?“
Die Frage schoss auf mich zu, sobald ich auch nur
in die Nähe des Wohnzimmers kam. Anita zog es immer noch vor, Mischas Namen
nicht auszusprechen, aber langsam hatte ich das Gefühl, das war mehr Show als
etwas anderes.
„H-hm“, brummte ich.
„Und?“
„Nichts und. Er hat sich entschuldigt und dann
haben wir eine Runde ‚Wer kann am längsten die Klappe halten?‘ gespielt.“
Das Licht war gedämpft, der Fernseher auf lautlos,
zeigte aber bereits das Starmenü der DVD, und es roch nach gezuckertem Popkorn.
Die beiden saßen auf dem Sofa und ich ließ mich schwerfällig in den Sessel
fallen. Wortlos nahm ich die kleinere Schüssel entgegen und stopfte mir eine
Handvoll in den Mund.
Unzufrieden. Genau das war ich. Das Telefonat war
nicht nur unbefriedigend, sondern unzufrieden-machend gewesen. Wieso zum Teufel
lief das so schief? Wieso schwieg er mich an und wieso brachte ich es nicht
über mich, ihn noch einmal einzuladen? Das Letzte, was ich wollte, war noch
einmal einen ganzen ewig langen Mischa-losen Monat, verdammt noch mal! Also
warum hatte ich ihn nicht einfach gefragt, eben, mitten in die Stille hinein?
Mehr als Nein konnte er nicht sagen und das hatte ich schon einmal überlebt.
Ich hatte absolut keinen Bock auf eine Abfuhr, aber noch weniger darauf,
nicht zu wissen, was die verfickte Stille zu bedeuten hatte und ob nicht eine
winzige Chance bestand, dass er mittlerweile vielleicht doch zu dem Schluss
gekommen war, dass ein Abendessen mit mir keine schlechte Idee
wäre – wo er sich doch die ganzen Wochen über hatte beherrschen
müssen, um mich nicht anzurufen. Das hatte er gestern nämlich auch gesagt.
Also! Und wenn alles andere nichts half, dann konnte ich immer noch so tief
sinken, und das Abendessen als ‚Wiedergutmachung‘ für den ‚versauten‘
Silvesterabend fordern. Stolz war eh überbewertet. Fairness auch. In der Liebe
und dem Krieg halt, ne. Und dann musste ich ihm bei besagtem Abendessen nur so
vom Hocker hauen, dass er seine von mir verursachten Zweifel vergaß und mir
noch eine Chance gab, die ich dann hoffentlich nicht in den Sand setzte. Zwar
hatte ich keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte, aber darüber würde ich
mir Gedanken machen, wenn ich die Zusage hatte.
Seit wann war ich eigentlich so auf dieses
Abendessen fixiert?
… Egal. Ich wollte ein Ja oder Nein, jetzt!
Unter den musternden Blicken meiner besten Freunde
schoss ich vom Sessel auf, stellte die Schüssel auf den Fernsehtisch und kramte
mein Handy hervor.
„Moment noch“, sagte ich, ohne die beiden
anzusehen und wählte seine Nummer, während ich zurück in mein Zimmer ging.
Es tutete.
Und tutete.
Und … Mailbox. Aber ich wollte keine
Nachricht hinterlassen, ich wollte eine Antwort! Also versuchte ich es noch mal
und als ich wieder nur die unpersönliche Ansprache bekam, noch ein drittes Mal.
Und dann, dann gestand ich mir ein, dass er mich ignorierte. Wunderbar.
Als ich diesmal ins Wohnzimmer kam, mussten sie
nicht erst fragen.
„Ist nicht rangegangen.“ Ich schlurfte zu meinem
Sessel, die ganze Energie, die ich eben gespürt hatte, verpufft. Immerhin hatte
er meine Nummer nicht blockiert. Und … weggedrückt hatte er mich auch
nicht, also konnte ich mir einreden, dass er das Klingeln einfach nicht bemerkt
hatte.
Ja, genau. So kurz nach dem letzten Gespräch. Was
auch sonst.
Scheiße.
„Kann losgehen.“ Erneut schnappte ich mir das
Popkorn und erneut stopfte ich es mir mehr in den Mund als dass ich es aß.
