Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Donnerstag, 24. April 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 19:


Ich rutschte näher. Berühren tat ich ihn noch nicht, aber viel fehlte nicht mehr. Das … das war nicht mein Ding. Ehrlich nicht. Kuscheln. Mit Männern. Nein.
Also, klar, theoretisch wahrscheinlich schon, wenn man in Betracht zog, dass ich homosexuell war. Aber … aber das war nicht geplant gewesen! Irgendwann, wenn ich es nicht mehr anders aushielt, Sex, okay – wenn es nicht anders ging. Gehörte wohl einfach zum Schwulsein dazu. Aber mehr nicht. Kein Kuscheln, keine Gefühle, am liebsten auch keine Küsse. Nur Triebbefriedigung – für den Trieb konnte ich ja nichts, da war bereits vor meiner Geburt was schief gelaufen. So wie das Intermezzo an meiner Zimmertür: Das war reine Triebbefriedigung gewesen. Viel zu früh – ich hatte von mir selbst mehr Selbstkontrolle erwartet – aber wenigstens ohne Ballast. Angekuschelt werden, so wie gestern – das konnte man auch noch durchgehen lassen. Ich hatte ja nichts getan, nur dagelegen. Selber kuscheln aber, das war ein ganz anderes Kaliber. Das implizierte, dass ich es wollte. Was ich nicht tat.
Dann kannst du ja gehen, erklang Rubins Stimme in meinem Kopf, niemand hält dich auf.
Warum hatte er das auch sagen müssen? Dass ich nichts ‚musste‘? Dass er auf keinerlei Gegenleistung bestand? Das war doch beschissen! Wer wollte so was schon hören? War ihm denn nicht klar, dass es einfacher für mich war, wenn ich mir sagen konnte, dass ich keine andere Wahl hatte?
Bastard, wirklich.
Aber wenn ich schon hier blieb, sollte ich wohl langsam mal mit kuscheln anfangen, ansonsten würde ich viel zu spät nach Hause kommen.
Kuscheln, ey. Was ’ne beschissene Idee.
Ich hob meinen Arm, legte ihn über seine Seite. Bei Zeus, das war doch Blödsinn. Keine Ahnung, warum mein Herz so schnell schlug.
Ich rutschte näher, bis sein Rücken meine Brust berührte. Dann, zögerlich, legte ich meinen Arm enger um ihn, ließ meine Hand auf seinem Schlüsselbein ruhen.
Absoluter Blödsinn.
Rubin brummte zufrieden, legte seine Hand auf meine und verschränkte seine Finger mit – hatten wir nicht ausgemacht kein Händchenhalten?
Und dann ruckelte er sich nicht nur zurecht, nein, er ruckelte sich zurück, bis kein Blatt mehr zwischen uns passte. Was zum – ich wollte seinen Arsch nicht an meinem Schritt! Also, schon, aber – nein! Bis eben war ich noch viel zu nerv… unsich… hatte ich mich noch viel zu fehl am Platz gefühlt, um an schmutzige Dinge zu denken, aber jetzt, so nah, da – ich hatte keinen Bock drauf, dass er meine Latte zu spüren bekam, verdammt noch mal! Auch, wenn da noch keine Latte war, aber wenn sich gestern keine völlige Ausnahme ereignet hatte, dann würde das spätestens, wenn mir auffiel, wie verdammt intensiv ich sein Shampoo gerade riechen konnte und wie warm und anschmiegsam er war –
Bis dahin und nicht weiter. Das half nicht.
„Zwei von drei“, murmelte er und klang dabei schon mehr als zufrieden, „Wenn du mir nur zwei Drittel Kuschelleistung gibst, habe ich statt einer Stunde neunzig Minuten gut.“
„Simple Mathematik?“, fragte ich und versucht dabei zu ignorieren, dass mich seine Haare  kitzelten.
„Genau.“
Einen Moment lang überlegte ich wirklich, ob es die halbe Stunde extra nicht wert wäre, aber dann gab ich mir einen mentalen Tritt in den Hintern. Also bitte. Was der Ami konnte, konnte ich schon lange. Und es war nicht unschön, so hier zu liegen. Auch, wenn ich mir die ‚willige Oma‘ aus der Spätwerbung gestern ins Gedächtnis rufen musste, damit er nicht erkannte, wie schön ich es fand.
Ich schloss die Augen und winkelte mein Bein an, schob es nach vorne – Rubin hob seines an, damit ich es zwischen seinen platzieren konnte, dann ließ er es wieder sinken und seufzte. Zufrieden. So richtig. Sein Daumen fuhr über meinen und von einem Moment auf den anderen bemerkte ich, dass sein Brustkorb im Stakkato pochte.
Von wegen ‚nur kuscheln‘, von wegen ‚unschuldig‘ – bei unschuldigen Aktionen hämmerte einem das Herz nicht fast ein Loch in die Brust!
Das mentale Bild der willigen Oma löste sich in Luft aus und wurde durch andere ersetzt. Ich versuchte sie zu unterdrücken, denn ich wollte wirklich nicht auf ihn reagieren, nicht jetzt, nicht, bevor er irgendetwas in der Richtung – aber aus Bildblitzen wurden Stillleben, und dann Kurzfilme. Immer wieder dieselben, die ich schon gestern Nacht gesehen hatte, plus neue von heute. Harmlose, zum Teil – das stolze Lächeln, als der Pudding geglückt war oder der konzentrierte Blick beim Korrigieren meiner Aufgaben – manche auch anregend – er, im Bett, noch halb verschlafen, die Hand nach mir ausgestreckt – und ein paar davon versaut – sein Gesichtsausdruck, als bei unserem ‚Intermezzo‘ meine Hand in seine Hose verschwunden war, die Art, wie sich sein Arsch unter meinen Fingern angefühlt hatte, seine Stimme, als er mit meinem Namen auf den Lippen gekommen war. Und immer mehr, die sich gar nicht ereignet hatten, die sich aber ereignen könnten, wenn ich jetzt mein Bein höher schöbe, oder die Hand tiefer, wenn ich meine Lippen über seine Haut wandern ließe, so, wie er es gestern kurz vor dem Einschlafen getan hatte. Bilder davon, wie er den Kopf in den Nacken legte und stöhnte, wie er sich zu mir umdrehte – oben ohne – wie er unter mir lag – nur noch in Unterwäsche. Davon, wie auch die Unterwäsche verschwand.
