Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Montag, 15. April 2013

Wieder und wieder 19:


Ich boxte. Er schlug daneben. Essen?


„Gut, dann fangen wir jetzt an.“ Ecki stand vor mir und grinste breit und verdammt frech. Ja, wir fingen an. Jetzt. Er mich auch.
Scheiße, ich war wohl wirklich nicht in Form, wenn mich das Aufwärmen schon fast umgehauen hatte. Jetzt konnte ich auch den Karate Kid verstehen – Wax on, wax off sah einfach aus, hatte es aber sicher genauso in sich wie, sagen wir, die Arme kreisen lassen. Ich hatte den Mist echt unterschätzt. Hatte gedacht, es wäre eine Pause, nachdem ich beim Auf-der-Stelle-Laufen schon ein klein wenig aus der Puste gekommen war – aber nur, weil Ecki plötzlich mit solchen Späßen anfangen musste, wie: ‚Knie hoch, bis zur Hüfte!‘ Dann: ‚Knie runter, jetzt treten wir uns erst mal selber in den Arsch! Mit den Fersen, immer schön hoch!‘ Und natürlich wurde auch der Klassiker nicht vergessen: Seilspringen. Das musste ich definitiv noch üben, so oft wie ich mich verheddert hatte. Zum Glück war Mischa noch nicht da, das wäre peinlich geworden.
Nach dem Fast-auf-die-Schnauze-fallen per Springseil hätte ich jedenfalls echt eine Verschnaufpause brauchen können, auch wenn Ecki noch nicht mal merklich schneller atmete. Ich war zwar noch nicht K.O. gewesen, aber von ‚leichtem Aufwärmen‘ konnte meiner Meinung nach nicht die Rede sein. Aber wir hatten ja noch die Schultern und Arme richtig aufwärmen müssen. Und dafür erst mal die Arme kreisen lassen. Die ersten dreißig Sekunden waren easy gewesen. Die zweiten okay. Die dritten unangenehm. Und dann hatte es angefangen wie Hölle zu brennen.
Nach dem Aufwärmen hatte er mir gezeigt, wie ich die Boxbandagen richtig wickeln musste. Und nein, ich konnte mir die Wickelfolge natürlich nicht merken – alles, was ich noch wusste, war: Schlaufe über den Daumen, zweimal ums Handgelenk und dann gefühlte tausend Mal kreuz und quer mit System, irgendwann auch zwischen den Fingern durch, so dass am Ende nur dieser kleine Fleck auf der Handinnenfläche frei blieb. Als ich ihn gefragt hatte, wie man sich die richtige Reihenfolge jemals merken sollte, hatte Ecki gelacht und gesagt: „Keine Angst, wir haben ‘ne Anleitung, dann kannste zu Hause üben.“ Wenigstens etwas.

Und jetzt, jetzt war ich warm und bandagiert und er hielt mir zwei Mini-Hanteln hin. Ich nahm sie entgegen und musterte sie skeptisch. Die Dinger passten gerade mal in meine Hand – und ich fühlte mich leicht verarscht. Ich war zwar kein Sportass, aber so ein Schluffi auch wieder nicht!
Ecki musste meinen Blick richtig gedeutet haben, denn er lachte schon wieder. Langsam ging mir das echt auf den Keks.
„Die sind normal, also mach dir keine Gedanken. Wir stemmen hier keine Gewichte, sondern wir wollen Schnelligkeit und Beweglichkeit aufbauen, neben der Kraft natürlich. Da sind viele Wiederholungen mit kleinen Gewichten wichtig.“
„Wenn du meinst …“
„Ich meine. Außerdem lernst du so nebenbei, die Faust immer schön geschlossen zu halten.“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Zu Hause kannst du sie weglassen oder mit etwas Kleinem, Leichtem ersetzen und dir das Geld für die Hanteln sparen. Wenn du dir etwas kaufen willst, dann tun’s für den Anfang die Bandagen. Die sind nicht teuer und es ist praktisch, wenn man das Wickeln üben kann, bis man nicht mehr darüber nachdenken muss.“
Ich nickte, schnappte mir mein Wasser und trank einen Schluck. Als ich wieder vor Ecki auf den Matten stand, hielt er den Zeigefinger hoch, in einer karikaturesken Version des Oberlehrers.
