Ich rutschte näher. Berühren tat ich ihn noch nicht, aber viel fehlte nicht
mehr. Das … das war nicht mein Ding. Ehrlich nicht. Kuscheln. Mit
Männern. Nein.
Also, klar, theoretisch wahrscheinlich schon, wenn man in Betracht zog,
dass ich homosexuell war. Aber … aber das war nicht geplant gewesen!
Irgendwann, wenn ich es nicht mehr anders aushielt, Sex, okay – wenn
es nicht anders ging. Gehörte wohl einfach zum Schwulsein dazu. Aber mehr
nicht. Kein Kuscheln, keine Gefühle, am liebsten auch keine Küsse. Nur
Triebbefriedigung – für den Trieb konnte ich ja nichts, da war
bereits vor meiner Geburt was schief gelaufen. So wie das Intermezzo an meiner
Zimmertür: Das war reine Triebbefriedigung gewesen. Viel zu
früh – ich hatte von mir selbst mehr Selbstkontrolle erwartet – aber
wenigstens ohne Ballast. Angekuschelt werden, so wie gestern – das
konnte man auch noch durchgehen lassen. Ich hatte ja nichts getan, nur
dagelegen. Selber kuscheln aber, das war ein ganz anderes Kaliber. Das
implizierte, dass ich es wollte. Was ich nicht tat.
Dann kannst du ja gehen, erklang Rubins Stimme in meinem Kopf, niemand hält
dich auf.
Warum hatte er das auch sagen müssen? Dass ich nichts ‚musste‘? Dass er auf
keinerlei Gegenleistung bestand? Das war doch beschissen! Wer wollte so was
schon hören? War ihm denn nicht klar, dass es einfacher für mich war, wenn ich
mir sagen konnte, dass ich keine andere Wahl hatte?
…
Aber wenn ich schon hier blieb, sollte ich wohl langsam mal mit kuscheln
anfangen, ansonsten würde ich viel zu spät nach Hause kommen.
Kuscheln, ey. Was ’ne beschissene Idee.
Ich hob meinen Arm, legte ihn über seine Seite. Bei Zeus, das war doch
Blödsinn. Keine Ahnung, warum mein Herz so schnell schlug.
Ich rutschte näher, bis sein Rücken meine Brust berührte. Dann, zögerlich,
legte ich meinen Arm enger um ihn, ließ meine Hand auf seinem Schlüsselbein
ruhen.
Absoluter Blödsinn.
Rubin brummte zufrieden, legte seine Hand auf meine und verschränkte seine
Finger mit – hatten wir nicht ausgemacht kein Händchenhalten?
Und dann ruckelte er sich nicht nur zurecht, nein, er ruckelte sich zurück,
bis kein Blatt mehr zwischen uns passte. Was zum – ich wollte seinen
Arsch nicht an meinem Schritt! Also, schon, aber – nein! Bis
eben war ich noch viel zu nerv… unsich… hatte ich mich noch viel zu
fehl am Platz gefühlt, um an schmutzige Dinge zu denken, aber jetzt, so nah,
da – ich hatte keinen Bock drauf, dass er meine Latte zu spüren
bekam, verdammt noch mal! Auch, wenn da noch keine Latte war, aber wenn sich
gestern keine völlige Ausnahme ereignet hatte, dann würde das spätestens, wenn
mir auffiel, wie verdammt intensiv ich sein Shampoo gerade riechen konnte und
wie warm und anschmiegsam er war –
Bis dahin und nicht weiter. Das half nicht.
„Zwei von drei“, murmelte er und klang dabei schon mehr als zufrieden,
„Wenn du mir nur zwei Drittel Kuschelleistung gibst, habe ich statt einer
Stunde neunzig Minuten gut.“
„Simple Mathematik?“, fragte ich und versucht dabei zu ignorieren, dass
mich seine Haare kitzelten.
„Genau.“
Einen Moment lang überlegte ich wirklich, ob es die halbe Stunde extra
nicht wert wäre, aber dann gab ich mir einen mentalen Tritt in den Hintern.
Also bitte. Was der Ami konnte, konnte ich schon lange. Und es war nicht
unschön, so hier zu liegen. Auch, wenn ich mir die ‚willige Oma‘ aus der
Spätwerbung gestern ins Gedächtnis rufen musste, damit er nicht erkannte, wie
schön ich es fand.
Ich schloss die Augen und winkelte mein Bein an, schob es nach
vorne – Rubin hob seines an, damit ich es zwischen seinen platzieren
konnte, dann ließ er es wieder sinken und seufzte. Zufrieden. So richtig. Sein
Daumen fuhr über meinen und von einem Moment auf den anderen bemerkte ich, dass
sein Brustkorb im Stakkato pochte.
Von wegen ‚nur kuscheln‘, von wegen ‚unschuldig‘ – bei
unschuldigen Aktionen hämmerte einem das Herz nicht fast ein Loch in die Brust!
Das mentale Bild der willigen Oma löste sich in Luft aus und wurde durch
andere ersetzt. Ich versuchte sie zu unterdrücken, denn ich wollte wirklich
nicht auf ihn reagieren, nicht jetzt, nicht, bevor er irgendetwas in der
Richtung – aber aus Bildblitzen wurden Stillleben, und dann
Kurzfilme. Immer wieder dieselben, die ich schon gestern Nacht gesehen hatte,
plus neue von heute. Harmlose, zum Teil – das stolze Lächeln, als der
Pudding geglückt war oder der konzentrierte Blick beim Korrigieren meiner
Aufgaben – manche auch anregend – er, im Bett, noch halb
verschlafen, die Hand nach mir ausgestreckt – und ein paar davon
versaut – sein Gesichtsausdruck, als bei unserem ‚Intermezzo‘ meine
Hand in seine Hose verschwunden war, die Art, wie sich sein Arsch unter meinen
Fingern angefühlt hatte, seine Stimme, als er mit meinem Namen auf den Lippen
gekommen war. Und immer mehr, die sich gar nicht ereignet hatten, die sich aber
ereignen könnten, wenn ich jetzt mein Bein höher schöbe, oder die Hand tiefer,
wenn ich meine Lippen über seine Haut wandern ließe, so, wie er es gestern kurz
vor dem Einschlafen getan hatte. Bilder davon, wie er den Kopf in den Nacken
legte und stöhnte, wie er sich zu mir umdrehte – oben
ohne – wie er unter mir lag – nur noch in Unterwäsche.
Davon, wie auch die Unterwäsche verschwand.
Und es wäre nichts Neues. Nein, das alles hatten wir sowieso schon getan,
also würde ich auch nichts ‚lernen‘, danach nicht mehr missen, als jetzt schon.
Wirklich, es würde keinen Unterschied machen.
Ich hatte nicht bemerkt, dass meine Hand – oder besser: unsere,
denn seine lag immer noch auf meiner – sich bewegt hatte, dass sie
von seinem Schlüsselbein langsam seinen Körper hinunter bis zum Saum seines
Shirts gewandert war. Doch nun, da ich den Saum unter meinen Fingern spürte,
ihn anhob, zwischen Daumen und Mittelfinger rieb, nun bemerkte ich es sehr
wohl. Und statt einzuhalten schlich sich erst die Kuppe des Ringfingers auf
seine Haut, dann die des kleinen Fingers und als Rubin die Luft zitternd aus
seinen Lungen stieß, der Rest der Hand.