Und es wäre nichts Neues. Nein, das alles hatten wir sowieso schon getan, also würde ich auch nichts ‚lernen‘, danach nicht mehr missen, als jetzt schon.
Wirklich, es würde keinen Unterschied machen.
Ich hatte nicht bemerkt, dass meine Hand – oder besser: unsere, denn seine lag immer noch auf meiner – sich bewegt hatte, dass sie von seinem Schlüsselbein langsam seinen Körper hinunter bis zum Saum seines Shirts gewandert war. Doch nun, da ich den Saum unter meinen Fingern spürte, ihn anhob, zwischen Daumen und Mittelfinger rieb, nun bemerkte ich es sehr wohl. Und statt einzuhalten schlich sich erst die Kuppe des Ringfingers auf seine Haut, dann die des kleinen Fingers und als Rubin die Luft zitternd aus seinen Lungen stieß, der Rest der Hand.
Seine Bauchmuskeln spannten sich an und für einen Augenblick schien er erstarrt. Meine Hand wanderte weiter, nun wieder hinauf, wie ohne mein Zutun, von seinem Nabel über die Rippen, und schob gleichzeitig das Shirt hoch. Als mein Daumen seinen Nippel streifte, drückte er seinen Rücken durch, so dass sein Oberkörper gegen meine Hand und sein Hintern gegen meinen Schritt gepresst wurde.
Vyvyan …!
Da war er wieder, der Ton, den er schon beim Intermezzo drauf gehabt hatte, nur jetzt deutlicher, dringlicher, fahriger.
Vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem mein Hirn sich endgültig verabschiedete und meine Bedenken und Zweifel mit sich nahm – obwohl ich das nicht glaubte. Nein, der Zeitpunkt war ziemlich sicher längst vorbei. Dennoch: Vielleicht hätte ich noch aufhören können. Hätte ich ans Aufhören gedacht, an die simple Möglichkeit, mein Tun einfach zu unterlassen … dann hätte ich es vielleicht auch tun können. Stattdessen schob ich mein Bein nun wirklich weiter hoch und spürte im nächsten Moment seine Haut unter meinen Lippen.
So.
Verflucht.
Gut.
Irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich, dass man langsam anfangen sollte, aber dafür hatte ich keine Geduld. Ich hatte gestern die halbe Nacht mit blauen Kronjuwelen verbracht, und davor – ach, sagen wir einfach, es war höchste Zeit. Und deswegen ließ ich leichte, einsteigende Küsschen Küsschen sein und biss ihn stattdessen in die Schulter. Vielleicht ein wenig zu fest, da sich alles seltsam schwammig und gleichzeitig glasklar anfühlte und ich nicht mehr die völlige Kontrolle über meine Bewegungen hatte, aber seinem Keuchen zufolge störte es ihn nicht. Ich leckte versöhnlich drüber, während in mir mehrere Dinge nacheinander explodierten – oder vielleicht brannten auch nur alle Synapsen gleichzeitig durch, wer wusste das schon.
Don’t stop – just, just don’t …!“, murmelte er so leise, dass ich es fast nicht verstand.
Ich zog meine Hand aus seinem Shirt, mein Bein zwischen seinen hervor und drückte ihn im nächsten Moment auf den Rücken, während ich über ihm kniete.
„Sprich Deutsch oder halt die Klappe!“ Ich platzierte mein Knie wieder zwischen seinen und rieb es nachdrücklich an seinem Schritt. „Verstanden?“
Rubin sah mich überrumpelt an, biss sich auf die Lippen und nickte dann hastig. „Ja, Deutsch, kapiert. Nicht aufhören!“
Na also. Ging doch.
Zufrieden griff ich nach seinem Shirt und zog es ihm kurzerhand aus.
Besser. Viel, viel besser.
Ich sah meinen Händen dabei zu, wie sie langsam und genüsslich jeden Quadratzentimeter seines Oberkörpers erkundeten, streichelnd, kreisend, neckend. Rubin lag einfach nur da, mit einem trägen Lächeln auf den Lippen. Ich spürte seinen leicht verklärten Blick auf mir, aber lieber konzentrierte ich mich darauf, die Schauer zu beobachten, die ich bei ihm auslösen konnte. Als ich mich hinunterbeugte, die Haut seiner Halsbeuge schmeckte und mit den Nägeln leicht über seinen Bauch kratze, schlang er die Arme um mich und zog mich hinunter, bis ich auf ihm lag, zwischen seinen Beinen.
„Pulli“, murmelte er auffordernd in mein Ohr, aber ich hatte gerade Wichtigeres zu tun. Mein Pullover interessierte mich schrecklich wenig, wenn ich nicht nur von seinem Zitronengrasduft beduselt war, sondern auch noch seine Haut schmeckte. Keine Ahnung, wie er das anstellte, aber gegen seine Haut sah jeder Lollipop alt aus.
„Was, wenn ich dann friere?“, entgegnete ich und küsste mich hoch zu seinem Ohrläppchen.
„… Eh zu heiß…“ Seine Finger krallten sich in meine Haare, aber statt dass sie mich von ihm wegzogen, hielt er meinen Kopf fest, damit ich mich auch ja nicht entfernte.
Ohrläppchen, musste ich mir merken.
„Pulli!“, wiederholte er und zerrte mit der zweiten Hand daran. Vielleicht lag es an der Einhändigkeit, vielleicht aber auch an der Situation; jedenfalls kam er nicht weit, bis ich mich schließlich erbarmte und von seinem Ohr abließ, um mir das Ding über den Kopf zu ziehen.
Er hatte Recht: Ohne Pulli war besser. Nicht nur lag ich nun mit meinem Bauch direkt auf seinem, nein, auch die Finger, die sich in meinen Rücken krallten, als ich anfing an seinem Ohr zu knabbern, spürte ich direkt und ohne störenden Stoff zwischen ihnen und mir. Und als sie kurz darauf meine Wirbelsäule hinuntergeisterten hatte ich bereits vergessen, je einen Pullover angehabt zu haben. Sollten per Gesetz abgeschafft werden, die Dinger.
