Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 26. März 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 15:


Rubin verteilte die Sauce auf dem zweiten Teller Gnocchi, deckte die Pfanne zu und drehte sich zu mir.
„Was hältst du davon, wenn wir beim Essen einen Film gucken?“
Nun ja. Einerseits würden wir uns nicht unterhalten müssen – und ich hatte mich die letzten Minuten bereits mental auf ein Essen in unangenehmer Stille vorbereitet. Denn, ganz ehrlich: Wirklich etwas zu reden hatten wir nicht. Keine gemeinsamen Interessen, keine gemeinsamen Freunde … und das Geplänkel beim Kochen oder bei der Nachhilfe lief doch nur gut, weil wir da etwas zu tun hatten und wir darüber reden konnten. Aber beim Essen sah die Situation wieder anders aus.
Andererseits dauerte ein Film meist zwei Stunden und ich hatte nicht vorgehabt, so lange zu bleiben. Mein Plan hatte fünfzehn Minuten plus Abräumen und Winterklamotten anziehen umfasst. Mitten im Film abzuhauen wäre aber auch verdammt unfreundlich – was mir eigentlich egal sein konnte.
Ja.
Trotzdem … ich musste ihn ja nicht unnötig vor den Kopf stoßen. Von wegen Neuanfang und so.
Wäre es sehr seltsam, wenn ich vorschlagen würde, stattdessen lieber eine alte Loony Tunes-Folge zu gucken? Oder Two and a Half Men?
„Wir könnten den Fernseher rüberschieben und es uns auf Betsy gemütlich machen“, fügte er hinzu und –
„Okay.“
Zu schnell. Das war eindeutig zu schnell.
Rubin lachte und hob amüsiert eine Augenbraue. „Sicher?“
Bastard.

Sowieso war es besser, wenn er mit dem Lachen wieder aufhörte. So generell. Für mich. Und bis er es tat, würde ich es strikt ignorieren.
Ich warf ihm einen Blick zu, der deutlich machte, was ich davon hielt und brummte:„Ich bring die Cola.“
Er nickte, nahm auch den anderen Teller und ging voraus ins Wohnzimmer.
Scheiße, warum war ich nur so berechenbar?
Als ich in Betsys Reich kam, stand unser Abendessen auf ihrer Bank und Rubin ging gerade in den rechten Teil des Raumes, dem ich bis jetzt noch keine Beachtung geschenkt hatte – und nun fragte ich mich, wie ich ihn hatte übersehen können. Ihn, den riesenhaften, perfekt geformten und über und über und über mit roten, grünen, silbrigen, goldenen und gläsernen Kugeln, Lametta und anderem Krimskrams behängten Weihnachtsbaum. Obwohl, ich hatte keine Ahnung, ob da wirklich ein Baum darunter war, denn echtes Tannengrün sah man keines. War das ihr Ernst?! Oder nahm diese Familie gerne die amerikanischen Klischees auf die Schippe, indem sie sie überspitzte?
Ich hoffte auf Letzteres, befürchtete aber Ersteres.
Rubin sah zu mir herüber und bemerkte meinen Blick – alles andere wäre auch ziemlich schwierig gewesen.
Er grinste verschmitzt.
„Meine Mutter. Ihr Lebensmotto ist ‚Nicht weniger ist mehr, mehr ist mehr‘.“
Ja, das sah ich.
„Nimmst du uns zwei Kissen von der Couch? Ich bring den hier in Position.“ Er zeigte auf den rollbaren Fernsehtisch mit dem Flachbildfernseher.
Kissen, sicher, das würde ich hinkriegen. Ich nickte.

***

Der Film war eine gute Idee gewesen. Wir sahen uns nicht die DVD an, die ‚ich‘ ihm geschenkt hatte, weil die ja weder deutsche Synchronisation noch Untertitel besaß (noch ein Grund, warum wir uns global für Deutsch als einzig relevante Sprache entscheiden sollten), aber dafür einen anderen britischen Film mit typisch britischem Humor. Dabei saßen wir beide auf dem unteren Teil von Betsys Bank, ich an ihren Hauptkörper gelehnt, Rubin am anderen Ende, also in angenehmem Abstand. Wir schwiegen, wie sich das gehört, wenn man einen Film schaut, außer natürlich, wenn wir lachten.