„Wichtig ist, dass du anfangs nie – ich wiederhole: nie! – ohne Boxhandschuhe zuschlägst.“ Der Finger verschwand und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wirklich, das Verletzungsrisiko ist riesig. Du kannst dir die Handgelenke und Sehnen schädigen, den Daumen überdehnen … wollen wir alles nicht. Einverstanden?“
Ich nickte. „Dann möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich noch keine Boxhandschuhe trage.“
Er grinste wieder. „Weil wir mit Schattenboxen anfangen und erst mal das richtige Haltung und die Schlagtechnik üben. Aber schön, dass du mitdenkst.“
Und als hätte er es geplant, setzte mein Denken just in diesem Moment aus. Ich hatte ihn nicht hereinkommen sehen, war, entgegen meiner ursprünglichen Erwartungen, wirklich ganz auf Ecki konzentriert gewesen, aber als ein großer Kerl am Rand meines Sichtfeldes mitten im Gehen einfror, erwachten zwei meiner Synapsen aus dem sportinduzierten Koma, zählten eins und eins zusammen und brannten in der nächsten Sekunde durch, zusammen mit all ihren Brüdern und Schwestern.
Mischa starrte mich an, als hätte er einen Geist gesehen. Und ich starrte zurück, sofort wieder nervös, sofort um die Reaktion bangend. Ecki sah fragend in die Richtung meines Blickes, erkannte Mischa und hob die Hand.
„Hey, wir haben Neuzuwachs! Und nur, damit das klar ist: Ich schreib das meinem Charisma zu, nicht eurer Freundschaft, klar?“ Dann drehte er sich wieder zu mir und raunte. „Wenn du mir jetzt widersprichst, lass ich dich am Ende fünfzig Runden um den Block laufen.“ Er zwinkerte und stellte sich in Position. „Okay, versuch, locker zu stehen, die Füße hüftbreit voneinander entfernt …“
Mischas Gesichtsausdruck glich dem der Sphinx. Obwohl, nein, oberflächlich konnte ich Überraschung erkennen, aber darunter, da lag etwas, das …
Er machte einen Schritt auf uns zu, doch da ertönte eine tiefe Stimme: „Mischa! Du bist zu spät!“
Mischas Kopf schnellte in die Richtung seines Trainers, dann sah er zurück zu mir, und etwas flackerte deutlicher über sein Gesicht. Doch bevor ich es richtig sehen konnte, drehte er sich ruckartig ab und stakste in den hinteren Teil des Raumes, wo er letztes Mal schon trainiert hatte.
Als ich meinen Blick losreißen konnte, sah ich in Eckis fragendes Gesicht.
„Alles okay bei euch?“
Ich zuckte mit den Schultern. Er musterte mich noch kurz, dann klatschte er in die Hände.
„Na, geht mich auch nichts an. Komm, wir haben noch viel vor heute. Also, entspannt stehen, die Beine hüftweit auseinander. Und jetzt setzt du den rechten Fuß schräg nach hinten.“
Ich tat wie geheißen, konnte aber nicht verhindern, dass mein Blick zu Mischa huschte. Nur, weil sie auf der anderen Seite des Raumes waren, hieß das schließlich nicht, dass ich sie nicht sehen konnte. Über den Boxring hinaus. Mussten die beiden Spackos da drin den gerade benutzen? Konnten sie ihr Sparring nicht woanders machen oder sich, wie die anderen Anwesenden, mit Sandsäcken und anderen Trainingsgeräten vergnügen? Sie waren im Weg, verdammt!
Er war überrascht, aber das war klar gewesen. Aber was noch? Wütend? Genervt? Vielleicht doch irgendwo froh? Verdammt, so genau musste ich es auch gar nicht wissen; mir hätte schon gereicht, zu erfahren, ob er positiv oder negativ überrascht von meinem Auftauchen hier war.
„Milo, hier spielt die Musik!“ Ecki fing meinen Blick mit einer Handbewegung vor meinem Gesicht ein, um sie vor seine Augen zu führen. „Glaub mir, er ist nach dem Training sowieso zahmer, dann könnt ihr das immer noch klären. Also, Hände hoch, etwa so. Schultern schön locker lassen.“
Das sagte er so leicht. Locker war generell unmöglich, wenn Mischa wenige Meter von mir entfernt in einer Geschwindigkeit seilsprang, von der mir allein beim Zusehen schwindlig wurde. Wie war das noch mal mit dem langsamen Aufwärmen?