Rubin hatte gerade angefangen, meinen Nacken zu kraulen und mich damit kurzzeitig aus dem Gefecht zu setzen, als die Hand in meinem Kreuz angekommen war. Eine halbe Sekunde später lag sie auf meinem Arsch und drücke mich gegen ihn, während er sein Becken anhob.
Konnten sämtliche Synapsen zweimal innert weniger Minuten durchbrennen? Anscheinend schon.
Ich ließ meine Stirn gegen seine Schulter fallen und schloss zum ersten Mal selbst die Augen, als ich begann, mich langsam an ihm zu reiben. Es war unbeschreiblich: Alles, was ich roch, war Rubin, alles, was ich hörte, war Rubin, und alles, was ich spürte, war Rubin, während tausend Lichter in abertausend Farben hinter meinen Lidern explodierten. Meine Welt bestand aus Rubin und Lichtblitzen und es war perfekt.
Dennoch wollte ich es nicht so zu Ende bringen. Nicht, solange er noch halb angezogen war, und nicht, ohne dass ich ihn überall berührt hätte, schließlich musste ich die Chance nutzen. Deshalb genoss ich es solange, bis ich langsam aber sicher an meine Grenze kam, und dann öffnete ich die Augen und brachte etwas Abstand zwischen uns.
Rubins Hand war immer noch in meinen Haaren und nun machte er Anstalten, sich über mich zu rollen, aber ich hielt ihn davon ab. Als er mich verwirrt ansah, schüttelte ich den Kopf und ließ meine Finger seinen Körper hinuntertanzen. Beim Hosenknopf angekommen hielt ich inne, zupfte an ihm und sah ihn fragend an. Rubin hob ohne zu zögern sein Becken an. Ich grinste.
Na also. Waren wir doch einer Meinung.
Ich wusste nicht wieso, aber ich wollte jetzt nicht berührt werden, zumindest nicht in erster Linie. Die Hände in meinen Haaren und an meinem Nacken und auf meinem Rücken waren genial – mehr als das, sogar – aber vor allem wollte ich berühren. Erkunden. Seine Reaktion sehen. Meinen Namen hören, wenn er kam.
Das ganz besonders.
Ich ließ mir Zeit mit der Hose. Fuhr mit den Fingerspitzen unter den Bund, zeichnete den Umriss seiner Erregung nach, tauchte mit der Zunge in seinen Bauchnabel, während ich meine Hände unter seinen Arsch schob. Den hatte ich schon ein bisschen vermisst.
Vyvyan, verdammt, mach endlich!“
„So ungeduldig?“, murmelte ich, legte aber, nett wie ich war, Daumen und Zeigefinger an den Knopf.
„Was denkst du denn? Ich steh seit einer kleinen Ewigkeit unter Strom!“
‚Seit einer kleinen Ewigkeit‘? Wie lange war eine kleine Ewigkeit? Seit wir hier oben waren? Heute? Gestern? Mir gefiel die Vorstellung, dass ich letzte Nacht nicht der einzige gewesen war, den das Kuscheln nicht kalt gelassen hatte. Das würde auch erklären, warum er sich ‚zurückgehalten‘ hatte – das mit dem auf mich Rücksichtnehmen kaufte ich ihm nämlich nicht so ganz ab.
Aber … unwichtig, jetzt.
Ich legte meine Hand flach auf seinen Schritt und drückte leicht zu.
„Sag bitte.“ 
„Bitte!“, kam es postwendend zurück und verwirrte mich ein bisschen. Ich hätte nicht erwartet, dass ihm das Wort so leicht von den Lippen rollte.
„Was?“, blaffte er nun sichtlich ungeduldig, „Ich habe bitte gesagt – auf die eine oder andere Art tue ich das doch schon die ganze Zeit – also mach endlich, verdammt!“
Er hatte sich auf die Ellbogen gestützt und funkelte mich aus lustverhangenen dunklen Augen an. Ich mochte die Mischung. Nicht nur die in seinem Blick, sondern auch die in seinem Verhalten – bittend im ersten Moment und fordernd im nächsten. Ich mochte das. Das war … neu. Ich mochte …
„Zu Befehl“, murmelte ich, um meine Gedanken zu unterbrechen und den Drang, ihn zu küssen zu unterdrücken – einfach, weil es bei so was normalerweise dazugehörte. Half nur mäßig, bis ich mich auf etwas anderes konzentrierte: sein Zuviel an Kleidung. Also öffnete ich erst den Knopf, dann den Reißverschluss und hakte schließlich die Finger in den Bund ein. Rubin ließ sich wieder auf den Rücken sinken und hob die Hüfte an, damit ich ihm Hose und Unterwäsche zusammen ausziehen konnte. Und wenn ich schon dabei war, mussten seine Socken auch noch gleich dran glauben.
Bei dem Intermezzo an meiner Zimmertür, das ebenfalls eine kleine Ewigkeit her zu sein schien, war es mir schon aufgefallen, aber nun wurde ich von der erneuten Erkenntnis fast erschlagen: Rubin war schön. Einfach nur – schön. Nicht muskelbepackt wie Kim und nicht ‚süß’ wie Theo, sondern schön. Die Art von schön, bei der die Hand zitterte, wenn man sie ausstreckte, um sie zu berühren.
Vyvyan?“
Oh, jetzt klang er leicht verunsichert. Das wollte ich nicht. Hatte wahrscheinlich zu lange gestarrt.
Ich sah hoch in seine Augen, lächelte obwohl ich grinsen wollte und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel.
„Hm?“
Er schluckte. Keine Ahnung, was er in meinem Gesicht sah; vermutlich wollte ich das auch nicht wissen. Aber als er die Hand ausstreckte, schmiegte ich meine Wange hinein, weil es sich in dem Moment wie das Richtige anfühlte. Und während er mich zu sich zog, wanderte meine Hand höher nach oben, bis sie an ihrem Ziel angekommen war und Rubins Kopf mit einem erstickten Keuchen nach hinten rollte. 
Ich widmete mich wieder seinem Hals, genoss es, wie seine Haut unter meinen Lippen vibrierte und er sich fast verzweifelt an mich krallte. Und als er irgendwann kurz vor dem Ende wieder ins Englische wechselte, störte mich das seltsamerweise kein bisschen.

