Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 16. April 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 18:


„Sollten wir nicht langsam aufstehen?“
„Nein.“
„Wie spät ist es?“
„Interessiert mich nicht.“
Ich seufzte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir nun schon hier lagen, aber es war sicher später, als ich in diesem Jahr je aufgestanden war. Und langsam wurde ich unruhig. Ich war einfach nicht der Typ, der gerne unnötig lange im Bett herumlag. Rubin offensichtlich schon, denn der kuschelte immer noch. Mittlerweile wieder inklusive Daumenstreicheln, also war er wach. Wieso ließ ich das eigentlich mit mir machen?
Mein Verstand brabbelte etwas von einer ‚Rubins Drohung von versauter Laune‘, und auch wenn sich das nach einer äußerst fadenscheinigen Ausre…Erklärung anfühlte, beließ ich es dabei. Eine bessere hatte ich nämlich nicht – was wirklich fantastisch war. Wirklich, genial. Aber absolut. Ich hatte schon seit Ewigkeiten davon geträumt, so einmal meinen Tag zu beginnen: mit schlechten Begründungen an meinen amerikanischen Nachhilfelehrer gekuschelt. Yippie.
„Lässt du mich dann wenigstens los, damit ich auf die Uhr schauen kann?“ Und ja, er hielt mich wirklich fest, umschlungen, irgendwie. Das an sich war nicht so schlimm, eigentlich, irgendwie – ach, keine Ahnung, ich wollte einfach aufstehen!
„Wir haben Weihnachtsferien, du hättest heute sowieso herkommen müssen – also ist es doch egal, wie spät es ist“, sagte er, seufzte dann und rollte sich plötzlich über mich.
Äh – was wird das, wenn’s fertig ist?
Er streckte die Hand aus, kramte einen Moment in der Nachttischschublade und hielt mir dann plötzlich eine Armbanduhr vor die Nase.
„Zufrieden?“
Zwölf Uhr siebzehn.
Zwölf Uhr siebzehn?!
„Es ist bereits Mittag!“
Rubin sah selbst auf die Uhr und zuckte dann mit den Schultern.
„Und?“
Und? Wir müssen endlich aufstehen, verdammt! Wir haben so schon den halben Tag verschlafen.“
„Wir sind ja auch spät zu Bett gegangen.“
Ich sah ihn unbeeindruckt an und er seufzte und ließ den Kopf auf meine Schulter fallen.
„Du hast keine Kuschelausdauer.“
„Hab ich auch nie behauptet.“
Er schnaubte unwillig.
„Was denn“, fragte ich, „wirfst du mich jetzt deswegen raus?“
„Nein“, erwiderte er nonchalant, „Ich hab mich nur gefragt, wo ich die Handschellen hingetan habe.“ Dann richtete er sich auf und stieg kurzerhand aus dem Bett. „Das macht dann abgerundet neun Stunden kuscheln – also bekomme ich noch einmal neun.“

Ich, äh – Handschellen?!
Das … bei Eros, das wollte ich nicht über ihn wissen! Das –
Rubin lachte und schüttelte den Kopf. „Ganz ruhig, Vyvyan, das war ein Witz. Das mit den Handschellen; die neun Stunden waren mein Ernst.“
Verfluchter Ami! Hatte ihm denn niemand beigebracht, dass man solche Witze nicht riss, solange der andere noch im eignen Bett lag? Und die neun Stunden … was für neun Stunden? Wovon sprach er?
Dann holte mein Hirn endlich mit der Situation auf und erinnerte mich an seinen zweiten Satz von eben. Neun Kuschelstunden. Zusätzlich. Der hatte sie doch nicht mehr alle.
Rubin hob den Finger, um mich verstummen zu lassen, bevor ich auch nur den Mund geöffnet hatte.
„Vergiss es! Du hast gestern Nacht deine Zustimmung gegeben – wenn du jetzt protestierst, rechne ich genau, ohne abzurunden.“
„Ich bin schon seit einer Ewigkeit wach – und du auch! Also sind es nie und nimmer neun Stunden“, gab ich zu bedenken und bekam das erste Grinsen des Tages.
„Wir haben nicht gesagt, es zählt nur bis zum Aufwachen, sondern solange wir im Bett liegen. Es gelten also die gleichen Regeln, wie bei einem One Night Stand: Es ist erst vorbei, wenn man aufsteht; schließlich würde man bloß wegen eines Quickies am Morgen vor dem Aufstehen nicht gleich behaupten, mehr als eine Nacht mit der Person verbracht zu haben.“ Er machte eine Pause und das Grinsen bekam etwas beinahe Wölfisches. „Aber schön, dass du dich für die vollen neun drei Viertel Stunden entschieden hast! Das war auch meine bevorzugte Wahl.“
Nein. Einfach nur – nein! Er konnte das doch nicht mit – mit einem verfickten One-Night-Stand vergleichen! Wir hatten weder Sex noch eine einzelne Nacht miteinander gehabt; genau genommen war das ja schon die zweite Nacht im selben Zimmer. Eine völlig jugendfreie Nacht, wohlgemerkt!
Rubin streckte sich ausgiebig und meine Gedanken zerstreuten sich augenblicklich in alle Himmelsrichtungen.
Das … er … hm.
Hm!