***

Wenigstens war ich nicht der einzige, der sich nicht konzentrieren konnte. Ich gab mir wirklich, ehrlich Mühe, aber mehr als sechzig Prozent meiner Aufmerksamkeit konnte ich Ecki und dem Ausführen der Schläge, der Bewegung der Schultern, Hüften und Beine einfach nicht geben. Und ich fand, sechzig Prozent war schon erstaunlich viel.
„Versuch, die Rückenmuskeln und die hier an der Seite bei jedem Schlag bewusst anzuspannen“, erinnerte mich Ecki gerade, „Und denk daran: Der Schlag kommt nicht aus der Faust, sondern aus deinem ganzen Körper. Er beginnt in der Faust und endet im Fuß, immer. Deine Hüfte und das Bein drehen sich bei jedem Schlag mit. Deshalb ist ein lockerer Stand wichtig.“
„Leichter gesagt als getan“, erwiderte ich leicht frustriert, „Was mache ich, wenn meine Hüfte nicht mit will und meine Füße finden, dass sich drehen überbewertet ist?“
„Dann übst du mit ihnen so lange, bis es in Fleisch und Blut übergeht. Glaub mir, du hast so viel mehr Power in deinem Punch. Und du bist schwieriger zu treffen, wenn du immer in Bewegung bleibst.“
Na, so viel Bewegung war das ja nicht. Obwohl, bei Mischa sah es wirklich nach einem Tanz aus, vor, zurück, rechts, links …
„Stört’s dich, wenn ich dich anfasse? Am Rumpf, meine ich“, wollte Ecki plötzlich wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Sollte es das?“
Er zuckte mit den Schultern. „Manche mögen’s nicht. Fühlen sich vielleicht in ihrer Männlichkeit gefährdet oder sehen es als Anmache oder was weiß ich. Aber ich könnte dir so Hilfestellung geben, damit du Hüfte und Beine nicht vergisst.“
„Ich bitte darum“, murmelte ich mit einem Seitenblick auf Mischa. Ja, er bewegte die Hüften auch mit, wenn auch blitzschnell. Bewegliche Hüften waren ja eh vorteilhaft, so generell.
Ecki stellte sich hinter mich und legte die Hände wenige Zentimeter oberhalb meiner Hüften auf mein Shirt.
„Dann weiter im Text. Rechts, zurück; links, zurück! Rechts, zurück; links …“ Jedes Mal, wenn ich die Faust nach vorne bewegte, gab er mir einen leichten Impuls. Es half wirklich.
„Siehste? Wenn du das ein bisschen einübst, geht’s bald automatisch und du …“
„Verdammt noch mal, was’n heute los mit dir?!“
Mikes Stimmte dröhnte durch das Studio und nicht wenige hielten inne und sahen zu den beiden rüber. Mich eingeschlossen, verstand sich.
„Wenn du keinen Bock hast, kannste abhauen und aufhören meine Zeit zu verschwenden!“
Ich sah Mischa den Kopf schütteln und sich entschuldigen.
Als ich mich zu ihm umdrehte, begegnete ich Eckis forschenden Blick.
„Kann es sein, dass du der Grund bist, warum er in letzter Zeit so miese Laune hat?“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil er eben schon wieder rübergesehen und deshalb fast Mikes Kiefer statt der Pratze getroffen hätte.“
Ich wusste nicht, wieso, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass es ziemlich unfair von mir war, ausgerechnet hier aufzutauchen. Immerhin war das Boxstudio sein Rückzugsort. Hier kam er hin, um seine Probleme zu vergessen und den Frust loszuwerden und ich – ich war gerade Problem und Frustquelle in einem. Scheiße! Hatte ich schon wieder das Falsche gemacht? Das konnte doch nicht sein! Es war ja noch nicht mal meine Idee gewesen. Und Anita und Klaus hatten sie beide befürwortet … aber die beiden kannten Mischa auch nicht. Ich schon.
„Na komm“, machte Ecki und knuffte mich in die Schulter, „lass uns weitermachen. Ich will dir noch ein paar Dinge zeigen, die du dann brav zu Hause üben kannst, während du über euren Streit nachgrübelst. Und morgen haust du in der Gruppe den Ärger am Sandsack raus.“ Er grinste, drehte mich um und machte da weiter, wo wir aufgehört hatten.

***

Die Dusche tat unglaublich gut. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Schweiß wegzuwaschen hatte. Im Moment fühlte ich mich, rein körperlich, sowieso gut, aber ich wusste, dass der Muskelkater morgen sicher nicht auf sich warten lassen würde.