Seine Bauchmuskeln spannten sich an und für einen Augenblick schien er
erstarrt. Meine Hand wanderte weiter, nun wieder hinauf, wie ohne mein Zutun,
von seinem Nabel über die Rippen, und schob gleichzeitig das Shirt hoch. Als
mein Daumen seinen Nippel streifte, drückte er seinen Rücken durch, so dass
sein Oberkörper gegen meine Hand und sein Hintern gegen meinen Schritt gepresst
wurde.
„Vyvyan …!“
Da war er wieder, der Ton, den er schon beim Intermezzo drauf gehabt hatte,
nur jetzt deutlicher, dringlicher, fahriger.
Vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem mein Hirn sich endgültig
verabschiedete und meine Bedenken und Zweifel mit sich nahm – obwohl
ich das nicht glaubte. Nein, der Zeitpunkt war ziemlich sicher längst vorbei.
Dennoch: Vielleicht hätte ich noch aufhören können. Hätte ich ans Aufhören
gedacht, an die simple Möglichkeit, mein Tun einfach zu
unterlassen … dann hätte ich es vielleicht auch tun können.
Stattdessen schob ich mein Bein nun wirklich weiter hoch und spürte im nächsten
Moment seine Haut unter meinen Lippen.
So.
Verflucht.
Gut.
Irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich, dass man langsam anfangen sollte,
aber dafür hatte ich keine Geduld. Ich hatte gestern die halbe Nacht mit blauen
Kronjuwelen verbracht, und davor – ach, sagen wir einfach, es war höchste
Zeit. Und deswegen ließ ich leichte, einsteigende Küsschen Küsschen sein
und biss ihn stattdessen in die Schulter. Vielleicht ein wenig zu fest, da sich
alles seltsam schwammig und gleichzeitig glasklar anfühlte und ich nicht mehr
die völlige Kontrolle über meine Bewegungen hatte, aber seinem Keuchen zufolge
störte es ihn nicht. Ich leckte versöhnlich drüber, während in mir mehrere
Dinge nacheinander explodierten – oder vielleicht brannten auch nur
alle Synapsen gleichzeitig durch, wer wusste das schon.
„Don’t stop – just, just don’t …!“, murmelte er so
leise, dass ich es fast nicht verstand.
Ich zog meine Hand aus seinem Shirt, mein Bein zwischen seinen hervor und
drückte ihn im nächsten Moment auf den Rücken, während ich über ihm kniete.
„Sprich Deutsch oder halt die Klappe!“ Ich platzierte mein Knie wieder
zwischen seinen und rieb es nachdrücklich an seinem Schritt. „Verstanden?“
Rubin sah mich überrumpelt an, biss sich auf die Lippen und nickte dann
hastig. „Ja, Deutsch, kapiert. Nicht aufhören!“
Na also. Ging doch.
Zufrieden griff ich nach seinem Shirt und zog es ihm kurzerhand aus.
Besser. Viel, viel besser.
Ich sah meinen Händen dabei zu, wie sie langsam und genüsslich jeden
Quadratzentimeter seines Oberkörpers erkundeten, streichelnd, kreisend,
neckend. Rubin lag einfach nur da, mit einem trägen Lächeln auf den Lippen. Ich
spürte seinen leicht verklärten Blick auf mir, aber lieber konzentrierte ich
mich darauf, die Schauer zu beobachten, die ich bei ihm auslösen konnte. Als
ich mich hinunterbeugte, die Haut seiner Halsbeuge schmeckte und mit den Nägeln
leicht über seinen Bauch kratze, schlang er die Arme um mich und zog mich
hinunter, bis ich auf ihm lag, zwischen seinen Beinen.
„Pulli“, murmelte er auffordernd in mein Ohr, aber ich hatte gerade
Wichtigeres zu tun. Mein Pullover interessierte mich schrecklich wenig, wenn
ich nicht nur von seinem Zitronengrasduft beduselt war, sondern auch noch seine
Haut schmeckte. Keine Ahnung, wie er das anstellte, aber gegen seine Haut sah
jeder Lollipop alt aus.
„Was, wenn ich dann friere?“, entgegnete ich und küsste mich hoch zu seinem
Ohrläppchen.
„… Eh zu heiß…“ Seine Finger krallten sich in meine Haare, aber statt
dass sie mich von ihm wegzogen, hielt er meinen Kopf fest, damit ich mich auch
ja nicht entfernte.
Ohrläppchen, musste ich mir merken.
„Pulli!“, wiederholte er und zerrte mit der zweiten Hand daran. Vielleicht
lag es an der Einhändigkeit, vielleicht aber auch an der Situation; jedenfalls
kam er nicht weit, bis ich mich schließlich erbarmte und von seinem Ohr abließ,
um mir das Ding über den Kopf zu ziehen.
Er hatte Recht: Ohne Pulli war besser. Nicht nur lag ich nun mit meinem
Bauch direkt auf seinem, nein, auch die Finger, die sich in meinen Rücken
krallten, als ich anfing an seinem Ohr zu knabbern, spürte ich direkt und ohne
störenden Stoff zwischen ihnen und mir. Und als sie kurz darauf meine Wirbelsäule
hinuntergeisterten hatte ich bereits vergessen, je einen Pullover angehabt zu
haben. Sollten per Gesetz abgeschafft werden, die Dinger.
Rubin hatte gerade angefangen, meinen Nacken zu kraulen und mich damit
kurzzeitig aus dem Gefecht zu setzen, als die Hand in meinem Kreuz angekommen
war. Eine halbe Sekunde später lag sie auf meinem Arsch und drücke mich gegen
ihn, während er sein Becken anhob.
Konnten sämtliche Synapsen zweimal innert weniger Minuten durchbrennen?
Anscheinend schon.
Ich ließ meine Stirn gegen seine Schulter fallen und schloss zum ersten Mal
selbst die Augen, als ich begann, mich langsam an ihm zu reiben. Es war
unbeschreiblich: Alles, was ich roch, war Rubin, alles, was ich hörte, war
Rubin, und alles, was ich spürte, war Rubin, während tausend Lichter in
abertausend Farben hinter meinen Lidern explodierten. Meine Welt bestand aus
Rubin und Lichtblitzen und es war perfekt.
Dennoch wollte ich es nicht so zu Ende bringen. Nicht, solange er noch halb
angezogen war, und nicht, ohne dass ich ihn überall berührt hätte,
schließlich musste ich die Chance nutzen. Deshalb genoss ich es solange, bis
ich langsam aber sicher an meine Grenze kam, und dann öffnete ich die Augen und
brachte etwas Abstand zwischen uns.
