Rubin verteilte die Sauce auf dem zweiten Teller Gnocchi, deckte die Pfanne
zu und drehte sich zu mir.
„Was hältst du davon, wenn wir beim Essen einen Film gucken?“
Nun ja. Einerseits würden wir uns nicht unterhalten müssen – und
ich hatte mich die letzten Minuten bereits mental auf ein Essen in unangenehmer
Stille vorbereitet. Denn, ganz ehrlich: Wirklich etwas zu reden hatten wir
nicht. Keine gemeinsamen Interessen, keine gemeinsamen Freunde … und
das Geplänkel beim Kochen oder bei der Nachhilfe lief doch nur gut, weil wir da
etwas zu tun hatten und wir darüber reden konnten. Aber beim Essen sah
die Situation wieder anders aus.
Andererseits dauerte ein Film meist zwei Stunden und ich hatte nicht
vorgehabt, so lange zu bleiben. Mein Plan hatte fünfzehn Minuten plus Abräumen
und Winterklamotten anziehen umfasst. Mitten im Film abzuhauen wäre aber auch
verdammt unfreundlich – was mir eigentlich egal sein konnte.
Ja.
Trotzdem … ich musste ihn ja nicht unnötig vor den Kopf stoßen.
Von wegen Neuanfang und so.
Wäre es sehr seltsam, wenn ich vorschlagen würde, stattdessen lieber eine
alte Loony Tunes-Folge zu gucken? Oder Two and a Half Men?
„Wir könnten den Fernseher rüberschieben und es uns auf Betsy gemütlich
machen“, fügte er hinzu und –
„Okay.“
Zu schnell. Das war eindeutig zu schnell.
Rubin lachte und hob amüsiert eine Augenbraue. „Sicher?“
Bastard.
Sowieso war es besser, wenn er mit dem Lachen wieder aufhörte. So generell.
Für mich. Und bis er es tat, würde ich es strikt ignorieren.
Ich warf ihm einen Blick zu, der deutlich machte, was ich davon hielt und
brummte:„Ich bring die Cola.“
Er nickte, nahm auch den anderen Teller und ging voraus ins Wohnzimmer.
Scheiße, warum war ich nur so berechenbar?
Als ich in Betsys Reich kam, stand unser Abendessen auf ihrer Bank und
Rubin ging gerade in den rechten Teil des Raumes, dem ich bis jetzt noch keine
Beachtung geschenkt hatte – und nun fragte ich mich, wie ich ihn
hatte übersehen können. Ihn, den riesenhaften, perfekt geformten und über
und über und über mit roten, grünen, silbrigen, goldenen und gläsernen
Kugeln, Lametta und anderem Krimskrams behängten Weihnachtsbaum. Obwohl, ich
hatte keine Ahnung, ob da wirklich ein Baum darunter war, denn echtes
Tannengrün sah man keines. War das ihr Ernst?! Oder nahm diese Familie gerne
die amerikanischen Klischees auf die Schippe, indem sie sie überspitzte?
Ich hoffte auf Letzteres, befürchtete aber Ersteres.
Rubin sah zu mir herüber und bemerkte meinen Blick – alles andere
wäre auch ziemlich schwierig gewesen.
Er grinste verschmitzt.
„Meine Mutter. Ihr Lebensmotto ist ‚Nicht weniger ist mehr, mehr ist
mehr‘.“
Ja, das sah ich.
„Nimmst du uns zwei Kissen von der Couch? Ich bring den hier in Position.“
Er zeigte auf den rollbaren Fernsehtisch mit dem Flachbildfernseher.
Kissen, sicher, das würde ich hinkriegen. Ich nickte.
***
Der Film war eine gute Idee gewesen. Wir sahen uns nicht die DVD an, die
‚ich‘ ihm geschenkt hatte, weil die ja weder deutsche Synchronisation noch Untertitel
besaß (noch ein Grund, warum wir uns global für Deutsch als einzig relevante
Sprache entscheiden sollten), aber dafür einen anderen britischen Film mit
typisch britischem Humor. Dabei saßen wir beide auf dem unteren Teil von Betsys
Bank, ich an ihren Hauptkörper gelehnt, Rubin am anderen Ende, also in
angenehmem Abstand. Wir schwiegen, wie sich das gehört, wenn man einen Film
schaut, außer natürlich, wenn wir lachten.