Der Anfängerkurs dienstags war um fünf; Mischa kam gegen sieben. Ecki hatte mir das gesagt, als ich gezögert hatte, für morgen zuzusagen. Zu dem Training an sich zuzusagen. So schlimm, wie ich ursprünglich befürchtet hatte, war ja dann doch nicht gewesen. Anfangs musste man wohl wirklich noch keine Menschen verkloppen und später konnte ich mich ja immer noch weigern. Und Ecki war ja auch ganz okay, auch wenn seine gute Laune auf Dauer anstrengend war – aber das kam wahrscheinlich vom Neid. Mit einem festen Termin würde ich außerdem keine Möglichkeit haben, mich zu drücken, denn das war wie bei Treffen mit Anita: Um mich davor drücken zu können, müsste ich mich erst abmelden und das erschien mir auch nicht als gute Idee, vor allem, da ich nicht jedes Mal krank oder zu beschäftigt sein konnte.
Aber … aber das war Mischas Ding. Boxen. Dieses Studio. Und er hatte mir ja erzählt, wie wichtig es ihm war, es für ihn war. Das wollte ich ihm nicht nehmen. Jeder Mensch brauchte einen Rückzugsort. Und so begeistert, dass ich jetzt unbedingt weitermachen musste, war ich ja auch nicht. Und wenn, könnte ich mir immer noch ein anderes Studio suchen, davon gab es sicher mehr als eines.
Aber ich wollte kein anderes Studio. Ich wollte wenigstens die Chance, ihm beim Training doch über den Weg zu laufen. Die Hoffnung, dass er vielleicht kam, auch wenn es noch zu früh für ihn war. Armselig, aber wahr. 
Ich drehte das Wasser weg, trocknete mich notdürftig ab und schlang mir das Tuch um die Hüften.
Ich wollte mit ihm reden. Gestern hatte das nicht viel gebracht, aber vielleicht, wenn wir Angesicht zu Angesicht – gut, vor einem Monat hatte das auch nicht viel gebracht, aber, aber … aber. Aber ich war noch nicht bereit, aufzugeben. Nicht nach Silvester. Und damit war ich wieder so weit wie eh und je. Oder zumindest wie heute Morgen.
Ich kam zurück in die Umkleide und sah mich einem verschwitzten und angespannten Mischa gegenüber, der auf und ab tigerte und dessen Atem stoßweise ging. Von wegen zahm, der sah nach vielem aus, aber nicht zahm!
Überhaupt: Wie konnte er schon fertig sein? Er war doch gerade mal dreißig Minuten dabei!
„Äh … hi.“
Er blieb ruckartig stehen, drehte sich um und sah mich an.
„Was machst du hier?“, fragte er und kam einen Schritt auf mich zu. Dann wanderte sein Blick an mir runter und ich kam mir plötzlich sehr, sehr unbekleidet vor.
Mischa stand zwischen mir und meinem Spind. Immer noch verschwitzt, immer noch mit raschem Atem und intensivem Blick. Super. Das war so gar nicht die richtigen Zutaten, um meine Gedanken in eine ganz falsche Richtung zu schicken.
Scheiße, sah er wieder einmal gut aus. Ich hatte keine Ahnung, wie er das machte, aber er sah jedes Mal noch ein bisschen besser aus als ich ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht sollte ich anfangen, ihn bei jedem Treffen zu fotografieren, damit ich mich davon überzeugen konnte, dass ich mir das nur einbildete – oder aber, damit ich den Beweis hatte, je nachdem. Wissenschaftler würde sicher ein Vermögen dafür geben, so jemanden untersuchen zu können. Er hätte ausgesorgt.
Sein Leberfleck war auch immer noch an derselben Stelle am Hals. Und schon wieder so einsam, der arme Kleine. Hatte denn niemand Mitleid mit ihm? Obwohl, besser so. Ich wollte schließlich keine fremden Zungen und Münder und Finger und was-weiß-ich-noch-was an meinem Lieblingsleberfleck!
„Lernen, wie man kämpft?“, gab ich zurück und machte einen Schritt zur Seite. In der Theorie in meinem Kopf spiegelte er die Bewegung und ging ebenfalls einen Schritt nach links, so dass wir uns weiterhin gegenüberstanden und ich dennoch näher an meinen Spind kam, aber in der Praxis blieb er leider einfach stehen und folgte mir mit einem undurchsichtigen Blick.
