Nikki-Graus hatte sein Abenteuer beendet, Weihnachten war gerettet und die
schaurig-schöne Musik, die fast jeder kannte, leitete den Abspann ein. Rubin
neben mir gähnte leise, schaltete den DVD-Player aus und das Licht an.
„Ich bin müde.“
Ja, das sah man ihm an, sogar dann, wenn man, wie ich gerade, geblendet
war.
Ich nickte, nahm unsere Teller und brachte sie in die Küche, wo ich sie
halbpatzig abspülte und in den Geschirrspüler packte. Rubin schob unterdessen
den Fernseher wieder an seinen angestammten Platz und kam dann zu mir, murmelte
ein Danke, ging vor mir in den ersten Stock hinauf.
Mein Magen fand offensichtlich, dass Treppensteigen ein guter Zeitpunkt
war, um mit neumodischen Mätzchen anzufangen. Und mit jeder Stufe wurden sie schlimmer.
Rubin öffnete ein Schränkchen im Bad und griff sogar in seinem übermüdeten
Zustand zielsicher nach einer neuen Zahnbürste – so zielsicher, dass
ich mir wiederum sicher war, dass er nicht das erste Mal jemandem eine
Zahnbürste gab, obwohl er fast aus den Latschen kippte. Hm. Das … hm.
„Hier, Zahnbürste. Der Waschlappen da, der rechte, ist auch frisch. Das
rechte Handtuch auch. Ich schau noch mal nach Betsy; du weißt ja, wo das Bett
steht.“
Ich nickte, auch wenn mir bei dem Gedanken nicht so wohl war. Sicher, ich
wusste, wo das Bett stand – wo ein Bett, nämlich seines,
stand. Und ich wusste auch, dass es, genauso wie der Raum an sich, groß genug
für zwei war, aber – wie sagt man so schön? Die Größe ist nicht
wichtig – und das galt auch für mich, denn auch wenn ein breites Bett
besser als ein schmales Bett war, war es immer noch ein einziges Bett
und mir ein einziges Bett mit Rubin zu teilen erschien mir nicht gerade
wie die beste Idee des Jahrhunderts.
Ich hätte schwören können, das Wort kam nicht aus meinem Mund, sondern aus
meinem Bauch. Zumindest aber war der eindeutig dafür verantwortlich.
Rubin blieb stehen und drehte sich zum mir um. Außer, dass er immer noch
saumüde war, konnte ich nichts in seinem Gesicht lesen.
„Vyvyan, ich habe nicht vor, über dich herzufallen; du warst
Weihnachten deutlich genug.“ Er zögerte minim, dann zuckte er mit den
Schultern. „Ich kann auch auf der Couch schlafen, wenn’s dir lieber ist.“
Ja, bitte?
Oder … nein, das war – übertrieben. Und käme ganz
schlecht, jetzt, nachdem er mir versichert hatte, dass er keine unlauteren
Absichten hatte, nicht wahr? Doch.
Seit wann interessierte es mich, was bei Rubin gut oder schlecht kam?
„Schon gut. War nur … eine Frage. Ich … sorry.“ Er sah mich
zweifelnd an. „Wirklich. Ich putz mir jetzt die Zähne. Danke.“
Wow, ich war heute eindeutig die Eloquenz in Person. Aber Rubin schien
entweder zufrieden zu sein oder aber entschieden zu haben, dass ihm das zu blöd
wurde, denn er zuckte noch einmal mit den Schultern und verließ das Bad.
Nach meiner Katzenwäsche trottete ich brav in sein Zimmer und zog mich bis
auf die Unterwäsche aus. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich das Shirt
anbehalten sollte, aber dann bekam ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich hatte
keinen Grund, ihm zu misstrauen. Angelogen hatte er mich meines Wissen bisher
nicht.
Also zog ich das Shirt aus, legte alles halbwegs ordentlich auf den
Schreibtischstuhl und ging zum Bett zurück. Und während ich auf die Seite an
der Wand kroch, ignorierte ich die leise Stimme in mir, die der Meinung war,
dass ich das Shirt nicht nur wegen Rubin hatte anbehalten wollen. Das war
lächerlich. Genauso, wie es lächerlich war, dass mein Nacken kribbelte, als ich
den Duft seiner frisch gewaschenen Bettdecke einsog.
***
Kurz nachdem ich mich in unter die Decke verkrümelt hatte, hörte ich erst
Schritte, dann Geräusche aus dem Bad und schließlich sah ich ihn. Er blieb kurz
im Türrahmen stehen, ein träges Lächeln auf den Lippen, das nicht ganz für
Grübchen reichte; dann warf er mir ein Kissen zu, das ich etwas ungeschickt
auffing und löschte das Deckenlicht. Kam rüber, knipste die Nachttischlampe an
und zog sich aus. Zuerst das langärmelige, enge Shirt über den Kopf, dann die
Socken – wer zog bitte sehr die Socken vor den Hosen aus? Das war
doch umständlich – andererseits sah es durchaus nicht schlecht aus,
als er barfuß und oben ohne dastand, die Haare vom Shirtausziehen leicht
verwuschelt, allem Anschein nach in Gedanken versunken, und als er dann, immer
noch in Gedanken und zumindest in meinen Augen fast in Zeitlupe, die Hände an
den Knopf der Hose legte, ihn öffnete …
Ich schluckte trocken. Nein, das sah alles andere als schlecht aus. Alles
andere.
Scheiße.
Schwulsein wäre so viel leichter, wenn man den Zeitpunkt, an dem die eigene
schwule Seite raus durfte, selbst bestimmen könnte. Leider ging das aber
nicht – oder noch nicht, vielleicht fand da ja ein Wissenschaftler
einmal etwas und die Medien bauschten es als Durchbruch auf, genauso wie bei Viagra
damals, um uns von der Tatsache abzulenken, dass die Heilung für Krebs und Aids
und Hunger und Armut und Krieg immer noch auf sich warten ließ. Ich wäre
besagtem Wissenschaftler trotzdem dankbar, vor allem, wenn er das innert der
nächsten paar Jahre tun könnte – am besten gleich morgen, danke sehr.
Der Reißverschluss surrte nach unten, Rubins Hände wanderten hinauf, zum
Hosenbund, die Daumen hakten sich ein –
„Enjoying the show?“
Mein Blick schnellte nach oben. Sein Grinsen sagte alles.
Ich schnaubte.
„Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht im Stehen eingeschlafen bist.“
Würde ich schnell rot werden, hätte ich in dem Moment sicher die kleine
Lampe in meiner Nähe verwünscht.