Der Film war gut, aber nachdem ich fertig gegessen hatte, fühlte ich mich satt und müde. Nur, jetzt einfach so aufzustehen und zu gehen, das wäre eben sehr unhöflich gewesen; das war mir jetzt noch deutlicher klar als vorher. Ich stellte meinen Teller neben mein Glas auf den Boden und drückte eine Taste meines Handys, das ebenfalls dort lag – ich wollte ja nicht, dass ihm auf Betsy zu warm wurde.
Einundzwanzig Minuten nach neun Uhr. Nein, so schnell war noch nicht einmal ein Disneyfilm fertig; ich musste also mit dem SMS-Schreiben noch warten.
„Macht’s dir was aus, wenn ich mich hinlege?“, fragte ich und zeigte auf den oberen Teil der Bank.
Rubin wandte sich zu mir und schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht.“ Grübchen, nur durch das Fernsehflimmern sichtbar. „Aber schlaf nicht wieder ein.“
Pah.
„Ich habe nicht geschlafen.“
Hatte ich wirklich nicht. Zwischen dösen und schlafen bestand schließlich ein Unterschied.
Aber egal. Ich schnappte mir mein Kissen, kletterte hinauf und legte mich so hin wie letztes Mal, mit den Füßen Richtung Betsy und dem Kopf vorne bei Rubin, weil es umgekehrt für den Kopf zu warm und für die Füße zu kalt geworden wäre. Nur leider hatte ich so seinen blonden Haarschopf direkt vor dem Gesicht.
„Könntest du ein Stück rutschen?“
„Sicher.“ Und er rutschte – vielleicht fünfzehn, zwanzig Zentimeter, jedenfalls genau so viel, dass ich zwar den Bildschirm sah, er aber immer noch irgendwie zu nahe war. Ich hätte ihn eben lieber zu meinen Füßen gehabt, aber das war ja sowieso Wunschdenken. Trotzdem, wenn er sich jetzt zu mir drehte, dann wären da nur wenige Zentimeter zwischen …
Böser Gedanke. Schlechter Gedanke. Fieses Prickeln im Nacken.
Hm, aber Betsy war und blieb toll. Warm, gemütlich, warm, genial, warm. Warm. Und den vollen Magen so gewärmt zu bekommen, das war angenehm, da wurde mir wohlig. Und Rubin hatte den Film ja für mich auf Deutsch eingestellt, also konnte ich meine Augen auch für einen Moment schließen und würde dennoch nichts verpassen.
Nur für einen klitzekleinen Moment, verstand sich, um das Gefühl und die Wärme so richtig genießen zu können. Nachher musste ich ja wieder in die Kälte. Nur ganz kurz also …

***

Als ich mich das nächste Mal auf den Film konzentrierte, lief gerade Werbung. Irgendwie fand ich das ein wenig seltsam, aber warum, das konnte ich nicht sagen. Mein Kopf war ein meinen Armen gebettet und ich ruckelte mich ein wenig zurecht, bevor ich die Augen öffnete. Den Fernseher sah ich nicht, dafür aber Rubin, der direkt vor mir saß und mich ansah. Ich blinzelte. Warum sah er mich an? Und seit wann saß er da? So konnte ich doch den Film nicht sehen, verdammt!
„Na?“ Ich glaube, das war ein Lächeln auf seinen Lippen, aber es war schwer zu sagen mit der einzigen Lichtquelle in seinem Rücken. „Auch wieder wach?“
„Wieso wach?“ Meine Stimme war ein wenig rau. Hm. „Du sitzt mir im Bild.“
Er lachte und sein Lachen vibrierte durch meinen Körper, der zu müde war, um es ignorieren zu können.
„Du hast geschlafen, tief und fest. Und ich sitze hier, weil du meine Hand festhältst.“
Geschlafen? Garantiert nicht. Ich konnte genau sagen, wo der Film war er – Moment mal, was hatte er gesagt? Warum sollte ich seine Hand …
Plötzlich fühlte ich, wie etwas – jemand – er?! – meine Hand drückte. Die, die unter meinem Kopf gelegen hatte.