Der Film war gut, aber nachdem ich fertig gegessen hatte, fühlte ich mich
satt und müde. Nur, jetzt einfach so aufzustehen und zu gehen, das wäre eben
sehr unhöflich gewesen; das war mir jetzt noch deutlicher klar als vorher. Ich
stellte meinen Teller neben mein Glas auf den Boden und drückte eine Taste
meines Handys, das ebenfalls dort lag – ich wollte ja nicht, dass ihm
auf Betsy zu warm wurde.
Einundzwanzig Minuten nach neun Uhr. Nein, so schnell war noch nicht einmal
ein Disneyfilm fertig; ich musste also mit dem SMS-Schreiben noch warten.
„Macht’s dir was aus, wenn ich mich hinlege?“, fragte ich und zeigte auf
den oberen Teil der Bank.
Rubin wandte sich zu mir und schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht.“ Grübchen, nur durch das Fernsehflimmern sichtbar. „Aber
schlaf nicht wieder ein.“
Pah.
„Ich habe nicht geschlafen.“
Hatte ich wirklich nicht. Zwischen dösen und schlafen bestand schließlich
ein Unterschied.
Aber egal. Ich schnappte mir mein Kissen, kletterte hinauf und legte mich
so hin wie letztes Mal, mit den Füßen Richtung Betsy und dem Kopf vorne bei Rubin,
weil es umgekehrt für den Kopf zu warm und für die Füße zu kalt geworden wäre.
Nur leider hatte ich so seinen blonden Haarschopf direkt vor dem Gesicht.
„Könntest du ein Stück rutschen?“
„Sicher.“ Und er rutschte – vielleicht fünfzehn, zwanzig Zentimeter,
jedenfalls genau so viel, dass ich zwar den Bildschirm sah, er aber immer noch
irgendwie zu nahe war. Ich hätte ihn eben lieber zu meinen Füßen gehabt, aber
das war ja sowieso Wunschdenken. Trotzdem, wenn er sich jetzt zu mir drehte,
dann wären da nur wenige Zentimeter zwischen …
Böser Gedanke. Schlechter Gedanke. Fieses Prickeln im Nacken.
Hm, aber Betsy war und blieb toll. Warm, gemütlich, warm, genial, warm.
Warm. Und den vollen Magen so gewärmt zu bekommen, das war angenehm, da wurde
mir wohlig. Und Rubin hatte den Film ja für mich auf Deutsch eingestellt, also
konnte ich meine Augen auch für einen Moment schließen und würde dennoch nichts
verpassen.
Nur für einen klitzekleinen Moment, verstand sich, um das Gefühl und die
Wärme so richtig genießen zu können. Nachher musste ich ja wieder in die Kälte.
Nur ganz kurz also …
***
Als ich mich das nächste Mal auf den Film konzentrierte, lief gerade
Werbung. Irgendwie fand ich das ein wenig seltsam, aber warum, das konnte ich
nicht sagen. Mein Kopf war ein meinen Armen gebettet und ich ruckelte mich ein
wenig zurecht, bevor ich die Augen öffnete. Den Fernseher sah ich nicht, dafür
aber Rubin, der direkt vor mir saß und mich ansah. Ich blinzelte. Warum sah er
mich an? Und seit wann saß er da? So konnte ich doch den Film nicht sehen,
verdammt!
„Na?“ Ich glaube, das war ein Lächeln auf seinen Lippen, aber es war schwer
zu sagen mit der einzigen Lichtquelle in seinem Rücken. „Auch wieder wach?“
„Wieso wach?“ Meine Stimme war ein wenig rau. Hm. „Du sitzt mir im Bild.“
Er lachte und sein Lachen vibrierte durch meinen Körper, der zu müde war,
um es ignorieren zu können.
„Du hast geschlafen, tief und fest. Und ich sitze hier, weil du meine Hand
festhältst.“
Geschlafen? Garantiert nicht. Ich konnte genau sagen, wo der Film war
er – Moment mal, was hatte er gesagt? Warum sollte ich seine
Hand …
Plötzlich fühlte ich, wie
etwas – jemand – er?! – meine Hand drückte. Die,
die unter meinem Kopf gelegen hatte.