Er zuckte mit den Schultern, zog die Hose endlich fertig aus, warf sie zu
den anderen Sachen über den Stuhl und kam zum Bett. Kurz blieb er davor stehen
und hob eine Augenbraue.
„Eigentlich habe ich dir das Kissen mitgebracht, damit du meines nicht zu
benutzen brauchst.“
Ich warf einen kurzen Blick auf das Daunenkissen im geblümten Bezug, dass
auf seiner Seite lag, während ich es mir mit seinem, passend zum übrigen
Bettzeug anthrazitfarbenen, gemütlich gemacht hatte.
„Warum? Stört es dich?“
„Nein“, antwortete er und hob die Decke an, „aber ich frage mich gerade,
was du gemacht hättest, wenn ich das zweite Kissen vergessen hätte.“
„Das wäre dein Pech gewesen, ich habe ja eines.“
Seine Augen blitzten amüsiert auf, fast, als ob ich gerade etwas sehr
Anzügliches gesagt hätte – hatte ich aber nicht, oder?
Nein. Wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Vielleicht nervte
er sich ja im Stillen gerade über mich – obwohl, so sah er wirklich
nicht aus, als er sich – auf seiner Seite, wohlgemerkt und somit mit
genügend Sicherheitsabstand – zu mir legte. Er drehte das Gesicht zu
mir.
„Gute Nacht, Vyvyan.“
„Nacht.“
Ein letztes Lächeln, dann knipste er die Lampe aus und es wurde
augenblicklich stockduster. Ich hörte ein zufriedenes Seufzen, fühlte die
Bewegungen der Matratze, als er sich zurechtruckelte, und war mir trotz des Abstandes
zwischen uns sicher, ganz, ganz entfernt Zitronengras riechen zu können.
Würde er morgen wieder so viel lächeln?
***
Morgen.
Wann kam morgen?
Hoffentlich bald. Es war ja schon spät, respektive früh, also konnte es
nicht mehr lange dauern – nur leider war ich im Moment so gar nicht
in Schlaflaune. Rubin neben mir atmete ziemlich friedlich und schlief
wahrscheinlich schon, aber ich, ich lag hier und wollte mal wieder schlafen und
konnte es nicht, weil … nun, weil … wahrscheinlich, weil ich bereits auf Betsy
geschlafen hatte und mein Körper nun im Morgenmodus war. Und es war ja auch
Morgen, theoretisch, nur eben noch zu früh. Normalerweise machte es mir nichts
aus, wenn ich in der Nacht geweckt wurde, denn manchmal, wenn Kitty nicht
schlafen konnte, dann kam sie zu mir und versuchte, bei mir zu
schlafen – und wenn das nicht funktionierte, dann weckte sie mich
kurzerhand, damit ich ihr beim Einschlafen half. Nicht besonders nett, aber
eben Miss Kitty.
Vielleicht hatte es auch etwas Gutes, wenn ich hier übernachtete: Dann
konnten wir gleich morgen früh Englisch hinter uns bringen und ich kochte ihm
zu Mittag und dann konnte ich den Nachmittag mit Kitty
verbringen – das war auch wieder einmal nötig, ich hatte das Gefühl,
als sei es schon Ewigkeiten her. Vielleicht hatte Sue ja auch
Zeit – obwohl, es war Dezember, das hieß, solange sie nicht arbeiten
musste, hatte sie Zeit; schlimm wurde es bei ihr im Januar, da igelte sie sich
mit ihren Hausarbeiten ein – und wenn sie Zeit hatte, dann konnten
wir ja vielleicht alle drei zusammen in die Innenstadt. Darauf hätte ich
wirklich Lust; ein Nachmittag mit meinen beiden Schwestern, an dem ich an
nichts anderes denken musste, als daran, wo wir wohl die besten Waffeln
bekommen würden. Das würde sich, ganz nebenbei, sicher auch positiv auf Kittys
‚Vergebung‘ auswirken …
Wenigstens das hatte ich schon geregelt. Auch wenn ich nicht wusste, was
ich von seiner Forderung halten sollte: Was für einen Gefallen würde er
verlangen? Als er es gesagt hatte, hatte zumindest ein Teil von mir an eine
bestimmte Art von ‚Gefallen‘ gedacht, aber hatte ‚jugendfrei‘ gesagt und
nachdem er vorhin auch noch meinte, ich sei deutlich genug gewesen …
Aber was konnte er sonst von mir wollen? In der Schule hatte er keine
Probleme – schulisch zumindest, und für die sozialen schien er sich
nicht zu interessieren – Kochunterricht bekam er ja sowieso und
sonst … konnte ich mir nichts vorstellen, das ich ihm bieten könnte.
Oder, bei dem ich behilflich sein könnte – allerdings wusste ich ja
auch nicht gerade viel über ihn, wenn ich so darüber nachdachte. Vielleicht war
er leidenschaftlicher Modellflugzeugbauer und brauchte jemanden, der das Modell
hielt, bis der Leim getrocknet war? Oder aber er war im Jungenchor und brauchte
musikalische Begleitung beim Üben? Da würde ich ihm aber nicht helfen können,
die Orgel war nicht mein Instrument. Das Piano auch nicht; ich war eher dem
MP3-Player zugetan.
Vielleicht brauchte er ja auch Hilfe, ein Mädchen anzusprechen? Bei seiner
Sozialkompetenz …
Mädchen?
Wohl eher nicht, oder?
Oder doch? Verdammt, ich wusste noch nicht einmal, ob er schwul oder bi
war – oder aber ein Hetero, der sich nur ab und zu am anderen Ufer
ein wenig Abwechslung verschaffte.
Was ich wusste, war, dass er britische Filme guckte – zumindest
zwei – obwohl, den einen hatte er ja noch nicht gesehen …
Aber ich wusste, dass er ganz annehmbaren Buchgeschmack hatte. Immerhin hatte
er Eliaseis gehabt und wohl auch gelesen – obwohl das ja nicht
hieß, dass es ihm gefallen hatte. Tatsache war, dass er es bei der ersten
Gelegenheit einem Typen aus seiner Klasse gab, den er ebenso wenig kannte wie
ich ihn. Klar, mein Ego wollte das als Pluspunkt für meinen unwiderstehlichen
Charme werten, aber mal ehrlich … das konnte auch anders interpretiert
werden. Und Mum hatte zumindest darin Recht gehabt, dass ich das Wochenende
über nicht besonders nett zu ihm gewesen war.