In der nächsten Sekunde schoss ich auf, so gut das eben aus der Bauchlage heraus ging und warf dabei eine dünne Decke von mir, von der ich keine Ahnung hatte, woher sie gekommen war. Auch das Kissen flog zu Boden. Als ich auf meinem Hinterteil saß, rutschte ich gleich noch ein wenig näher zu Betsy und somit weg von ihm. Jetzt sah ich auch den Fernseher und erkannte, dass tatsächlich Werbung lief – und was für welche! Ich wollte keine nackten Frauenbrüste sehen, vielen Dank auch, und weiß-nicht-wie-viele Euros pro Minute für ein bisschen Gestöhne am Telefon auszugeben, darauf konnte ich erst recht verzichten. Auch, wenn es, wie in der nächsten Sekunde, von einem Kerl angepriesen wurde, der sich unmöglich noch schwuler anhören konnte. Und das Bild des nackten Bodybuilderoberkörpers war auch nichts für mich; viel zu eingeölt, viel zu Solarium-gebräunt, viel zu sehr photoshopbearbeitetes Klischee. Kim sah besser aus, aber eigentlich stand ich sowieso weniger auf Muskeln, mehr auf –
Bis dahin und nicht weiter, liebes Gehirn. Du hast heute schon genug verbrochen.
Ich sah wieder zu Rubin.
„Wie spät ist es?“
„Halb eins.“
Nachts?!
Er nickte.
Scheiße – halb eins – scheiße!
Ich kletterte runter, angelte mein Handy, überprüfte die Uhrzeit. Halb eins.
„Wann fährt der letzte Bus zu mir?“
„Wochentags kurz vor zwölf.“
Kurz vor – „Scheiße!
Ich sah ihn an, ihn, der offensichtlich die Schuld an meiner Misere trug, obwohl ich natürlich wusste, dass es unfair war, das zu behaupten. Trotzdem, ein klein wenig stimmte er mir wohl zu, denn, wenn ich das richtig erkannte, dann biss er sich gerade nicht wenig schuldbewusst auf die Lippen.
„Warum hast du mich nicht geweckt? Meine Mutter killt mich!“
„Sie weiß es.“ Auch der Ton seiner Stimmte war schuldbewusst. „Sie hat vor zwei Stunden angerufen, auf dein Handy. Ich habe versucht, dich zu wecken, aber du hast nicht reagiert und da habe ich abgenommen.“ Er zuckte mit den Schultern, wie um zu sagen: Was hätte ich denn sonst machen sollen? „Sie hat gesagt, ich soll dich schlafen lassen, notfalls auch hier. Ich habe danach noch einmal versucht, dich zu wecken und dich gerüttelt, aber du hast meine Hand ergriffen und dann … na ja …“ Er brach ab und zuckte erneut mit den Schultern.
„Ich soll hier schlafen?!“
Oh, wunderbar. Hier, bei Rubin – genau das, was ich in meinem Zustand brauchen konnte.
Abgesehen davon: Kitty würde mich umbringen! Wenn ich schon wieder nicht nach Hause – oh, Mist, verdammter! Ich hatte ihn noch nicht gefragt, ob Kitty Betsy besuchen kommen durfte.
Urgs.
Aber … jetzt konnte ich das nicht. Nie und nimmer!
Ohne eine Antwort nach Hause konnte ich aber auch nicht, weil Kitty.
Also … also …
… Doch hier schlafen?
Mein Magen zog sich unangenehm zusammen und mein Nacken prickelte. Nicht gut. Ich war viel zu müde, um mich richtig unter Kontrolle zu haben. Noch nicht einmal ein Blick auf die ‚willige Oma‘, die über den Fernseher flackerte, half.
Vielleicht … vielleicht ließ er mich ja im Zimmer seiner Eltern schlafen? Oder sie hatten sogar ein Gästezimmer, das Haus war ja groß genug und da er meinte, keine Geschwister zu haben …
„Besser als ein Taxi zu bestellen, oder?“, fragte er ruhig.
Vielleicht. Ja, irgendwie. Aber irgendwie auch nicht. Ein Taxi wäre jedenfalls die sichere Wahl gewesen. Aber dann hätte ich Kitty entgegentreten müssen.
Verflucht noch mal! Alles seine Schuld! Bei jemand anderem wäre das alles viel einfacher gewesen!
Bastard!

