Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Donnerstag, 13. Juni 2013

Wieder und wieder 20:

Sein Schlafzimmer. Wir beide. Ich blieb.


Nein, ich war nicht nervös. Wozu auch? Weshalb sollte ich schon nervös sein? Ich kannte Mischa, Mischa kannte mich – und noch dazu war soweit alles geplant. Ich hatte mit Anitas Hilfe einen schönen Italiener gefunden, dort einen Tisch reserviert, dazu eine Cocktailbar in der Nähe ausfindig gemacht, falls es gut lief und wir danach noch etwas trinken gehen wollten – nein, falsch, neu formuliert: Ich hatte eine Cocktailbar in der Nähe ausfindig gemacht, falls wir nach dem Essen noch etwas trinken gehen wollten. So.
Und ich hatte das Boxtraining trotz Muskelkater in Schultern und Rücken überstanden. Es war nicht unbedingt gut fürs Ego, der Unerfahrenste in einer Anfängergruppe zu sein, aber Ecki hatte gemeint, das würde sich schnell geben. M-hm. Wenigstens bewegte sich der verdammte Sandsack bei den anderen auch kaum einen Zentimeter. In dem Filmen sah man immer, wie der Trainer oder ein Kumpane das Ding halten musste, weil es sonst wegfliegen würde, aber bei mir und den anderen fünfen bestand da absolut keine Gefahr.
Das Beste: Mischa war da gewesen. Er war gegen Ende der Stunde aufgetaucht und hatte auf mich gewartet – vor der Umkleide, diesmal, und ich hatte so schnell geduscht und mich angezogen wie noch nie in meinem Leben. Wir hatten die Zeit bis zu seinem Training zusammen auf dem Sofa vorne bei der Theke des Studios verbracht. Am liebsten hätte ich ihn schon da einfach mit mir gezerrt, denn es war so verdammt schwer, sich zurückzuhalten – und das musste ich, denn für das, was ich am liebsten mit ihm angestellt hätte, war das Studio auch heute zu öffentlich – und das würde das Restaurant nachher leider auch sein. Aber gut Ding wollte ja bekanntlich Weile haben – und manchmal eben auch blaue Kronjuwelen.