Was also wusste ich wirklich über ihn? Dass er in meine Klasse ging;
dass er Schülerratspräsident war; dass seine Familie aus Amerika kam, irgendwo
im Süden – Louisiana, hatte er gesagt; dass er Megan seit ihrer
Kindheit kannte; dass er in Amerika auf die Uni gehen wollte; dass er, ebenso
wie ich, Mathe als Leistungskurs gewählt hatte und Englisch nicht.
… Dass er ein guter Nachhilfelehrer war.
Und Jungs zumindest nicht abgeneigt.
Und … er war blond. Und ein Chaot, was sein Zimmer betraf.
Er brachte manchmal dumme Sprüche, die ab und an ins Anzügliche
abrutschten. Er sprach mehr, als man ihm zutrauen würde, wenn man ihn nur von
der Schule kannte.
Und sein Haare rochen nach Zitronengras.
Aber das alles brachte mich hinsichtlich des Gefallens nicht weiter; im
Gegenteil, es machte mir nur deutlich, dass ich von alleine wohl nicht darauf
kommen würde. Wunderbar.
Noch besser fand ich aber, dass ich momentan meilenweit davon entfernt war
einzuschlafen. Wie auch? Wenn dieser Gefallen wie das Schwert des Damokles über
mir hing?
Okay, vielleicht übertrieb ich ein klitzekleines bisschen, aber Tatsache
war, dass ich so schnell nicht in Morpheus’ Armen liegen würde, wenn ich mir
weiterhin Gedanken über seine dumme Gegenleistung machte. Und wahrscheinlich
war es wirklich etwas Dummes und Ordinäres, wie die Katze zu füttern, wenn er
weg war, oder so. Genau.
Sobald er mir das bestätigte, würde ich auch schlafen können. Immerhin
hielt er sich an das – konnte man es ein Versprechen nennen? Ich
meine, er versuchte nichts Unanständiges. Nichts, wie das letzte Mal, als wir
nachts alleine in einem Zimmer gewesen waren – und da hatten wir uns
noch nicht einmal ein Bett geteilt. Und das Mal davor, als wir alleine zu Hause
gewesen waren …
Vorhin, als er sich ausgezogen hatte, so gemütlich, fast
schon … lasziv, ja, so war es mir vorgekommen,
lasziv – jedenfalls hatte ich da ganz kurz gedacht, dass er sich
nicht an das Versprechen halten würde. Und, also –
… Natürlich hätte ich ihn abgewiesen. Ganz klar, schließlich hatte
sich nichts geändert. Nur – vielleicht hätte ich – wegen
des Schocks, versteht sich – ein oder zwei Sekunden gezögert. Oder
fünf. Mehr nicht, klar. Aber es hatte sich eben wirklich nicht schlecht
angefühlt, wenn er mich berührt hatte. Weder beim ersten Mal an der Tür noch
beim zweiten Mal im Bett – klar hatte es das nicht, das war ja
das verfickte Problem am Schwulsein!
Und was, zum Hades, dachte ich schon wieder daran? Was sollte das
denn bringen?!
Ich musste endlich schlafen. Schlafen und alles vergessen. Immerhin wollte
er doch genau das von mir, oder? Einen Neuanfang – und er hatte ihn
auf heute in der Küche angesetzt. Seit heute in der Küche aber hatte er mich
nicht so berührt. Wenn ich also mitspielen wollte, sollte ich ihm besser
den Gefallen tun und seine Berührungen vergessen. Schien ihm ja auch nicht
schwerzufallen. Vorhin im Bad hatte er jedenfalls nicht den Eindruck gemacht, als
ob er es besonders schade fände, das nichts laufen würde. Nein, dafür war er,
unter der Müdigkeit, schon wieder in seine Schulstimme verfallen – die
sollte er besser vergessen, wenn er einen Neuanfang wollte. Ansonsten würde er
nicht lange schubladenfrei bleiben.
Und was wollte er jetzt von mir, als Gegenleistung?
Ach, verdammt! Das war doch blödsinnig, dass ich mir hier den Schlaf von so
einer Bagatelle rauben ließ. Rubin lachte mich wahrscheinlich insgeheim aus.
Oder würde es, wenn er es wüsste.
… Scheiß drauf!
Ich zögerte noch einen Moment, doch dann fragte ich leise in die
Dunkelheit: „Rubin?“
Als Antwort kam ein Brummen, das man mit viel Fantasie in ein ‚Hm?‘ verwandeln konnte.
„Bis du noch wach?“
Es dauerte einen Moment, dann: „Für dich doch immer.“
Ich rollte die Augen. So viel zu den dummen Sprüchen. Aber, erinnerte ich
mich, besser Sprüche als Schulstimme. Oder Ignoriertwerden.
„Was für einen Gefallen?“
Er, äh … schnaubte amüsiert? Ja, das beschrieb das Geräusch am
ehesten.
„Ganz ehrlich?“
„Ja.“
„Ich weiß es noch nicht, Vyvyan.“
„Nein?“
„Nein.“
„Aber du hast doch gesagt, du willst es nicht im Voraus sagen, weil ich mir
sonst Gegenargumente einfallen lasse?“
„Stimmt auch. Wenn mir etwas einfällt, werde ich warten, bis es soweit ist
und dich erst dann einweihen.“
„Aber nichts Un-jugendfreies?“
„Nein. Außer, du möchtest es gern?“
Nun schnaubte ich. Darauf würde ich nichts antworten.
„Du weißt es wirklich nicht?“, versicherte ich mich stattdessen noch
einmal.
Unschön. Das brachte mich kein Stück weiter.
Wir schwiegen eine Weile und ich dachte schon fast, dass er sich wieder auf
dem Weg ins Traumland befand, als er das Gespräch wieder aufnahm.
„Stört dich das?“
Dass weder er noch ich wussten, was auf mich zukam?
„Ja.“
„Soll ich mir was ausdenken?“
Gute Idee.
„Ja.“
„Jetzt?“
„Ja.“
Wann denn sonst?!
Bei seinen nächsten Worten hörte ich das Grinsen nur allzu deutlich heraus.
„Sicher?“
„Nichts Versautes!“, erinnerte ich ihn gleich und er lachte tonlos.
„Das habe ich dir doch bereits gesagt; solange du deine Meinung nicht
änderst, werde ich mich nicht mit dieser Absicht nähern.“
„Dann ja. Jetzt bitte.“
Moment – was hieß hier ‚solange du deine Meinung nicht
änderst‘? Das ‚solange‘ war völlig überflüssig und sollte mit einem ‚da‘
ersetzt werden. Schließlich würde sich nichts ändern. Scheißegal, wie gut er
vorhin ausgesehen hatte oder wie sehr mein Nacken schon wieder kribbelte.