***

„Bist du noch müde?“, fragte mich Rubin ein paar Minuten später. Minuten, in denen ich mich resigniert wieder an Betsy gelehnt – auf dem unteren Teil, noch einmal wollte ich nicht einpennen! – und ihn angeschwiegen hatte. Nicht, weil ich auf ihn wütend war, sondern weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. „Willst du gleich schlafen gehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, auf den Schreck werde ich sicher nicht einschlafen können.“ Ich ließ meinen Kopf nach hinten fallen, vorsichtig versteht sich, denn das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war, mit dem Hinterkopf gegen Betsys Kacheln zu knallen. Vielen Dank auch.
Kurz war es still, dann fragte er: „Möchtest du noch einen Film schauen? Diesmal zu Ende?“
Ich konnte das Grinsen aus den Worten heraushören, ignorierte es aber. Ein Film, das hörte sich nicht schlecht an – aus ähnlichen Gründen wie vor ein paar Stunden: erstens, weil wir dann nicht reden mussten, und zweitens, weil es ablenkte. Von … allem. 
„Warum nicht?“
Noch eine Pause, dann: „Worauf hast du Lust?“
Ich überlegte. Eigentlich war es mir ja egal, solange der Film mich von dem Kopfkino ablenkte, das jedes Mal in den Startlöchern stand, wenn ich auch nur annähernd darüber nachdachte, ob sie wohl wirklich ein Gästezimmer hatten oder nicht und wenn nicht, ob sie eine Matratze hatten, so wie wir. Oder ob ich auf der Couch schlafen konnte. Ansonsten blieb ja nur eine Möglichkeit und die machte mich dezent unruhig. 
Jedenfalls bedeutete das, dass der Film mich gefälligst nicht an irgend etwas Unanständiges erinnern sollte. Also lieber etwas ohne Sexszenen. Aber auch nichts, das übertrieben abtörnend war, denn da würde ich wahrscheinlich nur noch mehr daran denken. Was waren die unschuldig asexuellsten Filme, die ich kannte?
„Hast du einen Weihnachtsfilm?“
„Zählt Nightmare Before Christmas?“
Ich unterdrückte ein Grinsen.
„Nicht wirklich, aber der wäre auch okay.“ Im Unterschied zu den richtigen Weihnachtsfilmen war der wenigstens gut, und dennoch absolut asexuell – Jack Skellington mochte cool sein, aber sexy war er nicht. Nicht in meiner Welt.
„Okay, einen Moment.“
Rubin stand auf, ging in den anderen Teil des Raumes, öffnete ein Abteil des Wohnzimmermöbels und suchte mit Hilfe des Lichts seines Handys nach der DVD. Dann kam er zurück und legte sie in ein, bevor er sich wieder neben mich setzte. Und nein, ich sah ihm dabei nicht nach. Ich bemerkte auch nicht, dass er diesmal nicht am äußeren Rand, sondern fast in der Mitte der Bank – und somit viel näher bei mir – saß. Natürlich bemerkte ich das nicht, warum sollte ich auch?
… Okay, ich war schon überzeugender, aber ich war auch immer noch etwas überfordert – oder besser, schon wieder, denn eigentlich hatte ich vorgehabt, zu diesem Zeitpunkt längst in meinem eigenen Bettchen zu liegen und höchstens noch ein bisschen zu lesen. Statt dessen würde ich die Nacht mit Rubin verbringen, jugendfrei, zwar, aber trotzdem.
„Deutsche Synchro?“
„Ist die Frage nicht etwas überflüssig?“
Rubin brummte gutmütig. „Aber auf Englisch ist der Film besser.“
„Das mag sein, aber was bringt es mir, wenn ich es nicht verstehe? Und für Untertitel bin ich zu müde.“
Er nickte und wollte die DVD im Menü des Fernsehers anwählen, doch ich hielt ihn davon ab.
„Warte – ich glaube, ich könnte jetzt eine Portion Panna Cotta vertragen.“
„Ist es nicht ein bisschen spät?“
„Na und?“
„Das ist ungesund – deine Mutter wäre nicht begeistert.“
Ich rollte die Augen und stand auf. „Ja, aber sie ist ja nicht hier und solange du nichts sagst, wird sie es nie erfahren.“
Rubin schmunzelte. „Huh, wird hier jemand rebellisch?“
„Halt die Klappe“, erwiderte ich möglichst neutral und machte mich auf in die Küche.