Rubins Hand war immer noch in meinen Haaren und nun machte er Anstalten,
sich über mich zu rollen, aber ich hielt ihn davon ab. Als er mich verwirrt
ansah, schüttelte ich den Kopf und ließ meine Finger seinen Körper
hinuntertanzen. Beim Hosenknopf angekommen hielt ich inne, zupfte an ihm und
sah ihn fragend an. Rubin hob ohne zu zögern sein Becken an. Ich grinste.
Na also. Waren wir doch einer Meinung.
Ich wusste nicht wieso, aber ich wollte jetzt nicht berührt werden,
zumindest nicht in erster Linie. Die Hände in meinen Haaren und an meinem
Nacken und auf meinem Rücken waren genial – mehr als das,
sogar – aber vor allem wollte ich berühren. Erkunden. Seine Reaktion
sehen. Meinen Namen hören, wenn er kam.
Das ganz besonders.
Ich ließ mir Zeit mit der Hose. Fuhr mit den Fingerspitzen unter den Bund,
zeichnete den Umriss seiner Erregung nach, tauchte mit der Zunge in seinen
Bauchnabel, während ich meine Hände unter seinen Arsch schob. Den hatte ich
schon ein bisschen vermisst.
„Vyvyan, verdammt, mach endlich!“
„So ungeduldig?“, murmelte ich, legte aber, nett wie ich war, Daumen und
Zeigefinger an den Knopf.
„Was denkst du denn? Ich steh seit einer kleinen Ewigkeit unter Strom!“
‚Seit einer kleinen Ewigkeit‘? Wie lange war eine kleine Ewigkeit? Seit wir
hier oben waren? Heute? Gestern? Mir gefiel die Vorstellung, dass ich letzte
Nacht nicht der einzige gewesen war, den das Kuscheln nicht kalt gelassen
hatte. Das würde auch erklären, warum er sich ‚zurückgehalten‘
hatte – das mit dem auf mich Rücksichtnehmen kaufte ich ihm nämlich
nicht so ganz ab.
Aber … unwichtig, jetzt.
Ich legte meine Hand flach auf seinen Schritt und drückte leicht zu.
„Sag bitte.“
„Bitte!“, kam es postwendend zurück und verwirrte mich ein bisschen. Ich
hätte nicht erwartet, dass ihm das Wort so leicht von den Lippen rollte.
„Was?“, blaffte er nun sichtlich ungeduldig, „Ich habe bitte
gesagt – auf die eine oder andere Art tue ich das doch schon die
ganze Zeit – also mach endlich, verdammt!“
Er hatte sich auf die Ellbogen gestützt und funkelte mich aus
lustverhangenen dunklen Augen an. Ich mochte die Mischung. Nicht nur die in
seinem Blick, sondern auch die in seinem Verhalten – bittend im
ersten Moment und fordernd im nächsten. Ich mochte das. Das
war … neu. Ich mochte …
„Zu Befehl“, murmelte ich, um meine Gedanken zu unterbrechen und den Drang,
ihn zu küssen zu unterdrücken – einfach, weil es bei so was
normalerweise dazugehörte. Half nur mäßig, bis ich mich auf etwas anderes
konzentrierte: sein Zuviel an Kleidung. Also öffnete ich erst den Knopf, dann
den Reißverschluss und hakte schließlich die Finger in den Bund ein. Rubin ließ
sich wieder auf den Rücken sinken und hob die Hüfte an, damit ich ihm Hose und
Unterwäsche zusammen ausziehen konnte. Und wenn ich schon dabei war, mussten
seine Socken auch noch gleich dran glauben.
Bei dem Intermezzo an meiner Zimmertür, das ebenfalls eine kleine Ewigkeit
her zu sein schien, war es mir schon aufgefallen, aber nun wurde ich von der
erneuten Erkenntnis fast erschlagen: Rubin war schön. Einfach
nur – schön. Nicht muskelbepackt wie Kim und nicht ‚süß’ wie Theo,
sondern schön. Die Art von schön, bei der die Hand zitterte, wenn man sie
ausstreckte, um sie zu berühren.
„Vyvyan?“
Oh, jetzt klang er leicht verunsichert. Das wollte ich nicht. Hatte
wahrscheinlich zu lange gestarrt.
Ich sah hoch in seine Augen, lächelte obwohl ich grinsen wollte und legte
meine Hand auf seinen Oberschenkel.
„Hm?“
Er schluckte. Keine Ahnung, was er in meinem Gesicht sah; vermutlich wollte
ich das auch nicht wissen. Aber als er die Hand ausstreckte, schmiegte ich
meine Wange hinein, weil es sich in dem Moment wie das Richtige anfühlte. Und
während er mich zu sich zog, wanderte meine Hand höher nach oben, bis sie an
ihrem Ziel angekommen war und Rubins Kopf mit einem erstickten Keuchen nach
hinten rollte.
Ich widmete mich wieder seinem Hals, genoss es, wie seine Haut unter meinen
Lippen vibrierte und er sich fast verzweifelt an mich krallte. Und als er
irgendwann kurz vor dem Ende wieder ins Englische wechselte, störte mich das
seltsamerweise kein bisschen.
***
Rubin lag eine Weile einfach mit geschlossenen Augen da und versuchte,
wieder zu Atem zu kommen – oder genoss die post-orgasmischen
Glückshormone, so genau wusste ich das nicht. Als er schließlich die Lider hob,
lächelte er auf eine Weise, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, und hob
die Hand, um mit den Fingerspitzen über meine Schläfe zu fahren.
Ich mochte das Lächeln, irgendwie, aber irgendwie machte es mich auch
nervös. Und etwas sagte mir, dass es mich noch viel nervöser machen würde, wenn
sich meine Hose nicht immer noch drei Nummern zu klein anfühlen würde.
Er sagte nichts, als er gezielt in meinen Nacken griff und dort wieder mit
eben dem Kraulen anfing, das meine Denkfähigkeit auf das Niveau eines
Einzellers hinabsetzte. Immer noch mit diesem Lächeln auf den Lippen setzte er
sich auf, so weit es eben ging, und drückte mich sanft zurück auf die Decke.
Als er sich über mich schob, hob ich die Arme und wollte – keine
Ahnung, sie um ihn legen oder ihn zu mir ziehen oder an seinen endlich komplett
verstrubbelten Haaren zupfen, aber er fing meine Handgelenke ein, drückte sie
neben meinem Kopf runter und sah mir einen langen Moment lang in die Augen,
während er sie festhielt.
Stillhalten, kapiert.
Schade, aber. Seine Haare sahen verlockend aus. Seine Schultern auch.
Er ließ meine Handgelenke los und fuhr mit den Händen an meinen Unterarmen
hinunter, bevor er sich daneben abstütze und langsam, ohne den Blickkontakt zu
unterbrechen, sein Gesicht meinem näherte. Immer noch lächelnd – hatte er
je nicht gelächelt?