„Hm …“, machte er nachdenklich, „ich nehme an, du möchtest die Schuld
so schnell wie möglich begleichen?“
‚Schuld‘? Also bitte, das war doch keine Schuld! Es war ein Gefallen, das
war etwas vollkommen anderes. Aber …
„Ja.“
„Wie wär’s mit jetzt gleich?“
Wie, jetzt? Was könnte ich denn jetzt und hier für ihn …
„Nichts Versautes!“
Im Gegensatz zu mir blieb er ruhig und erwiderte süffisant: „Du denkst auch
immer nur an das Eine, oder?“
Wessen Schuld war das denn, häh?
„Also, was ist jetzt? Es ist auch etwas ganz Unschuldiges.“
So ganz glaubte ich ihm nicht, aber ich konnte ihn ja immer noch aus dem
Fenster werfen, wenn er sich nicht benahm – oder nein, nur aus dem
Bett. Ich würde ihn morgen früh schließlich noch brauchen, damit er Betsy Feuer
unterm Hintern machte.
„Okay …“ Ich hörte selbst, wie skeptisch das eine Wort daherkam, aber
Rubin ignorierte es und seufzte zufrieden. „Was willst du?“
„Ich schlafe alleine schlecht ein.“
Das war nicht mein Problem.
„Wenn du denkst, ich komme jetzt jeden Abend vorbei sing dir ein
Schlaflied …“
„Ich hatte nicht an jeden Abend gedacht, sondern nur an
heute – aber deine Idee gefällt mir besser“, unterbrach er mich und
seine Stimme hörte sich plötzlich distanziert an. Und spöttisch. Schulstimme,
von null auf fünfundneunzig Prozent. „Schön, dass du mitdenkst, Vyvyan.“
„Hör auf mit dem Scheiß!“, knurrte ich und stemmte mich auf die Ellbogen.
Ich konnte zwar nur gerade so seine Umrisse erkennen, aber trotzdem sah ich ihn
wütend an. Das gehörte einfach dazu. „Wenn du wieder herablassend wirst, können
wir den Neuanfang auch gleich in die Tonne werfen.“
Warum zum Hades kam er mir denn jetzt mit seiner Schulstimme? Was hatte ich
gemacht, um das zu verdienen?
„Sorry“, machte er nach einem Moment und seufzte, „Aber das mit den
Einschlafproblemen war mein Ernst.“
Ja, klar. Weil man ja nicht die meisten Zeit alleine einschlafen
musste – oder wollte er mir jetzt etwa weismachen, seine Mutter würde
sonst immer die Gutenachtgeschichte vorlesen?
„Und was machst du sonst dagegen?“
„Sonst habe ich meine Decke.“
„Und die singt dir was vor?“
„Nein“, entgegnete er ein wenig schärfer, als ich erwartet hatte, „aber die
ist groß genug, dass ich eine Hälfte zerknautschen kann und trotzdem zugedeckt
bin.“
Zerknautschen? Wozu wollte er die Decke … oh. Wie jetzt, sagte er
mir gerade, dass er die Decke umarmen musste, um einschlafen zu können?
„Aber wenn ich das jetzt tue“, fuhr er mit komplett neutraler Stimme fort,
„dann bleibt keine Decke für dich übrig und ich fürchte, dass du mich dann
umbringst.“
Tatsache. Ein Ami mit gesundem Menschenverstand – wer hätte das
geda…
Nein. Ich musste damit aufhören. Ihn in Gedanken zu beschimpfen, nur, weil
mich die Richtung, die das Gespräch nahm, nervös machte, brachte nichts.
„Und was soll ich jetzt dagegen tun? Deckenersatz spielen?“
„Ja.“
Ja – ja?!
„Du hast gesagt, nichts Versautes!“.
„Seit wann ist unschuldiges Kuscheln versaut?“
„Wenn du kuscheln willst, kauf dir gefälligst einen Teddy!“
Kuscheln – der hatte sie doch nicht mehr alle!
Kuscheln!
„Dafür ist es jetzt ein bisschen spät.“
„Ich werde garantiert nicht mit dir kuscheln!“
Ich stierte ihn wütend an, aber Rubin blieb regungslos auf dem Rücken
liegen. Lag vielleicht daran, dass er meinen Blick nicht sehen konnte.
„Wie du meinst“, gab er ruhig zurück, „Ich dachte nur, das würde zwei
Fliegen mit einer Klappe schlagen: Ich könnte einschlafen und du mir den
Gefallen tun, ohne wirklich etwas davon mitzubekommen – sobald du
ebenfalls eingeschlafen bist.“ Ohne was mitzubekommen, klar. Also bitte. „Dann
werde ich mir morgen etwas ausdenken.“
Kuscheln. Also bitte. Als würde ich je freiwillig mit ihm kuscheln.
„Gute Nacht, Vyvyan.“
Ich brummte eine Antwort und starrte an die Decke, obwohl ich sie nicht
sehen konnte. Auch scheißegal, Decken waren für gewöhnlich eh nicht besonders
interessant.
Wie kam er darauf? Ich meine, es war klar, dass er mich nur
verarschen wollte, aber dennoch. Und mein blöder Nacken kapierte das natürlich
nicht und fing bei der Vorstellung schon wieder mit Kribbeln an.
Obwohl … wenn ich ehrlich war, hatte er damit nicht mehr aufgehört,
seit wir zu Bett gegangen waren. Wie lange das wohl her war?
Das war aber auch wirklich eine selten beschissene Idee. Wenn ich nicht mit
ihm rummachen wollte, warum sollte ich dann kuscheln wollen, hm?
Vor allem, wenn er in dem Ton fragte. Keine Ahnung, wie er denken konnte,
damit Erfolg zu haben. Mittlerweile sollte er doch bemerkt haben, dass die
Schulstimme nicht besonders gut bei mir ankam – schließlich war er
sonst doch auch ein Schnellmerker.
Ein wenig seltsam war die Bitte dennoch. Vor allem in dem
Ton – klar, er wollte mich verarschen oder provozieren, der Gefallen
war nie und nimmer ernst gemeint gewesen, aber – irgendwie hatte er
nicht amüsiert geklungen. Noch nicht mal versteckt und – also, das
tat er sonst, wenn er sich über mich lustig machte – oder mich
provozieren wollte. Ja, provozieren traf es eher; gerade konnte ich mich nicht
daran erinnern, wann er sich das letzte Mal wirklich lustig über mich gemacht
hatte. Seine Begrüßungen in der Schule vielleicht … aber auch wenn
ich mich über die aufgeregt hatte und so … ich hatte mich nicht
schlecht gefühlt wegen ihnen. Und das gehörte dazu, wenn jemand sich über einen
lustig machte.