Ich atmete tief durch und wischte die Hand an meiner Hose ab. Wie gesagt, es gab absolut keinen Grund zu Nervosität. Mischa hatte es sich vorhin im Studio noch nicht anders überlegt gehabt und daran hatte sich auch jetzt nichts geändert. Garantiert nicht. Nichts mit ‚Morgen wieder‘.
Ich klingelte und kurz darauf ertönte der Summer. Es war ein wenig seltsam, hier klingeln zu müssen. Auch wenn ich nicht lange in der WG gewohnt hatte, war es doch kurzzeitig mein Zuhause gewesen.
Mischa wartete bereits in der Tür, als ich hochkam, und strahlte mir entgegen. Und das Strahlen ließ das Restaurant schon wieder wie eine ganz schlechte Idee erscheinen. Sein Zimmer war ja auch näher. Und bequemer. Privater. Mit Bett.
Hmm, Bett.
„Hey“, machte er, als ich vor ihm stehen blieb. Er trug ein schwarzes Hemd, das so passgenau saß, als hätte er es schneidern lassen und das seine Augen im wärmsten Haselnussbraun leuchten ließ. Und die Hose, scheiße, die saß fast noch besser als das Hemd! Außerdem lächelte er so – so zärtlich und  – und er sah einfach unglaublich aus. Definitiv schon wieder besser als gestern oder nur schon vorhin noch. Wie unfair war das denn? Und gleichzeitig: Wie geil war das denn?
„Na?“ Ich konnte nicht anders, ich musste einfach eine Hand in seinen Nacken legen und ihn zu einem Kuss hinunterziehen. Und weil ich ungeduldig war, reckte ich mich ihm so weit wie möglich entgegen.
Mischa zog mich an sich und seine Lippen schmusten über meine, sanft, zärtlich und fast ein bisschen träge. Es war ein Kuss, der nichts weiter wollte als Kuss sein; kein Nachholen, was wir bisher verpasst hatten, wie vorhin im Studio, aber auch kein Heißmachen, kein Vorspiel, kein Ausdruck von Gier oder Besitzansprüchen. Ich wusste, dass all diese Küsse noch kommen würden, aber jetzt gerade war dieser hier perfekt. Weil Mischas Küsse offenbar nicht immer erregend sein mussten, um mir angenehme Schauer über den Rücken zu schicken – Erkenntnis des Abends Nummer eins.
Als ich mich von ihm löste, nahm ich die andere Hand hinter dem Rücken hervor und hielt ihm die DVD hin.
„Hier. Eigentlich müssten es ja Blumen sein, aber ich weiß nicht, ob du mit denen was anfangen kannst – ich jedenfalls nicht. Und ich dachte … na ja …“ Ich zuckte mit den Schultern. Ein bisschen peinlich war das ja schon, aber – aber ich wollte so gern ein ‚richtiges‘ Date und dazu gehörte ein Mitbringsel. Oder? Wirklich Ahnung hatte ich ja nicht davon, wie Dates normalerweise abliefen, aber … jedenfalls hatte ich mich für ein Mitbringsel entschieden, allerdings eines, das ein bisschen an uns angepasst war.
Mischa nahm sie überrascht entgegen und dann, als er den Titel las, weiteten sich seine Augen, bevor sich ein Grinsen auf sein Gesicht legte.
Rec 2?“, fragte er ein wenig ungläubig, „Ist das ein Angebot?“
Das war ja wohl offensichtlich. Und ich wollte eine Chance, die Fehler, die ich nach dem Gucken des ersten Teiles gemacht hatte, auszubessern. 
„Damit das von vornherein klar ist“, erwiderte ich murrend, „mehr als ein Zombiefilm pro Monat ist nicht drin!“
„Für mich oder für dich?“
„Für uns. Wie viele du ohne mich guckst, kann mir egal sein.“ Solange sich seine Zombiefilm-Mitgucker nicht an ihn kuschelten. Aber … vielleicht lag es an den Glückshormonen und an der berüchtigten rosaroten Brille, aber der Gedanke machte mir keine Angst. Im Gegenteil, ich war mir sicher, dass Mischa, sogar wenn ein Mitgucker sich an ihn kuscheln sollte, nicht zurückkuscheln würde. Und das war das Wichtige. Die Handlungen von anderen konnte er nicht steuern, aber seinen – seinen vertraute ich. 
Nun sah er mich wirklich ungläubig an, auch wenn sein Mund bereits lächelte. Es war eine seltsame Mischung, stand ihm aber gut, meiner Meinung nach. „Du würdest dir einen Zombiefilm im Monat antun?“
Ich zuckte erneut mit den Schultern. „Thomas will ja nicht, hast du letztes Mal gesagt. Und alleine macht so was doch nur halb so viel Spaß.“
Er legte die Hände auf meine Hüften und zog mich an sich. Diesmal war es nicht nur ein Kuss, sondern ein Versprechen auf mehr – nein, auf ‚Mehr‘, mit großem M. Meine Hände fanden seinen Rücken, ich schloss die Augen und gab mich ganz seinen Berührungen, seinem Geruch und seiner Wärme hin. Eindeutig: Restaurants waren überbewertet.
„Ich bin froh, dass Michael dumm genug war, dich gehen zu lassen“, murmelte er ohne mich loszulassen. Und dann gefror er eine Sekunde lang und fügte rasch hinzu: „Also, nicht dass ich froh wäre, dass er dich …“
Ich unterbrach ihn mit einem weiteren Kuss. „Schon gut, ich hab verstanden, was du gemeint hast.“
„Na, ihr Turteltäubchen?“ Thomas erschien hinter Mischa in der Tür, grinste mich an und bemerkte dann die DVD in Mischas Hand. „Mensch, Milo“, rügte er mich gleich darauf, „du solltest seinen schlechten Geschmack echt nicht noch unterstützen!“
Ich grinste nur. „Schön, dich zu sehen.“
„Ebenso, du hast keine Ahnung, wie sehr!“ Sein Lächeln wurde übertrieben gequält. „Bitte, bitte sag mir, dass das Drama jetzt ein Ende hat! Ich hab keine Lust, weiterhin mit dem personifizierten Leiden Christi zusammenzuwohnen.“
„Mh … das muss ich mir noch überlegen“, erwiderte ich so ernst, wie mir möglich war. Der Avada Kedavra-Blick, den ich dafür von ihm bekam, brachte mich zum Lachen.  „Nee, im Ernst: Ich hoffe es doch. Ich zumindest hab vor, die nächste Zeit über so richtig eklig glücklich zu sein.“
„Guter Plan“, brummte Mischa, drehte mich in seinen Armen, so dass ich mit dem Rücken an ihm stand und küsste meine Schläfe, „verdammt guter Plan.“
„Find ich auch“, erwiderte Thomas, nahm die DVD an sich und reichte Mischa im Gegenzug seine Jacke, „dann fangt mal damit an!“ Er schob uns aus der Tür und wollte diese gerade schließen, als er plötzlich innehielt. „Ach übrigens: Ich gebe Alessandro eine Packung Oropax. Damit ihr’s wisst.“ Ein Zwinkern, ein freches, dreckiges Grinsen, dann standen wir alleine im Hausflur.
Mischa zog die Jacke an und wir gingen die Treppen hinunter. In der Mitte der ersten streifte mein Handrücken seinen und ich griff nach ihm, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Unsere Finger verschränkten sich wie selbstverständlich und Mischa schenkte mir ein weiteres, warmes Lächeln.
Warum hatte ich vor einer gefühlten Ewigkeit noch mal gedacht, dass das mit uns eine schlechte Idee wäre? War echt ganz schön dumm gewesen.