Ich schloss meine Augen kurz bevor ich seine Lippen auf meiner Stirn
spürte. Hauchzart nur, dann verschwanden sie für den Bruchteil einer Sekunde
und tauchten an meiner linken Schläfe wieder auf. Von da aus glitten sie zu
meiner Wange, über die Nase auf die andere Seite, zum Kiefer. Er hob den Kopf
einige wenige Zentimeter, hielt inne. Als ich ihn wieder ansah, schwebte sein
Gesicht direkt über meinem und sein Lächeln flackerte. Mehrere Herzschläge lang
passierte nichts, dann wurde das Lächeln breiter, der Zweifel, den ich bisher
nicht entdeckt hatte, verschwand aus seinen Augen und er hauchte mir einen Kuss
auf die Nasenspitze. Aufs Kinn. Die Kehle hinab.
Ich schloss die Augen wieder. Ich hatte etwas anderes erwartet, aber ich
war mir nicht sicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein
sollte – also, doch: Ich sollte erleichtert sein. Nur, war ich
es auch?
Jetzt war nicht der Zeitpunkt, für solche Fragen. Nein, jetzt war der
Zeitpunkt, das Denken auszuschalten und nur zu fühlen – und dafür,
oh, dafür war der Zeitpunkt wirklich perfekt.
Vielleicht – wahrscheinlich – lag es daran, dass Rubin
bereits gekommen war, aber seine Berührungen waren anders als beim ersten Mal.
Sanfter und … intimer. Weniger gehetzt, weniger zweckorientiert, überhaupt nicht ungeduldig, obwohl
er mich auch nicht unnötig zappeln ließ. Er bahnte sich langsam einen Weg nach
unten und knabberte noch an meiner Brustwarze, als seine Hand bereits meine
Hose öffnete und hinein schlüpfte. Tausend Schmetterlingsküsse später war er
bei meinem Bauch angekommen und zog meine Hose nach unten. Kurz darauf hörte
ich, wie sie zu Boden fiel. Die Socken folgten, bevor ich seinen Atem auf
meiner Haut spürte, die Daumen auf meinen Hüftknochen, über dem Stoff meiner
Pants sanft hin und her streichelnd, wie gestern Nacht. Wieder seine Lippen,
unterhalb meines Bauchnabels, halb auf dem Bund der Unterhose, und dann –
Ich schoss hoch und starrte ihn an. Er – er konnte doch
nicht …
Doch als mir sein Blick begegnete, verschwanden meine Gedanken. Die
Verwirrung und Überraschung blieb, wenn auch gedämpft. Er war immer noch so
schön. Und er senkte erneut den Kopf und drückte eine Kuss mitten auf den
dunklen Stoff, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Ich war mir ziemlich sicher, dass das erstickte Keuchen von mir kam, aber
ich hatte es nicht aus meinem Mund kommen spüren. Rubin war es nicht gewesen,
denn sein Mund war geschlossen, immer noch dort, und außer ihm und mir und
Betsy existierte nichts. Als er seine Lippen fester auf mich presste, wollte
ich mich fallen lassen, wollte die Augen schließen und mich hinlegen, aber ich
konnte nicht wegsehen. Auch nicht, als er mir die Pants langsam von den Hüften
zog und sie der Hose nachschickte. Sein Blick fesselte mich, während ich
ungläubig zusah, wie er den Kopf tödlich langsam senkte.
Ich konnte keinen Zweifel in seinen Augen sehen, kein Zögern, kein
Zwiespalt. Als ich seinen warmen Atem spürte, erzitterte ich am ganzen Körper.
Dann ersetzte er den Atem durch seine Lippen und alle Kraft verließ meinen
Körper. Ich sank zurück auf die Decke, doch auch wenn ich ihn nicht mehr sah,
hatte sich sein Blick in meine Augenlider gebrannt, so dass ich sie nur
schließen musste, um ihm wieder zu begegnen.
Ich glaube, ich wurde laut. Aber ich weiß es nicht.
***
Lange hielt ich nicht durch. Wie auch? Ich war nicht darauf vorbereitet
gewesen und – und so hatte es sich noch nie angefühlt. Rubin
hatte geschluckt – was ich eigentlich unverantwortlich fand, aber ich
hatte nicht genug Kraft oder Willen, um ihm das zu sagen – und war
dann wieder hochgekommen, um sich an mich zu kuscheln.
Und nun lagen wir da, auf Betsy, beieinander, und ich versuchte, mich
möglichst nicht zu bewegen, möglichst nicht nachzudenken und um Aphrodites
Willen mein Hirn sich nicht wieder einschalten zu lassen. Ich wollte das nicht,
denn ich wusste, dass es nicht gut werden würde. Ich verbot mir, darüber
nachzudenken warum oder auf welche Weise es ‚nicht gut‘ werden
würde, denn wenn ich das tat, kam garantiert alles zurück. Und ich wollte das
nicht, ich wollte einfach nur hier liegen und mich gut und erschöpft und
gewärmt fühlen und Rubins erhitzten Körper an meinem spüren und zufrieden sein.
Nur für fünf Minuten.
Bitte.
Nur fünf.
Ich bekam keine fünf Minuten. Als die Panik einsetzte, hätte ein Teil von
mir heulen können, doch je fester sie Besitz von mir nahm, desto stärker wurde
dieser Teil in den Hintergrund verdrängt. Solange, bis er verschwunden schien.
Ich hatte mich immer noch nicht bewegt, keinen Mucks gemacht, aber mein
Körper war so angespannt, dass es wehtat, und Rubin brauchte kein weiteres
Zeichen, um zu merken, dass etwas nicht mehr stimmte – oder, dass es
eben gerade wieder stimmte. Er lag still und wartete. Das Streicheln war
verebbt. Ich sollte es nicht vermissen und tat es auch nicht, eigentlich. Aber
es war so schnell vorbei gewesen.
Ich setzte mich wortlos auf und schob ihn von mir. Hatte nicht mitbekommen,
dass er halb auf mir gelegen hatte, aber das machte nichts, denn jetzt war es
zu Ende.
Ich schnappte mir meinen Pullover und zog ihn über, bevor ich so schnell
wie möglich zur Wand rutschte und von Betsy runterkletterte. So schnell wie
möglich nicht, weil ich flüchten wollte – auch, wenn ich genau das
tat – sondern, weil Betsy auf nackter Haut dann doch viel zu heiß
war. Meine Knie und Handflächen brannten, aber das war zweitrangig. Ich sah
meine Hose, Socken und Pants und begann, eines nach dem anderen anzuziehen.
„… Vyvyan?“
Nun waren sie doch da, die Zweifel, das Zögern und der Zwiespalt. In Rubins
Stimme, nicht in mir. In mir war alles klar, wenn auch nicht ausartikuliert. In
mir hatte sich die Panik zu glühenden Kohleklumpen verdichtet und mich auf
Notfallmodus geschaltet. Nachdenken unerwünscht, bis ich alleine war. In meinem
Zimmer, ungestört. Es würde nicht allzu lange dauern – vierzig
Minuten mit dem Bus, vielleicht noch zehn mit meiner Familie, wenn ich Pech
hatte. Eventuell Wartezeit an der Haltestelle. Alles in allem wahrscheinlich
trotzdem unter einer Stunde. Aushaltbar.