Aber die neutrale, distanzierte Art, mit der er eben geredet hatte, die
hatte verdammt wenig Provokantes an sich. Irgendwie …
Egal. Nicht mein Problem, wenn er zu müde war, um seine Spielchen richtig
zu spielen. Tatsache war, es war nie und nimmer sein Ernst gewesen.
Wahrscheinlich hätte er ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt, wenn ich
angenommen hätte. Nicht, dass er nicht zum Trotz dann doch gekuschelt hätte,
aber alleine daran, dass er so schnell aufgegeben hatte, war doch zu sehen,
dass es ihm nicht ernst gewesen war.
Natürlich war es das nicht. Mal ehrlich, wenn überhaupt, wäre mir so
eine Frage eher peinlich. Welcher Kerl über zehn gab schon gerne zu, dass er
ohne Kuscheln nicht einschlafen konnte?
Kuscheln, pf.
Dumm nur, dass ich jetzt doch auf den Gefallen warten musste. Und wenn er
aus dem Stehgreif mit so etwas ankam, auf was würde er kommen, wenn er
genug Zeit hatte, um sich etwas auszudenken?
Oh, kein guter Gedanke. Klar, ich konnte immer noch Nein sagen, hatte ich
eben ja auch getan, aber … wie oft? Und was, wenn er sich immer
schlimmere Sachen ausdachte? Das Gefühl, ihm was schuldig zu sein, war so schon
unschön genug, ich wollte das nicht unnötig in die Länge ziehen.
Ganz Unrecht hatte er auch nicht: Sobald ich eingeschlafen war, konnte es
mir egal sein, ob er sich an mich kuschelte oder nicht. Ganz abgesehen davon,
dass das im Schlaf sowieso passieren konnte.
Aber kuscheln war so … gar nicht mein Ding. Mit Kitty schon,
klar. Da kuschelte ich total gerne. Mit Sue auch. Aber bei Fee sah die Sache
schon wieder anders aus. Klar tat ich es, gehörte schließlich zum Programm,
aber … es war so langweilig. Man tat nichts als rumzuliegen. Wenn
man dann wenigstens den Fernseher einschalten konnte oder im Kino war oder so,
aber manche Mädchen wollten ja nur kuscheln, ohne Ablenkung. Einfach nur
zusammen auf dem Sofa sitzen und … kuscheln eben. Keine Ahnung, was
das sollte. Wenn ich ehrlich war, kam mir das immer so erzwungen vor, als
hätten sie das Gefühl, dass so etwas zu einer gut funktionierenden Beziehung
eben gehörte und sie es deswegen tun wollten. Mit Kitty kuschelte ich ja auch
nicht nur so um des Kuscheln Willens, sondern, wenn wir dabei was anderes
taten. Lesen, Hörbücher hören, Flimmerkasten anbeten, Familienpläuschchen
halten, irgendwas. Kuscheln war nur Sekundärhandlung.
Eigentlich war ja nichts dabei, wenn man so darüber nachdachte. War ja
nicht, als ob da irgendwas Sexuelles dran war – nicht, solange er
sich an sein Versprechen hielt. Dann war es auch kein Schritt nach vorne
hinsichtlich … des Intermezzos an meiner Zimmertür und allem, was
damit in Verbindung stand.
Gleichzeitig war es aber garantiert trotzdem eine schlechte Idee. Ich war
mir jetzt, da wir auf verschiedenen Seiten des Bettes lagen, bereits
überdeutlich bewusst, dass wir uns eine Decke teilten und dass ich nur den Arm
ausstrecken müsste, um …
Und mein Nacken kribbelte auch immer noch. Das war langsam gruselig. Was,
wenn das ein Krankheitssymptom oder so war? Ich sollte Mum mal fragen.
War es schlimm, dass ich schon fast hoffte, dass es sich tatsächlich als
ein Symptom für etwas Medizinisches herausstellte?
Nein, auch wenn an kuscheln an sich nichts Sexuelles war, wäre kuscheln mit
Rubin, in seinem Bett, eine denklich schlechte Idee. Auch wenn es verlockend
war, den Gefallen so schnell wie möglich abzuarbeiten …
Ach, verdammte Scheiße! Wem machte ich hier eigentlich etwas vor?
Der dumme Gefallen war nur eine noch dümmere Ausrede. Tatsache war, dass ich im
Bett mit einem anderen Kerl lag und der Teil, von mir, der – also,
dass ich – dass meine schwule Seite gerne noch einmal seine
Nähe gespürt hätte. Auch – nein, gerade, wenn es nicht in Rummachen
enden würde. Einfach nur, um zu sehen, ob es sich trotzdem gut anfühlen, ob es
trotzdem anders sein würde als mit … Freundin oder Familie. Auch,
wenn ich ihn nicht sehen konnte. Auch, wenn ich ihn nicht leiden konnte.
… Nicht so richtig, zumindest. Eigentlich war er heute ja wieder ganz
erträglich gewesen und, also … wenn wir das mit dem Neuanfang
wirklich durchziehen würden und ich ihn nur anhand von heute beurteilen müsste,
dann … ja. Ganz erträglich. Für einen Ami.
Meine ‚schwule Seite‘. Hm, ja. Nicht, dass da auch eine heterosexuelle
Seite an mir gewesen wäre, aber so hörte sich das fast okay an. Einfach zu
managen. Nicht ganz so … endgültig. Nicht ganz so aussichtslos.
Und ich wollte es wirklich, irgendwie, wenn ich ehrlich
war – seine Nähe spüren. Und es wäre ja auch nicht so, als würde ich
dadurch irgendetwas Neues erfahren. Wir waren definitiv schon weiter gegangen.
Und – und vielleicht stellte sich ja heraus, dass mir kuscheln mit
ihm genauso wenig gefallen würde wie kuscheln mit meinen Exfreundinnen.
Irgendwie beruhigend, die Vorstellung, auch wenn ich nicht tiefer nachforschen
wollte, warum dem so war. Nein.
Und wenn nicht, wenn kuscheln mit ihm besser war, dann … dann
wusste ich es wenigstens. Wissen war schließlich Macht – je besser
man den Feind kannte, desto eher und einfach konnte man ihn besiegen, das war
simple Logik.