***

Das Restaurant hielt, was es versprochen hatte: Gedämpftes Licht, ruhige Atmosphäre, schöne Stofftischdecken, Kerzen. Kerzen! Aber gut, Kerzen. So ganz klar, was genau mein Problem mit Essen bei Kerzenschein war, wusste ich selbst nicht, aber da Mischa zufrieden mit allem schien, ließ ich die Dinger, wo sie waren, und widerstand dem Drang, sie auszupusten.
Der einzige Störfaktor war die Gruppe am großen runden Tisch einige Meter entfernt, die mit fortschreitendem Abend immer mehr Hauswein intus hatte und dies durch Anheben des Geräuschpegels auch kund tat. Aber Störfaktoren konnte man ausblenden – mit ein bisschen Fantasie, ein bisschen innerer Ruhe und ganz viel Mischa.
Schwieriger gestaltete es sich für mich, völlig zu akzeptieren, dass ich hier war, zusammen mit Mischa, der mir wirklich noch eine Chance gab. Nicht nur das, offenbar hatte er es ernst gemeint, als er damals gesagt hatte, er würde mir seine Freunde vorstellen wollen, sollten wir zusammenkommen. Gerade erzählte er mir nämlich, dass der feste Freund seines Kumpels Jan – Felix hieß er – der Meinung war, ich würde ihm einen Drink schulden, weil ich ihm Silvester den Tanzpartner stibitzt hatte – und wenn ich vorhätte, den dauerhaft zu stibitzen, dann würde es noch einen zweiten Drink benötigen. Es war seltsam, dass ich vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden noch nicht gewusst hatte, ob er überhaupt mit mir reden würde, und dass jetzt alles so … selbstverständlich erschien. Nein, nicht selbstverständlich: natürlich. Sicher, der Großteil von mir war außer sich von Freude und hätte ihn am liebsten über den Tisch zu mir gezogen und ihn statt des Tiramisus als Nachtisch vernascht – oder zusammen mit dem Tiramisu. Mischa und Tiramisu war sicher eine verdammt leckere Kombination! – aber da war dennoch dieser winzige Teil, diese leise Stimme, die zweifelte. Nicht an ihm, sondern an mir – bevorzugt entweder an meiner Fähigkeit, nicht gleich alles wieder zu verbocken, oder an meinem Verstand. Vielleicht war das alles nur ein Fiebertraum, der durch den lang anhaltenden Mischa-Entzug verursacht worden war – oder ich war einfach komplett gaga geworden und hatte mich in eine perfekte Traumwelt zurückgezogen. Denn perfekt schien mir gerade alles: Das Essen war lecker, Mischa war Mischa und Thomas und der Neue hatten Ohrstöpsel. Was wollte ich mehr?
„Dann kannst du ihn beruhigen“, erwiderte ich, „ich hab’s nicht so mit Tanzen; dazu fehlt mir einfach das Rhythmusgefühl.“ Ganz abgesehen davon, dass ich es auch nicht mit Clubs hatte. Mischa durfte gerne hin, aber ich hatte garantiert nicht vor, ihn jedes Mal zu begleiten. Eher so einmal alle Schaltjahre.
„Da kann Boxen helfen …“
„Heute hatte ich eher das Gefühl, es wäre verlorene Liebesmüh“, erwiderte ich grinsend, bevor mir auffiel, dass er mich ernster ansah als zuvor. Und ein bisschen – zögerlich? „Was ist?“
Bitte, ich hatte es doch nicht jetzt schon geschafft, etwas Falsches zu sagen, oder? Worüber sprachen wir noch mal? Übers Tanzen und Boxen und über Rhythmusgefühl – alles keine schwerwiegenden Dinge, oder? Ganz ehrlich, wenn meine Unfähigkeit in einem der drei Dinge – oder allen dreien zusammen – für ihn ein Grund wäre, das hier abzubrechen, hätte er spätestens gestern, als er mich beim Einführungstraining sah, wissen sollen, dass es nichts werden würde. Aber wer hatte schon solche Abbrechgründe?
Dennoch: Warum hatte er diese kleine Falte neben der rechten Augenbraue, die er immer bekam, wenn ihn etwas beschäftigte?
„Machst du weiter? Mit Boxen?“, fragte er viel zu neutral, um wirklich neutral zu sein.
„Äh …“, machte ich und bewies spätestens damit einen IQ, der dem von Albert Einstein Konkurrenz machen könnte, „ich … weiß nicht?“
Ich hatte es mir nicht genauer überlegt – gestern während des Trainings, als Mischa Ärger mit seinem Trainer bekommen hatte, war ich kurzzeitig überzeugt gewesen, dass ich besser abbrach, ihm zuliebe – aber wir hatten das jetzt ja geklärt, also gab’s keinen triftigen Grund, aufzuhören; andererseits hatte ich nur angefangen, um mit ihm reden zu können, und da das besser gelaufen war, als ich mir hätte erträumen können, hatte ich ebenso keinen triftigen Grund, weiterzumachen.
„Wieso fragst du?“, wollte ich schließlich wissen. Vielleicht wollte er das Studio gerne wieder für sich. Von wegen Rückzugsort und so.
„Ecki hat mich gefragt“, erwiderte Mischa immer noch verräterisch unbeteiligt, „Er meinte, du seiest dir gestern nicht sicher gewesen und er hätte vergessen, dich heute zu fragen. Er wusste nicht, ob er dich für Freitag eintragen sollte oder nicht und ich – na ja, du hast gestern gesagt, du seiest nicht wegen des Boxens gekommen …“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich wäre wahrscheinlich Freitag hingegangen ohne groß darüber nachzudenken. Heute war’s ja ganz erträglich und irgendeinen Sport hatte ich sowieso anfangen wollen.“
„Also machst du weiter?“
„Wenn es dich nicht stört …?“
Er sah mich verdutzt an. „Wieso sollte es?“
„Weil es dein Hobby ist?“
„Ich hab kein Exklusivrecht drauf“, sagte er mit einem amüsierten Grinsen, dass mir Schauer über den Rücken jagte, „außerdem fände ich es … schön.“
„Wenn ich Kampfsport mache?“
„Wenn du bei uns boxt. Ich fände es schön, Tage zu haben, wo wir uns garantiert sehen.“ Mischa zögerte, ließ seine Stimme beim Weitersprechen sanfter werden. „Versteh das nicht falsch, aber du bist ja nicht gerade der Extrovertierteste – das stört mich nicht, überhaupt nicht, aber jetzt, wo Alessandro in deinem Zimmer wohnt, sehen wir uns ja nicht mehr automatisch. Und wenn du beim Boxen bleibst, dann würde ich dienstags so wie heute früher kommen und freitags könnten wir nach dem Training zusammen nach Hause. Ich würde dich also immer spätestens dann sehen.“
