Ich boxte. Er schlug daneben. Essen?
„Gut, dann fangen wir jetzt an.“ Ecki stand vor
mir und grinste breit und verdammt frech. Ja, wir fingen an. Jetzt. Er
mich auch.
Scheiße, ich war wohl wirklich nicht in Form, wenn
mich das Aufwärmen schon fast umgehauen hatte. Jetzt konnte ich auch den Karate
Kid verstehen – Wax on, wax off sah einfach aus, hatte es aber
sicher genauso in sich wie, sagen wir, die Arme kreisen lassen. Ich hatte den
Mist echt unterschätzt. Hatte gedacht, es wäre eine Pause, nachdem ich beim
Auf-der-Stelle-Laufen schon ein klein wenig aus der Puste gekommen
war – aber nur, weil Ecki plötzlich mit solchen Späßen anfangen
musste, wie: ‚Knie hoch, bis zur Hüfte!‘ Dann: ‚Knie runter, jetzt treten wir
uns erst mal selber in den Arsch! Mit den Fersen, immer schön hoch!‘ Und
natürlich wurde auch der Klassiker nicht vergessen: Seilspringen. Das musste
ich definitiv noch üben, so oft wie ich mich verheddert hatte. Zum Glück war
Mischa noch nicht da, das wäre peinlich geworden.
Nach dem Fast-auf-die-Schnauze-fallen per
Springseil hätte ich jedenfalls echt eine Verschnaufpause brauchen können, auch
wenn Ecki noch nicht mal merklich schneller atmete. Ich war zwar noch nicht
K.O. gewesen, aber von ‚leichtem Aufwärmen‘ konnte meiner Meinung nach nicht
die Rede sein. Aber wir hatten ja noch die Schultern und Arme richtig aufwärmen
müssen. Und dafür erst mal die Arme kreisen lassen. Die ersten dreißig Sekunden
waren easy gewesen. Die zweiten okay. Die dritten unangenehm. Und dann hatte es
angefangen wie Hölle zu brennen.
Nach dem Aufwärmen hatte er mir gezeigt, wie ich
die Boxbandagen richtig wickeln musste. Und nein, ich konnte mir die
Wickelfolge natürlich nicht merken – alles, was ich noch wusste, war:
Schlaufe über den Daumen, zweimal ums Handgelenk und dann gefühlte tausend Mal
kreuz und quer mit System, irgendwann auch zwischen den Fingern durch, so dass
am Ende nur dieser kleine Fleck auf der Handinnenfläche frei blieb. Als ich ihn
gefragt hatte, wie man sich die richtige Reihenfolge jemals merken sollte,
hatte Ecki gelacht und gesagt: „Keine Angst, wir haben ‘ne Anleitung, dann
kannste zu Hause üben.“ Wenigstens etwas.
Und jetzt, jetzt war ich warm und bandagiert und
er hielt mir zwei Mini-Hanteln hin. Ich nahm sie entgegen und musterte sie
skeptisch. Die Dinger passten gerade mal in meine Hand – und ich
fühlte mich leicht verarscht. Ich war zwar kein Sportass, aber so ein Schluffi
auch wieder nicht!
Ecki musste meinen Blick richtig gedeutet haben,
denn er lachte schon wieder. Langsam ging mir das echt auf den Keks.
„Die sind normal, also mach dir keine Gedanken.
Wir stemmen hier keine Gewichte, sondern wir wollen Schnelligkeit und
Beweglichkeit aufbauen, neben der Kraft natürlich. Da sind viele Wiederholungen
mit kleinen Gewichten wichtig.“
„Wenn du meinst …“
„Ich meine. Außerdem lernst du so nebenbei, die
Faust immer schön geschlossen zu halten.“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Zu
Hause kannst du sie weglassen oder mit etwas Kleinem, Leichtem ersetzen und dir
das Geld für die Hanteln sparen. Wenn du dir etwas kaufen willst, dann tun’s
für den Anfang die Bandagen. Die sind nicht teuer und es ist praktisch, wenn
man das Wickeln üben kann, bis man nicht mehr darüber nachdenken muss.“
Ich nickte, schnappte mir mein Wasser und trank
einen Schluck. Als ich wieder vor Ecki auf den Matten stand, hielt er den
Zeigefinger hoch, in einer karikaturesken Version des Oberlehrers.