In der nächsten Sekunde schoss ich auf, so gut das eben aus der Bauchlage
heraus ging und warf dabei eine dünne Decke von mir, von der ich keine Ahnung
hatte, woher sie gekommen war. Auch das Kissen flog zu Boden. Als ich auf
meinem Hinterteil saß, rutschte ich gleich noch ein wenig näher zu Betsy und
somit weg von ihm. Jetzt sah ich auch den Fernseher und erkannte, dass
tatsächlich Werbung lief – und was für welche! Ich wollte keine
nackten Frauenbrüste sehen, vielen Dank auch, und weiß-nicht-wie-viele Euros
pro Minute für ein bisschen Gestöhne am Telefon auszugeben, darauf konnte ich
erst recht verzichten. Auch, wenn es, wie in der nächsten Sekunde, von einem
Kerl angepriesen wurde, der sich unmöglich noch schwuler anhören konnte.
Und das Bild des nackten Bodybuilderoberkörpers war auch nichts für mich; viel
zu eingeölt, viel zu Solarium-gebräunt, viel zu sehr photoshopbearbeitetes
Klischee. Kim sah besser aus, aber eigentlich stand ich sowieso weniger auf
Muskeln, mehr auf –
Bis dahin und nicht weiter, liebes Gehirn. Du hast heute schon genug
verbrochen.
Ich sah wieder zu Rubin.
„Wie spät ist es?“
„Halb eins.“
„Nachts?!“
Er nickte.
Scheiße – halb eins – scheiße!
Ich kletterte runter, angelte mein Handy, überprüfte die Uhrzeit. Halb
eins.
„Wann fährt der letzte Bus zu mir?“
„Wochentags kurz vor zwölf.“
Kurz vor – „Scheiße!“
Ich sah ihn an, ihn, der offensichtlich die Schuld an meiner Misere trug,
obwohl ich natürlich wusste, dass es unfair war, das zu behaupten. Trotzdem,
ein klein wenig stimmte er mir wohl zu, denn, wenn ich das richtig erkannte,
dann biss er sich gerade nicht wenig schuldbewusst auf die Lippen.
„Warum hast du mich nicht geweckt? Meine Mutter killt mich!“
„Sie weiß es.“ Auch der Ton seiner Stimmte war schuldbewusst. „Sie hat vor
zwei Stunden angerufen, auf dein Handy. Ich habe versucht, dich zu wecken, aber
du hast nicht reagiert und da habe ich abgenommen.“ Er zuckte mit den
Schultern, wie um zu sagen: Was hätte ich denn sonst machen sollen? „Sie hat
gesagt, ich soll dich schlafen lassen, notfalls auch hier. Ich habe danach noch
einmal versucht, dich zu wecken und dich gerüttelt, aber du hast meine Hand
ergriffen und dann … na ja …“ Er brach ab und zuckte erneut mit den Schultern.
„Ich soll hier schlafen?!“
Oh, wunderbar. Hier, bei Rubin – genau das, was ich in meinem
Zustand brauchen konnte.
Abgesehen davon: Kitty würde mich umbringen! Wenn ich schon wieder nicht
nach Hause – oh, Mist, verdammter! Ich hatte ihn noch nicht gefragt,
ob Kitty Betsy besuchen kommen durfte.
Urgs.
Aber … jetzt konnte ich das nicht. Nie und nimmer!
Ohne eine Antwort nach Hause konnte ich aber auch nicht, weil Kitty.
Also … also …
… Doch hier schlafen?
Mein Magen zog sich unangenehm zusammen und mein Nacken prickelte. Nicht
gut. Ich war viel zu müde, um mich richtig unter Kontrolle zu haben. Noch nicht
einmal ein Blick auf die ‚willige Oma‘, die über den Fernseher
flackerte, half.
Vielleicht … vielleicht ließ er mich ja im Zimmer seiner Eltern
schlafen? Oder sie hatten sogar ein Gästezimmer, das Haus war ja groß genug und
da er meinte, keine Geschwister zu haben …
„Besser als ein Taxi zu bestellen, oder?“, fragte er ruhig.
Vielleicht. Ja, irgendwie. Aber irgendwie auch nicht. Ein Taxi wäre
jedenfalls die sichere Wahl gewesen. Aber dann hätte ich Kitty entgegentreten
müssen.
Verflucht noch mal! Alles seine Schuld! Bei jemand anderem wäre das
alles viel einfacher gewesen!
Bastard!