Klaus wählte ‚Film abspielen‘. „Gibst du auf?“,
fragte er wie nebenbei.
„Nein, verdammt“, schnauzte ich, obwohl ich
wusste, dass er es nicht verdient hatte, angeschnauzt zu werden. Er konnte ja
nichts dafür. Aber – ich konnte einfach nicht anders! Es war gerade
alles so – so – argh! Verdammt frustrierend, das war
es. Dabei sollte es doch so einfach sein.
„Ich habe nur noch keinen Schlachtplan“, hängte
ich bemüht ruhiger an und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.
Das Logos der Produktionsfirma, des Tonsystems und
von noch ein paar andere Dingen, die mir ganz knapp an meinen vier Buchstaben
vorbeigingen, flimmerten über die Matschscheibe. Ich spürte, dass sie etwas
sagen wollten, aber ich hatte genug fruchtlose Gespräche für einen Abend
geführt.
„Können wir bitte den Film schauen?“
Sie nickten, obwohl ich Anita ansah, dass sie
etwas zu sagen hatte.
***
Am nächsten Morgen flüchtete ich zu unmenschlicher
Zeit aus dem Bett. Ich hatte schlecht geschlafen, mal wieder, und war viel zu
früh viel zu wach. Und ich war keinen Schritt weiter. Wenn Mischa vorhatte, von
nun an generell keine Anrufe von mir mehr entgegenzunehmen, dann fiel
Telefonterror als Kampfart schon mal weg. Aber das hatte er nicht, oder? Das
wäre nämlich kein gutes Zeichen. Nein, er war gestern sicher
einfach … noch verkatert gewesen.
Kurz nach meinem dritten Kaffee kam Anita in die
Küche, verstrubbelt und mit Morgenmantel über dem Pyjama. Sie grummelte eine
Begrüßung und setzte sich mir gegenüber, während sie Maschine ihre Tasse
füllte.
Ein Blick.
Eine Mischung aus Kopfschütteln und
Schulterzucken.
Ein Schnauben.
Die Kaffeemaschine piepste, Anita stand auf. Nahm
einen Schluck. Schnaubte noch einmal, stellte die Tasse auf den Tisch und
verschwand kurz. Dann kam sie mit dem Laptop zurück und schaltete ihn ein.
Ich widmete mich wieder dem ersten Band von
Charles de Lints neuster Reihe, Under My Skin, und ignorierte sowohl ihr
rasches Tippen als auch ihr Aufstehen und gleich darauf ihr Kritzeln. Als sie
mir den Zettel mitten auf die Buchseite legte, konnte ich das allerdings nicht
mehr ignorieren.
„Geh da heute hin“, sagte sie, als ich sie fragend
ansah, „mach einen Termin.“
Irgendwie kam mir die Adresse bekannt vor. „Termin
wofür?“
„Das, worauf die sich da spezialisieren. So viele
Möglichkeiten wird’s nicht geben.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und wenn
doch, ist es mir egal, welche du wählst.“
Ich sah von Anita zu dem Zettel und wieder zurück.
Dann griff ich nach dem Computer und drehte ihn so, dass ich auf das Display
sehen konnte. Sie hielt mich nicht zurück.
„Nein“, rief ich, als ich den Suchbegriff und die
Fotos sah, die Google freundlicherweise gleich dazu stellte, „du spinnst doch!“
„Du wolltest doch mit Sport anfangen“, erwiderte
sie ruhig und nippte an ihrem Kaffee.
„Aber nicht mit Boxen! Schon gar nicht in Mischas
Studio!“
„Du wolltest lernen zu kämpfen.“
„Aber nicht wortwörtlich!“ Ich klappte den Laptop
zu und schüttelte heftig den Kopf. „Boxen ist nichts für mich.“
„Das kannst du nicht wissen, wenn du es nicht
ausprobierst.“ Bevor ich auch nur den Mund aufgekriegt hatte, fragte sie: „Oder
hast du eine bessere Idee? Einen Schlachtplan?“
Diesmal war ich es, der schnaubte. Sie wusste ganz
genau, dass ich das nicht hatte, ansonsten wäre ich um die Uhrzeit nicht für
meine vierte Tasse Latte Macchiato bereit gewesen.