„Wichtig ist, dass du anfangs nie – ich
wiederhole: nie! – ohne Boxhandschuhe zuschlägst.“ Der Finger
verschwand und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wirklich, das
Verletzungsrisiko ist riesig. Du kannst dir die Handgelenke und Sehnen
schädigen, den Daumen überdehnen … wollen wir alles nicht. Einverstanden?“
Ich nickte. „Dann möchte ich dich darauf
aufmerksam machen, dass ich noch keine Boxhandschuhe trage.“
Er grinste wieder. „Weil wir mit Schattenboxen
anfangen und erst mal das richtige Haltung und die Schlagtechnik üben. Aber
schön, dass du mitdenkst.“
Und als hätte er es geplant, setzte mein Denken
just in diesem Moment aus. Ich hatte ihn nicht hereinkommen sehen, war,
entgegen meiner ursprünglichen Erwartungen, wirklich ganz auf Ecki konzentriert
gewesen, aber als ein großer Kerl am Rand meines Sichtfeldes mitten im Gehen
einfror, erwachten zwei meiner Synapsen aus dem sportinduzierten Koma, zählten
eins und eins zusammen und brannten in der nächsten Sekunde durch, zusammen mit
all ihren Brüdern und Schwestern.
Mischa starrte mich an, als hätte er einen Geist
gesehen. Und ich starrte zurück, sofort wieder nervös, sofort um die Reaktion
bangend. Ecki sah fragend in die Richtung meines Blickes, erkannte Mischa und
hob die Hand.
„Hey, wir haben Neuzuwachs! Und nur, damit das
klar ist: Ich schreib das meinem Charisma zu, nicht eurer Freundschaft, klar?“
Dann drehte er sich wieder zu mir und raunte. „Wenn du mir jetzt widersprichst,
lass ich dich am Ende fünfzig Runden um den Block laufen.“ Er zwinkerte und
stellte sich in Position. „Okay, versuch, locker zu stehen, die Füße hüftbreit
voneinander entfernt …“
Mischas Gesichtsausdruck glich dem der Sphinx.
Obwohl, nein, oberflächlich konnte ich Überraschung erkennen, aber darunter, da
lag etwas, das …
Er machte einen Schritt auf uns zu, doch da ertönte
eine tiefe Stimme: „Mischa! Du bist zu spät!“
Mischas Kopf schnellte in die Richtung seines
Trainers, dann sah er zurück zu mir, und etwas flackerte deutlicher über sein
Gesicht. Doch bevor ich es richtig sehen konnte, drehte er sich ruckartig ab
und stakste in den hinteren Teil des Raumes, wo er letztes Mal schon trainiert
hatte.
Als ich meinen Blick losreißen konnte, sah ich in
Eckis fragendes Gesicht.
„Alles okay bei euch?“
Ich zuckte mit den Schultern. Er musterte mich
noch kurz, dann klatschte er in die Hände.
„Na, geht mich auch nichts an. Komm, wir haben
noch viel vor heute. Also, entspannt stehen, die Beine hüftweit auseinander.
Und jetzt setzt du den rechten Fuß schräg nach hinten.“
Ich tat wie geheißen, konnte aber nicht
verhindern, dass mein Blick zu Mischa huschte. Nur, weil sie auf der anderen
Seite des Raumes waren, hieß das schließlich nicht, dass ich sie nicht sehen
konnte. Über den Boxring hinaus. Mussten die beiden Spackos da drin den gerade
benutzen? Konnten sie ihr Sparring nicht woanders machen oder sich, wie die
anderen Anwesenden, mit Sandsäcken und anderen Trainingsgeräten vergnügen? Sie
waren im Weg, verdammt!
Er war überrascht, aber das war klar gewesen. Aber
was noch? Wütend? Genervt? Vielleicht doch irgendwo froh? Verdammt, so genau
musste ich es auch gar nicht wissen; mir hätte schon gereicht, zu erfahren, ob
er positiv oder negativ überrascht von meinem Auftauchen hier war.
„Milo, hier spielt die Musik!“ Ecki fing meinen
Blick mit einer Handbewegung vor meinem Gesicht ein, um sie vor seine Augen zu
führen. „Glaub mir, er ist nach dem Training sowieso zahmer, dann könnt ihr das
immer noch klären. Also, Hände hoch, etwa so. Schultern schön locker lassen.“
Das sagte er so leicht. Locker war generell unmöglich,
wenn Mischa wenige Meter von mir entfernt in einer Geschwindigkeit seilsprang,
von der mir allein beim Zusehen schwindlig wurde. Wie war das noch mal mit dem
langsamen Aufwärmen?