***

Rubin lag eine Weile einfach mit geschlossenen Augen da und versuchte, wieder zu Atem zu kommen – oder genoss die post-orgasmischen Glückshormone, so genau wusste ich das nicht. Als er schließlich die Lider hob, lächelte er auf eine Weise, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, und hob die Hand, um mit den Fingerspitzen über meine Schläfe zu fahren.
Ich mochte das Lächeln, irgendwie, aber irgendwie machte es mich auch nervös. Und etwas sagte mir, dass es mich noch viel nervöser machen würde, wenn sich meine Hose nicht immer noch drei Nummern zu klein anfühlen würde.
Er sagte nichts, als er gezielt in meinen Nacken griff und dort wieder mit eben dem Kraulen anfing, das meine Denkfähigkeit auf das Niveau eines Einzellers hinabsetzte. Immer noch mit diesem Lächeln auf den Lippen setzte er sich auf, so weit es eben ging, und drückte mich sanft zurück auf die Decke. Als er sich über mich schob, hob ich die Arme und wollte – keine Ahnung, sie um ihn legen oder ihn zu mir ziehen oder an seinen endlich komplett verstrubbelten Haaren zupfen, aber er fing meine Handgelenke ein, drückte sie neben meinem Kopf runter und sah mir einen langen Moment lang in die Augen, während er sie festhielt.
Stillhalten, kapiert.
Schade, aber. Seine Haare sahen verlockend aus. Seine Schultern auch.
Er ließ meine Handgelenke los und fuhr mit den Händen an meinen Unterarmen hinunter, bevor er sich daneben abstütze und langsam, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, sein Gesicht meinem näherte. Immer noch lächelnd – hatte er je nicht gelächelt?
Ich schloss meine Augen kurz bevor ich seine Lippen auf meiner Stirn spürte. Hauchzart nur, dann verschwanden sie für den Bruchteil einer Sekunde und tauchten an meiner linken Schläfe wieder auf. Von da aus glitten sie zu meiner Wange, über die Nase auf die andere Seite, zum Kiefer. Er hob den Kopf einige wenige Zentimeter, hielt inne. Als ich ihn wieder ansah, schwebte sein Gesicht direkt über meinem und sein Lächeln flackerte. Mehrere Herzschläge lang passierte nichts, dann wurde das Lächeln breiter, der Zweifel, den ich bisher nicht entdeckt hatte, verschwand aus seinen Augen und er hauchte mir einen Kuss auf die Nasenspitze. Aufs Kinn. Die Kehle hinab.
Ich schloss die Augen wieder. Ich hatte etwas anderes erwartet, aber ich war mir nicht sicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte – also, doch: Ich sollte erleichtert sein. Nur, war ich es auch?
Jetzt war nicht der Zeitpunkt, für solche Fragen. Nein, jetzt war der Zeitpunkt, das Denken auszuschalten und nur zu fühlen – und dafür, oh, dafür war der Zeitpunkt wirklich perfekt. Vielleicht – wahrscheinlich – lag es daran, dass Rubin bereits gekommen war, aber seine Berührungen waren anders als beim ersten Mal. Sanfter und … intimer. Weniger gehetzt,  weniger zweckorientiert, überhaupt nicht ungeduldig, obwohl er mich auch nicht unnötig zappeln ließ. Er bahnte sich langsam einen Weg nach unten und knabberte noch an meiner Brustwarze, als seine Hand bereits meine Hose öffnete und hinein schlüpfte. Tausend Schmetterlingsküsse später war er bei meinem Bauch angekommen und zog meine Hose nach unten. Kurz darauf hörte ich, wie sie zu Boden fiel. Die Socken folgten, bevor ich seinen Atem auf meiner Haut spürte, die Daumen auf meinen Hüftknochen, über dem Stoff meiner Pants sanft hin und her streichelnd, wie gestern Nacht. Wieder seine Lippen, unterhalb meines Bauchnabels, halb auf dem Bund der Unterhose, und dann –
Ich schoss hoch und starrte ihn an. Er – er konnte doch nicht …
Doch als mir sein Blick begegnete, verschwanden meine Gedanken. Die Verwirrung und Überraschung blieb, wenn auch gedämpft. Er war immer noch so schön. Und er senkte erneut den Kopf und drückte eine Kuss mitten auf den dunklen Stoff, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Ich war mir ziemlich sicher, dass das erstickte Keuchen von mir kam, aber ich hatte es nicht aus meinem Mund kommen spüren. Rubin war es nicht gewesen, denn sein Mund war geschlossen, immer noch dort, und außer ihm und mir und Betsy existierte nichts. Als er seine Lippen fester auf mich presste, wollte ich mich fallen lassen, wollte die Augen schließen und mich hinlegen, aber ich konnte nicht wegsehen. Auch nicht, als er mir die Pants langsam von den Hüften zog und sie der Hose nachschickte. Sein Blick fesselte mich, während ich ungläubig zusah, wie er den Kopf tödlich langsam senkte.
Ich konnte keinen Zweifel in seinen Augen sehen, kein Zögern, kein Zwiespalt. Als ich seinen warmen Atem spürte, erzitterte ich am ganzen Körper. Dann ersetzte er den Atem durch seine Lippen und alle Kraft verließ meinen Körper. Ich sank zurück auf die Decke, doch auch wenn ich ihn nicht mehr sah, hatte sich sein Blick in meine Augenlider gebrannt, so dass ich sie nur schließen musste, um ihm wieder zu begegnen.
Ich glaube, ich wurde laut. Aber ich weiß es nicht.

***

Lange hielt ich nicht durch. Wie auch? Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen und – und so hatte es sich noch nie angefühlt. Rubin hatte geschluckt – was ich eigentlich unverantwortlich fand, aber ich hatte nicht genug Kraft oder Willen, um ihm das zu sagen – und war dann wieder hochgekommen, um sich an mich zu kuscheln.
Und nun lagen wir da, auf Betsy, beieinander, und ich versuchte, mich möglichst nicht zu bewegen, möglichst nicht nachzudenken und um Aphrodites Willen mein Hirn sich nicht wieder einschalten zu lassen. Ich wollte das nicht, denn ich wusste, dass es nicht gut werden würde. Ich verbot mir, darüber nachzudenken warum oder auf welche Weise es ‚nicht gut‘ werden würde, denn wenn ich das tat, kam garantiert alles zurück. Und ich wollte das nicht, ich wollte einfach nur hier liegen und mich gut und erschöpft und gewärmt fühlen und Rubins erhitzten Körper an meinem spüren und zufrieden sein. Nur für fünf Minuten.
Bitte.
Nur fünf.

Ich bekam keine fünf Minuten. Als die Panik einsetzte, hätte ein Teil von mir heulen können, doch je fester sie Besitz von mir nahm, desto stärker wurde dieser Teil in den Hintergrund verdrängt. Solange, bis er verschwunden schien.
Ich hatte mich immer noch nicht bewegt, keinen Mucks gemacht, aber mein Körper war so angespannt, dass es wehtat, und Rubin brauchte kein weiteres Zeichen, um zu merken, dass etwas nicht mehr stimmte – oder, dass es eben gerade wieder stimmte. Er lag still und wartete. Das Streicheln war verebbt. Ich sollte es nicht vermissen und tat es auch nicht, eigentlich. Aber es war so schnell vorbei gewesen.
Ich setzte mich wortlos auf und schob ihn von mir. Hatte nicht mitbekommen, dass er halb auf mir gelegen hatte, aber das machte nichts, denn jetzt war es zu Ende.
Ich schnappte mir meinen Pullover und zog ihn über, bevor ich so schnell wie möglich zur Wand rutschte und von Betsy runterkletterte. So schnell wie möglich nicht, weil ich flüchten wollte – auch, wenn ich genau das tat – sondern, weil Betsy auf nackter Haut dann doch viel zu heiß war. Meine Knie und Handflächen brannten, aber das war zweitrangig. Ich sah meine Hose, Socken und Pants und begann, eines nach dem anderen anzuziehen.
„… Vyvyan?
Nun waren sie doch da, die Zweifel, das Zögern und der Zwiespalt. In Rubins Stimme, nicht in mir. In mir war alles klar, wenn auch nicht ausartikuliert. In mir hatte sich die Panik zu glühenden Kohleklumpen verdichtet und mich auf Notfallmodus geschaltet. Nachdenken unerwünscht, bis ich alleine war. In meinem Zimmer, ungestört. Es würde nicht allzu lange dauern – vierzig Minuten mit dem Bus, vielleicht noch zehn mit meiner Familie, wenn ich Pech hatte. Eventuell Wartezeit an der Haltestelle. Alles in allem wahrscheinlich trotzdem unter einer Stunde. Aushaltbar.
„Ich muss nach Hause“, erwiderte ich viel zu ruhig, viel zu sachlich, und der Teil von mir, dem vorhin nach Heulen zumute gewesen war, begehrte auf, aber er war zu schwach, um etwas zu bewirken.
Vyvyan …“
„Kitty wartet.“
Das tat sie wahrscheinlich auch, aber heute würde ich nicht mehr mit ihr spielen, würde ihr nicht vorlesen und würde schon gar nicht mit ihr kuscheln. Ab morgen dann wieder.
Ich hatte mich angezogen und war dabei, das Wohnzimmer zu verlassen, als Leben in Rubin kam und er mir folgte. Dennoch sagte er erst etwas, als ich mir den Schal umwickelte.
Vyvyan, können …“ Er legte die Hand auf meine Schulter und drehte mich zu sich. „Können wir nicht darüber reden? Bitte?
Er trug nur seine Retros und … er war immer noch schön. Und etwas sagte mir, dass er das diesmal auch bleiben würde. Genau das war das Problem. Nach dem Intermezzo hatte ich es wieder verdrängt, hatte ihn anschauen können, ohne es zu denken, aber diesmal …
Ich hob meine Augenbrauen an und fragte: „Worüber?“ Und irgendwo tat mir mein distanzierter Ton leid, aber ich konnte nichts dagegen tun.
„Wo…? Na, über … eben, auf, auf Bets… du und …“ Seine Stimme verlor sich.
„Ich denke nicht, dass es etwas zu bereden gibt“, erwiderte ich und nahm meinen Rucksack und die Handschuhe, „Jeder experimentiert mal. Das ist völlig normal und im Großen und Ganzen nebensächlich.“ Ich griff nach der Klinke. „Schönen Abend noch.“ Dann ging ich raus und zog die Tür zu.
Rubin hatte ich nicht noch einmal ins Gesicht geschaut. Ich war ein Arschloch. So ein verdammtes Arschloch. Ich wusste das und ich wusste, dass ich mir später Vorwürfe machen würde, aber jetzt war es nicht wichtig. Nein, jetzt zählte nur, so schnell wie möglich in mein Zimmer zu kommen.