Idiot. Ich wusste ja selber, dass ich ein Muttersöhnchen war.
Während ich die Panna Cotta aus dem Kühlschrank nahm, holte er zwei Löffel und Teller hervor. 
„Reicht eines oder willst du zwei?“
„Zwei“, antwortete er, „Die Dinger sind ja winzig.“
Das war Ansichtssache; beim Italiener um die Ecke waren sie schließlich auch nicht größer. Aber ich würde mich sicher nicht darüber beschweren, sondern mich wie ein guter Gast benehmen und es dem Hausherren gleichtun. 
Ich zeigte Rubin, wie er die Panna Cotta stürzen musste, dann guckte ich zu, wie er die Erdbeersauce verteilte und das ganze mit den restlichen Erdbeeren garnierte. Er war wirklich konzentriert dabei, was mich fast hätte schmunzeln lassen – zum Glück bemerkte ich es aber rechtzeitig. Schließlich war er fertig und ich verstaute den Rest der Sauce im Kühlschrank. Vielleicht konnten wir die ja morgen für den Nachtisch verwenden. Ich musste mir nur noch überlegen, was gut dazu passte.
Als ich mich umdrehte und meinen Teller nehmen wollte, schwebte ein Löffel vor meiner Nase. Ein beladener Löffel.
Ich runzelte meine Stirn. „Ich kann mich selber füttern. Ich bevorzuge es sogar.“
„Ich will nur wissen, ob ich bestanden habe.“ Rubin kreiste mit dem Löffel ein paar Mal vor meinem Mund herum. „Komm schon. Mit dem Lolli ging’s doch auch.“
Der Löffel kam trotz meinem Todesblick näher, bis er schließlich gegen meine Lippen stupste. Das war ja wohl so was von kindisch!
Bloß: Noch kindischer als jemanden zu füttern, war nur noch sich stur zu weigern, gefüttert zu werden. Ganz sicher.
Der Löffel verschwand in meinem Mund. Triumph flackerte über Rubins Ausdruck, aber es war kein bisschen demütigend, wie ich insgeheim befürchtet hatte. Dafür dachte mein Nacken einmal mehr, dass Kribbeln eine gute Idee wäre. Und nun ging es sogar in meinem Bauch über. Das ging ja wohl gar nicht; ich würde bald einmal ein ernstes Wörtchen mit beiden reden müssen.
Rubin sah mich gespannt an. „Und?“
Ich schmeckte, genoss innerlich und blieb äußerlich neutral. Ja, ich ließ ihn mit Absicht ein bisschen warten, aber das hatte er verdient. Schließlich nickte ich.
„Bestanden.“ Eindeutig. Und, weil er bei der Nachhilfe auch lobte, was lobenswert war, fügte ich hinzu: „Mit Bravour.“
Seine Grübchen erstrahlten und aus irgendeinem Grund konnte ich nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. Nach einer Sekunde Blickkontakt änderte sich etwas in seinen Augen, wurde intensiver, und er kam einen halben Schritt auf mich zu. Ich hielt meinen Atem an, als er den Blick auf meine Lippen senkte und das Kribbeln förmlich explodierte und sich auf den Rest meines Körpers ausbreitete. Er lehnte sich näher und ich glaubte schon, Zitronengras riechen zu können, als er abrupt inne hielt, sich wieder aufrichtete und mit schiefem, angespanntem Grinsen „Betsy wartet“ sagte.
Ja, Betsy. Die hatte ich kurzzeitig völlig vergessen.

***

Die übliche Filmvorschau flimmerte über den Fernseher, als Rubin plötzlich auf stumm schaltete und sich zu mir umdrehte. Ich hatte mich diesmal wieder auf den oberen Teil der Bank gesetzt, da ich vorhatte, mir nach der Panna Cotta wieder den Bauch wärmen zu lassen.
„Erzähl mir was über dich.“
„Was?“, machte ich verdattert und ließ den Löffel in meiner Hand sinken.
Er grinste, auch wenn ich im halbdunklen Zimmer nicht erkennen konnte, ob es eher spöttisch, neckend oder was-weiß-ich-was war. Sein Ton zumindest klang nicht herablassend – wäre auch seltsam gekommen, nachdem er eben …
Nicht darüber nachdenken!