***
„Bist du noch müde?“, fragte mich Rubin ein paar Minuten später. Minuten,
in denen ich mich resigniert wieder an Betsy gelehnt – auf dem
unteren Teil, noch einmal wollte ich nicht einpennen! – und ihn
angeschwiegen hatte. Nicht, weil ich auf ihn wütend war, sondern weil ich nicht
wusste, was ich sagen sollte. „Willst du gleich schlafen gehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, auf den Schreck werde ich sicher nicht
einschlafen können.“ Ich ließ meinen Kopf nach hinten fallen, vorsichtig
versteht sich, denn das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war, mit dem
Hinterkopf gegen Betsys Kacheln zu knallen. Vielen Dank auch.
Kurz war es still, dann fragte er: „Möchtest du noch einen Film schauen?
Diesmal zu Ende?“
Ich konnte das Grinsen aus den Worten heraushören, ignorierte es aber. Ein
Film, das hörte sich nicht schlecht an – aus ähnlichen Gründen wie
vor ein paar Stunden: erstens, weil wir dann nicht reden mussten, und zweitens,
weil es ablenkte. Von … allem.
„Warum nicht?“
Noch eine Pause, dann: „Worauf hast du Lust?“
Ich überlegte. Eigentlich war es mir ja egal, solange der Film mich von dem
Kopfkino ablenkte, das jedes Mal in den Startlöchern stand, wenn ich auch nur
annähernd darüber nachdachte, ob sie wohl wirklich ein Gästezimmer hatten oder
nicht und wenn nicht, ob sie eine Matratze hatten, so wie wir. Oder ob ich auf
der Couch schlafen konnte. Ansonsten blieb ja nur eine Möglichkeit und die
machte mich dezent unruhig.
Jedenfalls bedeutete das, dass der Film mich gefälligst nicht an irgend
etwas Unanständiges erinnern sollte. Also lieber etwas ohne Sexszenen. Aber
auch nichts, das übertrieben abtörnend war, denn da würde ich wahrscheinlich
nur noch mehr daran denken. Was waren die unschuldig asexuellsten Filme,
die ich kannte?
„Hast du einen Weihnachtsfilm?“
„Zählt Nightmare Before Christmas?“
Ich unterdrückte ein Grinsen.
„Nicht wirklich, aber der wäre auch okay.“ Im Unterschied zu den richtigen
Weihnachtsfilmen war der wenigstens gut, und dennoch absolut
asexuell – Jack Skellington mochte cool sein, aber sexy war er nicht.
Nicht in meiner Welt.
„Okay, einen Moment.“
Rubin stand auf, ging in den anderen Teil des Raumes, öffnete ein Abteil
des Wohnzimmermöbels und suchte mit Hilfe des Lichts seines Handys nach der
DVD. Dann kam er zurück und legte sie in ein, bevor er sich wieder neben mich
setzte. Und nein, ich sah ihm dabei nicht nach. Ich bemerkte auch nicht, dass
er diesmal nicht am äußeren Rand, sondern fast in der Mitte der
Bank – und somit viel näher bei mir – saß. Natürlich
bemerkte ich das nicht, warum sollte ich auch?
… Okay, ich war schon überzeugender, aber ich war auch immer noch etwas
überfordert – oder besser, schon wieder, denn eigentlich hatte ich
vorgehabt, zu diesem Zeitpunkt längst in meinem eigenen Bettchen zu liegen und
höchstens noch ein bisschen zu lesen. Statt dessen würde ich die Nacht mit
Rubin verbringen, jugendfrei, zwar, aber trotzdem.
„Deutsche Synchro?“
„Ist die Frage nicht etwas überflüssig?“
Rubin brummte gutmütig. „Aber auf Englisch ist der Film besser.“
„Das mag sein, aber was bringt es mir, wenn ich es nicht verstehe? Und für
Untertitel bin ich zu müde.“
Er nickte und wollte die DVD im Menü des Fernsehers anwählen, doch ich
hielt ihn davon ab.
„Warte – ich glaube, ich könnte jetzt eine Portion Panna Cotta
vertragen.“
„Ist es nicht ein bisschen spät?“
„Na und?“
„Das ist ungesund – deine Mutter wäre nicht begeistert.“
Ich rollte die Augen und stand auf. „Ja, aber sie ist ja nicht hier und
solange du nichts sagst, wird sie es nie erfahren.“
Rubin schmunzelte. „Huh, wird hier jemand rebellisch?“
„Halt die Klappe“, erwiderte ich möglichst neutral und machte mich auf in
die Küche.