***

Als ich die Zimmertür hinter mir schloss, atmete ich tief aus. Natürlich hatte ich auf den verfluchten Bus warten müssen, der dann natürlich auch noch zu spät gekommen war. Und natürlich hatte Kitty mich nicht einfach in mein Zimmer huschen lassen – oh nein, sie hatte Fragen zu unserem morgigen „Abenteuerausflug“ – zu Betsy und zu Rubin und, ob sie ihm etwas mitbringen solle, sie könne ja noch etwas basteln – und dann wollte sie mir von ihrem Tag erzählen – Mum hatte sich dazu bezirzen lassen, ihr stricken beizubringen und Kitty hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir als aller-allererstes einen extra langen, extra kuscheligen Schal in blau-pink zu stricken. Blau-pink. Aber sie bestand ja trotz allem darauf, ihre pinke Phase hinter sich zu haben. Schreckliche Farbvorlieben hin oder her: Miss Kitty war mein Augenstern und ich freute mich auf den Schal. Dennoch hatte ich mich unter dem verwunderten Blick von Mum auf mein Zimmer zurückgezogen, sobald Kittys erster Redeschwall vorüber gewesen war. Und jetzt … jetzt stand ich an der Tür, verbot mir, an gewisse Dinge zu denken, die ich genau hier getan hatte, und wusste nichts mit mir anzufangen.
Ich – keine Ahnung, was ich gedacht hatte, aber … nun, doch, eigentlich hatte ich erwartet, dass irgendwas geschah, wenn ich endlich alleine war. Dass die Panik wieder hochkochte oder dass ich wütend auf mich wurde oder mich meinetwegen auch vor mir ekelte. Alles, nur nicht das, was tatsächlich passierte: nichts.
Keine Panik, kein Nervenzusammenbruch, kein ‚Oh-Verdammt-Wie-Konnte-Ich-Nur?!’. Ich war beinahe unangenehm ruhig.
Natürlich war ich immer noch ein Arschloch. Fee gegenüber, Rubin gegenüber und, nun, mir selbst gegenüber, immerhin hatte ich meine Prinzipien verraten. Irgendwie. Aber gerade tangierte mich das nur peripher. Ich konnte mich nicht dazu bringen, genauer über alles nachzudenken und ich wusste auch nicht, wie ich mich jetzt zu fühlen hatte. Schlecht, wahrscheinlich. Aber … keine Ahnung, ich fühlte mich eher leer.
Und jetzt?
Ich sah mich in meinem Zimmer um. Auf meinem Nachttischchen lag Eliaseis und wartete darauf, von mir gelesen zu werden, aber jetzt seelenruhig ausgerechnet in dem Buch lesen, das Rubin mir geschenkt hatte, das konnte ich nicht bringen. Und ansonsten hatte ich auf nichts Lust.
Aufsatz?
Warum nicht. Der würde eh lange genug dauern, also konnte ich mich auch gleich dran setzen. Also machte ich leise Musik an, nahm Stift und ein Blatt Papier hervor und befreite einen Lutscher aus seinem Verpackungsgefängnis.
Thema?
Eigentlich egal. Dreihundert Wörter sollte man über so ziemlich alles schreiben können. Zum Beispiel über den Grund, warum Kachelöfen zu den besten Erfindungen der Menschheit gehörten.
Äh, nein. Nichts, das mich an Rubin erinnerte.
Dann vielleicht über die Freuden eines siebzehnjährigen Kerls, der bald in einem unregelmäßigen blau-pinkfarbenen Schal herumlaufen durfte?
Auch schlecht, denn Kitty würde morgen ja zu Rubin wollen und – tadaa! – schon waren wir gedanklich wieder bei ihm angekommen.
Morgen. Würde das überhaupt noch stattfinden? Und … was war mit der Nachhilfe? Er hatte doch sehr verstört gewirkt und er hatte … ‚darüber‘ … reden wollen … aber vielleicht interpretierte ich da zu viel hinein und dass ich einfach abgehauen war ging ihm im Grunde an seinem wohlgeformten Arsch vorbei. Vielleicht hatte er nur sicherstellen wollen, dass ich nichts ausplauderte – er war schließlich ungeoutet. Vielleicht hatte er Angst gehabt, dass ich mich jetzt deswegen in ihn verliebt hätte oder so was.
Genau. Vielleicht war es ihm egal.
Ich kramte mein Handy hervor und warf einen Blick darauf. Keine SMS. Okay. Das war wenig hilfreich, aber falls er alles abbrechen wollte, dann würde er sicher schreiben, nicht wahr? Ich meine, in dem Fall hätte er sicher keinen Bock, morgen Vormittag von mir aus dem Bett geklingelt zu werden.
Oder aber: Vielleicht schrieb er extra nicht, damit ich vergebens hinfuhr und mir dann etwas ausdenken musste, wie ich Kitty erklärte, dass sie Betsy nicht morgen, nicht übermorgen und sowieso gar nie kennenlernen würde. Nein, oder?
Ah, verdammt!
Ich wollte doch nicht über ihn und alles nachdenken. Es war eh schon ein Wunder, wie gut ich Flashbacks von heute Nachmittag vermieden –
Und da waren sie. Rubin neben mir, Rubin unter mir …
Scheiße, aus!
… Rubin über mir.
Aus jetzt!   
Was wollte ich noch gleich? Ach ja: Ein Thema aussuchen.
War doch auch scheißegal. Irgendwas Banales … Winter. Ein Thema so gut wie jedes andere. Und als Titel, damit da bereits schon Wörter verbraucht wurden: My thoughts over (on? About?) Winter.
Nein, noch besser: My thoughts over/on/about the season of Winter. Bämm, sieben Wörter! Fehlten nur noch zweihundertdreiundneunzig – plus, ich musste herausfinden, ob over, on, oder about richtig war – obwohl, nein. Ich konnte auch einfach eines aussuchen und gut war. Rubin würde es ja morgen sowieso korrigieren und ich musste heute noch mit dem Ding fertig werden.