„Du kannst zuerst duschen gehen. Nimm einfach, was du brauchst. Ich drucke schon mal die Blätter für heute aus.“
Duschen. Ja, das hörte sich gut an. So richtig eisig duschen, vielleicht würde mich das wieder zu Verstand bringen.

***

Nach dem Frühstück, das halbwegs angenehm verlief, ging er ins Bad und ich rief zu Hause an, von Rubins Festnetzanschluss, wie er vorgeschlagen hatte. Da ich meine Handyrechnung auch nicht unnötig in die Höhe treiben wollte, hatte ich das Angebot dankend angenommen.
Ich redete erst mit Pa, bis Kitty ihm den Hörer abbettelte. Sie liebte es zu telefonieren, weil die Mädchen in den Fernsehsendungen das ja auch immer machten. Kein Kommentar.
„Und ich kann wirklich morgen mit?“, fragte sie mich kurz darauf bereits zum zweiten Mal.
„Ja, du kannst morgen mit zu Rubin kommen und ja, du kannst dann Betsy sehen.“
Sie gluckste zufrieden und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Kitty war süß – ein wenig verwöhnt, vielleicht, aber das war schließlich nichts Schlechtes. Und so süß.
„Danke Vyvy! Ich hab dich ganz doll lieb.“
Dito?
„Und ich dich noch viel mehr.“
„Stimmt gar nicht“, rief sie empört, „ich hab dich mehr lieb als du mich!“
„Du meinst, du hast mich lieber.“
Sie schnaubte. „Das ist doch das Gleiche.“ Dann hörte ich gedämpft Pas Stimme, danach Kittys Murren und schließlich sagte sie: „Du, Pa sagt, wenn ich Nachtisch will, muss ich jetzt auflegen. Bis am Abend. Und ich hab dich viel lieber!“
Ich lachte, verabschiedete mich und hängte auf. Das allein war das Kuscheln wert.
… Vielleicht wäre es das aber auch so gewesen.

***

Als wir nach mehreren Stunden Knochenarbeit, drei Lollis und zwei kleinen Pausen endlich durch den Nachhilfestoff des Tages waren, warf ich den Stift hin und streckte mich genüsslich.
„Hast du essenstechnisch auf etwas Bestimmtes Lust?“
„Essenstechnisch?“ Er schmunzelte. „Nein, da darfst du mich überraschen.“
„Wie gütig.“ Ich stapelte die Blätter und schob sie in die Ecke des Schreibtisches; ich würde sie morgen mit nach Hause nehmen. Morgen. Morgen, weil ich ja morgen wieder hier sein würde, wie heute, wie gestern, wie vorgestern. Wie ich es übermorgen wieder sein würde. Rubin beherrschte meine Ferien, das war eine verfluchte Tatsache.
„Hast du mir noch deinen Aufsatz?“
Ich sah auf und hob die Augenbrauen. „Welchen Aufsatz?“
„Den, den du auf heute schreiben solltest? Dreihundert Wörter über ein beliebiges Thema?“
Ach, der Aufsatz …
„Wann hätte ich den schreiben sollen? Ich war gestern Nachmittag unterwegs und am Abend hier und heute morgen hast du mich nicht aus dem Bett gelassen.“
„Vorgestern Abend oder gestern Morgen hättest du demnach Zeit gehabt.“
Von Ferien hatte er aber auch noch nie etwas gehört, oder?
„Da hatte ich mit Kittys Streit zu tun.“ Ich merkte an seinem Gesichtsausdruck, dass ihn das nicht sonderlich beeindruckte. Egal, wie seltsam anhänglich er heute Morgen gewesen war, die Nachhilfe nahm er unverändert ernst – das war mir eigentlich recht, schließlich wollte ich bestehen, aber ich hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn er ein wenig Nachsicht gezeigt hätte.
„Hör zu“, fing ich noch einmal an und stand auf, „es tut mir leid, dass ich es nicht geschrieben habe – könntest du mir nicht bis morgen geben?“ Das wäre auch noch genug Stress, immerhin war bereits später Nachmittag und wir hatten noch nichts gekocht. Keine Ahnung, wann ich heimkommen würde.
Rubin überlegte. Besonders begeistert schien er davon nicht zu sein.
„Ich hab was gut, schon vergessen?“
Seine Mundwinkel zuckten, aber er blieb noch einen weiteren Moment still. 
„In Ordnung. Dann korrigieren wir ihn aber auch morgen“, antwortete er schließlich, „ansonsten kriegen wir übermorgen wieder nicht alles hin und alles verschiebt sich nach hinten. Ich hab Samstagnachmittag was vor; wir können also nicht wieder eine Extrastunde einschieben.“
Im ersten Moment war ich versucht zu fragen, was er denn vorhatte, aber dann schaltete sich mein gesunder Menschenverstand ein und ich verkniff es mir. Ging mich nichts an – vielleicht traf er sich ja mit Megan oder so – hatte er nicht auch mal was von Clubs erwähnt? – Egal. Mal ehrlich, es war schon ein Wunder, dass er bisher immer Zeit gehabt hatte.