Idiot. Ich wusste ja selber, dass ich ein Muttersöhnchen war.
Während ich die Panna Cotta aus dem Kühlschrank nahm, holte er zwei Löffel
und Teller hervor.
„Reicht eines oder willst du zwei?“
„Zwei“, antwortete er, „Die Dinger sind ja winzig.“
Das war Ansichtssache; beim Italiener um die Ecke waren sie schließlich
auch nicht größer. Aber ich würde mich sicher nicht darüber beschweren, sondern
mich wie ein guter Gast benehmen und es dem Hausherren gleichtun.
Ich zeigte Rubin, wie er die Panna Cotta stürzen musste, dann guckte ich
zu, wie er die Erdbeersauce verteilte und das ganze mit den restlichen
Erdbeeren garnierte. Er war wirklich konzentriert dabei, was mich fast hätte
schmunzeln lassen – zum Glück bemerkte ich es aber rechtzeitig.
Schließlich war er fertig und ich verstaute den Rest der Sauce im Kühlschrank.
Vielleicht konnten wir die ja morgen für den Nachtisch verwenden. Ich musste
mir nur noch überlegen, was gut dazu passte.
Als ich mich umdrehte und meinen Teller nehmen wollte, schwebte ein Löffel
vor meiner Nase. Ein beladener Löffel.
Ich runzelte meine Stirn. „Ich kann mich selber füttern. Ich bevorzuge es
sogar.“
„Ich will nur wissen, ob ich bestanden habe.“ Rubin kreiste mit dem Löffel
ein paar Mal vor meinem Mund herum. „Komm schon. Mit dem Lolli ging’s doch
auch.“
Der Löffel kam trotz meinem Todesblick näher, bis er schließlich gegen
meine Lippen stupste. Das war ja wohl so was von kindisch!
Bloß: Noch kindischer als jemanden zu füttern, war nur noch sich stur zu
weigern, gefüttert zu werden. Ganz sicher.
Der Löffel verschwand in meinem Mund. Triumph flackerte über Rubins
Ausdruck, aber es war kein bisschen demütigend, wie ich insgeheim befürchtet
hatte. Dafür dachte mein Nacken einmal mehr, dass Kribbeln eine gute Idee wäre.
Und nun ging es sogar in meinem Bauch über. Das ging ja wohl gar nicht; ich
würde bald einmal ein ernstes Wörtchen mit beiden reden müssen.
Rubin sah mich gespannt an. „Und?“
Ich schmeckte, genoss innerlich und blieb äußerlich neutral. Ja, ich ließ
ihn mit Absicht ein bisschen warten, aber das hatte er verdient. Schließlich
nickte ich.
„Bestanden.“ Eindeutig. Und, weil er bei der Nachhilfe auch lobte, was
lobenswert war, fügte ich hinzu: „Mit Bravour.“
Seine Grübchen erstrahlten und aus irgendeinem Grund konnte ich nicht
anders, als das Lächeln zu erwidern. Nach einer Sekunde Blickkontakt änderte
sich etwas in seinen Augen, wurde intensiver, und er kam einen halben Schritt
auf mich zu. Ich hielt meinen Atem an, als er den Blick auf meine Lippen senkte
und das Kribbeln förmlich explodierte und sich auf den Rest meines Körpers
ausbreitete. Er lehnte sich näher und ich glaubte schon, Zitronengras riechen
zu können, als er abrupt inne hielt, sich wieder aufrichtete und mit schiefem,
angespanntem Grinsen „Betsy wartet“ sagte.
Ja, Betsy. Die hatte ich kurzzeitig völlig vergessen.
***
Die übliche Filmvorschau flimmerte über den Fernseher, als Rubin plötzlich
auf stumm schaltete und sich zu mir umdrehte. Ich hatte mich diesmal wieder auf
den oberen Teil der Bank gesetzt, da ich vorhatte, mir nach der Panna Cotta
wieder den Bauch wärmen zu lassen.
„Erzähl mir was über dich.“
„Was?“, machte ich verdattert und ließ den Löffel in meiner Hand sinken.