Vielleicht konnte ich noch ein cold in den Titel schmeißen? Ein very cold. Neun Wörter! Das lief ja fantastisch heute. Grandios.
Obwohl: Wenn er das mit morgen absagte, dann brauchte ich den Aufsatz nicht schreiben. Aber wollte ich wirklich darauf wetten? Nein. Aber wenn er absagte und ich dann mit Miss Kitty in Erklärungsnot geriet, dann war ich selber schuld. Vielleicht würde der Ärger mit Kitty, den ich unter Garantie bekommen würde, mir wenigstens eine Lehre sein. Das und die miserable Englischnote, denn mal ehrlich: Ohne seine Hilfe wurde das nichts. Mit seiner Hilfe dagegen hatte ich eine halbe Chance.
Sicher, eine schlechte Note in Englisch wäre scheiße, aber es war ja nicht mein Leistungskurs. Das Abitur würde deswegen schon nicht den Bach runter gehen – vor allem, da ich bisher meinen Schnitt immer mithilfe meiner Mitarbeit und meinem Bemühen (denn, mal ehrlich, was anderes konnte man meine mündlichen Beteiligung am Unterricht nicht nennen) immer vor Unterpunktung gerettet hatte. Kein Weltuntergang, also, aber vielleicht wenigstens ein Denkzettel, vor allem in Verbindung mit all der verschwendeten Zeit und den versauten Ferien und Krach mit Kitty. Doch, vielleicht würde das reichen, um mich beim nächsten Mal ein wenig Selbstkontrolle zeigen zu lassen.
Das heute war auch wirklich jämmerlich gewesen. Nicht nur hatte ich die Initiative ergriffen, ohne seine Aufforderung, nein, ich hatte die Initiative auch behalten. Mich direkt geweigert, sie frühzeitig abzugeben – wie bescheuert war das denn bitte gewesen? Auch wenn ‚bescheuert‘ nicht das richtige Wort dafür war. Eigentlich war mein Fehlen jeglicher Selbstdisziplin einfach nur peinlich und … erbärmlich.
Da, schon wieder dieses Wort. Und es gefiel mir in Verbindung mit meiner Wenigkeit immer noch nicht. Aber hätte ich gewusst, wo das hinführen würde, hätte ich das erste erbärmlich geschluckt und mir selbst das Kuscheln mit Rubin bereits gestern Nacht verboten. Dann wären wir nie in diese Situation gekommen.
Und was lernten wir darauf? Sogar unschuldige Dinge konnten zum Untergang führen. Am besten war es, wenn ich von jetzt an einfach wieder allen Situationen, die auch nur die leiseste homoerotische Färbung hatten, aus dem Weg ging. Wo keine Versuchung, da kein Fehlverhalten. Ganz einfach.
Gut, da das geklärt war, konnte ich ja jetzt zurück zu meinem Aufsatz.
Winter. Vielleicht … war es am einfachsten, wenn ich einfach aufschrieb, was ich daran mochte und was nicht. Immerhin ging es hier nur um das Üben von Grammatik und Wortschatz, nicht darum, ein schriftstellerisches Meisterwerk zu produzieren.
Also … ‚Dinge, die ich mag’: things that I like. Gut, vier Wörter. Dinge, die ich am Winter mag: things that I like about/on/wassauchimmer Winter. Oder wurde Winter klein geschrieben? Auch egal.
Was ich am Winter mochte … den Schnee. Snow. Nein, the snow. Noch mal zwei. Glühwein – das musste ich nachher nachgucken, aber ich konnte es schon mal notieren. Was noch? Geheizte Häuser. Kachelöfen … falsche Richtung.
Das war doch nicht normal, dass ich immer wieder und über etliche Ecken darauf zurückkam, oder? Vielleicht hatte ich ja eine Hormonüberproduktion oder so. Vielleicht sollte ich mich echt mal durchchecken lassen. Oder aber ich war einfach nur ein normaler Teenager, der sich bisher genau das erfolgreich verboten hatte, was ihm am besten gefiel, und dessen Körper das jetzt auf Biegen und Brechen nachholen wollte. Mit anderen Worten: notgeil. Auch keine schöne Selbstbeschreibung.
Hatte ich nicht vor ein paar Monaten diesen Artikel im Internet gelesen – oder war es ein Bericht im Fernsehen gewesen? – jedenfalls hatte ich gehört, dass es Versuche einer ‚Therapie‘ für Pädophile gab, die darin bestand, sie mit einem Chemiecocktail vollzupumpen, der es ihnen unmöglich machte, Lust zu empfinden. Nicht einfach nur Impotenz auslöste, sondern die Lust im Keim erstickte. ‚Den Sexualtrieb vollkommen ausschalten‘, hatten die das genannt. Vielleicht wäre das etwas für mich? Dann könnte ich zwar auch keine Freundin mehr haben, aber wenigstens würde ich …
Ach.
Du.
Verfickte.
Scheiße!
Ich saß von einer Sekunde auf die andere aufrecht und der Lolli schmeckte plötzlich so eklig, dass ich ihn aus meine Mund zog und ohne zu zögern in den Papierkorb warf. Und das, obwohl ich wusste, dass der arme Lollipop nichts dafür konnte, dass er garantiert immer noch lecker nach Kirsche schmeckte und ich mir das leicht Verfaulte nur eingebildet hatte.
Aber: Hatte ich eben wirklich einen Moment lang daran gedacht, mich einer Therapie für Kinderschänder zu unterziehen? Klar, nicht, weil ich Kinder schändete, aber – bedeutete das nicht trotzdem, dass ich Homosexualität irgendwo auf eine Stufe mit Pädophilie stellte?
Nein, oder?
Das wäre nämlich echt … verdammt daneben. Und ungesund. So, so ungesund.