Huh.
Über was er sich so Gedanken machte. Ich meine – er hatte schon mitbekommen, dass ich heute im Studio die Lippen nicht von ihm hatte lassen können, oder?
Dann blitzte plötzlich eine Erinnerung in meinem Kopf auf, von ihm und mir in meinem Bett in der WG, am Morgen nach dem Zombiefilm, als er mir seine Bedingungen erklärte. ‚Nähe‘ war eine davon gewesen.
„Ich dachte, eine ‚Beziehung, wo man sich nur zweimal die Woche sieht‘, ist nichts für dich?“
Im ersten Moment schien er überrascht, dass ich mich noch so genau an seine Worte erinnerte, dann lächelte er.
„Ich habe ja auch ‚spätestens‘ gesagt. Dienstag und Freitag ist eine gute Ausgangsposition, vor allem, wenn du freitags mit mir nach Hause kommst.“ Seine Augen blitzten schelmisch auf. „Dann müsste ich nämlich nur noch dafür sorgen, dass du vor Montagmorgen nicht einmal daran denkst, zu deinen Freunden zurückzugehen – und bämm! Wir hätten eine Situation, mit der ich leben könnte, bis Alessandro im Sommer zurück nach Palermo geht.“
Ich schmunzelte über die spitzbübische Freude, mit der er das gesagt hatte, doch dann fielen mir zwei Dinge auf.
„Moment mal“, begann ich, „wir gehen zu dir nach Hause? Jeden Freitag?“
„Nur solange, bis ich deine Anita von mir überzeugt habe. Ich dachte, bis dahin ist es für alle angenehmer, denn Thomas und Alessandro stören sich sicher nicht an deiner Anwesenheit.“ Er sah mich an, der Blick entschlossen. „Glaub mir, ich habe vor, sie von mir zu überzeugen. So bald wie möglich. Aber wenn sie dir auch nur ein bisschen ähnelt, dann wird das ein Haufen Arbeit.“
Ich zog eine Schnute. Unrecht hatte er nicht, aber ich hatte mich doch schon dafür entschuldigt, ein Volltrottel gewesen zu sein. Und mehr, als mir Mühe zu geben, von nun an kein Volltrottel mehr zu sein, konnte ich doch momentan nicht tun, oder? Und Anita …
„So schlimm wird’s mit Anita wahrscheinlich nicht“, versuchte ich ihn zu beruhigen, „sie hat mir sogar geholfen, das Restaurant hier auszusuchen.“ Er hob seine Augenbrauen und ich zuckte mit den Schultern. „Klaus hat Vorarbeit geleistet.“
Wahrscheinlich würde ich im Leben nie genug von seinen Lächeln bekommen.
„Dann schulde ich ihm wohl ein Bier.“ Mischa machte ein kurze Pause und hängte dann an: „Oder fünfzig.“
Ich nahm eine Gabel Tiramisu und ließ es mir auf der Zunge zergehen. Dann erinnerte ich mich daran, dass er noch etwas so ganz nebenbei gesagt hatte, das mir so gar nicht nebensächlich erschienen war.
„Was genau hast du gemeint mit ‚bis Alessandro geht‘?“
„Na ja“, begann er und trank erst mal einen Schluck – es sah verdächtig danach aus, als wolle er etwas Zeit schinden, „Alessandros Austauschjahr geht im Sommer zu Ende und ich dachte – ich weiß ja nicht, wie lange du vor hattest, bei deinen Freunden zu bleiben, aber … Thomas würde sich auch freuen. Und eigentlich ist es doch perfekt, wenn wir in einer WG wohnen, oder?“
„Inwiefern?“ Ich verstand, was der Vorteil daran war, zusammenzuwohnen, aber so, wie er das sagte, hörte es sich an, als sei eine WG besser als eine gemeinsame Wohnung – zumindest für den Anfang. Nicht, dass ich ihm da widersprach, aber … 
„Insofern, dass man sich in das eigene Zimmer zurückziehen kann, wenn man keinen Bock auf Gesellschaft oder gar Streit miteinander hat. Und wenn nicht, dann muss man nicht durch die halbe Stadt fahren, um einen gemütlichen Abend miteinander zu verbringen.“
Ich wusste nicht genau, wieso, aber mir wurde warm, von Innen heraus. „Das ist natürlich praktisch, da hast du Recht“, erwiderte ich und griff über den Tisch nach seiner Hand. „Alles in allem ist das ein ziemlich detaillierter Plan für ein erstes Date.“
Seine Finger verschränkten sich auch diesmal wieder wie automatisch mit meinen und er drückte kurz meine Hand. „Mag sein. Ich hatte gestern Nacht viel Zeit um Pläne zu schmieden.“
Ich nicht. Obwohl ich aufgeregt und durcheinander und überglücklich gewesen war, hatte ich das erste Mal seit Langem wieder richtig, richtig gut geschlafen.
„Auch einen für heute Abend?“
„Tausend.“ Sein Lächeln wanderte in Richtung eines Grinsens, kam aber nicht ganz dort an. „Und kein einziger läuft daraus hinaus, dass du morgen früh alleine aufwachst.“
Ping!
Das war das Geräusch in meinem Kopf, als seine Worte meinen Selbstbeherrschungsfaden zerrissen. Im ersten Moment sah ich ihn noch ruhig an und im nächsten hob ich die freie Hand und rief laut genug nach der Rechnung, um die Gesellschaft am großen Tisch zu übertönen.
„Ich lad dich ein“, sagte er, als ich nach meinem Geldbeutel griff.
„Nichts da“, erwiderte ich und setzte eine möglichst Strenge Miene auf, „Derjenige, der um die Verabredung gebeten hat, darf bezahlen, wenn er denn will – und das war diesmal sehr eindeutig ich. Ich halte mich hier nur an deine Regeln.“
Er brummte. „Die sind ja nicht in Stein gemeißelt.“ Dennoch hielt seine Hand inne, die ebenfalls auf dem Weg zu seinem Portemonnaie gewesen war.
„Das merke ich mir für das nächste Mal, wenn du wieder eine aus dem Nichts erfindest.“
Ohne zu antworten hob er unsere verschränkten Hände und drückte die Lippen auf meine Knöchel. Die Geste war viel eher zärtlich als gierig, und dennoch hatte sie eine fast schon berauschend erregende Wirkung auf mich. Als gleich darauf der Kellner mit der Rechnung kam, gab ich ihm wahrscheinlich viel zu viel Trinkgeld, aber das war mir in dem Moment egal. Ich hatte einen genial schönen Abend hier verbracht und war nun drauf und dran, den in eine atemberaubende Nacht zu wandeln, während der arme Kerl das Saufgelage ein paar Meter weiter bedienen musste; ich konnte wenigstens versuchen, ihm so einen kleinen Teil von meinem Hochgefühl abzugeben.
Dennoch konnte ich es mir nicht verkneifen, die beiden Kerzen auf dem Tisch auszupusten.