„Ich muss nach Hause“, erwiderte ich viel zu ruhig, viel zu sachlich, und
der Teil von mir, dem vorhin nach Heulen zumute gewesen war, begehrte auf, aber
er war zu schwach, um etwas zu bewirken.
„Vyvyan …“
„Kitty wartet.“
Das tat sie wahrscheinlich auch, aber heute würde ich nicht mehr mit ihr
spielen, würde ihr nicht vorlesen und würde schon gar nicht mit ihr kuscheln.
Ab morgen dann wieder.
Ich hatte mich angezogen und war dabei, das Wohnzimmer zu verlassen, als
Leben in Rubin kam und er mir folgte. Dennoch sagte er erst etwas, als ich mir
den Schal umwickelte.
„Vyvyan, können …“ Er legte die Hand auf meine Schulter und
drehte mich zu sich. „Können wir nicht darüber reden? Bitte?“
Er trug nur seine Retros und … er war immer noch schön. Und etwas
sagte mir, dass er das diesmal auch bleiben würde. Genau das war das Problem.
Nach dem Intermezzo hatte ich es wieder verdrängt, hatte ihn anschauen können,
ohne es zu denken, aber diesmal …
Ich hob meine Augenbrauen an und fragte: „Worüber?“ Und irgendwo tat mir
mein distanzierter Ton leid, aber ich konnte nichts dagegen tun.
„Wo…? Na, über … eben, auf, auf Bets… du und …“ Seine Stimme
verlor sich.
„Ich denke nicht, dass es etwas zu bereden gibt“, erwiderte ich und nahm
meinen Rucksack und die Handschuhe, „Jeder experimentiert mal. Das ist völlig
normal und im Großen und Ganzen nebensächlich.“ Ich griff nach der Klinke.
„Schönen Abend noch.“ Dann ging ich raus und zog die Tür zu.
Rubin hatte ich nicht noch einmal ins Gesicht geschaut. Ich war ein
Arschloch. So ein verdammtes Arschloch. Ich wusste das und ich wusste, dass ich
mir später Vorwürfe machen würde, aber jetzt war es nicht wichtig. Nein, jetzt
zählte nur, so schnell wie möglich in mein Zimmer zu kommen.
***
Als ich die Zimmertür hinter mir schloss, atmete ich tief aus. Natürlich
hatte ich auf den verfluchten Bus warten müssen, der dann natürlich auch noch
zu spät gekommen war. Und natürlich hatte Kitty mich nicht einfach in mein
Zimmer huschen lassen – oh nein, sie hatte Fragen zu unserem morgigen
„Abenteuerausflug“ – zu Betsy und zu Rubin und, ob sie ihm etwas
mitbringen solle, sie könne ja noch etwas basteln – und dann wollte
sie mir von ihrem Tag erzählen – Mum hatte sich dazu bezirzen lassen,
ihr stricken beizubringen und Kitty hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir als
aller-allererstes einen extra langen, extra kuscheligen Schal in
blau-pink zu stricken. Blau-pink. Aber sie bestand ja trotz allem
darauf, ihre pinke Phase hinter sich zu haben. Schreckliche Farbvorlieben hin
oder her: Miss Kitty war mein Augenstern und ich freute mich auf den Schal.
Dennoch hatte ich mich unter dem verwunderten Blick von Mum auf mein Zimmer
zurückgezogen, sobald Kittys erster Redeschwall vorüber gewesen war. Und
jetzt … jetzt stand ich an der Tür, verbot mir, an gewisse Dinge zu
denken, die ich genau hier getan hatte, und wusste nichts mit mir anzufangen.
Ich – keine Ahnung, was ich gedacht hatte, aber … nun,
doch, eigentlich hatte ich erwartet, dass irgendwas geschah, wenn ich
endlich alleine war. Dass die Panik wieder hochkochte oder dass ich wütend auf
mich wurde oder mich meinetwegen auch vor mir ekelte. Alles, nur nicht das, was
tatsächlich passierte: nichts.
Keine Panik, kein Nervenzusammenbruch, kein
‚Oh-Verdammt-Wie-Konnte-Ich-Nur?!’. Ich war beinahe unangenehm ruhig.
Natürlich war ich immer noch ein Arschloch. Fee gegenüber, Rubin gegenüber
und, nun, mir selbst gegenüber, immerhin hatte ich meine Prinzipien verraten.
Irgendwie. Aber gerade tangierte mich das nur peripher. Ich konnte mich nicht
dazu bringen, genauer über alles nachzudenken und ich wusste auch nicht, wie
ich mich jetzt zu fühlen hatte. Schlecht, wahrscheinlich.
Aber … keine Ahnung, ich fühlte mich eher leer.
Und jetzt?
Ich sah mich in meinem Zimmer um. Auf meinem Nachttischchen lag Eliaseis
und wartete darauf, von mir gelesen zu werden, aber jetzt seelenruhig
ausgerechnet in dem Buch lesen, das Rubin mir geschenkt hatte, das konnte ich
nicht bringen. Und ansonsten hatte ich auf nichts Lust.
Aufsatz?
…
Warum nicht. Der würde eh lange genug dauern, also konnte ich mich auch
gleich dran setzen. Also machte ich leise Musik an, nahm Stift und ein Blatt
Papier hervor und befreite einen Lutscher aus seinem Verpackungsgefängnis.
Thema?
Eigentlich egal. Dreihundert Wörter sollte man über so ziemlich alles
schreiben können. Zum Beispiel über den Grund, warum Kachelöfen zu den besten
Erfindungen der Menschheit gehörten.
Äh, nein. Nichts, das mich an Rubin erinnerte.
Dann vielleicht über die Freuden eines siebzehnjährigen Kerls, der bald in
einem unregelmäßigen blau-pinkfarbenen Schal herumlaufen durfte?
Auch schlecht, denn Kitty würde morgen ja zu Rubin wollen
und – tadaa! – schon waren wir gedanklich wieder bei ihm
angekommen.
Morgen. Würde das überhaupt noch stattfinden? Und … was war mit
der Nachhilfe? Er hatte doch sehr verstört gewirkt und er
hatte … ‚darüber‘ … reden wollen … aber
vielleicht interpretierte ich da zu viel hinein und dass ich einfach abgehauen
war ging ihm im Grunde an seinem wohlgeformten Arsch vorbei. Vielleicht hatte
er nur sicherstellen wollen, dass ich nichts ausplauderte – er war
schließlich ungeoutet. Vielleicht hatte er Angst gehabt, dass ich mich jetzt
deswegen in ihn verliebt hätte oder so was.
Genau. Vielleicht war es ihm egal.
Ich kramte mein Handy hervor und warf einen Blick darauf. Keine SMS. Okay.
Das war wenig hilfreich, aber falls er alles abbrechen wollte, dann würde er
sicher schreiben, nicht wahr? Ich meine, in dem Fall hätte er sicher keinen
Bock, morgen Vormittag von mir aus dem Bett geklingelt zu werden.