„Nein“, gab ich zu, „aber das geht echt
nicht. Ich kann nicht boxen! Ich will nicht boxen! Ich hab keinen Bock,
jemandem die Faust in die Fresse zu schlagen!“
„Für Leute, die etwas nicht können, gibt es
Anfängerkurse.“ Sie stand auf. „Und ich schätze, du wirst erst einmal nur dem
Sandsack die Fresse polieren. Damit solltest du kein Problem haben.
Schokopops?“
„Und einen Kaffee“, knurmelte ich. Natürlich hatte
sie Recht mit den Anfängerkursen, das war mir auch ohne ihren trockenen
Sarkasmus bewusst gewesen. Und mit dem Sandsack wahrscheinlich auch. Oder?
Doch, sicher. Man schlug sich garantiert nicht schon beim ersten Mal die Zähne
ein. Trotzdem. Boxen. Urgs.
Mal ehrlich, das einzig interessante an dem Sport
war Mischa. Ich hatte mich nie dafür interessiert, und das, obwohl die Typen dem
Körperbau nach meinem Typ entsprachen. Aber … boxen war
so … Silvester Stalone. Urgs!
Mischa war nicht Silvester Stalone. Und von mir
aus durfte er so viel boxen, wie er wollte, aber ich musste da doch echt nicht
mitmachen. Andererseits: Letztes Mal, als ich aus Eigeninitiative etwas
mitgemacht hatte, das absolut seins und so gar nicht meins gewesen
war – den Zombiefilm – hatten wir danach die Nacht zusammen
verbracht. Und Silvester – also vorgestern, nicht der Schauspieler – der
Club, das war auch eher sein Ding und da hätten wir danach die Nacht
zusammen verbringen können. Wenn ich nicht gegangen wäre. Wenn er nicht
betrunken gewesen wäre.
Hm.
Ich bekam eine Schüssel Schokopops vor die Nase
gestellt und einen Milchkaffe daneben. Dann setzte sich Anita mir gegenüber.
„Guten.“
Ich brummte zustimmend und wir begannen zu essen.
Zucker am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, so sagte man doch, oder?
„Es war nur ein Vorschlag, Mi“, sagte sie nach
einer Weile, „Aber es wäre eine Möglichkeit, ihn wiederzusehen. Regelmäßig. Das
ist eine gute Voraussetzung fürs sprichwörtliche Kämpfen.“
Ich brummte erneut, diesmal weniger zustimmend und
mehr nachdenklich.
„Und du würdest zwei Fliegen mit einer Klappe
schlagen.“
Ja. Aber bei Sport hatte ich an ein Fitnesscenter
gedacht, wo man anfangen und aufhören konnte, wann man wollte, wo man machen
konnte, was man wollte – und nicht an Gruppenunterricht im Sich-gegenseitig-Zusammenschlagen.
Ich musste nicht unbedingt lernen, welche Körperstelle meine Faust auf welche
Art treffen musste, damit es dem anderen möglichst großen Schaden zufügte. Echt
nicht.
Aber ich wollte Mischa sehen. Und ja, am
liebsten regelmäßig. Täglich, auch wenn das wohl zu viel verlangt war. Sich im
Boxstudio über den Weg laufen war um einiges besser, als sich wieder eine
Ewigkeit lang nicht sehen.
Ich brummte ein drittes Mal, diesmal mehr für
mich. Der Rest des Frühstücks verlief schweigend.
***
Nach meiner Morgendusche hatte ich die Wohnung
verlassen wollen, um den Kopf freizukriegen – was in meiner Welt
bedeutete, dass ich mich entweder in die Bibliothek setzen und mit der ersten
Semesterarbeit anfangen oder aber mich in ein Café setzen und mich meinem Buch
widmen würde. Wäre Sommer, hätten auf jeden Fall der nächstgelegene Park und
das Buch gewonnen, aber darauf musste ich noch ein paar Monate warten. Als ich
die Jacke anzog, war Anita zu mir in den Flur gekommen und hatte mir den Zettel
in die Hand gedrückt.
„Überleg’s dir.“
Hatte ich. Den ganzen langen Tag lang. Und nun war
drei Uhr Nachmittag und ich stand zum zweiten Mal vor dem Eingang zum Hof und
starrte auf das Schild. Und wieder wollte ich gleichzeitig hinein und doch
wieder auch nicht. Schön zu sehen, dass ich mich im vergangenen Monat offenbar nicht
verändert hatte, was das anging.