***
Wenigstens war ich nicht der einzige, der sich
nicht konzentrieren konnte. Ich gab mir wirklich, ehrlich Mühe, aber mehr als
sechzig Prozent meiner Aufmerksamkeit konnte ich Ecki und dem Ausführen der
Schläge, der Bewegung der Schultern, Hüften und Beine einfach nicht geben. Und
ich fand, sechzig Prozent war schon erstaunlich viel.
„Versuch, die Rückenmuskeln und die hier an der
Seite bei jedem Schlag bewusst anzuspannen“, erinnerte mich Ecki gerade, „Und
denk daran: Der Schlag kommt nicht aus der Faust, sondern aus deinem ganzen
Körper. Er beginnt in der Faust und endet im Fuß, immer. Deine Hüfte und
das Bein drehen sich bei jedem Schlag mit. Deshalb ist ein lockerer Stand
wichtig.“
„Leichter gesagt als getan“, erwiderte ich leicht
frustriert, „Was mache ich, wenn meine Hüfte nicht mit will und meine Füße
finden, dass sich drehen überbewertet ist?“
„Dann übst du mit ihnen so lange, bis es in
Fleisch und Blut übergeht. Glaub mir, du hast so viel mehr Power in deinem
Punch. Und du bist schwieriger zu treffen, wenn du immer in Bewegung bleibst.“
Na, so viel Bewegung war das ja nicht. Obwohl, bei
Mischa sah es wirklich nach einem Tanz aus, vor, zurück, rechts, links …
„Stört’s dich, wenn ich dich anfasse? Am Rumpf,
meine ich“, wollte Ecki plötzlich wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Sollte es das?“
Er zuckte mit den Schultern. „Manche mögen’s
nicht. Fühlen sich vielleicht in ihrer Männlichkeit gefährdet oder sehen es als
Anmache oder was weiß ich. Aber ich könnte dir so Hilfestellung geben, damit du
Hüfte und Beine nicht vergisst.“
„Ich bitte darum“, murmelte ich mit einem Seitenblick
auf Mischa. Ja, er bewegte die Hüften auch mit, wenn auch blitzschnell.
Bewegliche Hüften waren ja eh vorteilhaft, so generell.
Ecki stellte sich hinter mich und legte die Hände
wenige Zentimeter oberhalb meiner Hüften auf mein Shirt.
„Dann weiter im Text. Rechts, zurück; links,
zurück! Rechts, zurück; links …“ Jedes Mal, wenn ich die Faust nach vorne
bewegte, gab er mir einen leichten Impuls. Es half wirklich.
„Siehste? Wenn du das ein bisschen einübst, geht’s
bald automatisch und du …“
„Verdammt noch mal, was’n heute los mit dir?!“
Mikes Stimmte dröhnte durch das Studio und nicht
wenige hielten inne und sahen zu den beiden rüber. Mich eingeschlossen,
verstand sich.
„Wenn du keinen Bock hast, kannste abhauen und
aufhören meine Zeit zu verschwenden!“
Ich sah Mischa den Kopf schütteln und sich
entschuldigen.
Als ich mich zu ihm umdrehte, begegnete ich Eckis
forschenden Blick.
„Kann es sein, dass du der Grund bist, warum er in
letzter Zeit so miese Laune hat?“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil er eben schon wieder rübergesehen und
deshalb fast Mikes Kiefer statt der Pratze getroffen hätte.“
Ich wusste nicht, wieso, aber in diesem Moment
wurde mir klar, dass es ziemlich unfair von mir war, ausgerechnet hier
aufzutauchen. Immerhin war das Boxstudio sein Rückzugsort. Hier kam er hin, um
seine Probleme zu vergessen und den Frust loszuwerden und ich – ich
war gerade Problem und Frustquelle in einem. Scheiße! Hatte ich schon
wieder das Falsche gemacht? Das konnte doch nicht sein! Es war ja noch nicht mal
meine Idee gewesen. Und Anita und Klaus hatten sie beide
befürwortet … aber die beiden kannten Mischa auch nicht. Ich schon.
„Na komm“, machte Ecki und knuffte mich in die
Schulter, „lass uns weitermachen. Ich will dir noch ein paar Dinge zeigen, die
du dann brav zu Hause üben kannst, während du über euren Streit nachgrübelst.
Und morgen haust du in der Gruppe den Ärger am Sandsack raus.“ Er grinste,
drehte mich um und machte da weiter, wo wir aufgehört hatten.
***
Die Dusche tat unglaublich gut. Ich konnte mich
gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Schweiß
wegzuwaschen hatte. Im Moment fühlte ich mich, rein körperlich, sowieso gut,
aber ich wusste, dass der Muskelkater morgen sicher nicht auf sich warten
lassen würde.