… nun … er war schon … also, sehr nah …
Nicht!
Und irgendwie war das doch ziemlich eindeutig – oder was hätte es –
SCHLUSS JETZT!
„Na, ich muss doch wissen, wen ich hier übernachten lasse“, unterbrach Rubin seelenruhig meine Gedanken, „Du könntest ein Axtmörder oder sonstiger Psychopath sein.“
Ich – was?! 
„Du musst wissen“, fuhr er fort, immer noch in diesem leichten Ton, „ich lasse sonst keine Jungs, die ich noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden kenne, hier übernachten. Schon gar nicht solche, die … sportlicher aussehen als ich.“
Wovon zum Hades sprach der Kerl? Hatte er jetzt endgültig den Verstand verloren?
„Ich meine, du könntest über mich herfallen.“
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. „Und wovon träumst du nachts?“
„Willst du das wirklich wissen?“
Ich – hui! Jetzt wusste ich, was die Leute meinten, wenn sie sagten, jemand ‚schnurrte‘ etwas.
„Rubin …“, sagte ich warnend.
Vyvyan“, erwiderte er zufrieden.
Er hatte sie tatsächlich nicht mehr alle. Ich schüttelte den Kopf und kapierte endlich, was er mit ‚weniger als vierundzwanzig Stunden kennen‘ gemeint hatte.
„Merkst du eigentlich, dass du diesen Neuanfang-Mist sehr inkonsequent durchziehst?“, fragte ich leicht genervt, „Wenn wir uns erst so kurz kennen, kannst du auch nicht wissen, dass meine Mutter gegen Panna Cotta nach Mitternacht ist.“
Rubin zuckte bloß mit den Schultern und wiederholte: „Erzähl mir was.“
Ich aß ein weiteres Häppchen Panna Cotta, aber als er sich durch den Verzögerungsversuch nicht beirren ließ und mich immer noch erwartend ansah, seufzte ich. War wohl einfacher, einfach mitzuspielen.
„Was willst du denn hören?“
„Was machst du, wenn du nicht für fremde Jungens Nachtisch zauberst und ebenso fremde Kachelöfen anschmachtest?“
„Den Nachtisch hast du gezaubert.“
„Aber nur mit deiner Hilfe“, erwiderte er, stellte seinen bereits leeren Teller auf den Boden und legte dann die Arme auf die obere Stufe von Betsys Bank, auf der ich saß. Sein Ellbogen berührte meinen Fuß.
Was wollte er noch mal wissen? Was ich so tat?
Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Nichts Besonderes. Ich lerne viel.“
Rubin legte seinen Kopf auf die verschränkten Arme ohne den Blick von mir zu nehmen. Irgendwie … wenn er so zu mir aufsah … hm.
Scheiße. Heute war nicht meine Nacht.
„Aber doch nicht die ganze Zeit? Was machst du in deiner Freizeit?“
„Ich lese ganz gerne. Spiele mit meiner Schwester. Drücke mich vor meinen Haushaltspflichten.“ Noch ein Schulterzucken. „Ab und zu treffe ich mich mit Leuten aus der Schule.“ Nicht ganz freiwillig, aber das wusste er ja. So, wie er das alles schon wusste.
Was wollte er hören?
„Du hast also eine Schwester?“
Ich nickte. „Zwei.“ Auch das wusste er.
„Erzähl mir von deiner Familie.“
Wieso?
„Man erfährt viel über jemanden durch seine Familie und das Verhältnis, das er mit ihr pflegt.“ Er grinste. „Vergiss nicht, wenn du nicht willst, dass ich dich mitten in einer kalten, kalten Dezembernacht vor die Tür setze, musst du mich immer noch davon überzeugen, kein Axtmörder zu sein.“
Ich schüttelte den Kopf. Das würde er niemals tun.
„Oder sonstiger Psychopath“, brummte ich.
Das grinsen wuchs. „Genau.“
Das war doch echt bescheuert. Ich warf einen hoffnungsvollen Blick auf den Fernseher und tatsächlich: Das DVD-Menü flimmerte mir entgegen.