„Das kannst du auch in anderen Sportstudios. In anderen Boxstudios.“
Wütend hörte er sich nicht an, das war schon mal was. Ruhig aber auch nicht. Beherrscht, vielleicht. Ja.
Ich schluckte. Vielleicht kam es von den Endorphinen oder vielleicht einfach davon, dass ich nach dem zweiten Teil der Stunde nicht mehr zurechnungsfähig war, aber ich sah ihm direkt in die Augen und erwiderte leise und dennoch fest: „Ich habe nicht vom Boxen gesprochen.“

Der forschende Blick wäre unangenehm gewesen, wenn er nicht von ihm gekommen wäre. Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu. Wenn ich den Arm ausstrecken und mich ein wenig nach vorne lehnen würde, könnte ich ihn jetzt berühren. Am Arm. Der Schulter. Unter dem Saum des Shirts.
„Wovon dann?“
Wirklich, nur eine Armlänge und ein paar mickrige Zentimeter, dann wüsste ich, ob sein Körper so erhitzt war, wie er aussah oder ob er bereits abkühlte – und wenn, dann wäre es wohl am besten, wenn er unter die Dusche ging, oder? Wir wollten ja nicht, dass er sich noch erkältete … Und ich, ich konnte auch eine zweite Dusche brauchen. Und ich war mir sicher, dass alle außer einer kaputt waren. Teilen war ja eh viel ökonomischer. Und Wasser sparen war gut für die Umwelt und – und ich sollte bei der Sache bleiben, verdammt!
„Wovon hast du dann gesprochen?“, wiederholte er.
Er wollte, dass ich es aussprach. Schön, konnte er haben. Aber nicht so. Nicht, wenn ich Angst haben musste, dass mein Handtuch jede Sekunde runterfiel und noch etwas mehr als mein Innenleben entblößt wurde.
„Kann ich mich erst anziehen, bitte?“, fragte ich, ging an ihm vorbei, nahm den Schlüssel, denn ich während der Dusche oben auf dem Spind deponiert hatte, und schloss die Tür auf. Ja, ich wich ihm aus. Das war mir bewusst, aber so ganz ohne Kleider an meinem Körper fühlte ich mich noch verletzlicher als so schon.
„Ich habe versucht dich anzurufen, heute. Mehrmals.“
Ich sah kurz zu ihm, überrascht. „Das … ich hab mein Handy zu Hause gelassen.“
„Ich dachte, du würdest nicht mit mir reden wollen. Gestern, nach dem Anruf – ich war in der Küche und Thomas hat … na ja, mir seine Meinung ge…sagt. Er meinte, ich – jedenfalls haben wir danach mit Alessandro einen Film geguckt und das Handy lag die ganze Zeit über im Schlafzimmer. Ich konnte ja nicht wissen, dass du anrufen würdest, obwohl ich so …“ Er zuckte mit den Schultern. „Mein Anruf war ja kein Glanzstück gewesen.“
„Alessandro?“, fragte ich, weil es das einzige war, über das ich nicht nachdenken musste. Thomas hatte ihm die Meinung gegeigt? Ich war mir ziemlich sicher, dass ‚geigen‘ das Verb war, was er eigentlich hatte benutzen wollen. Aber wieso? Und überhaupt: Wieso sprach er das jetzt an? Konnte es nicht warten, bis ich etwas mehr Stoff um den Leib hatte?
„Der Austauschstudent, der jetzt in deinem Zimmer wohnt.“
‚Dein Zimmer‘. Es gefiel mir, dass er es so formuliert hatte.
„Ah“, machte ich und wandte mich wieder dem Spindinhalt zu. „Dann haben wir dasselbe aus fast demselben Grund gedacht.“ Ein Missverständnis. Er hatte meine Anrufe verpasst und ich seine. Das war beruhigend. Und mir gefiel, dass er mich heute zurückgerufen hatte. Mehrmals.
Über den Rest konnte ich nachdenken, wenn ich angezogen war.
Ich nahm meine Pants raus und wollte gerade nach dem Handtuch greifen, als seine Stimme mich davon abhielt.
„Nicht!“
Als ich mich zu ihm umdrehte, sah er mich peinlich berührt an.
„Nimm das Handtuch da bitte nicht …“ Mischa seufzte, ließ sich auf die Bank fallen und fuhr sich durch die Haare. „Scheiße, ich komme mir gerade leicht notgeil vor“, murmelte er und sah mich entschuldigend an.