Der Anfängerkurs dienstags war um fünf; Mischa kam
gegen sieben. Ecki hatte mir das gesagt, als ich gezögert hatte, für morgen
zuzusagen. Zu dem Training an sich zuzusagen. So schlimm, wie ich ursprünglich
befürchtet hatte, war ja dann doch nicht gewesen. Anfangs musste man wohl
wirklich noch keine Menschen verkloppen und später konnte ich mich ja immer
noch weigern. Und Ecki war ja auch ganz okay, auch wenn seine gute Laune auf
Dauer anstrengend war – aber das kam wahrscheinlich vom Neid. Mit
einem festen Termin würde ich außerdem keine Möglichkeit haben, mich zu
drücken, denn das war wie bei Treffen mit Anita: Um mich davor drücken zu
können, müsste ich mich erst abmelden und das erschien mir auch nicht als gute
Idee, vor allem, da ich nicht jedes Mal krank oder zu beschäftigt sein
konnte.
Aber … aber das war Mischas Ding. Boxen.
Dieses Studio. Und er hatte mir ja erzählt, wie wichtig es ihm war, es für
ihn war. Das wollte ich ihm nicht nehmen. Jeder Mensch brauchte einen Rückzugsort.
Und so begeistert, dass ich jetzt unbedingt weitermachen musste, war ich ja
auch nicht. Und wenn, könnte ich mir immer noch ein anderes Studio suchen,
davon gab es sicher mehr als eines.
Aber ich wollte kein anderes Studio. Ich wollte
wenigstens die Chance, ihm beim Training doch über den Weg zu laufen. Die
Hoffnung, dass er vielleicht kam, auch wenn es noch zu früh für ihn war.
Armselig, aber wahr.
Ich drehte das Wasser weg, trocknete mich
notdürftig ab und schlang mir das Tuch um die Hüften.
Ich wollte mit ihm reden. Gestern hatte das nicht
viel gebracht, aber vielleicht, wenn wir Angesicht zu
Angesicht – gut, vor einem Monat hatte das auch nicht viel gebracht,
aber, aber … aber. Aber ich war noch nicht bereit, aufzugeben.
Nicht nach Silvester. Und damit war ich wieder so weit wie eh und je. Oder
zumindest wie heute Morgen.
Ich kam zurück in die Umkleide und sah mich einem
verschwitzten und angespannten Mischa gegenüber, der auf und ab tigerte und
dessen Atem stoßweise ging. Von wegen zahm, der sah nach vielem aus, aber nicht
zahm!
Überhaupt: Wie konnte er schon fertig sein? Er war
doch gerade mal dreißig Minuten dabei!
„Äh … hi.“
Er blieb ruckartig stehen, drehte sich um und sah
mich an.
„Was machst du hier?“, fragte er und kam
einen Schritt auf mich zu. Dann wanderte sein Blick an mir runter und ich kam
mir plötzlich sehr, sehr unbekleidet vor.
Mischa stand zwischen mir und meinem Spind. Immer
noch verschwitzt, immer noch mit raschem Atem und intensivem Blick. Super. Das
war so gar nicht die richtigen Zutaten, um meine Gedanken in eine ganz falsche
Richtung zu schicken.
Scheiße, sah er wieder einmal gut aus. Ich hatte
keine Ahnung, wie er das machte, aber er sah jedes Mal noch ein bisschen besser
aus als ich ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht sollte ich anfangen, ihn bei
jedem Treffen zu fotografieren, damit ich mich davon überzeugen konnte, dass
ich mir das nur einbildete – oder aber, damit ich den Beweis hatte,
je nachdem. Wissenschaftler würde sicher ein Vermögen dafür geben, so jemanden
untersuchen zu können. Er hätte ausgesorgt.
Sein Leberfleck war auch immer noch an derselben
Stelle am Hals. Und schon wieder so einsam, der arme Kleine. Hatte denn niemand
Mitleid mit ihm? Obwohl, besser so. Ich wollte schließlich keine fremden Zungen
und Münder und Finger und was-weiß-ich-noch-was an meinem Lieblingsleberfleck!
„Lernen, wie man kämpft?“, gab ich zurück und
machte einen Schritt zur Seite. In der Theorie in meinem Kopf spiegelte er die
Bewegung und ging ebenfalls einen Schritt nach links, so dass wir uns weiterhin
gegenüberstanden und ich dennoch näher an meinen Spind kam, aber in der Praxis
blieb er leider einfach stehen und folgte mir mit einem undurchsichtigen Blick.