Oder aber: Vielleicht schrieb er extra nicht, damit ich vergebens hinfuhr
und mir dann etwas ausdenken musste, wie ich Kitty erklärte, dass sie Betsy
nicht morgen, nicht übermorgen und sowieso gar nie kennenlernen würde. Nein,
oder?
Ah, verdammt!
Ich wollte doch nicht über ihn und alles nachdenken. Es war eh schon ein
Wunder, wie gut ich Flashbacks von heute Nachmittag vermieden –
Und da waren sie. Rubin neben mir, Rubin unter mir …
Scheiße, aus!
… Rubin über mir.
Aus jetzt!
Was wollte ich noch gleich? Ach ja: Ein Thema aussuchen.
War doch auch scheißegal. Irgendwas Banales … Winter. Ein Thema
so gut wie jedes andere. Und als Titel, damit da bereits schon Wörter
verbraucht wurden: My thoughts over (on? About?) Winter.
Nein, noch besser: My thoughts over/on/about the season of Winter.
Bämm, sieben Wörter! Fehlten nur noch zweihundertdreiundneunzig – plus,
ich musste herausfinden, ob over, on, oder about richtig
war – obwohl, nein. Ich konnte auch einfach eines aussuchen und gut
war. Rubin würde es ja morgen sowieso korrigieren und ich musste heute noch mit
dem Ding fertig werden.
Vielleicht konnte ich noch ein cold in den Titel schmeißen? Ein very
cold. Neun Wörter! Das lief ja fantastisch heute. Grandios.
Obwohl: Wenn er das mit morgen absagte, dann brauchte ich den Aufsatz nicht
schreiben. Aber wollte ich wirklich darauf wetten? Nein. Aber wenn er
absagte und ich dann mit Miss Kitty in Erklärungsnot geriet, dann war ich
selber schuld. Vielleicht würde der Ärger mit Kitty, den ich unter Garantie
bekommen würde, mir wenigstens eine Lehre sein. Das und die miserable
Englischnote, denn mal ehrlich: Ohne seine Hilfe wurde das nichts. Mit seiner
Hilfe dagegen hatte ich eine halbe Chance.
Sicher, eine schlechte Note in Englisch wäre scheiße, aber es war ja nicht
mein Leistungskurs. Das Abitur würde deswegen schon nicht den Bach runter gehen – vor
allem, da ich bisher meinen Schnitt immer mithilfe meiner Mitarbeit und meinem Bemühen
(denn, mal ehrlich, was anderes konnte man meine mündlichen Beteiligung am
Unterricht nicht nennen) immer vor Unterpunktung gerettet hatte. Kein
Weltuntergang, also, aber vielleicht wenigstens ein Denkzettel, vor allem in
Verbindung mit all der verschwendeten Zeit und den versauten Ferien und
Krach mit Kitty. Doch, vielleicht würde das reichen, um mich beim nächsten Mal
ein wenig Selbstkontrolle zeigen zu lassen.
Das heute war auch wirklich jämmerlich gewesen. Nicht nur hatte ich
die Initiative ergriffen, ohne seine Aufforderung, nein, ich hatte die
Initiative auch behalten. Mich direkt geweigert, sie frühzeitig
abzugeben – wie bescheuert war das denn bitte gewesen? Auch wenn
‚bescheuert‘ nicht das richtige Wort dafür war. Eigentlich war mein Fehlen
jeglicher Selbstdisziplin einfach nur peinlich und … erbärmlich.
Da, schon wieder dieses Wort. Und es gefiel mir in Verbindung mit meiner
Wenigkeit immer noch nicht. Aber hätte ich gewusst, wo das hinführen würde,
hätte ich das erste erbärmlich geschluckt und mir selbst das Kuscheln mit Rubin
bereits gestern Nacht verboten. Dann wären wir nie in diese Situation gekommen.
Und was lernten wir darauf? Sogar unschuldige Dinge konnten zum Untergang
führen. Am besten war es, wenn ich von jetzt an einfach wieder allen
Situationen, die auch nur die leiseste homoerotische Färbung hatten, aus dem
Weg ging. Wo keine Versuchung, da kein Fehlverhalten. Ganz einfach.
Gut, da das geklärt war, konnte ich ja jetzt zurück zu meinem Aufsatz.
Winter. Vielleicht … war es am einfachsten, wenn ich einfach
aufschrieb, was ich daran mochte und was nicht. Immerhin ging es hier nur um
das Üben von Grammatik und Wortschatz, nicht darum, ein schriftstellerisches
Meisterwerk zu produzieren.
Also … ‚Dinge, die ich mag’: things that I like. Gut, vier
Wörter. Dinge, die ich am Winter mag: things that I like
about/on/wassauchimmer Winter. Oder wurde Winter klein geschrieben?
Auch egal.
Was ich am Winter mochte … den Schnee. Snow. Nein, the
snow. Noch mal zwei. Glühwein – das musste ich nachher
nachgucken, aber ich konnte es schon mal notieren. Was noch? Geheizte Häuser.
Kachelöfen … falsche Richtung.
Das war doch nicht normal, dass ich immer wieder und über etliche Ecken
darauf zurückkam, oder? Vielleicht hatte ich ja eine Hormonüberproduktion oder
so. Vielleicht sollte ich mich echt mal durchchecken lassen. Oder aber ich war
einfach nur ein normaler Teenager, der sich bisher genau das erfolgreich verboten
hatte, was ihm am besten gefiel, und dessen Körper das jetzt auf Biegen und
Brechen nachholen wollte. Mit anderen Worten: notgeil. Auch keine schöne
Selbstbeschreibung.
Hatte ich nicht vor ein paar Monaten diesen Artikel im Internet gelesen
– oder war es ein Bericht im Fernsehen gewesen? – jedenfalls
hatte ich gehört, dass es Versuche einer ‚Therapie‘ für Pädophile gab, die
darin bestand, sie mit einem Chemiecocktail vollzupumpen, der es ihnen
unmöglich machte, Lust zu empfinden. Nicht einfach nur Impotenz auslöste,
sondern die Lust im Keim erstickte. ‚Den Sexualtrieb vollkommen ausschalten‘,
hatten die das genannt. Vielleicht wäre das etwas für mich? Dann könnte ich
zwar auch keine Freundin mehr haben, aber wenigstens würde ich …
Ach.
Du.
Verfickte.
Scheiße!
Ich saß von einer Sekunde auf die andere aufrecht und der Lolli schmeckte
plötzlich so eklig, dass ich ihn aus meine Mund zog und ohne zu zögern in den
Papierkorb warf. Und das, obwohl ich wusste, dass der arme Lollipop nichts
dafür konnte, dass er garantiert immer noch lecker nach Kirsche schmeckte und
ich mir das leicht Verfaulte nur eingebildet hatte.
Aber: Hatte ich eben wirklich einen Moment lang daran gedacht, mich einer
Therapie für Kinderschänder zu unterziehen? Klar, nicht, weil ich Kinder
schändete, aber – bedeutete das nicht trotzdem, dass ich
Homosexualität irgendwo auf eine Stufe mit Pädophilie stellte?
Nein, oder?