Eigentlich könnte man meinen, ich hätte mich schon
entschieden, denn ansonsten würde ich nicht hier stehen – aber nein,
Pustekuchen. Ich hatte die Entscheidung herausgeschoben und mir gesagt, ich
würde mich entscheiden, wenn ich hier ankam. Reingehen oder umdrehen. Das war
mir im Bus einfacher erschienen als ‚kämpfen oder aufgeben‘. Nur jetzt, wo ich
hier stand, schien es das nicht mehr.
Aber … so ganz eigentlich hatte
ich mich eben doch schon entschieden. Schon längst. Ich war nur noch auf der
Suche nach meiner Courage. Meinem Schneid. Meiner Mannhaftigkeit – okay,
genug zweifelhafte Synonyme gesucht, rein in …
„Hey, kann ich dir helfen?“, kam eine mir vage
bekannte Stimme von links. Ich drehte mich um und erkannte den Trainer vom
letzten Mal in derselben Sekunde, in der sich sein Gesicht aufhellte. „Mischas
Kumpel, oder? ‚Milo’? Na, hast du’s dir anders überlegt?“
„Vielleicht …?“, antwortete ich und
versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. „Gutes Gedächtnis.“
Er lachte. „Das liegt daran, dass Mischa nicht
gerade oft abgeholt wird. Eigentlich nie, außer von Jan, aber der trainiert ja
auch hier. Außerdem – sorry, wenn ich das so sag, aber du hast
ziemlich nervös gewirkt.“ Er musterte mich kurz und grinste dann. „Wie heute
auch.“
Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern. Dass man
mir meine Nervosität ansah, half nicht gerade dabei, sie zu vertreiben. „Bin
mir nicht sicher, ob ich das wirklich machen soll.“
„Da hilft nur eins: ausprobieren!“ Er klopfte mir
auf die Schulter und ließ die Hand da, als er losging. Mir blieb nichts anderes
übrig, als zu folgen. „Ich bin übrigens Ecki, falls ich mich letztes Mal nicht
vorgestellt hatte.“
Doch, hatte er. Ich war mir sicher, dass er das
auch wusste, und es nur noch einmal wiederholte, um mir eventuell eine
Peinlichkeit zu ersparen.
„Einer der Trainer.“
Er sah zu mir und grinste. „Genau!“
Wäre ich alleine gewesen, hätte ich vor der Tür
erneut gezögert, aber Ecki ließ mir keine Chance, sondern scheuchte mich
hinein.
„Ich hab in fünfzehn Minuten einen Kurs, aber
vorher gucken wir noch, wo wir dich unterbringen.“
Aha.
Wir betraten das Studio und gingen direkt zur
Theke rechts, wo sich Ecki gleich hinter den Computer stellte. Als ob man mich
verarschen wollte, spielte die Titelmusik von Rocky leise im Hintergrund.
„Ich könnte dir heute Abend um sieben das
Einführungstraining geben. Man kann immer in die Anfängerkurse einsteigen und
das Schnuppertraining auch gerne in der Gruppe mitmachen, aber wenn man richtig
anfangen will, ist ein Einführungstraining bei uns Pflicht. Da lernst du das
Bandagieren und die Grundlagen der richtigen Schlagtechnik, damit du dich nicht
selbst verletzt.“ Er lächelte freundlich und sah mich erwartungsvoll an.
„Heute?“, brachte ich hervor. Schon? So
schnell? Ich hatte gedacht, mindestens ein paar Tage Vorbereitungszeit zu
bekommen.
„Ja, dann könntest du morgen bei den Anfängern
mitmachen, die trainieren immer Dienstag und Freitag“, erwiderte er, „Mischa
kommt heute übrigens auch, sein Training mit Mike beginnt um halb acht. Passt
doch wunderbar, oder? Dann hast du seelische Unterstützung.“
Ganz fantastisch. Einfach genial. Jetzt konnte ich
ja gar nicht mehr Nein sagen, nicht, wenn er mir Mischa vor die Nase hielt.