„Das kannst du auch in anderen Sportstudios. In
anderen Boxstudios.“
Wütend hörte er sich nicht an, das war schon mal
was. Ruhig aber auch nicht. Beherrscht, vielleicht. Ja.
Ich schluckte. Vielleicht kam es von den
Endorphinen oder vielleicht einfach davon, dass ich nach dem zweiten Teil der
Stunde nicht mehr zurechnungsfähig war, aber ich sah ihm direkt in die Augen
und erwiderte leise und dennoch fest: „Ich habe nicht vom Boxen gesprochen.“
Der forschende Blick wäre unangenehm gewesen, wenn
er nicht von ihm gekommen wäre. Er machte einen weiteren Schritt auf
mich zu. Wenn ich den Arm ausstrecken und mich ein wenig nach vorne lehnen
würde, könnte ich ihn jetzt berühren. Am Arm. Der Schulter. Unter dem Saum des
Shirts.
„Wovon dann?“
Wirklich, nur eine Armlänge und ein paar mickrige
Zentimeter, dann wüsste ich, ob sein Körper so erhitzt war, wie er aussah oder
ob er bereits abkühlte – und wenn, dann wäre es wohl am besten, wenn
er unter die Dusche ging, oder? Wir wollten ja nicht, dass er sich noch
erkältete … Und ich, ich konnte auch eine zweite Dusche brauchen. Und
ich war mir sicher, dass alle außer einer kaputt waren. Teilen war ja eh viel
ökonomischer. Und Wasser sparen war gut für die Umwelt und – und ich
sollte bei der Sache bleiben, verdammt!
„Wovon hast du dann gesprochen?“, wiederholte er.
Er wollte, dass ich es aussprach. Schön, konnte er
haben. Aber nicht so. Nicht, wenn ich Angst haben musste, dass mein Handtuch
jede Sekunde runterfiel und noch etwas mehr als mein Innenleben entblößt wurde.
„Kann ich mich erst anziehen, bitte?“, fragte ich,
ging an ihm vorbei, nahm den Schlüssel, denn ich während der Dusche oben auf
dem Spind deponiert hatte, und schloss die Tür auf. Ja, ich wich ihm aus. Das
war mir bewusst, aber so ganz ohne Kleider an meinem Körper fühlte ich mich
noch verletzlicher als so schon.
„Ich habe versucht dich anzurufen, heute.
Mehrmals.“
Ich sah kurz zu ihm, überrascht.
„Das … ich hab mein Handy zu Hause gelassen.“
„Ich dachte, du würdest nicht mit mir reden
wollen. Gestern, nach dem Anruf – ich war in der Küche und Thomas
hat … na ja, mir seine Meinung ge…sagt. Er meinte,
ich – jedenfalls haben wir danach mit Alessandro einen Film geguckt
und das Handy lag die ganze Zeit über im Schlafzimmer. Ich konnte ja nicht
wissen, dass du anrufen würdest, obwohl ich so …“ Er zuckte mit den
Schultern. „Mein Anruf war ja kein Glanzstück gewesen.“
„Alessandro?“, fragte ich, weil es das einzige
war, über das ich nicht nachdenken musste. Thomas hatte ihm die Meinung
gegeigt? Ich war mir ziemlich sicher, dass ‚geigen‘ das Verb war, was er
eigentlich hatte benutzen wollen. Aber wieso? Und überhaupt: Wieso sprach er
das jetzt an? Konnte es nicht warten, bis ich etwas mehr Stoff um den Leib
hatte?
„Der Austauschstudent, der jetzt in deinem Zimmer
wohnt.“
‚Dein Zimmer‘. Es gefiel mir, dass er es so
formuliert hatte.
„Ah“, machte ich und wandte mich wieder dem
Spindinhalt zu. „Dann haben wir dasselbe aus fast demselben Grund gedacht.“ Ein
Missverständnis. Er hatte meine Anrufe verpasst und ich seine. Das war
beruhigend. Und mir gefiel, dass er mich heute zurückgerufen hatte. Mehrmals.
Über den Rest konnte ich nachdenken, wenn ich
angezogen war.
Ich nahm meine Pants raus und wollte gerade nach
dem Handtuch greifen, als seine Stimme mich davon abhielt.
„Nicht!“
Als ich mich zu ihm umdrehte, sah er mich peinlich
berührt an.
„Nimm das Handtuch da bitte nicht …“ Mischa
seufzte, ließ sich auf die Bank fallen und fuhr sich durch die Haare. „Scheiße,
ich komme mir gerade leicht notgeil vor“, murmelte er und sah mich
entschuldigend an.