„Klar. Solange wird Kitty schon stillsitzen können.“
Er nickte. „Kommt dann am besten schon am Vormittag. Sagen wir halb elf?“
Ich grinste. „Bist du sicher, dass du so früh aus dem Bett kommst?“
„Natürlich.“ Er erwiderte es, Grübchen inklusive. „Werd ja nichts haben, das mich im Bett hält.“

***

Wir hatten uns letzten Endes für Kartoffelpuffer mit Gemüse entschieden, dazu gab’s selbst gemachten Vanillepudding aus den Resten von gestern. Das ähnelte zwar der Panna Cotta, aber wie sollte er sonst die feinen Unterschiede der Dessertkunst lernen, wenn nicht durch das Zubereiten von ähnlichen Desserts? Außerdem mussten wir so nicht extra einkaufen gehen und die Erdbeersauce, die von der Panna Cotta übrig war, passte auch hervorragend dazu. Resteverwerten ahoi! Und Rubin meckerte nicht, das war das Wichtigste.
Ich verstaute unsere Teller in der Geschirrspülmaschine und schloss sie. „Wie wäre es mit Tiramisu morgen?“
Rubin sah mich überrascht an.
„Ich bekomme Nachtisch?“
„Was zu essen auch, immerhin werden wir über Mittag da sein.“ War das nicht klar?
Grübchen, schön. „Tiramisu hört sich fantastisch an.“
„Okay. Das müssten wir dann gleich zu Anfang machen, damit es kühlgestellt werden kann. Dauert mindestens vier Stunden.“
Er nickte. „Und was gibt’s dazu?“
Gut, das interpretierte ich dann mal so, dass ihn die vier Stunden Wartezeit nicht störten.
„Mir egal. Was möchtest du?“, fragte ich zurück und ging durch die Küche auf den Hauseingang zu.
„Vielleicht Risotto? Reis hatten wir noch nicht.“
Ich nickte und griff nach meiner Jacke.
„Welche Geschmacksrichtung? Gemüse, Lauch, Kürbis, Tomaten, Pilze, Safran, Zitrone …?“
„Safran oder Kürbis – oder Zitrone, das hört sich auch lecker an. Überrasch mich.“
„Ü-Ei-Risotto, geht klar.“
Plötzlich schlangen sich zwei Arme von hinten um meinen Bauch. Ich zuckte zusammen und die Hand mit der Jacke hielt auf halbem Wege inne. Das fühlte sich viel zu vertraut an.
„Was wird das?!“, zischte ich möglichst aufgebracht, auch wenn seine Körperwärme an meinem Rücken das äußerst schwierig machte. Dennoch: Wenn ich das nicht unterband, gewöhnte er sich so was noch an – und noch schlimmer: dann gewöhnte ich mich am Ende daran, und das konnte nun wirklich gar niemand brauchen. Am wenigsten ich.
Wieso roch er nur wieder so gut? Badete er etwa in diesem beschissenen Shampoo?!
„Ich habe gerade beschlossen, dass ich jetzt gerne meine Kuschelstunden eintauschen möchte“, erwiderte er und stütze sein Kinn auf meiner Schulter ab, „du kannst die Jacke also wieder hinhängen.“
Ich hätte mich eindeutig gegen die Verdoppelung der Kuschelzeit wehren sollen. Allein daran, dass ich es auch heute morgen nicht getan hatte, und das nur, weil er sich kurz wie eine Katze geräk… soll heißen, aus Müdigkeit gestreckt hatte, erkannte ich, dass es höchste Zeit war, nach Hause zu gehen. Ich musste unbedingt etwas Abstand und vor allem einen klaren Kopf bekommen. Diese Nacht hier hatte mir nicht gut getan.
„Das geht nicht.“ Ich machte mich von ihm los und drehte mich um. „Wenn ich weitere neun Stunden hier bleibe …“
„Neun drei Viertel.“
„… dann verpasse ich wieder den letzten Bus.“
„Hm, ich sehe.“ Kurz sah er mich gespielt bestürzt an, dann lächelte er ebenso gespielt gutmütig. „Keine Bange, wenn du lieb bittest, wäre ich durchaus bereit, mein Bett erneut mit dir zu teilen.“
Ich spürte, wie meine Augen sich verengten, hielt inne und zwang meine Gesichtsmuskeln sich zu entspannen. Das war nur seine übliche Provokation. Und wortwörtlich genommen hatten wir uns ein Bett geteilt. Sprichwörtlich allerdings hatten wir es nicht getan – und das war im Endeffekt das einzig Wichtige. Vor allem, wenn ich daran dachte, wie kurz ich gestern Nacht vor einem Fehler gestanden hatte.
„Wie großzügig“, erwiderte ich trocken, „aber du vergisst, dass Kitty morgen nicht alleine herkommen kann. Vierzig Minuten hin, vierzig zurück, davor Frühstück und dann noch ein paar Minuten, bis sie ausgehfertig ist – ich glaube kaum, dass du Bock hast, um acht Uhr aufzustehen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Es wird mich nicht umbringen, für die Schule muss ich ja noch früher raus.“
An die Schule wollte ich nicht erinnert werden.
Wie es wohl sein würde, wieder mit ihm in einem Klassenzimmer zu sitzen? Er war ja in unseren Grundkursen immer noch mein Sitznachbar – würde er wieder dazu übergehen, mich zu ignorieren? Oder würde er … so wie jetzt sein? Und: Was wäre schlimmer?