Ich grinste, plötzlich erleichtert, obwohl es dazu eigentlich keinen Grund gab. Aber dass er das so einfach zugab, das war doch ein gutes Zeichen, oder? Jedenfalls schien mir das Eis gebrochen zu sein.
„Willkommen im Club!“ Auf seinen fragenden Blick hin fügte ich hinzu: „In meinen Gedanken stehen wir beide schon längst in einer der Duschkabinen da hinten. Du, weil du verschwitzt und mittlerweile abgekühlt bist und ich … weil’s Spaß macht.“
Er lachte wehmütig. „Das würde es wahrscheinlich.“
„Das würde es garantiert“, korrigierte ich ihn.
„Du bist Samstagnacht gegangen …“
Die Worte kamen leise, fragend. Im ersten Moment verstand ich nicht, was er damit sagen wollte – ich hatte doch bereits erklärt, dass ich gegangen war, weil er es am Morgen bereut hätte – doch dann sah er auf und irgendwo zwischen den grünen Sprenkeln lag die Antwort: Mischa fragte sich, ob ich nicht vielleicht gegangen war, weil ich genug hatte. Von dem Hin und Her, von – ihm? Wie er überhaupt auf so einen Gedanken kam, war mir völlig unverständlich – ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein schwuler Mann mit gesundem Menschenverstand genug von ihm bekommen konnte, nicht, wenn besagter schwuler Mann ehrlich mit sich selbst und seiner Umwelt war, aber vielleicht war ich auch leicht parteiisch. Musste am Leberfleck liegen.
Ich verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und erwiderte: „Glaub mir, das  hat mehr Selbstbeherrschung verlangt, als ich eigentlich hab.“
Seine Augenbrauen hoben sich überrascht, als er die Worte erkannte, die er in der Zombienacht zu mir gesagt hatte. Er zögerte, suchte mit dem Blick mein Gesicht ab und fragte dann rau: „Aber?“
„Ich habe Bedingungen.“
Es tat gut, das auszusprechen. Vor ihm. Zu ihm. Denn was brachte es mir, wenn ich es zu Anita oder Thomas sagte, aber nicht zu Mischa selbst? Woher sollte er wissen, dass sich meine Einstellung geändert hatte, wenn ich es ihm nicht sagte? Vor allem, wenn er auch nur für eine Sekunde ernsthaft geglaubt hatte, dass auch nur die winzigste Möglichkeit bestand, dass ich nichts mehr von ihm wollen würde, in keiner Hinsicht. Und, nun, jetzt schien mir der Zeitpunkt passend. Keine Ahnung, ob er das wirklich war, aber ich schätzte, solange ich den Mund aufkriegte und nicht wieder wie vor einem Monat verstummte, war es ein guter Zeitpunkt.
Mischa schluckte, ließ aber meinen Blick nicht los. Ich sah, dass er wieder völlig angespannt dasaß. Nur … etwas war anders. Er – diesmal war die Anspannung ebenso wie sein Gesichtsausdruck nicht irritiert oder gequält, sondern … sondern abwartend. Fast ein wenig … hoffnungsvoll?
Oh, bitte. Bitte ja.
„Sind die … mit meinen vereinbar?“
Scheiße, das – das würde er nicht fragen, wenn er nicht in Betracht ziehen würde, sie zu vereinen, oder? Dafür war er zu – zu aufrichtig. Zu wenig jemand, der spielte oder andere gern an der Nase herumführte. Zu wenig grausam, denn genau das wäre es von meinem Standpunkt aus, wenn er mir Hoffnungen machte, ohne auch nur daran zu denken, sie zu erfüllen: grausam. Unmenschlich. Scheiße, meinte er das ernst? Was war mit ‚Morgen wieder‘?
„Ich denke schon.“ Mein Lächeln wurde vorsichtig breiter, auch wenn ich darum kämpfen musste, dass es nicht in sich zusammenbrach, denn mein Herz schlug mir im Hals und meine Stimme drohte sich zu verkrümeln. „Sie sind immerhin … identisch.“
Unglaube.
Versteinerung.
Was hatte er denn gedacht, das der Grund war, dass ich mit ihm hatte essen gehen wollen? Das war doch eindeutig gewesen!
Sein Blick verlangte geradezu nach Bestätigung. Ich brachte zwar keinen Ton raus, aber mein Lächeln wurde sicherer, offener.
Das Strahlen fing in den grünen Sprenkeln an und breitete sich von da über die Augen, das Gesicht, den ganzen Körper aus. Dann wurde die Tür aufgestoßen und zwei Typen kamen laut lachend herein. Der eine fast so groß wie Mischa, aber weniger muskulös, der andere klein, aber dafür deutlich bulliger.