Ich grinste, plötzlich erleichtert, obwohl es dazu
eigentlich keinen Grund gab. Aber dass er das so einfach zugab, das war doch
ein gutes Zeichen, oder? Jedenfalls schien mir das Eis gebrochen zu sein.
„Willkommen im Club!“ Auf seinen fragenden Blick
hin fügte ich hinzu: „In meinen Gedanken stehen wir beide schon längst in einer
der Duschkabinen da hinten. Du, weil du verschwitzt und mittlerweile abgekühlt
bist und ich … weil’s Spaß macht.“
Er lachte wehmütig. „Das würde es wahrscheinlich.“
„Das würde es garantiert“, korrigierte ich ihn.
„Du bist Samstagnacht gegangen …“
Die Worte kamen leise, fragend. Im ersten Moment
verstand ich nicht, was er damit sagen wollte – ich hatte doch
bereits erklärt, dass ich gegangen war, weil er es am Morgen bereut
hätte – doch dann sah er auf und irgendwo zwischen den grünen
Sprenkeln lag die Antwort: Mischa fragte sich, ob ich nicht vielleicht gegangen
war, weil ich genug hatte. Von dem Hin und Her, von – ihm? Wie er
überhaupt auf so einen Gedanken kam, war mir völlig unverständlich – ich
konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein schwuler Mann mit gesundem
Menschenverstand genug von ihm bekommen konnte, nicht, wenn besagter schwuler
Mann ehrlich mit sich selbst und seiner Umwelt war, aber vielleicht war ich
auch leicht parteiisch. Musste am Leberfleck liegen.
Ich verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und
erwiderte: „Glaub mir, das hat
mehr Selbstbeherrschung verlangt, als ich eigentlich hab.“
Seine Augenbrauen hoben sich überrascht, als er
die Worte erkannte, die er in der Zombienacht zu mir gesagt hatte. Er zögerte,
suchte mit dem Blick mein Gesicht ab und fragte dann rau: „Aber?“
„Ich habe Bedingungen.“
Es tat gut, das auszusprechen. Vor ihm. Zu ihm.
Denn was brachte es mir, wenn ich es zu Anita oder Thomas sagte, aber nicht zu
Mischa selbst? Woher sollte er wissen, dass sich meine Einstellung geändert
hatte, wenn ich es ihm nicht sagte? Vor allem, wenn er auch nur für eine
Sekunde ernsthaft geglaubt hatte, dass auch nur die winzigste Möglichkeit
bestand, dass ich nichts mehr von ihm wollen würde, in keiner Hinsicht. Und,
nun, jetzt schien mir der Zeitpunkt passend. Keine Ahnung, ob er das wirklich
war, aber ich schätzte, solange ich den Mund aufkriegte und nicht wieder wie
vor einem Monat verstummte, war es ein guter Zeitpunkt.
Mischa schluckte, ließ aber meinen Blick nicht
los. Ich sah, dass er wieder völlig angespannt dasaß. Nur … etwas war
anders. Er – diesmal war die Anspannung ebenso wie sein Gesichtsausdruck
nicht irritiert oder gequält, sondern … sondern abwartend. Fast ein
wenig … hoffnungsvoll?
Oh, bitte. Bitte ja.
„Sind die … mit meinen vereinbar?“
Scheiße, das – das würde er nicht
fragen, wenn er nicht in Betracht ziehen würde, sie zu vereinen, oder? Dafür
war er zu – zu aufrichtig. Zu wenig jemand, der spielte oder andere
gern an der Nase herumführte. Zu wenig grausam, denn genau das wäre es von
meinem Standpunkt aus, wenn er mir Hoffnungen machte, ohne auch nur daran zu
denken, sie zu erfüllen: grausam. Unmenschlich. Scheiße, meinte er das ernst?
Was war mit ‚Morgen wieder‘?
„Ich denke schon.“ Mein Lächeln wurde vorsichtig
breiter, auch wenn ich darum kämpfen musste, dass es nicht in sich
zusammenbrach, denn mein Herz schlug mir im Hals und meine Stimme drohte sich
zu verkrümeln. „Sie sind immerhin … identisch.“
Unglaube.
Versteinerung.
Was hatte er denn gedacht, das der Grund war, dass
ich mit ihm hatte essen gehen wollen? Das war doch eindeutig gewesen!
Sein Blick verlangte geradezu nach Bestätigung.
Ich brachte zwar keinen Ton raus, aber mein Lächeln wurde sicherer, offener.