„Die Vorschau ist zu Ende“, wies ich ihn darauf hin, aber er drückte ohne hinzuschauen auf den Pauseknopf.
„Nicht ablenken.“
Oh, wunderbar.
Also gut, wenn er darauf bestand … dann bekam er eben die Kurzversion. Die musste reichen.
… Die war, wenn ich ehrlich sein wollte, schon mehr, als sonst wer bekam.
„Meine ältere Schwester, Susanna – kurz Sue – wurde nach Shakespeares ältester Tochter benannt und ist zwanzig. Sie studiert Sozialwissenschaften und Wirtschaft und arbeitet nebenbei in der Unibibliothek.“
„Versteht ihr euch gut?“
„Ja“, erwiderte ich leicht genervt. Das wusste er! „Sehr sogar. Es ist auch schwer, sich mit ihr nicht gut zu verstehen, sie ist sehr … ruhig und fürsorglich. Noch besser verstehe ich mich mit meiner jüngeren Schwester, Catherine – benannt nach Dickens dritter Tochter. Fällt dir was auf?“ Ich hatte eine gehörige Portion Sarkasmus in die Frage gelegt, aber als ich zu ihm sah, lächelte er bloß.
Ugh, was sollte das denn?
Egal, schnell weiter. Nur noch ein bisschen Panna Cotta vorher.
„Kitty ist neun, aufgeweckt, frech und …“ Ich brach ab.
… Und momentan wütend auf mich.
Ich musste ihn immer noch fragen. War jetzt ein guter Zeitpunkt? Immerhin war das Gespräch auf Kitty gekommen und … und er sah gerade entspannt aus.
„Wie ist deine Laune im Moment?“, fragte ich, bevor ich wusste, was ich tat.
Rubin blinzelte überrascht, dann antwortete er: „Ziemlich gut, wieso?“
Ziemlich gut? War das gut genug, um ohne großes Tamtam seine Zustimmung zu bekommen? Besser, kein Risiko einzugehen. Was konnte ich tun, um …
Einem Impuls folgend, schaufelte ich das letzte bisschen Panna Cotta auf den Löffel und hielt ihn Rubin vor den Mund. Er sah mich verblüfft an, öffnete dann aber brav den Mund und ließ sich füttern.
„Und jetzt?“
Er ließ sich den Nachtisch offenbar auf der Zunge zergehen, bevor er mit Grübchen antwortete: „Noch besser.“
Gut.
„Das sollten wir einführen. Ich koche, du fütterst.“
Nicht gut.
„Garantiert nicht – das war eine einmalige Sache.“
Rubin lachte schon wieder und schien sich kein bisschen an meinem Tonfall zu stören. „Und wie komme ich zu der Ehre?“
„Ich muss dich etwas fragen …“
„Bin ganz Ohr.“
„Kitty war richtig sauer gestern, als ich nach Hause gekommen bin.“
Seine Augenbrauen schossen nach oben, aber er sagte nichts. Klar, ich hatte ja auch noch nichts gefragt.
„Ich war doch zu spät, obwohl ich ihr versprochen hatte, mit ihr in den Schnee zu gehen.“ Ja, ich schob das Unvermeidliche hinaus. Ich war eben eine kleine Memme, sogar dann, wenn er ganz entspannt dasaß und zu mir hinaufsah. Aber eigentlich musste ich das ja auch erklären, weil wir uns ja erst seit heute Nachmittag kannten – wenn schon spielen, dann konsequent. „Wie gesagt, sie war echt wütend und hat meine Entschuldigungsversuche ignoriert. Und heute morgen, da …“
Komm schon, so schwierig konnte es nicht sein! Es war eine einfache Frage und er konnte nur mit Ja oder Nein antworten.
„Also, sie hat gemeint, sie wolle als Entschädigung Betsy kennenlernen.“
Nun sprach er doch: „Betsy? Aber die ist hier.“
Was ein Genie.
„Ja.“
Er nahm den Kopf von seinen Armen und setzte sich auf. „Fragst du mich gerade, ob du Catherine vorbeibringen darfst?“
War das nicht klar wie verfluchte Kloßbrühe?
„Ja.“
„Ich hatte das Gefühl, es sei dir lieber, wenn ich nichts mit ihr zu tun habe – oder mit dem Rest deiner Familie.“
Wie gesagt: Ein wahres Genie.