„Mischa, hier bist du!“, rief der kleinere aus, „Ey Mann, Mike dreht im Roten! Geh besser raus, be…“ Er brach ab – oder vielleicht bekam ich den Rest auch einfach nicht mehr mit.
Mischa war aufgestanden, die wenigen Schritte zu mir gekommen und war nun da. Und mir wurde klar, dass betrunkene Küsse mit nüchternen doch nicht mithalten konnten. Allein schon, weil er nüchtern war. Und, weil er heute nur nach sich selber roch und schmeckte, und nicht nach Club und Rauch und Tequila. Und weil er während des Kusses nicht aufhören konnte zu grinsen.
Weil er mich küsste. Und die Arme um mich schlang. Und ich nicht Angst haben musste, dass er es morgen bereuen würde. Weil ich die Arme um ihn schlingen konnte und wusste, dass es wirklich er war und nicht ein enthemmte Version von ihm. Weil ich ihn vermisst hatte.
„Ich will nicht, dass du Ärger bekommst“, murmelte ich an seinen Lippen und drängte mich dennoch automatisch an ihn, als seine Hand sich direkt über meinem Arsch auf das Handtuch legte.
„Scheiß auf den Ärger.“ Seine Lippen fingen meine wieder ein und ich seufzte zufrieden. Nein, betrunkene Küsse waren nichts hiergegen!
Ein Räuspern. „Äh … wir sind dann duschen …“ Ein unsicheres, zustimmendes Brummen. Nicht mein Problem, wenn die noch nie zwei küssende Männer gesehen hatten. Ich würde sie auch nicht davon abhalten, uns etwas mehr Privatsphäre zu geben, denn so, wie Mischas Unterleib sich gerade an meinen drückte, kamen mir ganz viele Ideen, für die man definitiv keine Zuschauer brauchte.
Oh, fuck!
„Mischa, Umkleide!“
Seine rechte Hand fuhr über meinen Rücken, verweilte ganz kurz an der Stelle, wo Eckis Hände gelegen hatten und strich dann weiter unten am Rand des Handtuchs entlang. „Ich weiß.“
Er hätte genauso gut ‚Na und?‘ fragen können. Aber ich schob ihn von mir, bevor das letzte bisschen Verstand zusammen mit dem letzten bisschen Willenskraft meinen Körper verließ. Egal, wie oft ich mir unser erstes Mal vorgestellt hatte, ein Quickie in der Umkleidekabine, während zwei Kerle nebenan duschten und sein Trainer fuchsteufelswild war, war nicht dabei gewesen. Ich wollte es genießen. Ihn genießen. Außerdem …
„Essen?“, fragte ich und hielt ihn mit den Händen auf seiner Brust auf Abstand. Auf seiner wirklich, wirklich angenehmen Brust. Hrrm.
„Was ‚essen‘?“, fragte er leicht desorientiert zurück.
„Du, ich, Restaurant?“ Er sah mich an, als wüsste er nicht, wie ich ausgerechnet jetzt darauf kam.
„Also, weißt du … Opi hat mir Weihnachten Geld geschenkt, damit ich meinen Herzbuben ausführen kann …“ ‚Herzbuben‘? Hatte ich das echt gerade gesagt? Scheiße, wie peinlich! Schnell, ablenken! „Und, also, eine richtige Beziehung fängt ja eigentlich auch mit einem Date an – und wir hatten noch keines, kein offizielles zumindest, und …“ Ich brach ab, als ich Mischas Blick bemerkte. So intensiv, durchdringend.
„‚Eine richtige Beziehung‘ …“
Oh.
Wie jetzt, hatte er das etwa nicht gemeint, als er gefragt hat, ob die Bedingungen miteinander kompatibel seien? Er hatte seine doch nicht etwa geändert, oder? Verdammt, was …
Und dann lächelte er und mir wurde warm, wunderschön warm von innen heraus. Schon seltsam, wie eine kleine Geste von ihm gleich alles besser machen konnte.
„Ich würd’s halt nur gerne … richtig machen.“ Ich wusste selber, dass das ein wenig lächerlich war – vor allem, da es eigentlich kein richtig und falsch gab, solange es für beide stimmte. Aber dennoch, ich wollte Mischa ausführen, so ganz traditionell. In ein schönes, ruhiges Restaurant, am besten mit einem Tisch in einer Nische und von mir aus auch mit Kerzenschein. Richtig halt.