Das Strahlen fing in den grünen Sprenkeln an und
breitete sich von da über die Augen, das Gesicht, den ganzen Körper aus. Dann
wurde die Tür aufgestoßen und zwei Typen kamen laut lachend herein. Der eine
fast so groß wie Mischa, aber weniger muskulös, der andere klein, aber dafür
deutlich bulliger.
„Mischa, hier bist du!“, rief der kleinere aus,
„Ey Mann, Mike dreht im Roten! Geh besser raus, be…“ Er brach
ab – oder vielleicht bekam ich den Rest auch einfach nicht mehr mit.
Mischa war aufgestanden, die wenigen Schritte zu
mir gekommen und war nun da. Und mir wurde klar, dass betrunkene Küsse
mit nüchternen doch nicht mithalten konnten. Allein schon, weil er nüchtern
war. Und, weil er heute nur nach sich selber roch und schmeckte, und nicht
nach Club und Rauch und Tequila. Und weil er während des Kusses nicht aufhören
konnte zu grinsen.
Weil er mich küsste. Und die Arme um mich schlang.
Und ich nicht Angst haben musste, dass er es morgen bereuen würde. Weil ich die
Arme um ihn schlingen konnte und wusste, dass es wirklich er war und
nicht ein enthemmte Version von ihm. Weil ich ihn vermisst hatte.
„Ich will nicht, dass du Ärger bekommst“, murmelte
ich an seinen Lippen und drängte mich dennoch automatisch an ihn, als seine
Hand sich direkt über meinem Arsch auf das Handtuch legte.
„Scheiß auf den Ärger.“ Seine Lippen fingen meine
wieder ein und ich seufzte zufrieden. Nein, betrunkene Küsse waren nichts
hiergegen!
Ein Räuspern. „Äh … wir sind dann
duschen …“ Ein unsicheres, zustimmendes Brummen. Nicht mein Problem, wenn
die noch nie zwei küssende Männer gesehen hatten. Ich würde sie auch nicht
davon abhalten, uns etwas mehr Privatsphäre zu geben, denn so, wie Mischas
Unterleib sich gerade an meinen drückte, kamen mir ganz viele Ideen, für die
man definitiv keine Zuschauer brauchte.
Oh, fuck!
„Mischa, Umkleide!“
Seine rechte Hand fuhr über meinen Rücken,
verweilte ganz kurz an der Stelle, wo Eckis Hände gelegen hatten und strich
dann weiter unten am Rand des Handtuchs entlang. „Ich weiß.“
Er hätte genauso gut ‚Na und?‘ fragen können. Aber
ich schob ihn von mir, bevor das letzte bisschen Verstand zusammen mit dem
letzten bisschen Willenskraft meinen Körper verließ. Egal, wie oft ich mir
unser erstes Mal vorgestellt hatte, ein Quickie in der Umkleidekabine, während
zwei Kerle nebenan duschten und sein Trainer fuchsteufelswild war, war nicht
dabei gewesen. Ich wollte es genießen. Ihn genießen. Außerdem …
„Essen?“, fragte ich und hielt ihn mit den Händen
auf seiner Brust auf Abstand. Auf seiner wirklich, wirklich angenehmen Brust.
Hrrm.
„Was ‚essen‘?“, fragte er leicht desorientiert
zurück.
„Du, ich, Restaurant?“ Er sah mich an, als wüsste
er nicht, wie ich ausgerechnet jetzt darauf kam.
„Also, weißt du … Opi hat mir
Weihnachten Geld geschenkt, damit ich meinen Herzbuben ausführen kann …“
‚Herzbuben‘? Hatte ich das echt gerade gesagt? Scheiße, wie peinlich! Schnell,
ablenken! „Und, also, eine richtige Beziehung fängt ja eigentlich auch mit
einem Date an – und wir hatten noch keines, kein offizielles
zumindest, und …“ Ich brach ab, als ich Mischas Blick bemerkte. So
intensiv, durchdringend.
„‚Eine richtige Beziehung‘ …“
Oh.
Wie jetzt, hatte er das etwa nicht gemeint, als er
gefragt hat, ob die Bedingungen miteinander kompatibel seien? Er hatte seine
doch nicht etwa geändert, oder? Verdammt, was …
Und dann lächelte er und mir wurde warm,
wunderschön warm von innen heraus. Schon seltsam, wie eine kleine Geste von ihm
gleich alles besser machen konnte.
„Ich würd’s halt nur gerne … richtig
machen.“ Ich wusste selber, dass das ein wenig lächerlich war – vor
allem, da es eigentlich kein richtig und falsch gab, solange es für beide
stimmte. Aber dennoch, ich wollte Mischa ausführen, so ganz traditionell. In
ein schönes, ruhiges Restaurant, am besten mit einem Tisch in einer Nische und
von mir aus auch mit Kerzenschein. Richtig halt.