„Rubin, ich muss nach Hause. Der Aufsatz wartet auch auf mich.“
„Den würdest du mit meiner Hilfe als lebendiges Wörterbuch deutlich schneller schreiben; dann könnten wir ihn auch gleich noch korrigieren und Catherine müsste morgen nicht warten.“
Ich wollte protestieren, obwohl er durchaus Recht hatte, aber er kam mir zuvor.
„Na gut.“ Ein Seufzen. Ein schweres Seufzen. Man hätte meinen können, ich hätte von ihm verlangt, dass er von nun an die Häuser aller seiner Nachbarn putzte – kostenlos – und ihm ansonsten damit gedroht, dass nie wieder mit irgendjemand mit ihm kuscheln würde. „Aber eine Stunde wird ja wohl drin liegen. Deine Familie wird eh bald zu Abend essen, da wirst du nicht vermisst.“
Nach den Puffern und vor allem dem Pudding eben nicht, nein. Trotzdem war es keine gute Idee, vor allem, da ich im ersten Moment versucht war, einfach zuzustimmen.
„Wir haben nie gesagt, dass du die auch stückchenweise verlangen kannst.“
„Aber auch nicht, dass das nicht geht.“ Er stutze, dann schmunzelte er. „Möchtest du damit sagen, dass du darauf bestehst, alles an einem Stück abzukuscheln? Dir ist klar, dass das zwangsläufig dazu führen würde, dass du den letzten Bus verpasst, oder? Bei fast zehn Stunden nach der Nachhilfe plus gemeinsamem Essen …“ Das Schmunzeln wurde richtiggehend frech. „Also, wenn du das unbedingt so möchtest …“
„Tu ich nicht!“
„Auch gut.“ Die Grübchen kamen zurück und sein Blick wurde nackenkribbelnanregend. „Dann löse ich heute die erste Stunde ein.“ Er nahm mir meine Jacke aus der Hand und hängte sie zurück. „Und keine Angst, knapp neun Stunden reichen auch völlig, um den letzten Bus zu verpassen.“
Dieser – dieser – Bastard! Er wusste ganz genau, dass das nicht so gemeint gewesen war.
Verdammt, eigentlich war ich nicht schlecht im Argumentieren, aber mir fiel wieder nichts ein, was ich erwidern könnte – wie so oft, wenn er mich von irgendeiner dummen Idee überzeugen wollte. Alles seine Schuld. Seine und die meiner schwulen Seite. Die blockierte garantiert die wichtigsten Synapsenverbindungen in meinem Hirn, sobald es um Rubin ging. Dieses verfluchte Mistding!
Wenigstens gehorchte mir meine Stimme, so dass sie sich wie ein Knurren anhörte. „Rubin …“ Weiter kam ich nicht.
Mal. Wieder.
C’mon, Vyvyan …“ Seine Stimme war klang plötzlich so samtig weich, dass ich fast über das eklige Amerikanisch hinweghörte. „Ich zeige dir auch etwas, was dir so richtig gut gefallen wird.“
Sofort wurde ich misstrauisch und er fügte leise lachend hinzu: „Something completely innocent.
„Hör auf damit“, grummelte ich unwirsch zurück, „Und versuch’s gar nicht erst; das einzige, was mich jetzt überzeugen könnte, wäre etwas in Betsys Liga, und sie kenne ich schon.“
Was nicht hieß, dass ich nicht gerne noch ein bisschen mit ihr gekuschelt hätte – nur ohne Rubin. Auf Betsys Bank war es mir dann doch zu eng zum Kuscheln. Neben- oder hintereinander konnte man nämlich schon mal nicht liegen – und alles andere kam nicht in Frage.
Schon wieder schmunzelte er. Generell sah er so aus, als ob er bereits gewonnen hätte und das – das fuchste mich! Was dachte der denn, dass er mir ewig auf der Nase herumtanzen konnte? Scheißegal, wie gut er aussah, wenn er verstrubbelt und halb nackt im Bett saß, und scheißegal, dass sich das Imbettbleiben heute Morgen gut angefühlt hatte – irgendwann war genug, schwule Seite und kuschelfreudige, hoffentlich verschwiegene außenseiterische Amerikaner hin oder her.
„Das denkst du, aber es gibt Seiten an ihr, die du noch nicht kennst.“
Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Interesse nun doch hinter den Burgmauern hervorlugte, aber dem Aufblitzen in Rubins Augen nach durchschaute er mich.
„Schöne, wohlig warme Seiten“, fügte er an und zuckte anschließend betont desinteressiert mit den Schultern, „aber wenn du partout nicht willst, können wir das auch verschieben. Vielleicht finden wir ja noch irgendwann fünf Minuten, in denen du sie zumindest einmal austesten kannst …“
Billig. Billiger, billiger Trick. Wenn er vorhatte, die neun drei Viertel Kuschelstunden tatsächlich einzulösen, würden wir neun drei Viertel Stunden Zeit haben, damit ich mich ausgiebig mit Betsys bisher unbekannten Seiten bekanntmachen konnte. Der Bluff war in etwa so dicht wie ein Abtropfsieb.