Gut, vielleicht war es nicht die beste Idee, die eigene Homosexualität als
Feind zu bezeichnen, aber … zumindest war sie der natürliche,
angeborene Feind meiner Lebensplanung.
…
Bildete ich mir das nur ein oder war das keine besonders gesunde
Einstellung? So auf kurz oder lang?
…
Ach, Scheiße. Alles Scheiße.
Und Rubin lag immer noch stockstill neben mir, ohne einen Pieps zu machen.
Oder sich zurechtzuruckeln oder irgendwas. Okay, ich auch,
aber … aber ich konnte eh nicht schlafen. Ich hatte ja auch
bereits geschlafen, während des Films. Und ob ich einen Meter von Rubin
entfernt steif dalag und mich nicht zu rühren wagte und nicht einschlafen
konnte, oder gleich neben ihm, war letztendlich doch auch scheißegal.
Und theoretisch war es sowieso auch besser mit ihm zu kuscheln als mit,
keine Ahnung, Kim – abgesehen davon, dass Kim nicht kuscheln wollen
würde, verstand sich. Ich mochte Rubin ja nicht, wenn er nicht gerade in
weihnachtlicher Urlaubsstimmung und deswegen seltsam erträglich war.
Ja. Ich mochte ihn nicht. Er war Ami und wegen ihm musste ich die Ferien
mit Englisch verbringen und – und wegen ihm hatte ich Kitty verärgert.
Und er war Außenseiter. Und unhöflich gewesen. Und Ami. Und …
Aber wie gesagt: Das hatte etwas Positives. Es war doch, so objektiv
gesehen, viel ungefährlicher gewisse Dinge mit jemandem zu erleben, den man
nicht mochte, zumindest dann, wenn man keinen Bock auf Nebenwirkungen hatte.
Nebenwirkungen wie feuchte Hände und Dauergrinsen und selbst zum Außenseiter
werden. Und das konnte mir hier ja nicht passieren, nicht wahr? Ganz egal, was
Mum sagte. Was wusste sie denn schon.
Irgendwie …
Also … irgendwie war es doch ein wenig erbärmlich, wenn man sich
nicht einmal selbst, noch dazu im Dunkeln der Nacht, eingestehen konnte, dass
man etwas einfach wollte. Die unschöne Wahrheit war: Ich wollte auf den
Vorschlag eingehen. Nicht, weil es ungefährlich oder einfacher oder irgend so
eine Scheiße war – ich wollte eben. Und die Gründe waren letztendlich
zweitrangig.
Erbärmlich war kein Wort, das ich gerne mit mir in Verbindung brachte.
Ach, scheiß drauf – so schlimm konnte es gar nicht werden, dass
es das ganze innere Drama wert war.
„Okay.“
Ich hatte leise gesprochen, aber das Wort schien trotzdem durch die Stille
des Zimmers zu hallen.
Ein paar Augenblicke lang war es still. Dann ebenso leise:
„Okay was?“
Ich revidierte: Es war wahrscheinlich doch keine gute Idee. Es war
vielleicht sogar eine absolut katastrophale Idee. Trotzdem hörte ich mich
sagen: „Dein Vorschlag. Okay.“ Und, weil es eine solch
katastrophale Idee war, fügte ich nach einer stillen Sekunde hinzu: „Unter
einer Bedingung.“
„Welche?“
„Falls meine Mutter oder sonst jemand aus meiner Familie auf die Idee
kommt, dich auch noch an Silvester einzuladen“, antwortete ich, „sagst du
höflich aber bestimmt ab. Auf jeden Fall, egal, was sie für Argumente
bringen.“
Ich hörte das Rascheln, als er sich zu mir drehte.
„Haben sie denn vor, mich einzuladen?“
„Bis jetzt habe ich noch nichts davon gehört, aber man weiß ja nie.“
Er zögerte einen Moment. „Kein Silvester bei dir zu Hause gegen kuscheln
heute Nacht – Deal. Wir haben einen Deal.“
„Und dafür kann ich Kitty übermorgen Betsy vorstellen.“
„Selbstverständlich.“
Wieder trat Stille ein. Wieso tat er denn nichts? Wieso –
„Bist … du sicher?“
Wie oft musste ich es denn noch sagen, verdammt noch mal?
„Willst du nicht mehr?“
Statt einer Antwort raschelte es erneut und die Matratze begann, sich zu
bewegen. Dann spürte ich eine Hand an meinem Oberarm, die sich zu meiner
Schulter hochtastete – und im nächsten Moment rückte er mit einem Mal
an richtig mich ran, legte den Kopf auf meine Schulter und eine Hand auf meine
Brust.
Zitronengras.
Haut an meiner Haut, ein Daumen, der gefühlte Millimeter von meiner
Brustwarze entfernt zweimal hin- und herstrich – mein Körper hatte in
dem Moment die Anschmiegsamkeit eines Steines. Zitronengras und Bienenschwarm
und Nacken und –
Oh Scheiße! So war das nicht geplant gewesen! Ich konnte ihn noch nicht einmal
sehen, nur fühlen und riechen und spüren und – und hören, ich hörte
seine leisen Atemgeräusche und trotzdem –
Oh Mist. Nicht gut. Gar nicht gut!
Wieso zum Hades trug er eigentlich kein T-Shirt? Bei mir hatte er auch
eines angehabt – wo wir grad dabei waren: Er hatte immer noch das
Hemd und die Unterwäsche, die ich ihm geliehen hatte.
Und sein Daumen fuhr immer noch über meine Haut. Das war streicheln. Ich
wollte nicht gestreichelt werden!
Aber sagen tat ich auch nichts. Er hatte kuscheln wollen, dann kuschelten
wir eben.
Schon wieder. Ich schob es auf ihn.
„Und das soll bequem sein?“, grummelte ich, mehr, um mich selbst abzulenken
als was anderes.
Er lächelte oder grinste oder schmunzelte an meiner Haut.
„Sehr.“
Na, wenigstens einer von uns war sich da sicher.
„Noch bequemer wäre es, wenn du deinen Arm zwischen uns hervorziehen und um
mich legen könntest – dann wäre er nicht so eingequetscht“, fügte er
an.
„Und wovon träumst du, wenn du schläfst?“
Diesmal war es eindeutig ein Grinsen. Mit Grübchen? Wahrscheinlich, aber
ich sah sie ja nicht. Leider – zum Glück. Oder so.
„Glaub mir, da passieren noch ganz andere Dinge – von denen ich
dir gerne erzähle, wenn du willst. Wie sehr soll ich denn ins Detail gehen?“
„Gar nicht, ich verzichte!“
Als ich in einer Sekunde meinen Puls raketenartig ansteigen spürte, wurde
mir bewusst, dass diese Position alles andere als vorteilhaft war. Verdammte
Scheiße. Hoffentlich bekam er das nicht mit.