Er gab mir einen beinahe keuschen, zärtlichen Kuss, der mir den Atem raubte.
„Und wann möchtest du deinen Herzbuben ausführen?“ Schalk glitzerte in seinen Augen, aber sogar das erzeugte noch mehr Schmetterlinge in meinem Bauch, als da sowieso schon herumflatterten. Weil er mich so ansah. Weil er mich noch nie so angesehen hatte, noch nicht einmal an dem Wochenende mit den Zombies.
„Na ja“, begann ich. Soweit hatte ich noch nicht gedacht. Ich hatte überhaupt noch nicht nachgedacht, denn ich hatte hiermit nicht gerechnet. Ich meine, ich hatte gedacht, ihn im schlimmsten Fall zu einem Essen halb erpressen zu müssen! Und jetzt, jetzt schmiegte er sich an mich und küsste mich und …
„Eigentlich macht man so was ja am Wochenende, aber …“
„Aber?“
Ich verzog mein Gesicht. „Ich will nicht so lange warten.“
Lachen vibrierte in seinem Brustkorb. Das fühlte sich auch gut an. Richtig gut. Richtig und gut.
„Ich auch nicht. Wann also?“
„Morgen?“
Er nickte.
Okay. Morgen war … Dienstag. Ecki hatte gesagt, Mischa hatte um sieben Training, also … „Um halb neun? Ich hol dich ab?“
„Ich würde mich freuen.“
Und ich mich erst!
Würden wir wirklich essen gehen? Zusammen? Zusammen zusammen?
Was war mit ‚Morgen wieder‘?
Die Tür ging erneut auf und Ecki steckte den Kopf rein.
„Mischa? Du …“ Er hielt inne, sah uns an und grinste. „Ha. Sieht aus, als hättet ihr euch ausgesprochen, hm?“
Ich grinste zurück. Jetzt machte mir sein Dauergrinsen nichts mehr aus, ich konnte meines sowieso gerade nicht abschalten.
„Gut, dann kannst du die positive Energie nutzen und Mike besänftigen, ja? Am besten damit, dass du die verlorene Trainingszeit aufholst. Er hat nachher noch ‘ne Privatstunde mit Stefan und mit der Laune …„
Mischa brummte unzufrieden und drückte mich noch mal an sich. Ich legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu einem heftigen Kuss hinunter, dann machte ich mich los und trat einen Schritt zurück.
„Morgen, halb neun?“
Ich wollte jetzt nicht weg. Ich wollte warten, bis er fertig war und dann mit ihm nach Hause und ihn vernaschen. Endlich, endlich richtig vernaschen. Verdammt, meine Zunge vermisste seinen Geschmack jetzt schon!
Er nickte. „Halb neun.“
Ich sah ihm hinterher, bis die Tür ins Schloss fiel. Wie gesagt, am liebsten wäre ich ihm nach, von mir aus auch halbnackt, und hätte ihm gesagt: ‚Scheiß auf das Date, vierundzwanzig Stunden warten ist zu lang!‘ Aber andererseits … wollte ich es eben doch, obwohl ich eigentlich nicht romantisch veranlagt war. Aber ich wollte eine spezielle, schöne Erinnerung für unseren Anfang, nach all dem Chaos und den Fehlern und den unschönen Erinnerungen. Ein Date, mit allem Drum und Dran. Ich wollte etwas richtig machen, zur Abwechslung.
Oh verdammt: unser Anfang! Unser Anfang! Durfte ich wirklich schon so denken? Sollte ich es nicht lieber langsam angehen lassen und keine großen Hoffnungen machen? Vielleicht änderte er seine Meinung ja wieder. Oder wir merkten morgen, dass wir ganz schrecklich schlecht zusammenpassten – okay, von meiner Seite aus bestand da keine Gefahr, also würde einfach nur er merken, dass es keine gute Idee war – eben die Meinung ändern.
Verdammt, nicht pessimistisch werden jetzt! Das würde auch nichts Gutes mit sich bringen. So ganz konnte ich es einfach nicht glauben, dass ich wirklich eine Verabredung mit Mischa hatte. Heute morgen war alles noch so scheiße gewesen und jetzt … 
Ich lächelte und zog das Handtuch endlich von meinen Hüften.
Jetzt müsste ich wohl meinen Facebook-Status ändern, wenn ich denn ein Profil hätte.

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