„Oder aber du nimmst dir die fünf Minuten jetzt und schaust sie dir einfach mal an.“ Sein Lächeln war freundlich, der Blick dagegen … gänsehauterregend: eine Mischung aus selbstsicher, triumphierend, spöttisch und … äh, begierig? Vorhin Nackenkribbeln, jetzt das, fantastisch. „Dein Bus kommt sowieso erst in fünfzehn Minuten.“
An der Art, wie er das sagte, war klar, dass er nicht glaubte, dass ich den Bus Betsy vorziehen würde. Was wusste er schon.
Dumm nur, dass ich es auch nicht glaubte. Noch dümmer nur, dass ich seufzte und den Kopf schüttelte und trotzdem „Nur fünf Minuten!“ antwortete.
Statt, dass der Triumph oder Spott in seinem Blick Überhand nahm, hellte sich einfach sein ganzes Gesicht auf.
Ich war so ein Idiot. So ein verdammter, schwachköpfiger Dummkopf! Warum konnte ich nicht einmal bei meinem Nein bleiben? Warum konnte ich nicht einmal wirklich nicht wollen? Das alles wäre viel einfacher gewesen, wenn Rubin absolut hohl oder hässlich oder  hetero oder – oder einfach gleich weiblich gewesen wäre.
Er griff nach meiner Hand und wollte mich mitziehen, aber ich entzog sie ihm mit einem Ruck und –
Oh, Scheiße.
Rubin sah – enttäuscht? Verletzt?
Mist, ich –
Er lächelte künstlich – gequält? – und drehte sich um, um ins Wohnzimmer vorzugehen.
Scheiße, das … das hatte ich nicht gewollt. Das war nur eine Kurzschlussreaktion gewesen, weil ich von mir selbst angepisst war und – und er wusste doch, wie ich zum Händchenhalten stand! Außerdem hatte die Kuschelstunde ja noch nicht angefangen, also war überflüssiger Körperkontakt noch tabu!
Das war nicht meine Schuld. Nein, er war selbst schuld. Was sollte die Aktion auch? Ich fand den Weg ins Wohnzimmer schon alleine!
Und trotzdem, irgendwie … wollte ich es wiedergutmachen.
Ah, fuck!
Alles seine Schuld!

Im Wohnzimmer ging Rubin erst zum Sofa und holte die Fleecedecke, die ordentlich über der Rückenlehne lag.
„Hitzeschutz“, meinte er auf meinen verwirrten Blick hin. Vielleicht war es nur Einbildung, aber das Lächeln erschien mir immer noch zu dünn.
Ich folgte ihm um Betsy herum und sah zu, wie er auf ihre Bank kletterte, sich auf den oberen Teil derselben stellte und …
… die Decke auf Betsys Hauptkörper legte, etwas aus dem Weg schob und sich hochstemmte!
Oh.
Oh!
Gute Idee. Fantastische Idee! Warum war ich nicht selbst drauf gekommen? Zwischen Betsy und der Decke war gerade genug Platz, dass man auf allen Vieren auf ihr herumkriechen  und (ein wenig gebückt, aber egal) sitzen konnte und – Betsy war groß! Breit. Normalerweise war das kein Kompliment für eine Dame, aber bei ihr empfand ich das als einhundertprozentig positiv. Auf Betsy konnte man liegen! Gut, ein Riese wie Kim würde sich vielleicht in die Diagonale legen müssen – und dann hätte kein anderer Platz – aber Rubin und ich waren ja keine verkappten Basketballer mit Bodybuilder-Anwandlungen.
„Kommst du?“
Ich sah zu Rubin, der die Decke glatt strich, nickte und kletterte schneller hoch, als gut für mich war, denn in meinem Übermut stieß ich mir den Kopf an der Decke. Nicht allzu fest, aber ein „Au!“ konnte ich mir dennoch nicht verkneifen.
„Das braucht ein bisschen Übung“, meinte er und klopfte auf das Stück Decke vor sich, „Komm her, sonst verbrennst du dir noch die Hände.“
Ja, und die Knie. Die steckten zwar in Jeans, aber ich spürte bereits, wie die Hitze durchsickerte. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass die Bank nur an den Ofen angebaut war, oder ob sie zusätzlich eine Hitzedämmung besaß, aber das hier, direkt auf Betsy drauf, das war selbst mir zu heiß.
Ich krabbelte auf die Decke, die zwar fast so lang wie Betsy breit war, die aber selbst nicht viel an Breite zu bieten hatte. Nein, überhaupt nicht viel; das reichte gerade mal, dass zwei Menschen nebeneinander auf dem Rücken liegen konnten, aber groß was mit Abstand war da nicht. Egal. Kaum drauf, legte ich mich auf den Bauch und streckte mich genüsslich aus.
„… Bus?“
„Halt bloß die Klappe“, grummelte ich ohne Schärfe in der Stimme – man hätte meinen Ton fast als gutmütig beschreiben können – das von vorhin tat mir immer noch leid. Auch wenn es das nicht musste. „Du kennst die Antwort.“
„Also kuscheln?“ Rubin saß dank der kleinen Decke so nah, dass er mit dem Knie gegen mich stieß, als er sich ebenfalls hinlegte.
„Hab ich denn eine Wahl?“, fragte ich immer noch in demselben Tonfall und eigentlich – also eigentlich war die Vorstellung, in diesem Wärmeparadies noch ein bisschen was mehr gewärmt zu bekommen, absolut okay. Vielleicht sogar mehr als das.