Das wäre nämlich echt … verdammt daneben. Und ungesund. So, so
ungesund.
Ich meine, ich wusste, dass die beiden Dinge nicht vergleichbar
waren. Pädophile waren einfach nur krank und abartig und gehörten meiner
Meinung nach chemisch kastriert, während Homosexuelle bloß vom Leben
benachteiligt waren und niemandem wehtaten – nicht mehr als andere
Menschen auch, zumindest. Und die meisten Menschen sahen das heutzutage auch
so, außer eben in Ländern wie Russland oder Nigeria, wo man immer noch
Hinterwäldleransichten vertrat, aber da lebte ich zum Glück ja
nicht – und da ich weder dem Russischen noch dem Nigerianischen (?
Gab es die Sprache überhaupt?) mächtig war, würde ich mich auch in Zukunft von
diesen Örtlichkeiten fern halten.
Aber, ich … ich … scheiße.
Vielleicht hatte ich mich was meine sexuelle Orientierung anging, leicht in
etwas hineingesteigert. Das wäre möglich, oder? Dass ich es schlimmer
zeichnete, als es wirklich war?
Sicher, ein Zuckerschlecken war es auch nicht und so akzeptiert, wie
gemeinhin behauptet wurde, schon gar nicht. Aber … aber auf gleicher
Stufe mit Pädophilie eben auch nicht. Nein, davon war einvernehmlicher Sex
zwischen erwachsenen Männern nicht nur meilen-, sondern galaxienweit entfernt.
Und was hieß das jetzt für mich?
Dass ich mich ‚abregen‘ musste? Chillen, wie die hirnamputierten
Bauernprollos aus dem letzten Dorf, in dem wir gewohnt hatten, immer meinten?
Aber – aber Schwulsein war nun mal scheiße! Man konnte
nicht heiraten und war nicht ‚normal’ und es wurde getuschelt – man
war in der Nachbarschaft nicht ‚der Papa mit dem Motorrad‘ oder ‚der Kerl, der
sonntags immer in seinem Garten liegt‘, nein: man war einfach nur ‚der
Schwule‘. Auf immer und ewig. Man konnte ‚trotzdem ganz nett‘ sein und ‚sogar
eine langjährige Beziehung‘ führen und dennoch war es nie normal, nie völlig
akzeptiert. Darauf hatte ich nun mal keinen Bock. Den Rest meines Lebens lang
unter den Top Ten der Gerüchtethemen meines Umfeldes zu sein – nein
danke. Absolut kein Bedarf.
Alles nur Rubins Schuld! Wenn dieser verfluchte Ami nicht gewesen wäre, hätte
ich nie darüber nachdenken müssen! Dann wäre ich immer noch wie geplant von
Männerhänden unberührt und würde mir auch nicht wünschen, das von heute
Nachmittag noch einmal zu erleben – und natürlich tat ich das.
Wer hätte es sich nicht gewünscht? Das war der beste Sex meines verfickten
Lebens gewesen! Und das nicht nur, weil Rubin nicht nur technisch besser als
all meine Exfreundinnen zusammen war – auch nicht, weil er im
Gegensatz zu den Mädchen den Eindruck vermittelt hatte, als würde er mir
wirklich einen blasen wollen – nein, vor allem, weil es sich
so unglaublich geil angefühlt hatte, ihn zu berühren. Anzuschauen. Zu hören.
Weil ein Männerkörper einfach nicht mit einem Frauenkörper vergleichbar war und
mir allein bei der Vorstellung, meine Hände noch einmal unter sein Shirt zu
schieben, die Fingerspitzen kribbelten.
Das war doch einfach alles beschissen.
Vor allem, da mir in diesem Moment, fast aus dem Nichts heraus, eine
weitere Sache klar wurde: Ich würde niemals heiraten können. Klar, ich
rechnete generell nicht damit, einfach schon deshalb, weil ich keinen Bock
hatte, meine Scharade auch zu Hause noch aufrecht zu erhalten – aber
wenn ich ganz, ganz schrecklich und absolut ehrlich war, dann hatte ich es mir
eben doch immer gewünscht. Ein kleines Häuschen mit Garten, zwei oder drei
Kinder, ein Volvo und eine Frau, die mit den Kindern zusammen Kekse buk. Vor
allem Kinder. Eine eigene Familie.
Aber dieser Wunsch würde nie Realität werden, sogar wenn ich eine
Frau finden sollte, die ich wie meine Familienmitglieder lieben und vor der ich
ich selbst sein konnte. Denn so einer Frau würde ich es niemals antun, mit mir
verheiratet zu sein. Ich meine, hallo?! Ich schaffte es ja noch nicht einmal,
nicht mit Fee Schluss machen zu wollen, und Fee war nur irgendein nettes Mädel
aus der Parallelklasse. Kein schlechter Mensch, aber auch nichts Besonderes,
zumindest nicht für mich. Einer Frau, die ich gewillt war zu heiraten, würde
ich nicht betrügen und nicht konstant belügen wollen oder auch nur
können – und mir war jetzt schon klar, nach diesen wenigen, ersten
Tagen mit Rubin als meine erste gleichgeschlechtliche Erfahrung, dass ich ohne
irgendwann nicht mehr würde sein können. Wenn ich Rubin wieder in die
Statistenrolle verbannte, die er bis vor den Ferien innegehabt hatte, dann
konnte ich vielleicht noch ein paar ruhige Jahre haben, aber
irgendwann … war Schluss. Und das tat man der Mutter seiner Kinder
nicht an. Solange ich also keine Lesbe kennenlernte, die ihre Homosexualität
aus Karrieregründen, gesundem Menschenverstand oder Ähnlichem verstecken
wollte, und die bereit war, mich zu heiraten und mir Kinder zu schenken (am
besten über den Onkel Doktor als Mittelmann), dann sah ich rabenschwarz für
künftige kleine Vyvyan-Juniors.
Und das, das war echt ein Schlag in die Magengrube. Ich hatte halt gehofft …
Scheiße. Erst Pseudo-Pädophilie und dann das.
Und jetzt?
Keine Ahnung.
Aber erstmal konnte ich ja den Aufsatz weiterschreiben, um mich abzulenken.
Zu dumm, dass ich niemand war, der seine Sorgen in Alkohol ertränkte, denn dann
hätte ich wenigstens gewusst, was jetzt zu tun war.
Alles scheiße. Und alles Rubins Schuld.
*********
Das Telefon klingelte dreimal, viermal, fünfmal. Warum nahm sie denn nicht
ab?! Dann endlich – klick!
„Ja?“ Lilly.
„Ist Megan da?“ Dumme Frage, war immerhin Megans Handy.
„Is’ eben unter die Dusche.“
Mist. Mist!
Ich starrte die Haustür an. Und jetzt?
In Gedanken sah ich ihn wieder, wie er einfach gegangen war. Ohne sich
umzudrehen, ohne …
„Großer, was’n los?“ Lillys Stimme holte mich zurück und ich drehte mich
ruckartig von der Tür weg. „Soll ich sie rausholen oder tu ich’s auch?“
That was the million-dollar question, wasn’t it?