Ich meine, ich wusste, dass die beiden Dinge nicht vergleichbar waren. Pädophile waren einfach nur krank und abartig und gehörten meiner Meinung nach chemisch kastriert, während Homosexuelle bloß vom Leben benachteiligt waren und niemandem wehtaten – nicht mehr als andere Menschen auch, zumindest. Und die meisten Menschen sahen das heutzutage auch so, außer eben in Ländern wie Russland oder Nigeria, wo man immer noch Hinterwäldleransichten vertrat, aber da lebte ich zum Glück ja nicht – und da ich weder dem Russischen noch dem Nigerianischen (? Gab es die Sprache überhaupt?) mächtig war, würde ich mich auch in Zukunft von diesen Örtlichkeiten fern halten.
Aber, ich … ich … scheiße.
Vielleicht hatte ich mich was meine sexuelle Orientierung anging, leicht in etwas hineingesteigert. Das wäre möglich, oder? Dass ich es schlimmer zeichnete, als es wirklich war?
Sicher, ein Zuckerschlecken war es auch nicht und so akzeptiert, wie gemeinhin behauptet wurde, schon gar nicht. Aber … aber auf gleicher Stufe mit Pädophilie eben auch nicht. Nein, davon war einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen Männern nicht nur meilen-, sondern galaxienweit entfernt.
Und was hieß das jetzt für mich?
Dass ich mich ‚abregen‘ musste? Chillen, wie die hirnamputierten Bauernprollos aus dem letzten Dorf, in dem wir gewohnt hatten, immer meinten?
Aber – aber Schwulsein war nun mal scheiße! Man konnte nicht heiraten und war nicht ‚normal’ und es wurde getuschelt – man war in der Nachbarschaft nicht ‚der Papa mit dem Motorrad‘ oder ‚der Kerl, der sonntags immer in seinem Garten liegt‘, nein: man war einfach nur ‚der Schwule‘. Auf immer und ewig. Man konnte ‚trotzdem ganz nett‘ sein und ‚sogar eine langjährige Beziehung‘ führen und dennoch war es nie normal, nie völlig akzeptiert. Darauf hatte ich nun mal keinen Bock. Den Rest meines Lebens lang unter den Top Ten der Gerüchtethemen meines Umfeldes zu sein – nein danke. Absolut kein Bedarf.
Alles nur Rubins Schuld! Wenn dieser verfluchte Ami nicht gewesen wäre, hätte ich nie darüber nachdenken müssen! Dann wäre ich immer noch wie geplant von Männerhänden unberührt und würde mir auch nicht wünschen, das von heute Nachmittag noch einmal zu erleben – und natürlich tat ich das. Wer hätte es sich nicht gewünscht? Das war der beste Sex meines verfickten Lebens gewesen! Und das nicht nur, weil Rubin nicht nur technisch besser als all meine Exfreundinnen zusammen war – auch nicht, weil er im Gegensatz zu den Mädchen den Eindruck vermittelt hatte, als würde er mir wirklich einen blasen wollen – nein, vor allem, weil es sich so unglaublich geil angefühlt hatte, ihn zu berühren. Anzuschauen. Zu hören. Weil ein Männerkörper einfach nicht mit einem Frauenkörper vergleichbar war und mir allein bei der Vorstellung, meine Hände noch einmal unter sein Shirt zu schieben, die Fingerspitzen kribbelten.
Das war doch einfach alles beschissen.
Vor allem, da mir in diesem Moment, fast aus dem Nichts heraus, eine weitere Sache klar wurde: Ich würde niemals heiraten können. Klar, ich rechnete generell nicht damit, einfach schon deshalb, weil ich keinen Bock hatte, meine Scharade auch zu Hause noch aufrecht zu erhalten – aber wenn ich ganz, ganz schrecklich und absolut ehrlich war, dann hatte ich es mir eben doch immer gewünscht. Ein kleines Häuschen mit Garten, zwei oder drei Kinder, ein Volvo und eine Frau, die mit den Kindern zusammen Kekse buk. Vor allem Kinder. Eine eigene Familie.
Aber dieser Wunsch würde nie Realität werden, sogar wenn ich eine Frau finden sollte, die ich wie meine Familienmitglieder lieben und vor der ich ich selbst sein konnte. Denn so einer Frau würde ich es niemals antun, mit mir verheiratet zu sein. Ich meine, hallo?! Ich schaffte es ja noch nicht einmal, nicht mit Fee Schluss machen zu wollen, und Fee war nur irgendein nettes Mädel aus der Parallelklasse. Kein schlechter Mensch, aber auch nichts Besonderes, zumindest nicht für mich. Einer Frau, die ich gewillt war zu heiraten, würde ich nicht betrügen und nicht konstant belügen wollen oder auch nur können – und mir war jetzt schon klar, nach diesen wenigen, ersten Tagen mit Rubin als meine erste gleichgeschlechtliche Erfahrung, dass ich ohne irgendwann nicht mehr würde sein können. Wenn ich Rubin wieder in die Statistenrolle verbannte, die er bis vor den Ferien innegehabt hatte, dann konnte ich vielleicht noch ein paar ruhige Jahre haben, aber irgendwann … war Schluss. Und das tat man der Mutter seiner Kinder nicht an. Solange ich also keine Lesbe kennenlernte, die ihre Homosexualität aus Karrieregründen, gesundem Menschenverstand oder Ähnlichem verstecken wollte, und die bereit war, mich zu heiraten und mir Kinder zu schenken (am besten über den Onkel Doktor als Mittelmann), dann sah ich rabenschwarz für künftige kleine Vyvyan-Juniors.
Und das, das war echt ein Schlag in die Magengrube. Ich hatte halt gehofft …
Scheiße. Erst Pseudo-Pädophilie und dann das.   
Und jetzt?
Keine Ahnung.
Aber erstmal konnte ich ja den Aufsatz weiterschreiben, um mich abzulenken. Zu dumm, dass ich niemand war, der seine Sorgen in Alkohol ertränkte, denn dann hätte ich wenigstens gewusst, was jetzt zu tun war.
Alles scheiße. Und alles Rubins Schuld.