Nach einer Weile nahm er die Hand von meiner Brust und verrenkte sich, bis
er mein Handgelenk, also das, an dessen Schulter er seinen Kopf gebettet hatte,
zu fassen bekam. Dann zog er meinen Arm um sich herum auf seine Hüfte, drückte
meine Hand gegen seinen Bauch.
„So kuschelt man richtig“, sprach’s, bevor ich mich beschweren konnte.
„Ich weiß, wie man richtig kuschelt“, erwiderte ich und wollte noch mehr
sagen, wusste aber plötzlich nicht mehr, was. Alles, was mir in den Sinn kam,
wäre entweder verhängnisvoll oder peinlich gewesen.
„Dann ist ja gut“, war seine ganze Antwort. Er seufzte, ruckte noch ein
bisschen näher und legte seine Hand wieder zurück auf meine Brust, um mit dem
Streicheln weiter zu machen.
Das konnte nicht wahr sein. Heute Nachmittag war noch alles gut gewesen,
wir hatten uns halbwegs zivilisiert aber distanziert verhalten und
nun – nun hielt ich ihn im Arm! In seinem Bett! Wie zum Hades
war das nur passiert?! Was hatte er in die verdammten Gnocchi gemixt, als ich
nicht hingeguckt hatte?!
„Soll ich wieder wegrutschen?“
Dieser – dieser verdammte Bastard!
Das fragte er doch jetzt nicht wirklich, oder? Ich hatte ihm dreimal
gesagt, dass er herkommen konnte, und ich würde ihm unter Garantie nicht auch
noch sagen, dass er bleiben sollte.
Was für eine Antwort erwartete er denn bitteschön? Wenn ich jetzt negativ
von ihm denken wollte, würde ich sagen, dass er das absichtlich tat, um mir
unter die Nase zu reiben, dass ich seiner Scheißbitte nachgegeben hatte. Aber
das wollten wir ja nicht, nicht wahr? Wir wollte ja einen Neuanfang und leere
Schubladen und all den Kack. Völlig überbewertet, allesamt.
Ich schwieg. Nein, darauf würde ich nicht antworten. Er hatte doch schon
bekommen, was er gewollt hatte. Er konnte mich kreuzweise.
Ich hatte nicht bemerkt, dass das Streicheln aufgehört hatte, bis er nach
zehn, vielleicht zwanzig angespannten Sekunden die Hand schon wieder wegnahm
und tatsächlich Anstalten machte wegzurücken. Instinktiv hielt ich dagegen und
drückte ihn, nur für einen Augenblick, leicht an mich. Dann wurde mir bewusst,
was ich tat und ich entspannte den Arm wieder. Ich Idiot.
Dennoch, die halbe Sekunde hatte ausgereicht, dass Rubin innehielt. Er
verharrte kurz, dann ließ er sich wieder gegen mich sinken und schmiegte sich
an mich.
Na also. Wenn ich ihm schon sagte, dass er herkommen konnte, dann sollte er
das verdammt noch mal auch tun! War ja seine Idee gewesen; ich hatte nur die
Katze füttern wollen.
***
Eine Weile lagen wir so da, dann seufzte Rubin.
„Vyvyan, entspann dich.“ Er sprach leise, tonlos, aber sein Wispern
hörte sich seltsam an. Gedrückt, irgendwie. „Es ist niemand hier, der über dich
urteilen könnte.“
Wie kam er jetzt darauf? Ich war nicht unentspannt, weil irgendwer
über mich urteilen könnte, sondern, weil das Streicheln nicht abgesprochen
gewesen war und weil das Zitronengras meinen Kopf benebelte und mein Nacken
immer noch kribbelte und mein Magen schon wieder mitmachte und mein Puls zu
schnell ging und vor allem, weil mein Körper offenbar vergessen hatte, dass
kuscheln absolut asexuell war. Das war so bescheuert. Er lag einfach nur da,
berührte mich noch nicht einmal stark, denn zwischen seinem und meinem Körper
waren außer an den paar Berührungspunkten mehrere Zentimeter Abstand. Und
dennoch wurde es immer schwieriger, still zu liegen.
„Du bist hier“, antwortete ich viel zu spät und viel zu unüberlegt.
„Ja, aber meine Meinung zählt nicht“, erwiderte er ruhig und ohne zu
zögern.
Ich schwieg. Was sollte ich dazu auch sagen?
Sein Daumen hielt wieder still.
Konnte er sich bitte mal entscheiden? Streicheln, nicht streicheln
– das hielt ja kein Mensch aus! Wie sollte ich mich entspannen, wenn er
dauernd was an der Situation änderte?
„… Oder?“ Nicht mehr ohne Zögern. Leiser.
Ich konnte nicht antworten. Ich wollte auch nicht, wollte nicht einmal über
eine Antwort – nein, noch nicht einmal über die Frage nachdenken. Es
war immerhin nicht meine Schuld, dass er so seltsam drauf war, seit wir in
seinem Bett lagen.
Statt dass der Daumen seine Tätigkeit wieder aufnahm, fuhr plötzlich mit
der flachen Hand über meine Schulter zum Hals und wieder zurück zu meiner
Brust, darüber hinweg über meine Rippen zu meiner Seite.
Ich zog unwillkürlich die Luft ein und fragte mich im nächsten Moment, ob
es unauffälliger war, sie weiterhin anzuhalten oder versucht langsam wieder
herauszulassen. Verdammt, das war nicht gut, das war gar nicht gut. Mein Puls
war schon wieder außer Kontrolle und seine Hand hatte kur genau über meinem
Herzen gestoppt, von seinem Ohr auf meiner Schulter ganz
abgesehen – es war unmöglich, dass er es nicht mitbekommen hatte. Wo
waren schwarze Löcher, wenn man sie brauchte? Alles andere wäre nicht tief
genug, um darin zu versinken. Nicht jetzt.
„Ich bin immer noch dafür, dass du dir einen verfluchten Teddy kaufst!“,
beschwerte ich mich, um von … allem abzulenken.
„Hm“, brummte er, „aber du bist besser als jeder Teddy – du bist
größer, wärmer und dein Herz schlägt.“
Soviel dazu, ob er meinen Puls bemerkt hatte oder nicht.
Bastard – da tat man ihm einen Gefallen und was tat er? Bastard!