Actually, no.
Vielleicht war Lilly sogar die bessere Wahl. Megan war manchmal
zu … weich. Mir war eher danach, zu hören, wie jemand mit mir fluchte
und ihm tausend Tode an den Hals – nein, nekrophil war ich
schließlich nicht, also besser Impotenz – nein, das auch nicht! Das
garantiert –
Fuck this shit!
„Ich bin kein verfluchtes Experiment!“, fauchte ich in den Hörer und
stampfte den Flur rauf und runter. „And I don’t give a flying fuck about his reasons:
nebensächlich bin ich schon gar nicht!“
„Ich stimme dir da grundsätzlich zu, aber ein bisschen Kontext wär trotzdem
nich’ schlecht.“
Das war einleuchtend, vor allem, da offiziell niemand außer Megan von
Vyvyan wusste. Von meiner … infatuation – einen
anderen Namen würde ich dem jetzt nicht geben.
„Mein Mitschüler. Mein Nachhilfeschüler. Mein … Vyvyan. Ich nehme
an, Megan hat dir von ihm erzählt?“
„Ja.“
Das war zu erwarten gewesen, denn ich hatte sie nicht gebeten, es nicht zu
tun. Megan plapperte anderen gegenüber nie etwas aus, aber Lilly und mir
erzählte sie alles.
Ich fasste die letzten vierundzwanzig Stunden knapp zusammen. Je näher ich
dem Ende kam, desto mehr Energie verlor ich, bis ich mich schließlich neben der
Treppe auf den Boden fallen ließ. Ich fühlte mich schlapp. Ausgelaugt. Der Tag
hatte so gut angefangen und jetzt das.
Konnte ich die Wut zurückhaben, bitte?
„Was’n Herzchen“, machte Lilly am Ende trocken.
Ja, was’n Herzchen. Und was’n Idiot ich war, mir ausgerechnet dieses
Herzchen auszusuchen.
Ich ließ den Kopf ans Treppengeländer sinken und schloss die Augen. Eine
Weile schwiegen wir und das tat gut. Ich war seltsam ruhig, seltsam
gedankenlos, aber es tat gut, dabei nicht alleine zu sein.
„Fucking Brits“, fluchte ich schließlich matt, „Es war schon
richtig, dass wir uns von ihnen losgesagt haben. Washington ist mein neuer
Held.“
„Dann war’s das jetzt?“
„Wie meinst du das?“
„Machst du’s wie good ole
Georgie und sagst dich los?“
„… Kann ich gar nicht“,
erwiderte ich ohne nachzudenken, „Muss ihm doch Nachhilfe geben.“
„Aber mehr auch nich’. Danach
kannste ihn vor die Tür setzen.“
Das hätte er wohl gerne! Wahrscheinlich sogar wirklich, wahrscheinlich hoffte er, dass ich
genau so handelte, damit er sich nicht weiter mit mir auseinandersetzen musste.
Mit uns. Denn egal, was er sich einredete: Es gab ein Uns. Ein wackliges,
undefiniertes Etwas von einem Uns vielleicht, das mehr einem Fleckenteppich als
was anderem glich, aber es gab ein Uns. Spätestens seit heute, seit er
nicht gegangen war, als ich es ihm angeboten hatte. Er hatte kuscheln
wollen – er hatte mit mehr angefangen! – also gab es ein
Uns, Punkt.
„Are you nuts? Ich werd’s ihm garantiert nicht so einfach machen!“,
entgegnete ich scharf und fühlte die Energie in meine Glieder zurückkommen,
„Er will experimentieren? Bitte. Dann experimentieren wir! Und ich werde ihm
zeigen, was hier nebensächlich ist und was nicht!“
Lilly erwiderte nichts, aber spürte das Grinsen durch die Telefonleitung
hindurch.
„Weißt du, ob Megan morgen schon etwas vorhat? Ich brauch einen
Babysitter.“ Jemanden, der Catherine bespaßte, während ich mich ihrem Bruder
widmete.
Nebensächlich my ass.
Hi, Dein Anonymer Fan mal wieder :D
AntwortenLöschenHab immer noch nirgends n Konto um Unanonym zu sein, aber naja...
UND OMG EEEEEEENDLICH
endlich. muhahahahahahahhahahahahhaha
Vyvy hat gegen sich selbst verloren.
Und ich weiß garnicht wie du das meinst, dass er nicht macht was du willst.
Denn ich find wie immer alles toll was du geschrieben hast.
Aber das sagt ja jeder Junkie über seine Droge nh..
:3
ALSO
und ich verzeih dir die 13 Minuten :D
LG Eva
(fühl mich immer so schuldig, wenn ich einfach nur lese ohne ein Kommentar zu hinterlassen O: )
Hahaha, ja, er hat verloren. Und es genossen. ;) (Zumindest währenddessen. Danach musste er ja wieder Mist bauen)
LöschenNa ja, sagen wir einfach ich hatte einen anderen Plan für das letzte Kapitel. Aber das hat ihn herzlich wenig interessiert und von Rubin war da auch keine Hilfe zu erwarten (der war zu sehr damit beschäftigt, Vyvyans Nähe zu genießen).
Aber es freut mich natürlich, wenn es dir gefallen hat! :D
Danke vielmals für dein Review und für die 13 vergebenen Minuten! ^^
(Und du musst dich überhaupt nicht schuldig fühlen, Reviews sind schließlich kein Muss. Ich freu mich, wenn ich eins bekomme, aber ich nehm's niemandem übel, wenn er keine Lust/Zeit/Muse dazu hat. )
Hey!
AntwortenLöschenSchade, dass mit dem Knoten.
Dabei bin ich so hibbelig und möchte doch so gerne wissen wie es zwischen ihnen weiter geht.
Er soll sich endlich mal n Herz fassen und in seinem Kopf die Dinge richtig stellen.
Der Rest von ihm weiß doch schon längst was er will.
Wie kann man nur so ein verbohrter Dickkopf sich selbst gegenüber sein.
Und er tut ja nicht nur sich selbst damit keinen Gefallen. *seufz*
Tret ihm mal n bisschen in Hintern!^^
Und deinen Knoten zerschneiden wir auch gleich mal dabei.
Vielleicht hilft ein langes Maiwochenende ja auf die richtigen Gedanken zu kommen.
Drück die Daumen! *knuddel*
Bis nächste Woche dann!
Ja, der Knoten war böse. Böse, böse, böse. Auch so frustrierend, dazusitzen und nichts hinzubekommen. Aber jetzt ist er, hoffentlich, weg (auch wenn ich grad zu müde bin, um das wirklich zu beurteilen).
LöschenLeider ist das nicht immer so einfach, im eigenen Kopf die Dinge richtig zu stellen. Du hast natürlich Recht - der Rest von ihm weiß, was er will, und er tut weder sich noch jemand anderem damit einen Gefallen. Wenigstens kapiert er das langsam.
Was denkst du denn, was ich die ganze Zeit schon versuche? Der blöde Vyvyan ist leider sehr Arschttritt-immun! ;)
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! :)