***

Der Bus zurück war nur mäßig geheizt, so dass ich mich kurz vor der Entscheidung sah, entweder seine Hand weiterhin zu halten oder aber meine in meiner warmen Jackentasche zu vergraben. Beides erschien mir höchstens mittelmäßig zufriedenstellend, so dass ich schließlich einfach unsere verschränkten Hände in meine Jackentasche führte. Das war ein wenig eng, ging sich aber aus.
Mischa musterte mich von der Seite, lehnte sich dann zu mir und küsste mich auf den Mund, kurz und kribbelnd.
„Das wollte ich schon immer tun“, brummte er gegen meine Lippen, bevor er sich wieder zurückzog.
„Was? Jemanden im Bus küssen?“
„Nein, öffentlich Händchen halten.“
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, und so drückte ich nur meine Finger einen Moment lang fester gegen seine Haut.
‚Olli‘, erinnerte ich mich, der Ex im Schrank. Mischas erste – und einzige? – Beziehung. Irgendwie seltsam, dass ein Typ wie Mischa nicht gleich wieder jemanden gefunden hatte. Ich meine, wenn man ihn ansah, würde man davon ausgehen, dass er keine Woche allein bleiben würde. Und wenn man ihn kennenlernte, dann noch mehr – ich konnte ja schließlich nicht der einzige sein, der bemerkt hatte, wie toll er war. Dass da bei der Trennung von Olli nicht mindestens drei Typen in den Startlöchern gewartet hatten, erschien mir in diesem Moment wie ein kleines Weltwunder. Ein für mich überaus gutes und positives Weltwunder, verstand sich – aber dennoch ein Weltwunder.
Händchen halten, also. Na, das konnten wir von mir aus täglich tun. Lustig, wie eigentlich völlig unwichtige Dinge manchmal Bedeutung gewinnen konnten. Mein Essen, sein Händchen halten.
Und dann hatte ich die Erkenntnis des Abends Nummer zwei: Ich wollte nicht, dass Mischa sich nach etwas so Alltäglichem sehnen musste. Nicht, wenn ich was daran ändern konnte.
„Gibt’s davon noch mehr?“
Er sah mich an, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken gerissen. „Hm?“
„Dinge, die du schon immer tun wolltest?“
Er schmunzelte. „Ein paar.“
Ich versuchte das Kribbeln in meinem Magen zu ignorieren – ein bisschen unfair war es ja schon, dass er nur zu schmunzeln brauchte, um solche Reaktionen hervorzurufen – und reckte mich zu ihm hoch.
„Sind darunter noch welche, bei denen ich helfen kann?“
Das Schmunzeln verweilte einen Moment, gab dann die Bühne frei für ein Lächeln. „Ja.“
„Gut“, erwiderte ich, drückte seine Hand und gab ihm einen Kuss auf den Hals, „dann bin ich dafür, dass wir die nach und nach in Angriff nehmen. Man lebt schließlich nur einmal.“
Mischa sagte nichts, ließ aber die Haltestange los und schlang dem Arm um mich. Als der Bus zuckelnd an der nächsten Haltestelle hielt, musste ich mich zwar für zwei festhalten, aber das war okay. Mischa war … warm.

***

Vor der Haustür drehte er sich zu mir und sah mich an.
„Wenn das unser erstes offizielles Date war“, begann er, tiefer als sonst, rauer, „heißt das, dass wir bis zum dritten warten müssen, bis du mit hochkommst?“
Es war gar nicht so einfach, sich auf seine Worte zu konzentrieren, wenn sie in dieser Tonlage ausgesprochen wurden. Ich bekam gerade noch mit, dass seine Mundwinkel zuckten, den Rest meiner Aufmerksamkeit hatte seine Stimme beschlagnahmt. Er hörte sich so … 
„Wie kommst du darauf?“
„Macht ‚man‘ das nicht so?“
… so …
„Ich denke, du solltest in Zukunft die Finger von schlechten Hollywood-Liebesschnulzen lassen“, murrte ich, „die geben dir noch schlechtere Ideen. Bleib besser bei den Zombies.“ Ich griff nach seiner freien Hand und drückte meine Lippen auf den Knöchel – jedoch nicht, ohne ihn kurz meine Zunge spüren zu lassen. „Außer natürlich, du willst warten?“ Und noch einmal, mehr Zunge diesmal. „… Es langsam angehen lassen?“ Zähne und ein Blick direkt in seine Augen. „Ganz wie du möchtest.“
Er atmete geräuschvoll ein und erwiderte dann leise: „Wenn wir es bis nach oben schaffen sollen, musst du eine meiner Hände loslassen. So kann ich nicht aufschließen.“
Ich tat wie gebeten, konnte mir aber ein neckendes „Also doch nicht warten?“ nicht verkneifen.
Schlüssel klirrten, Mischa machte ein Geräusch zwischen Schnauben und Brummen.
„Meiner Meinung nach haben wir mehr als genug gewartet.“
… so hungrig an. Das war das Wort.
Hungrig.