Er grinste, auch wenn ich im halbdunklen Zimmer nicht erkennen konnte, ob
es eher spöttisch, neckend oder was-weiß-ich-was war. Sein Ton zumindest klang
nicht herablassend – wäre auch seltsam gekommen, nachdem er
eben …
Nicht darüber nachdenken!
… nun … er war schon … also, sehr nah …
Nicht!
Und irgendwie war das doch ziemlich eindeutig – oder was hätte
es –
SCHLUSS JETZT!
„Na, ich muss doch wissen, wen ich hier übernachten lasse“, unterbrach
Rubin seelenruhig meine Gedanken, „Du könntest ein Axtmörder oder sonstiger
Psychopath sein.“
Ich – was?!
„Du musst wissen“, fuhr er fort, immer noch in diesem leichten Ton, „ich
lasse sonst keine Jungs, die ich noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden
kenne, hier übernachten. Schon gar nicht solche, die … sportlicher
aussehen als ich.“
Wovon zum Hades sprach der Kerl? Hatte er jetzt endgültig den Verstand
verloren?
„Ich meine, du könntest über mich herfallen.“
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. „Und wovon träumst du nachts?“
„Willst du das wirklich wissen?“
Ich – hui! Jetzt wusste ich, was die Leute meinten, wenn sie
sagten, jemand ‚schnurrte‘ etwas.
„Rubin …“, sagte ich warnend.
„Vyvyan“, erwiderte er zufrieden.
Er hatte sie tatsächlich nicht mehr alle. Ich schüttelte den Kopf und
kapierte endlich, was er mit ‚weniger als vierundzwanzig Stunden kennen‘
gemeint hatte.
„Merkst du eigentlich, dass du diesen Neuanfang-Mist sehr inkonsequent
durchziehst?“, fragte ich leicht genervt, „Wenn wir uns erst so kurz kennen,
kannst du auch nicht wissen, dass meine Mutter gegen Panna Cotta nach
Mitternacht ist.“
Rubin zuckte bloß mit den Schultern und wiederholte: „Erzähl mir was.“
Ich aß ein weiteres Häppchen Panna Cotta, aber als er sich durch den
Verzögerungsversuch nicht beirren ließ und mich immer noch erwartend ansah,
seufzte ich. War wohl einfacher, einfach mitzuspielen.
„Was willst du denn hören?“
„Was machst du, wenn du nicht für fremde Jungens Nachtisch zauberst und
ebenso fremde Kachelöfen anschmachtest?“
„Den Nachtisch hast du gezaubert.“
„Aber nur mit deiner Hilfe“, erwiderte er, stellte seinen bereits leeren
Teller auf den Boden und legte dann die Arme auf die obere Stufe von Betsys
Bank, auf der ich saß. Sein Ellbogen berührte meinen Fuß.
Was wollte er noch mal wissen? Was ich so tat?
Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Nichts Besonderes. Ich lerne
viel.“
Rubin legte seinen Kopf auf die verschränkten Arme ohne den Blick von mir
zu nehmen. Irgendwie … wenn er so zu mir aufsah … hm.
Scheiße. Heute war nicht meine Nacht.
„Aber doch nicht die ganze Zeit? Was machst du in deiner Freizeit?“
„Ich lese ganz gerne. Spiele mit meiner Schwester. Drücke mich vor meinen
Haushaltspflichten.“ Noch ein Schulterzucken. „Ab und zu treffe ich mich mit
Leuten aus der Schule.“ Nicht ganz freiwillig, aber das wusste er ja. So, wie
er das alles schon wusste.
Was wollte er hören?
„Du hast also eine Schwester?“
Ich nickte. „Zwei.“ Auch das wusste er.
„Erzähl mir von deiner Familie.“
„Wieso?“
„Man erfährt viel über jemanden durch seine Familie und das Verhältnis, das
er mit ihr pflegt.“ Er grinste. „Vergiss nicht, wenn du nicht willst, dass ich
dich mitten in einer kalten, kalten Dezembernacht vor die Tür setze,
musst du mich immer noch davon überzeugen, kein Axtmörder zu sein.“
Ich schüttelte den Kopf. Das würde er niemals tun.
„Oder sonstiger Psychopath“, brummte ich.
Das grinsen wuchs. „Genau.“
Das war doch echt bescheuert. Ich warf einen hoffnungsvollen Blick auf den
Fernseher und tatsächlich: Das DVD-Menü flimmerte mir entgegen.