„Natürlich hast du die“, erwiderte er sanft und viel ernster, als ich erwartet hatte – weil ich nämlich gar nichts Ernstes erwartet hatte. Die Frage war ja nicht ernst gemeint gewesen, sondern nur mein übliches Rumgemotze. Das sollte er mittlerweile kennen.
„Hab ich bisher noch nicht viel von mitbekommen“, murmelte ich, den Kopf auf meinen verschränkten Armen gestützt.
Wieso kuschelte er nicht? Wie lange brauchte der Kerl, um sich hinzulegen?
Vyvyan …
Oh. Oh nein. Jetzt hörte er sich wirklich ernst an. So ernst, dass ich die Augen öffnete und zu ihm rüberschielte.
Er lag bereits, nur nicht auf dem Bauch, sondern auf der Seite. So war die Decke dann doch breit genug, damit man sich nicht berühren musste.
„Du musst hier gar nichts. Wenn du wirklich nicht willst, dann musst du nicht mit mir kuscheln, musst nicht hierbleiben, musst mir auch nicht beibringen, wie man kocht. Ich habe mich von mir aus und aus egoistischen Gründen dazu bereiterklärt, dir Nachhilfe zu geben – du hast deswegen keine Verpflichtungen. Wenn du willst, kannst du jeweils gegen Mittag hier auftauchen und gehen, sobald du die Übungen gelöst und wir sie besprochen haben.“
Äh, was?
Ich – wo… woher kam das denn bitte? Und was sollte das?!
Eben war mir noch so wohl gewesen, hier im Elysium der Wärme, und nun kam er mir mit so was. Er hatte doch kuscheln gewollt! Er hatte jetzt kuscheln wollen und dass ich ihm das Kochen beibrachte, war doch auch seine Idee gewesen – hatte er plötzlich keinen Bock mehr, oder was?
… Ging ich ihm etwa auf den Geist?
„Warum lotst du mich hier rauf, wenn du deine Ruhe willst?“
Okay, das hatte ich eigentlich nicht so fragen wollen – auch wenn es nicht verkehrt war. Warum bestand er auf kuscheln, nur um mir gleich darauf durch die Blume zu sagen, dass ich nicht mehr länger als nötig bleiben brauchte?
„Ich will doch  nicht meine Ruhe – nicht vor dir.“ Er sah mich baff und verständnislos an, bevor er beinahe nachsichtig lächelte. „Mir war nicht bewusst, dass du so unsicher sein kannst.“
Unsicher? Ich?!
Hatte der sie noch alle?
Ich stemmte mich auf meine Ellbogen hoch und wollte ihn anschnauzen, als er die Hand ausstreckte und – durch meine Haare fuhr?
Hatte der sie noch alle?!
„Ich will nicht meine Ruhe vor dir“, wiederholte er, „Von mir aus kannst du die ganzen Ferien über hier bleiben – kannst hier schlafen, kannst Samstag mit, wenn ich mich mit meinen Freunden treffe, und kannst Sonntag mit zu Megans Silvesterparty. Ich wäre auch bereit, Betsy twenty-four-seven in Betrieb zu nehmen. Von mir aus, kannst du solange hierbleiben, wie du willst. “ Er stockte, zögerte, korrigierte sich, etwas leiser als eben noch. „Nein, eigentlich müsste das heißen: Ich mag es, wenn du hier bist, und du darfst gerne so lange bleiben, wie du möchtest.“
Ähm … ähm?
Musste er so was sagen? Musste er es so sagen? Ich wollte das nicht hören und vor allem wollte ich nicht darüber nachdenken. Auch wenn die Vorstellung von einer rund um die Uhr heißen Betsy verlockend war.
„Allerdings“, fuhr er fort, „ist es für mich schwer einzuschätzen, was du willst. Du protestierst fast immer und überall, aber dann scheint es dir doch nichts – oder zumindest nicht viel – auszumachen. Bisher habe ich angenommen, dass du es zeigen würdest, wenn du etwas wirklich nicht willst – bei deinen … ‚Freunden‘ hast du ja auch immer schön konsequent Nein gesagt, wenn sie dich irgendwohin schleifen wollten.“
Natürlich hatte ich das; die wollten schließlich jede Woche in ein Pub oder in den Park oder wusste-Hera-wohin. Das musste ich mir nicht antun.
Seine Finger waren immer noch in meinen Haaren und nun fingen sie auch noch an, mich zu kraulen. Wer hatte ihm bitteschön die Erlaubnis gegeben, das zu tun?
„Aber gestern bist du auch mit ihnen weg, und hast weder davor noch danach begeistert ausgesehen.“
Natürlich nicht, ich war ja auch nicht begeistert davon gewesen.
Ich zuckte mit den Schultern, aber vorsichtig, damit es ihn nicht beim Kraulen störte. Ich war mir nicht sicher, inwieweit er das bewusst tat.
„Ab und zu muss ich mitgehen, sind immerhin meine Freunde.“
„Ja, aber …“ Er schloss kurz seine Augen und atmete durch. Als er mich wieder ansah, waren sein Blick und seine Stimme fester als zuvor. „Ich will nicht, dass das hier was Ähnliches für dich wird. Die Nachhilfe brauchst du wegen der Note, aber ansonsten … Ich freue mich, wenn du bleibst, aber nicht, wenn du denkst, es aus irgendwelchen Gründen zu müssen.“
Er sah mich abwartend an, abwartend und … nervös? Unsicher? Besorgt? Irgend so was.