***

Wir kamen oben an, Mischa schloss die Tür auf, zog mich rein, schubste sie zu, streifte die Schuhe ab und wartete, bis ich meine ebenfalls los war, bevor er mich durchs Wohnzimmer auf sein Zimmer zuführte.
„Durst?“
„Nein.“
„Klo?“
„Nein.“
„Super.“
Die Wohnung war dunkel, aber ich sah Licht unter der Tür meines ehemaligen Zimmer durchscheinen und vernahm ganz leise Schießgeräusche. Und dann ein sehr lautes „Minchia! Brutto figlio di puttana bastardo!“.
„Der braucht die Oropax wohl nicht“, sagte ich grinsend, als Mischa seine Zimmertür aufstieß.
„Nee“, erwiderte er amüsiert, „wenn er zockt, braucht er nichts außer dem Computer und bekommt auch nichts außer dem Computer mit.“ Er warf einen Blick zur Tür. „Sonst flucht er auch nie.“ Dann war das Thema Alessandro offenbar für ihn abgeschlossen und er trat eine Schritt rückwärts in sein Zimmer, so weit er konnte, ohne meine Hand loszulassen oder mich zu ziehen.
Ich trat ein, tastete nach dem Lichtschalter und kickte die Tür zu, als das Deckenlicht anging. Den Blickkontakt hielt ich dabei aufrecht – ich wollte ihn sehen, den Anblick in mich aufsaugen. Jedes verdammte Detail.
Einen Moment lang taten wir genau das: Uns ansehen, einen halben Meter voneinander entfernt, die verschränkten Hände zwischen uns. In der nächsten Sekunde hatten wir die Hände das erste Mal seit dem Restaurant losgelassen, rissen an dem Reißverschluss der Jacke des jeweilig anderen und stolperten auf sein Bett zu, er rückwärts, ich drängend. Dass dabei das Küssen nicht richtig funktionierte, hielt uns nicht davon ab, es dennoch zu versuchen.
Mischas Jacke landete als erste auf dem Boden, gerade, als wir beim Bett angekommen waren. Ich gab ihm einen leichten Schubs und er ließ sich auf die Matratze fallen.
Heiß. Er. Und mir.
Sex in Winterkleidung war allerdings nicht auf der Liste der Dinge, die ich noch vor meinem Tod tun wollte, deshalb machte ich kurzen Prozess und stand gleich darauf mit nacktem Oberkörper da. Eigentlich hatte ich vorgehabt, es für den Moment dabei bleiben zu lassen und ihm auf die Laken zu folgen, doch sein Blick nagelte mich förmlich an Ort und Stelle fest. Erkenntnis des Abends Nummer drei: Haselnussbraune Augen konnten lodern.
Er sah von meinem Gesicht über meine Brust zu meinem Bauch und wieder zurück in meine Augen. Ich ließ mein Hemd, das ich immer noch in der Hand hielt, fallen und legte die Finger auf den Knopf meiner Hose. Sein Blick ruckte nach unten und er leckte sich über die Lippen. Ich konnte die Bewegungen seines Brustkorbs deutlich sehen, als ich, statt die Hose zu auszuziehen, erst nur an dem Stoff zupfte.
Milo …!
Ich erschauderte. Seine Stimme klang rau, ungeduldig, mühsam beherrscht, aber er sah nicht hoch, als hätte er Angst, es zu verpassen. Mir wurde auf mehrere verschiedene Arten gleichzeitig schwummrig. 
Noch nie im Leben hatte ich einen Knopf so sorgfältig und eine Reißverschluss so langsam, Zahn für Zahn, geöffnet. Ich war noch nicht ganz fertig, als sich Mischa plötzlich aufsetzte, sich nach vorne beugte und mich am Arm packte. Für eine Sekunde kniete ich über ihm, dann lag ich mit dem Rücken auf der Decke und erhaschte einen flüchtigen Blick in grüne Sprenkel, bevor er seine Lippen auf meine drückte und meine Lider zufielen.
Seine Hände auf meiner Haut zu spüren war berauschend, vor allem, als er mir die Hose ausgezogen hatte, seine Finger um meine Knöchel legte und sie dann nach oben schob. Als er bei meinen Knien ankam, hob er das rechte an, sah zu mir hoch und drückte ohne den Blickkontakt zu unterbrechen einen federleichten Kuss auf die Haut gleich oberhalb des Gelenkes.
„Mehr!“, keuchte ich und spreizte die Beine weiter, damit er besser herankam.
„Du willst mehr?“
Oh verdammt, wie konnte er plötzlich wieder so ruhig klingen? Er hatte mich gerade innerhalb von wenigen Augenblicken auf halben Weg in den Himmel geschickt und nun fragte er überflüssiges Zeug, statt der Aufforderung nachzukommen – unfair!
„Ja“, presste ich hervor und erschauderte, als sein Daumen begann, leichte Kreise auf der Innenseite meines Oberschenkels zu zeichnen.
„Wie viel mehr?“
„Alles!“ Es brauchte mehr Kraft als logisch war, mich auf die Ellenbogen zu stützen, damit ich auf einer Augenhöhe mit ihm war, aber irgendwie kriegte ich es dennoch hin. „Ich will alles“, wiederholte ich fest.
Mischa grinste beinahe verrucht. „Kannst du haben.“ Und dann wanderten seine Hände weiter in Richtung meiner Körpermitte, seine Lippen kehrten zu meiner Haut zurück und ich verfluchte unsere Gesellschaft für die unnötige Angewohnheit, Unterwäsche zu tragen.