„Die Vorschau ist zu Ende“, wies ich ihn darauf hin, aber er drückte ohne
hinzuschauen auf den Pauseknopf.
„Nicht ablenken.“
Oh, wunderbar.
Also gut, wenn er darauf bestand … dann bekam er eben die
Kurzversion. Die musste reichen.
… Die war, wenn ich ehrlich sein wollte, schon mehr, als sonst wer bekam.
„Meine ältere Schwester, Susanna – kurz Sue – wurde nach
Shakespeares ältester Tochter benannt und ist zwanzig. Sie studiert
Sozialwissenschaften und Wirtschaft und arbeitet nebenbei in der
Unibibliothek.“
„Versteht ihr euch gut?“
„Ja“, erwiderte ich leicht genervt. Das wusste er! „Sehr sogar. Es
ist auch schwer, sich mit ihr nicht gut zu verstehen, sie ist
sehr … ruhig und fürsorglich. Noch besser verstehe ich mich mit
meiner jüngeren Schwester, Catherine – benannt nach Dickens dritter
Tochter. Fällt dir was auf?“ Ich hatte eine gehörige Portion Sarkasmus in die
Frage gelegt, aber als ich zu ihm sah, lächelte er bloß.
Ugh, was sollte das denn?
Egal, schnell weiter. Nur noch ein bisschen Panna Cotta vorher.
„Kitty ist neun, aufgeweckt, frech und …“ Ich brach ab.
… Und momentan wütend auf mich.
Ich musste ihn immer noch fragen. War jetzt ein guter Zeitpunkt? Immerhin
war das Gespräch auf Kitty gekommen und … und er sah gerade entspannt
aus.
„Wie ist deine Laune im Moment?“, fragte ich, bevor ich wusste, was ich
tat.
Rubin blinzelte überrascht, dann antwortete er: „Ziemlich gut, wieso?“
Ziemlich gut? War das gut genug, um ohne großes Tamtam seine Zustimmung zu
bekommen? Besser, kein Risiko einzugehen. Was konnte ich tun, um …
Einem Impuls folgend, schaufelte ich das letzte bisschen Panna Cotta auf
den Löffel und hielt ihn Rubin vor den Mund. Er sah mich verblüfft an, öffnete
dann aber brav den Mund und ließ sich füttern.
„Und jetzt?“
Er ließ sich den Nachtisch offenbar auf der Zunge zergehen, bevor er mit
Grübchen antwortete: „Noch besser.“
Gut.
„Das sollten wir einführen. Ich koche, du fütterst.“
Nicht gut.
„Garantiert nicht – das war eine einmalige Sache.“
Rubin lachte schon wieder und schien sich kein bisschen an meinem Tonfall
zu stören. „Und wie komme ich zu der Ehre?“
„Ich muss dich etwas fragen …“
„Bin ganz Ohr.“
„Kitty war richtig sauer gestern, als ich nach Hause gekommen bin.“
Seine Augenbrauen schossen nach oben, aber er sagte nichts. Klar, ich hatte
ja auch noch nichts gefragt.
„Ich war doch zu spät, obwohl ich ihr versprochen hatte, mit ihr in den
Schnee zu gehen.“ Ja, ich schob das Unvermeidliche hinaus. Ich war eben eine
kleine Memme, sogar dann, wenn er ganz entspannt dasaß und zu mir hinaufsah.
Aber eigentlich musste ich das ja auch erklären, weil wir uns ja erst seit
heute Nachmittag kannten – wenn schon spielen, dann konsequent. „Wie
gesagt, sie war echt wütend und hat meine Entschuldigungsversuche ignoriert.
Und heute morgen, da …“
Komm schon, so schwierig konnte es nicht sein! Es war eine einfache Frage
und er konnte nur mit Ja oder Nein antworten.
„Also, sie hat gemeint, sie wolle als Entschädigung Betsy kennenlernen.“
Nun sprach er doch: „Betsy? Aber die ist hier.“
Was ein Genie.
„Ja.“
Er nahm den Kopf von seinen Armen und setzte sich auf. „Fragst du mich
gerade, ob du Catherine vorbeibringen darfst?“
War das nicht klar wie verfluchte Kloßbrühe?
„Ja.“
„Ich hatte das Gefühl, es sei dir lieber, wenn ich nichts mit ihr zu tun
habe – oder mit dem Rest deiner Familie.“
Wie gesagt: Ein wahres Genie.