Was wollte er denn jetzt von mir? Zu hören bekommen, dass ich total gerne Zeit mit ihm verbrachte und ihn sowieso lieber mochte als meine Freunde? Darauf konnte er lange warten.
Warum musste er auch jetzt mit so einem Scheiß anfangen? Bisher hatte es ihn auch herzlich wenig interessiert, was ich wollte und was nicht – sonst wäre er am dreiundzwanzigsten nicht zum Essen geblieben. Wäre am vierundzwanzigsten nicht zu uns gekommen.
Er konnte nicht ernstlich erwarten, dass ich ihm … dass ich … ich meine, wie schwul war das denn?! Garantiert nicht.
Aber jetzt war ich schon hier, es war berauschend warm und ich war nicht bereit, das so schnell wieder aufzugeben.
„Willst du jetzt kuscheln oder nicht?“ Leider hörte ich mich nicht so knurrig an wie gehofft – aber dafür konnte ich nichts, seine Finger waren mittlerweile gefährlich nah an meinem Nacken. Schwachstelle und so.
Seine Augenbrauen hoben sich. „Ich?“
Na wer sonst?
„Ja“, sagte er seltsam langsam, „Immer.“
„Dann würde ich an deiner Stelle anfangen. Die Uhr tickt.“
Lüge. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir schon hier oben lagen und mein Handy war auch draußen bei meinen Sachen. Hitze und Elektronik war eben eine schlechte Kombination.
Es dauerte einen Moment, aber dann lächelte er. „Wie du willst.“

Doch statt herzukommen, nahm er seine Hand weg und drehte mir den Rücken zu. Was sollte das denn jetzt? War er jetzt beleidigt und schmollte, oder was?
Vyvyan? I’m waiting.
„Und worauf?“ Das Amerikanisch ließ ich jetzt mal unkommentiert.
„Dass du mit kuscheln anfängst.“
Wa–
„Leck mich!“
„Wirklich?“ Er sah mich über die Schulter an. „Darf ich?“
„Rubin!“ 
Bastard!
„Schade.“ Er grinste plötzlich wieder saufrech. „Dann komm jetzt aber; du wolltest schließlich heute noch nach Hause, und die Uhr fängt erst an zu ticken, wenn du anfängst zu kuscheln.“
Ich soll … sag mal, hackt’s?“ Er wollte kuscheln, nicht ich!
„Nein, wieso?“ Rubin drehte sich gemächlich auf den Rücken und schenkte mir ein Grinselächeln. Ohne Grübchen und deshalb nur ein Bruchteil so effektiv. „Ich habe meine Hälfte schon verkuschelt, jetzt bist du dran.“
„So war das nicht abgemacht!“ Er hatte gesagt, er wollte doppelt so lange kuscheln, nicht, dass ich – wovon träumte der Kerl nachts?
Nun wurde sein Lächeln – immer noch ohne Grübchen – nachsichtig. „Warum gibst du es nicht einfach zu, wenn du nicht weißt, wie man richtig kuschelt? Ist doch nichts dabei.“
„Ich weiß, wie man kuschelt“, zischte ich, „ich will nur …“
„Natürlich tust du das, Süßer“, erwiderte er seelenruhig, „Ich zeig’s dir trotzdem, ja? Schließlich habe ich nur knappe neun drei Viertel Stunden, da muss jede Minute ausgeschöpft werden.“
Sü…
SÜßER?!!
Dieser verfluchte Scheiß-Ami! Was dachte der sich eigentlich? Ich fand es bei meinen Freundinnen schon verdammt nervig, wenn sie mich mit irgendwelchen verkleinernden Kosenamen belegten, aber bei Kerlen – das ging gar nicht! Noch deutlicher zeigen, dass man jemanden nicht für voll nahm, konnte man gar nicht.
„Rubin, ich warne dich, wenn du mich noch einmal …“
„Komm, Vyvyan, dreh dich um.“
Hatte der mich gerade ernsthaft unterbrochen? Und dann legte er mir auch noch eine Hand auf die Schulter und übte leichten Druck aus.
„Geht’s noch? Du kannst mich doch nicht einfach unterbrechen!“
„Wieso nicht? Ich weiß doch, was du sagen wolltest.“ Er lächelte, aber ich sah genau, wie ein Grinsen in seinen Mundwinkeln zuckte.
„Weißt du was? Wenn du mich nicht ernst nimmst, kannst du mich mal kreuzweise.“ Ich stemmte mich hoch und funkelte ihn an. „Das muss ich mir echt nicht geben.“
„Ich nehme dich ernst, Vyvyan“, erwiderte er und legte seine Hand an meine Wange – meine Wange! Wenn er die jetzt tätschelte, dann würde ich ihn von Betsy schubsen. Ehrlich, das  – 
Aber er tätschelte nicht, sondern streichelte mit dem Daumen hin und her, wie gestern Nacht. Und leider fühlte es sich genauso gut an wie gestern Nacht. Oder vielleicht sogar noch ein bisschen besser; ich konnte mich nicht daran erinnern, gestern Gänsehaut davon bekommen zu haben.