Ich schnaubte, nahm meinen Arm unter ihm hervor und drehte mich mit einem
Ruck auf meine Seite, mit dem Rücken zu ihm. Er zögerte höchstens einen halben
Augenblick, dann rückte er auf, legte nun seinerseits seinen Arm um mich und
schmiegte sich an meinen Rücken – nur mit dem Oberkörper, zwar,
seinen Schritt hielt er brav auf Abstand von meinem Hintern – aber
dennoch: Löffelchen, wunderbar. Ganz großes Tennis.
Ich wünschte, Kirsten hätte jemand anderen gefragt, ob er mir nicht
Nachhilfe geben konnte. Vor Rubin war alles viel einfacher gewesen.
*********
Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich würde so doch nicht einschlafen können.
Nicht, wenn er neben mir lag, wenn ich mich nur auf die Seite drehen, ein
bisschen näher rutschen und den Arm ausstrecken musste, um ihn zu berühren.
Vielleicht wäre das Sofa doch die bess… wem machte ich was vor? Ohne seine
direkte Aufforderung wäre ich da nie und nimmer hin.
Vielleicht konnte ich ja später ein wenig näher rücken, wenn er
schlief. Ganz vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, nur ein bisschen, nur
eine Hand an seinem Arm –
Nein. Er wollte ja nicht.
Fuck!
Wieso wollte er nicht? Wie konnte er ruhig daliegen und wahrscheinlich
einfach nur daran denken, dass er lieber zu Hause wäre, während ich schon alle
meine Selbstbeherrschung aufwenden musste, nur, um nicht die Hand
auszustrecken? So weit weg zu liegen, wenn mich alles zu ihm zog, das fühlte
sich … unnatürlich an. Aber offenbar nur für mich. Es war
schwer vorstellbar, dass er nichts davon mitbekam, dass sein ganzer Körper
nicht innerlich zu verglühen drohte, dass es ihm nicht fast unmöglich war,
ruhig liegen zu bleiben, aber … aber offenbar war es genau das.
Vyvyan, in meinem Bett. Das hörte sich echt gut an, in der Theorie. In der
Praxis war es das auch, nur schlafraubend. Und es wäre noch viel besser
gewesen, wenn kein Anstandsabstand zwischen uns wäre. Aber eigentlich wäre
alles viel besser ohne Anstandsabstand zwischen uns.
***
Oh, dammit!
Ich würde niemals schlafen können. Never ever. Damn,
er – er war so warm. Seine Haare kitzelten meine Nase, aber ich würde
den Teufel tun und mich bewegen – ansonsten erlebte er noch einen weiteren
Stimmungsumschwung und entschied, dass kuscheln doch nicht okay war.
Please, don’t.
Keine Ahnung, wie ich überhaupt auf den Scheiß gekommen war. Eigentlich
nicht mein Ding, kuscheln. Mit Megan, vielleicht, ab und zu, und auch mal mit
Freunden ohne Extras; aber nicht bei denen mit. Wenn ich mehr von jemandem
wollte, dann wollte ich – mehr eben. Aber Vyvyan wollte ja nicht mehr
geben – heck, eigentlich wollte er auch das hier nicht geben.
So vernebelt, dass ich das nicht bemerkte, war ich auch wieder nicht. Er war so
angespannt. So verkrampft. Aber er hatte mich davon abgehalten, wieder auf
meine Seite zu rutschen – dass ich keinen zweiten Versuch unternahm,
konnte mir nun wirklich niemand übel nehmen. Auch wenn er mir den Rücken
zugedreht hatte, war keine Beschwerde gekommen, als ich wieder aufgerückt war.
Wenigstens etwas.
Er roch gut. Und war so warm. Und seine Haut war weich.
Ich hätte ein Nachtlicht anmachen sollen. Irgendwo hatte Mom sicher noch
mein altes von früher; dann hätte ihre Unfähigkeit, irgendetwas wegzuwerfen,
endlich mal etwas Gutes gehabt. Ich wollte ihn sehen – und spüren.
Nicht einfach nur den Arm um ihn haben, wie jetzt, sondern richtig, mit Händen
und Lippen und –
Nicht daran denken.
Ich musste so schon aufpassen, dass mein Schritt ihm nicht zu nah kam. Er
wäre sicher nicht begeistert, zu spüren, wie sehr mir die Situation wirklich
gefiel. Und darum konnte ich ihn auch nicht richtig an mich heranziehen.
Unfair. Einfach nur unfair.
Das würde eine lange, lange Nacht werden. Aber ich wollte auch gar nicht
mehr einschlafen. Vyvyan würde das sicher nicht so schnell noch einmal zulassen
und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn dazu bringen konnte, seine Meinung zu
ändern.
Ich vergrub meine Nase in seinen Haaren. So good!
Wie konnte Felizitas mit ihm zusammen sein und ihn nicht anfassen?
Freiwillig? So viel Ignoranz sollte verboten werden.
Aber wir hatten Fortschritte gemacht, heute. Ganz sicher. Dass er überhaupt
einen Neuanfang in Erwägung zog, war ein Fortschritt. Und er war nach dem Essen
geblieben, ohne Anstalten zu machen. Gut, das war wahrscheinlich größtenteils
Betsy zuzuschreiben, aber dennoch, das änderte nichts daran, dass er geblieben
war, obwohl er seine Schwester genau damit verärgert hatte.
Ich musste einfach mehr Geduld haben. War nur schwierig, wenn der Puls im
Himmel war und man kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Noch einmal rieb ich mit der Nase in seinen Haaren und dann, auch wenn ich
wusste, dass er noch nicht schlief, da er immer noch stocksteif
dalag – aber ich konnte nicht anders. Ich war süchtig nach dem Gefühl,
dass sich in mir ausbreitete, wenn meine Lippen seine Haut
berührten – und dabei hatten sie das erst an zwei Gelegenheiten
getan. Schlimmer als Heroin, der Kerl.
Vielleicht war er wenigstens im Halbschlaf und würde es nicht
bemerken …
Ich hatte vergessen, wie empfindlich er im Nacken war. Oder aber ich hatte
mir nur eingeredet, es vergessen zu haben.
Ein Ruck ging durch ihn, dann schien er nicht einmal mehr zu atmen.
„… Rubin?“ Seine Stimme klang angespannt,
defensiv … anklagend.
Fuck. Ich war selbst schuld. Trotzdem: Wenn er mich gleich aus meinem
eigenen Bett warf, war’s das wert gewesen, denn das Gefühl, das die kleine
Geste in mir ausgelöst hatte, hielt immer noch an und war beängstigend schön.
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