„Wann hattest du das Gefühl?“, fragte ich leicht trotzig, „Wir haben uns schließlich heute zum ersten Mal getroffen, schon vergessen?“
Er grinste. Dieses Neuanfang-Spiel schien ihm echt Spaß zu machen. Irgendwie war Rubin manchmal ein komischer Vogel.
Ich will ja auch nicht, dass sie herkommt“, gab ich dann zu, „sie will es.“
Rubin erwiderte nichts. Nein, viel lieber sah er mich einfach nur an. Fast hätte ich gesagt, dass er nachdenklich aussah, aber wahrscheinlich tat er das einfach nur, um mich zu quälen. Das Schweigen, meine ich – das Nachdenkliche bildete ich mir sicher ein.
Ich wartete, aber … 
Stille.
Immer noch.
Langsam wurde ich nervös. Warum brauchte er dann so lange, um zu antworten? Wie gesagt, ein simples Ja oder Nein genügte doch.
Er musste sich auch nicht meinetwegen eine möglichst nette und höfliche Art ausdenken, das Nein zu verpacken. Ich hielt das aus, war ja ein großer Junge. Sogar ein oder zwei – zwei, garantiert zwei! – Zentimeter größer als er.
Ich wollte ihn schon ansprechen, als er endlich den Mund aufbekam:
„Aber nicht, wenn wir Stunde haben. Du würdest dich nicht konzentrieren können.“
Nun, wo er Recht hatte – Moment, hatte er gerade zugestimmt? Sollte ich mich jetzt darüber freuen oder nicht?
„Okay“, erwiderte ich langsam, „Wann wäre es dir am liebsten?“
„Übermorgen. Spätestens früher Nachmittag.“
Da hatte er nicht lange überlegen müssen.
„Gut.“ Ich zögerte, wollte eigentlich nicht, besann mich dann aber doch noch auf meine Manieren und schob ein Danke hinterher.
Doch, ich sollte mich darüber freuen. Einen Nachmittag bei Rubin war tausendmal weniger schlimm als Kittys Zorn.
Und dann grinste Rubin. „Im Gegenzug …“
Oh.
Oh nein.
Kein Gegenzug. Nur ein Einbahnzug. Ein Hinzug. Rückzug!
„Keine Panik, Vyvyan“, sagte er grinsend, „ich will nichts Schlimmes.“
„Sondern?“
„Hm …“, machte er und betrachtete mich einen Moment lang. „Einen Gefallen.“
„Der da wäre?“
„Das sage ich dir, wenn es so weit ist.“
Und das, liebe Damen und Herren, war das erste Mal in einer gefühlten Ewigkeit, dass mir seine Grübchen unheimlich waren.
„Wieso nicht jetzt?“
„Weil du dann zu viel Zeit hättest, dir tausend Gründe zu überlegen, warum du ihn mir nicht erfüllen kannst.“
Das hörte sich nicht gut an. „Ich dachte, du willst nichts Schlimmes?!“
„Tue ich auch nicht. Es ist völlig harmlos.“ Das Grinsen wurde kurz unverschämt. „Sogar völlig jugendfrei.“
Na, wenigstens etwas.
„Warum sollte ich mir dann Gründe dagegen ausdenken?“
„Vielleicht täusche ich mich ja auch und du wirst ihn mir ohne Murren erfüllen. Aber ich will kein Risiko eingehen.“ Er lächelte. „Deal?“
Hatte ich denn eine Wahl, wenn ich Kittys Vergebung wollte?
… In letzter Zeit hatte ich oft keine richtige Wahl. Damit musste ich schnellstens aufhören.
„Deal“, brummte ich, „und jetzt lass uns endlich den Film sehen, bevor ich wieder müde werde.“
Er nickte, nahm mir meinen Teller ab, wählte die Sprache und drückte auf Start.
Was zum Hades wollte er für einen Gefallen von mir?

*********

Er lag da und sah mich an. Alles was ich denken konnte, war: Ich hätte ein kleineres Bett aussuchen sollen. Am besten ein Kinderbett.
… Obwohl, nein. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn wir trotz des großen Bettes so nah beieinander gelegen hätten, als wäre es ein Kinderbett. Aber darauf konnte ich wohl lange warten.

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