Er gab mir einen beinahe keuschen, zärtlichen
Kuss, der mir den Atem raubte.
„Und wann möchtest du deinen Herzbuben
ausführen?“ Schalk glitzerte in seinen Augen, aber sogar das erzeugte noch mehr
Schmetterlinge in meinem Bauch, als da sowieso schon herumflatterten. Weil er
mich so ansah. Weil er mich noch nie so angesehen hatte, noch nicht einmal an
dem Wochenende mit den Zombies.
„Na ja“, begann ich. Soweit hatte ich noch nicht
gedacht. Ich hatte überhaupt noch nicht nachgedacht, denn ich hatte hiermit
nicht gerechnet. Ich meine, ich hatte gedacht, ihn im schlimmsten Fall zu einem
Essen halb erpressen zu müssen! Und jetzt, jetzt schmiegte er sich an mich und
küsste mich und …
„Eigentlich macht man so was ja am Wochenende,
aber …“
„Aber?“
Ich verzog mein Gesicht. „Ich will nicht so lange
warten.“
Lachen vibrierte in seinem Brustkorb. Das fühlte
sich auch gut an. Richtig gut. Richtig und gut.
„Ich auch nicht. Wann also?“
„Morgen?“
Er nickte.
Okay. Morgen war … Dienstag. Ecki hatte
gesagt, Mischa hatte um sieben Training, also … „Um halb neun? Ich
hol dich ab?“
„Ich würde mich freuen.“
Und ich mich erst!
Würden wir wirklich essen gehen? Zusammen? Zusammen
zusammen?
Was war mit ‚Morgen wieder‘?
Die Tür ging erneut auf und Ecki steckte den Kopf
rein.
„Mischa? Du …“ Er hielt inne, sah uns an und
grinste. „Ha. Sieht aus, als hättet ihr euch ausgesprochen, hm?“
Ich grinste zurück. Jetzt machte mir sein
Dauergrinsen nichts mehr aus, ich konnte meines sowieso gerade nicht
abschalten.
„Gut, dann kannst du die positive Energie nutzen
und Mike besänftigen, ja? Am besten damit, dass du die verlorene Trainingszeit
aufholst. Er hat nachher noch ‘ne Privatstunde mit Stefan und mit der
Laune …„
Mischa brummte unzufrieden und drückte mich noch
mal an sich. Ich legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu einem heftigen
Kuss hinunter, dann machte ich mich los und trat einen Schritt zurück.
„Morgen, halb neun?“
Ich wollte jetzt nicht weg. Ich wollte warten, bis
er fertig war und dann mit ihm nach Hause und ihn vernaschen. Endlich, endlich
richtig vernaschen. Verdammt, meine Zunge vermisste seinen Geschmack jetzt
schon!
Er nickte. „Halb neun.“
Ich sah ihm hinterher, bis die Tür ins Schloss
fiel. Wie gesagt, am liebsten wäre ich ihm nach, von mir aus auch halbnackt,
und hätte ihm gesagt: ‚Scheiß auf das Date, vierundzwanzig Stunden warten ist
zu lang!‘ Aber andererseits … wollte ich es eben doch, obwohl ich
eigentlich nicht romantisch veranlagt war. Aber ich wollte eine spezielle, schöne
Erinnerung für unseren Anfang, nach all dem Chaos und den Fehlern und den
unschönen Erinnerungen. Ein Date, mit allem Drum und Dran. Ich wollte etwas
richtig machen, zur Abwechslung.
Oh verdammt: unser Anfang! Unser Anfang! Durfte
ich wirklich schon so denken? Sollte ich es nicht lieber langsam angehen lassen
und keine großen Hoffnungen machen? Vielleicht änderte er seine Meinung ja
wieder. Oder wir merkten morgen, dass wir ganz schrecklich schlecht
zusammenpassten – okay, von meiner Seite aus bestand da keine Gefahr,
also würde einfach nur er merken, dass es keine gute Idee war – eben
die Meinung ändern.
Verdammt, nicht pessimistisch werden jetzt! Das
würde auch nichts Gutes mit sich bringen. So ganz konnte ich es einfach nicht
glauben, dass ich wirklich eine Verabredung mit Mischa hatte. Heute morgen war
alles noch so scheiße gewesen und jetzt …
Ich lächelte und zog das Handtuch endlich von
meinen Hüften.
Jetzt müsste ich wohl meinen Facebook-Status
ändern, wenn ich denn ein Profil hätte.
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