***

Die Welt war in Ordnung. Ich wusste nicht, wieso die Welt in Ordnung war oder wieso sie es nicht sein sollte, aber das war egal. Die Welt war in Ordnung und mir ging es fantastisch. Alles war fantastisch.
Ich seufzte zufrieden und kuschelte mich näher an Mischa.
Mischa.
Hinter mir.
Mischas Arm um meinen Bauch. Mischas Atem in meinem Nacken.
Mischa. Mischa und ich. Zusammen. Gestern, beim Date, nach dem Date, in der Nacht – mehrmals. Hrrm.
Er hatte Recht behalten: Ich war nicht alleine aufgewacht.
Plötzlich verspannte sich mein ganzer Körper und wurde steif wie ein Brett. Ich hatte Sex gehabt, mit Mischa, für den Sex und Beziehung untrennbar waren. Und Beziehung bedeutete für ihn Nähe und Zusammensein und Teil-des-anderen-Lebens-Sein und – und ich hatte Sex mit Mischa gehabt, der Michael so …
… so überhaupt nicht ähnlich war. Mal ehrlich? Kein bisschen. Nicht in den Dingen, die wirklich zählten.
Ich atmete tief ein und langsam wieder aus und zwang mich dazu, mich zu entspannen. Es funktionierte zu etwa achtzig Prozent.
Sex mit Mischa. Beziehung mit Mischa. Mal ehrlich? Das war, ganz unabhängig von Michael, an sich schon angsteinflößend. Weil wir so verschieden waren und weil ich wusste, dass er beziehungsmäßig keine halben Sachen machte. Und weil ich mich unweigerlich fragte, ob ich ihm die Nähe geben konnte, die er brauchte. Ich war nun mal eher einzelgängerisch und Mischa – nicht. Im Gegenteil, er brauchte noch mehr Nähe als Michael und da hatte es schon nicht geklappt, weil ich offenbar nicht in der Lage gewesen war …
Und jetzt?, unterbrach ich meine Gedanken. Aufstehen und gehen? Davonlaufen und Mischa verlieren?
Nein. Das hatte ich versucht und es war definitiv ein Irrtum gewesen. Mächtig großer Fehler.
Und aus Fehlern sollte man bekanntlich lernen. Also.
Dennoch schlug mein Herz nervös mit Formel-Eins-Geschwindigkeit und meine Schultern widersetzten sich dem wiederholten mentalem Befehl, dass sie sich verdammt noch mal endlich entspannen sollten.
Was, wenn ich es vergeigte? Ihn verletzte? Was, wenn wir einfach nicht zusammen passten? Was, wenn da nicht mehr war als oberflächliche Anziehung und guter – okay, richtig verdammt guter – Sex? Was, wenn ich ihm in kürzester Zeit schon auf die Nerven ging?!
Ja, was dann?
… Dann würden wir daran arbeiten müssen, so wie andere auch.
Und wenn das nichts brachte? Dann würden wir uns wohl trennen. Wäre scheiße, wäre unsagbar beschissen, aber … aber noch beschissener wäre es, es gar nicht erst zu versuchen. Wenn es wirklich nicht passte, dann passte es eben nicht, aber jetzt, im Moment, sah es doch ganz und gar danach aus, als würden wir zusammen passen, oder? Das Date war ja gut verlaufen. Und ich war glücklich aufgewacht, was nach den letzten Monaten mal was ganz Neues war.
So ganz ließen sich die Zweifel nicht beseitigen, aber ich beschloss, dass sie zweitrangig waren. Über zukünftige Katastrophen wollte ich mir keine Gedanken machen – nicht jetzt, jetzt wollte ich erst mal die Gegenwart genießen.
Es wäre schön gewesen, wenn mit dieser Erkenntnis und mit diesem Entschluss die leichte Panik dahin verschwunden wäre, wo sie hergekommen war, aber es dauerte eine ganze Weile, bis mein Puls sich beruhigt und meine Schultern sich richtig entspannt hatten. Babyschritte, eben.    
Schließlich hob ich träge ein Augenlid an und spähte ins Zimmer. Es war hell, viel zu hell für meinen Geschmack. Auf der anderen Seite war es dafür unter Mischas schwerer Decke herrlich warm. Also tat ich das Naheliegende: Ich drehte mich weg vom Fenster mit seinem unerwünschten Sonnenlicht und hin zu Mischa mit seiner sehr wohl erwünschten Wärme. Dann rutschte ich noch ein wenig näher, küsste auf gut Glück seinen Hals und hoffte, meinen-seinen Lieblingsleberfleck auch mit geschlossenen Augen getroffen zu haben. Mein nächster Seufzer war sehr, sehr zufrieden.
Ja, das war definitiv eine Gegenwart, die genossen werden wollte. Und ein bisschen mehr Schlaf morgens in den Ferien, wenn man gerade mit dem frischgebackenen Freund im Bett lag, das hatte bestimmt noch niemandem geschadet.
Zehn, vielleicht zwanzig Sekunden vergingen, bevor er leise mit vom Schlaf rauer Stimme fragte: „Du bleibst?“
„Ja.“
Der Arm, den er bisher locker um mich gelegt hatte, drückte mich plötzlich fest an ihn und ich spürte, wie er tief durchatmete.
„Milo?“
„Hm?“
„Ich hab dich auch vermipßt.“