*********

Das Telefon klingelte dreimal, viermal, fünfmal. Warum nahm sie denn nicht ab?! Dann endlich – klick!
„Ja?“ Lilly.
„Ist Megan da?“ Dumme Frage, war immerhin Megans Handy.
„Is’ eben unter die Dusche.“
Mist. Mist!
Ich starrte die Haustür an. Und jetzt?
In Gedanken sah ich ihn wieder, wie er einfach gegangen war. Ohne sich umzudrehen, ohne …
„Großer, was’n los?“ Lillys Stimme holte mich zurück und ich drehte mich ruckartig von der Tür weg. „Soll ich sie rausholen oder tu ich’s auch?“
That was the million-dollar question, wasn’t it?
Actually, no.
Vielleicht war Lilly sogar die bessere Wahl. Megan war manchmal zu … weich. Mir war eher danach, zu hören, wie jemand mit mir fluchte und ihm tausend Tode an den Hals – nein, nekrophil war ich schließlich nicht, also besser Impotenz – nein, das auch nicht! Das garantiert –
Fuck this shit!
„Ich bin kein verfluchtes Experiment!“, fauchte ich in den Hörer und stampfte den Flur rauf und runter. „And I don’t give a flying fuck about his reasons: nebensächlich bin ich schon gar nicht!“
„Ich stimme dir da grundsätzlich zu, aber ein bisschen Kontext wär trotzdem nich’ schlecht.“ 
Das war einleuchtend, vor allem, da offiziell niemand außer Megan von Vyvyan wusste. Von meiner … infatuation – einen anderen Namen würde ich dem jetzt nicht geben.
„Mein Mitschüler. Mein Nachhilfeschüler. Mein … Vyvyan. Ich nehme an, Megan hat dir von ihm erzählt?“
„Ja.“
Das war zu erwarten gewesen, denn ich hatte sie nicht gebeten, es nicht zu tun. Megan plapperte anderen gegenüber nie etwas aus, aber Lilly und mir erzählte sie alles.
Ich fasste die letzten vierundzwanzig Stunden knapp zusammen. Je näher ich dem Ende kam, desto mehr Energie verlor ich, bis ich mich schließlich neben der Treppe auf den Boden fallen ließ. Ich fühlte mich schlapp. Ausgelaugt. Der Tag hatte so gut angefangen und jetzt das.
Konnte ich die Wut zurückhaben, bitte?
„Was’n Herzchen“, machte Lilly am Ende trocken.
Ja, was’n Herzchen. Und was’n Idiot ich war, mir ausgerechnet dieses Herzchen auszusuchen.
Ich ließ den Kopf ans Treppengeländer sinken und schloss die Augen. Eine Weile schwiegen wir und das tat gut. Ich war seltsam ruhig, seltsam gedankenlos, aber es tat gut, dabei nicht alleine zu sein.
Fucking Brits“, fluchte ich schließlich matt, „Es war schon richtig, dass wir uns von ihnen losgesagt haben. Washington ist mein neuer Held.“
„Dann war’s das jetzt?“
„Wie meinst du das?“
„Machst du’s wie good ole Georgie und sagst dich los?“
„… Kann ich gar nicht“, erwiderte ich ohne nachzudenken, „Muss ihm doch Nachhilfe geben.“
„Aber mehr auch nich’. Danach kannste ihn vor die Tür setzen.“
Das hätte er wohl gerne! Wahrscheinlich sogar wirklich, wahrscheinlich hoffte er, dass ich genau so handelte, damit er sich nicht weiter mit mir auseinandersetzen musste. Mit uns. Denn egal, was er sich einredete: Es gab ein Uns. Ein wackliges, undefiniertes Etwas von einem Uns vielleicht, das mehr einem Fleckenteppich als was anderem glich, aber es gab ein Uns. Spätestens seit heute, seit er nicht gegangen war, als ich es ihm angeboten hatte. Er hatte kuscheln wollen – er hatte mit mehr angefangen! – also gab es ein Uns, Punkt.
Are you nuts? Ich werd’s ihm garantiert nicht so einfach machen!“, entgegnete ich scharf und fühlte die Energie in meine Glieder zurückkommen, „Er will experimentieren? Bitte. Dann experimentieren wir! Und ich werde ihm zeigen, was hier nebensächlich ist und was nicht!“
Lilly erwiderte nichts, aber spürte das Grinsen durch die Telefonleitung hindurch.
„Weißt du, ob Megan morgen schon etwas vorhat? Ich brauch einen Babysitter.“ Jemanden, der Catherine bespaßte, während ich mich ihrem Bruder widmete.
Nebensächlich my ass.

4 Kommentare:

  1. Hi, Dein Anonymer Fan mal wieder :D
    Hab immer noch nirgends n Konto um Unanonym zu sein, aber naja...

    UND OMG EEEEEEENDLICH
    endlich. muhahahahahahahhahahahahhaha
    Vyvy hat gegen sich selbst verloren.
    Und ich weiß garnicht wie du das meinst, dass er nicht macht was du willst.
    Denn ich find wie immer alles toll was du geschrieben hast.
    Aber das sagt ja jeder Junkie über seine Droge nh..
    :3
    ALSO
    und ich verzeih dir die 13 Minuten :D

    LG Eva

    (fühl mich immer so schuldig, wenn ich einfach nur lese ohne ein Kommentar zu hinterlassen O: )

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    1. Hahaha, ja, er hat verloren. Und es genossen. ;) (Zumindest währenddessen. Danach musste er ja wieder Mist bauen)
      Na ja, sagen wir einfach ich hatte einen anderen Plan für das letzte Kapitel. Aber das hat ihn herzlich wenig interessiert und von Rubin war da auch keine Hilfe zu erwarten (der war zu sehr damit beschäftigt, Vyvyans Nähe zu genießen).
      Aber es freut mich natürlich, wenn es dir gefallen hat! :D
      Danke vielmals für dein Review und für die 13 vergebenen Minuten! ^^

      (Und du musst dich überhaupt nicht schuldig fühlen, Reviews sind schließlich kein Muss. Ich freu mich, wenn ich eins bekomme, aber ich nehm's niemandem übel, wenn er keine Lust/Zeit/Muse dazu hat. )

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  2. Hey!
    Schade, dass mit dem Knoten.
    Dabei bin ich so hibbelig und möchte doch so gerne wissen wie es zwischen ihnen weiter geht.
    Er soll sich endlich mal n Herz fassen und in seinem Kopf die Dinge richtig stellen.
    Der Rest von ihm weiß doch schon längst was er will.
    Wie kann man nur so ein verbohrter Dickkopf sich selbst gegenüber sein.
    Und er tut ja nicht nur sich selbst damit keinen Gefallen. *seufz*
    Tret ihm mal n bisschen in Hintern!^^
    Und deinen Knoten zerschneiden wir auch gleich mal dabei.
    Vielleicht hilft ein langes Maiwochenende ja auf die richtigen Gedanken zu kommen.
    Drück die Daumen! *knuddel*
    Bis nächste Woche dann!

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    1. Ja, der Knoten war böse. Böse, böse, böse. Auch so frustrierend, dazusitzen und nichts hinzubekommen. Aber jetzt ist er, hoffentlich, weg (auch wenn ich grad zu müde bin, um das wirklich zu beurteilen).
      Leider ist das nicht immer so einfach, im eigenen Kopf die Dinge richtig zu stellen. Du hast natürlich Recht - der Rest von ihm weiß, was er will, und er tut weder sich noch jemand anderem damit einen Gefallen. Wenigstens kapiert er das langsam.
      Was denkst du denn, was ich die ganze Zeit schon versuche? Der blöde Vyvyan ist leider sehr Arschttritt-immun! ;)
      Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! :)

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