„Wann hattest du das Gefühl?“, fragte ich leicht trotzig, „Wir haben uns
schließlich heute zum ersten Mal getroffen, schon vergessen?“
Er grinste. Dieses Neuanfang-Spiel schien ihm echt Spaß zu machen.
Irgendwie war Rubin manchmal ein komischer Vogel.
„Ich will ja auch nicht, dass sie herkommt“, gab ich dann zu, „sie
will es.“
Rubin erwiderte nichts. Nein, viel lieber sah er mich einfach nur an. Fast
hätte ich gesagt, dass er nachdenklich aussah, aber wahrscheinlich tat er das
einfach nur, um mich zu quälen. Das Schweigen, meine ich – das
Nachdenkliche bildete ich mir sicher ein.
Ich wartete, aber …
Stille.
Immer noch.
Langsam wurde ich nervös. Warum brauchte er dann so lange, um zu antworten?
Wie gesagt, ein simples Ja oder Nein genügte doch.
Er musste sich auch nicht meinetwegen eine möglichst nette und höfliche Art
ausdenken, das Nein zu verpacken. Ich hielt das aus, war ja ein großer Junge.
Sogar ein oder zwei – zwei, garantiert zwei! – Zentimeter
größer als er.
Ich wollte ihn schon ansprechen, als er endlich den Mund aufbekam:
„Aber nicht, wenn wir Stunde haben. Du würdest dich nicht konzentrieren
können.“
Nun, wo er Recht hatte – Moment, hatte er gerade zugestimmt?
Sollte ich mich jetzt darüber freuen oder nicht?
„Okay“, erwiderte ich langsam, „Wann wäre es dir am liebsten?“
„Übermorgen. Spätestens früher Nachmittag.“
Da hatte er nicht lange überlegen müssen.
„Gut.“ Ich zögerte, wollte eigentlich nicht, besann mich dann aber doch
noch auf meine Manieren und schob ein Danke hinterher.
Doch, ich sollte mich darüber freuen. Einen Nachmittag bei Rubin war
tausendmal weniger schlimm als Kittys Zorn.
Und dann grinste Rubin. „Im Gegenzug …“
Oh.
Oh nein.
Kein Gegenzug. Nur ein Einbahnzug. Ein Hinzug. Rückzug!
„Keine Panik, Vyvyan“, sagte er grinsend, „ich will nichts
Schlimmes.“
„Sondern?“
„Hm …“, machte er und betrachtete mich einen Moment lang. „Einen
Gefallen.“
„Der da wäre?“
„Das sage ich dir, wenn es so weit ist.“
Und das, liebe Damen und Herren, war das erste Mal in einer gefühlten
Ewigkeit, dass mir seine Grübchen unheimlich waren.
„Wieso nicht jetzt?“
„Weil du dann zu viel Zeit hättest, dir tausend Gründe zu überlegen, warum
du ihn mir nicht erfüllen kannst.“
Das hörte sich nicht gut an. „Ich dachte, du willst nichts Schlimmes?!“
„Tue ich auch nicht. Es ist völlig harmlos.“ Das Grinsen wurde kurz
unverschämt. „Sogar völlig jugendfrei.“
Na, wenigstens etwas.
„Warum sollte ich mir dann Gründe dagegen ausdenken?“
„Vielleicht täusche ich mich ja auch und du wirst ihn mir ohne Murren
erfüllen. Aber ich will kein Risiko eingehen.“ Er lächelte. „Deal?“
Hatte ich denn eine Wahl, wenn ich Kittys Vergebung wollte?
… In letzter Zeit hatte ich oft keine richtige Wahl. Damit musste ich
schnellstens aufhören.
„Deal“, brummte ich, „und jetzt lass uns endlich den Film sehen, bevor ich
wieder müde werde.“
Er nickte, nahm mir meinen Teller ab, wählte die Sprache und drückte auf Start.
Was zum Hades wollte er für einen Gefallen von mir?
*********
Er lag da und sah mich an. Alles was ich denken konnte, war: Ich hätte ein
kleineres Bett aussuchen sollen. Am besten ein Kinderbett.
… Obwohl, nein. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn wir trotz des großen
Bettes so nah beieinander gelegen hätten, als wäre es ein Kinderbett. Aber
darauf konnte ich wohl lange warten.
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