Halb acht. Wie lange trainierte er wohl? Eine
Stunde? Mehr? Ob ich auf ihn warten konnte? Vielleicht – vielleicht
konnten wir ja heute schon miteinander reden, vielleicht konnte ich ihn
überreden, wenigstens diesem verdammten Abendessen zuzustimmen …
„Und du hast wirklich Zeit?“
„Klar, sonst hätte ich es nicht angeboten.“ Ecki
lachte. „Ich hab eigentlich um sieben Feierabend, aber meine Freundin ist eh
noch bis Mittwoch in Amsterdam, also stört sich niemand, wenn ich später
komme.“ Sein Lächeln wurde richtiggehend spitzbübisch. „Außerdem habe ich das
Gefühl, bei dir muss man Nägel mit Köpfen machen, sonst machst du doch noch
einen Rückzieher.“
Pf, von wegen. Ich war so was von entschlossen,
mir in absehbarer Zukunft die Nase brechen zu lassen und Mischa damit von
meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen! Der hatte ja keine Ahnung.
„Die erste Stunde ist auch gratis“, hängte Ecki
unnötigerweise an. Er konnte ja nicht ahnen, dass er mich schon seit ‚Mischa
wird da sein‘ an der Angel hatte.
„Was muss ich mitbringen?“
Er lachte schon wieder. Frohnaturen, bäh.
„Sporthose, T-Shirt, Sportschuhe mit sauberer
Sohle, ein Handtuch, eine Wasserflasche und Motivation. Wenn du ein Schloss für
den Spind hast, dann das auch, ansonsten leihen wir dir eins.“
„Hab ich zu Hause“, erwiderte ich, „alles. Nur das
mit der Motivation wird schwierig; ich hab fast nicht geschlafen.“
„Na, dann passt das doch: Wir powern dich heute so
aus, dass du zu Hause sofort ins Bett fällst und morgen mit einem ordentlichen
Muskelkater ins Training kommst. Wie hört sich das an?“
Ich sah in sein breites, braungebranntes Gesicht.
„Ist das dein Ernst?“
„Keine Angst, so schlimm wird’s schon nicht. Man
sagt mir nach, dass ich ganz umgänglich bin.“ Er zwinkerte verschwörerisch und
senkte die Stimme zu einem flüstern. „Aber freitags bei Teres musst du
aufpassen; sie ist unser Drillsergeant mit Engelszunge. Wenn du Samstag keinen
mörderischen Muskelkater hast, war sie Freitag krank.“
Ich schloss resigniert die Augen. „Du weißt echt,
wie man Leute ihre Entscheidung nur Sekunden danach bereuen lässt.“
Er grinste nur breit und offen. „Ich trag dich
ein, ja?“
Ich nickte. Für Mischa. Für eine Chance mit
Mischa. Bei Mischa. Für Mischa.
Scheiße, ich wollte echt nicht.
***
„Warum hast du nicht geantwortet?“, bekam ich
statt einer Begrüßung von Anita, als ich die Wohnung betrat.
„Worauf?“ Ich hängte die Jacke auf und schlüpfte
aus den Schuhen. Ich hatte noch genug Zeit, in Ruhe etwas zu essen und mein
Zeus zu packen, bevor ich wieder los musste.
„Die SMS? Ich wollte wissen, wie du dich
entschieden hast.“
Ich runzelte die Stirn, suchte meine Hosentaschen
und dann die Jackentaschen ab. Nichts. „Hab wohl das Handy zu Hause liegen
lassen.“ Ich zuckte mit den Schultern und ging in die Küche. Solange Mischa
sich nicht meldete, war es eh nichts Wichtiges. Meine Familie war immer noch
bei meiner Tante, Anita und Klaus hier und Thomas meldete sich meist einige
Tage im Voraus, so dass es nichts ausmachte, wenn ich erst am folgenden Tag
antwortete.
„Und?“, fragte sie ungeduldig, als ich den Kopf in
den Kühlschrank steckte und nach etwas Essbarem suchte.
„Heute um sieben hab ich Einführungstraining. Wenn
ich es dann wirklich durchziehen will, kann ich jeweils Dienstag und Freitag
hin.“
Als ich mich mit Butter und Marmelade in den
Händen wieder aufrichtete, lächelte sie mich an.
„Na also.“
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