***

Als wir nach einer ausführlichen gemeinsamen Dusche schließlich die Küche betraten, hatte ich keine Ahnung, wie spät es war.
Thomas saß am Esstisch und grinste mich breit an. „Vielleicht sollten wir eure Zimmer schalldicht machen; die Oropax haben nicht ausgereicht.“
Ich verzog mein Gesicht. Nicht im Ernst, oder?
„Hör nicht auf ihn“, sagte Mischa und drückte mich kurz an sich, „wäre das wahr, würde er nicht so ausgeschlafen aussehen.“
Thomas lachte. „Wahrscheinlich nicht, nein. Aber der Gesichtsausdruck war Gold wert!“
Nett. Äußerst, überaus nett. Ich warf ihm einen versucht-verärgerten Blick zu, der natürlich nicht gelang. Nicht einmal Leonardo DiCaprio hätte es geschafft, an einem so schönen, absolut positiven Morgen spontan verärgert auszusehen.
„Morgen, Thomas“, nuschelte ich und überprüfte, dass die von Mischa geliehene Sporthose auch fest genug saß und nicht gleich runterfiel, wenn ich mich bewegte. Ein bisschen lächerlich kam ich mir darin zwar vor, aber andererseits – ich trug seine Sporthose! Das war ein geniales Gefühl und ich war mehr als bereit, dafür wie jemand auszusehen, der die eigene Kleidergröße weit überschätzte – oder aber geschrumpft war.
Nachmittag, Milo“, erwiderte Thomas mit einem Zwinkern, „Schokopops stehen im Schrank.“
Hm. Sogar mein Frühstück war vorhanden. Viel besser konnte der Tag wirklich nicht werden!
„Was möchtest du?“, fragte ich Mischa und angelte bereits nach der Verpackung der Pops.
„… Pancakes?“, fragte er zurück und sah mich mit einem verflucht guten Welpenblick an.
Seit wann hatte er den den drauf? Das war doch … gemeingefährlich! Große, gut aussehende Männer sollten generell keine Welpenblicke anwenden dürfen, verdammt noch mal! So fanden neunundvierzig Prozent meines Hirns nämlich plötzlich, dass es eh schon zu spät fürs Frühstück war und wir deshalb auch gleich wieder zurück ins Bett und dort bis zum nächsten Frühstück bleiben konnten. Neunundvierzig Prozent meines Hirns und einhundert Prozent eines anderen Körperteils.
Aber nein. Eigentlich hatte ich Hunger. Und eine Stärkung konnte nur positive Auswirkungen haben. Und Mischa wollte Pancakes.
Ich räusperte mich möglichst unauffällig. 
„Wenn ihr frische Eier habt?“
„Haben wir“, antwortete Thomas und versuchte, den Blick zu imitieren, „krieg ich auch welche?“ Bei ihm wirkte das überhaupt nicht.
Dennoch nickte ich. „Klar. Einmal Pancakes für alle.“
Ich stellte die Pops zurück, nahm zwei Schüsseln aus dem Küchenschrank und suchte dann die Zutaten zusammen. Mir wurde bewusst, dass ich das hier ebenfalls vermisst hatte: Mit den beiden einfach nur zusammen in der Küche sitzen und essen. Mit Anita und Klaus aß ich zwar auch meistens zusammen – und es war auch mit ihnen schön – aber das hier war irgendwie noch mal was anderes. Vielleicht war es wirklich keine schlechte Idee, im Sommer wieder einzuziehen. Aber das zu entscheiden hatte noch Zeit.
Apropos Anita und Klaus … 
„Hast du am Wochenende Lust, bei uns vorbeizukommen und … keine Ahnung, vielleicht zu viert was zu Abend zu essen oder so?“
Mischa schmunzelte. „Damit ich anfangen kann, Anita zu bezirzen, meinst du?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Je schneller du anfängst, desto schneller werden wir Ergebnisse sehen, oder?“ Auch wenn ich wirklich nicht mit großen Schwierigkeiten rechnete. Nicht mehr.
„Warum warten?“, fragte Thomas, „Es sind ja noch Weihnachtsferien – lad sie doch zum nachmittäglichen Pancake-Essen ein, dann lerne ich die ominöse Anita auch mal richtig kennen.“ Er grinste. „Bis ich sie in ihrer Wohnung gesehen hatte, war ich mir nicht sicher, ob du sie nicht nur erfunden hast. Manche sollen ja ihre unsichtbaren Freunde bis ins hohe Alter bewahren.“
Ich teilte ein Ei und ließ das Eiweiß in die kleinere der beiden Schüsseln fließen. „Noch so ein Spruch“, sagte ich mit einem warnenden Blick über die Schulter, „und du kriegst nur die verbrannten ab!“
„Nee“, machte er, „dafür bist du zu gut gelaunt.“
Wo er Recht hatte …
Mischa schlang seine Arme um mich und schmiegte sich an meinen Rücken. Hmm, er roch frisch. Und lecker.
„Kann ich dir helfen?“
Ich wollte bereits den Kopf schütteln – Pancakes kriegte ich gerade noch alleine hin – doch dann nickte ich. „Kannst du das Eiweiß zu Schnee schlagen? Dann ruf ich mal eben Anita an.“
„Natürlich.“ Ein Kuss auf meine Schläfe, ein Streicheln über meinen Rücken, dann nahm er den elektrischen Schneebesen, den ich bereitgestellt hatte.

Ich verließ die Küche, die nun vom Geräusch des Schneebesens erfüllt war, wählte die Nummer und lauschte drei langen Tuttönen, bevor es in der Leitung klickte.
„Merz.“
„Klaus? Ich bin’s. Sag mal, kannst du dich heute für ein paar Stunden von deinem Computer losreißen? Ich würde euch gerne jemanden vorstellen.“

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