„Mehr als du dir vorstellen kannst“, fügte er hinzu und sah mich einen Augenblick lang schweigend an, bevor er sanft wiederholte: „Dreh dich um.“
Dachte er echt, dass ich mich jetzt einfach brav wie ein Lämmchen hinlegen und mit ihm kuscheln würde, oder was? So ein typischer Ami – denen hatte doch allen jemand ins Hirn gesch…
Angedeutete Grübchen, ein Aufblitzen in den Augen. „Die Uhr tickt, schon vergessen? Und dein Aufsatz wartet auch noch auf dich.“
Leck mich.
Leck mich!
Ich erdolchte ihn noch einen Moment lang mit meinem Blick, dann drehte ich mich ruckartig um und ließ mich auf die Decke fallen. Brachte ja doch nichts; wenn ich die Kuschelstunde nicht jetzt hinter mich brachte, musste ich sie beim nächsten Mal mitanhängen.
„Ich kann dich nicht ausstehen!“
Rubin rückte an mich heran und legte den Arm um mich, wie gestern. „Das hast du mir schon gesagt – mehrmals.“ Sein Ton war ruhig, aber leicht. Er hörte sich nicht an, als würde es ihn besonders tangieren. Bastard. „Öfter als mir lieb ist, wenn ich ehrlich bin. Wie wär’s, wenn du das von jetzt an für dich behältst und es mich einfach wissen lässt, wenn sich was daran ändert?“
Bastard!
Dann rückte er noch näher, vergrub das Gesicht in meinen Haaren und schob ein Bein zwischen meine.
„Hey!“, rief ich und setzte mich hastig auf, „so haben wir das gestern nicht gemacht!“
„Weil du nicht den Eindruck gemacht hast, als wärest du auf mehr Körperkontakt erpicht. Ich schon. Ich finde Körperkontakt klasse. Ich habe mich gestern für dich sehr stark zurückgehalten, dann kannst du dich heute für mich ein bisschen anstrengen.“
Anstrengen? Er meinte ja wohl ‚überwinden’.
„Ich weiß, dass das fortgeschrittenes Kuscheln ist“, fuhr er fort und seine Augen funkelten amüsiert, „aber ich habe vollstes Vertrauen in deine Lernfähigkeit.“
„Mit meiner Lernfähigkeit hat das nichts zu tun.“
„Nein?“ Er lag immer noch da und sah zu mir auf. Herausfordernd und intensiv. Und seine Haare waren einmal mehr leicht verstrubbelt. Oh weh. „Dann beweise es“, sprach’s und drehte mir erneut den Rücken zu.
Blieb mir eine andere Wahl?
Rubin zufolge ja schon. Trotzdem ließ ich mich langsam wieder zurück auf die Decke sinken.

*********

Das hier war nicht echt. Es konnte nicht echt sein – ich wusste, dass ich wach war, aber gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich träumte. Und ich hatte Angst vor dem Erwachen.
Er war geblieben. Ich hatte ihm einen Fluchtweg dargeboten, aber er war ihn nicht gegangen. Ich hätte mir beim Reden selbst in den Arsch treten können, weil ich sicher war, dass er ohne zu Zögern abhauen und von nun an nur noch zur Nachhilfe kommen würde, aber … er war immer noch da. War bereit, zu kuscheln. Ließ sich sogar dazu bringen, nicht einfach nur stocksteif dazuliegen, sondern schmiegte sich an mich. Eben noch hatte er die Hand weggezogen, als hätte er sich verbrannt, dabei hatte ich ihn nur ins Wohnzimmer bringen wollen, mit einer gedankenlosen Geste, die ich auch bei Freunden öfter benutze. Ihn ins Wohnzimmer ziehen durfte ich nicht, aber in seinen Armen liegen war okay. Keine Ahnung, wo da die Logik dahinter war, aber es war mir auch schnuppe. Er war geblieben, trotz seiner Schwester, trotz des Fluchtwegs, trotz des herausgerutschten Kosenamens, trotz der Aufforderung, selbst aktiv zu werden. Ich hätte vor Erleichterung und Freude tanzen können. Tanzen und jauchzen und ihn küssen. Vor allem Letzteres, immer und immer wieder, mal langsam, mal stürmisch, auf jedem Fleckchen sein…
Breathe. Just … breathe.
Er rutschte näher und hielt mich fester; ich konnte nicht anders, als meine Hand auf seine zu legen und meine Finger zwischen seine zu schieben. Ich hatte bisher echt was verpasst – obwohl, nein. Ich bezweifelte, dass die Situation sich mit jemand anderem gleich gut angefühlt hätte.
Das Beste an der Sache war, dass ich mich an ihn drängen konnte, ohne Angst zu haben, dass er mitbekam, dass ich mich am liebsten umgedreht und auf ihn gestürzt hätte. Obwohl… eigentlich müsste das doch in seinem Interesse sein: So bekäme er den Rücken von Betsy und den Bauch von mir gewärmt. Den Bauch, die Beine, das dazwischen …
Goddammit!
Wenn wir so weitermachten, gewöhnte ich mich noch an das unbefriedigende Gefühl, mit einer Latte herumzuliegen und nichts dagegen tun zu können. Aber besser unbefriedigt und hart als Vyvyan-los. Und deshalb blieb mir nicht viel anderes übrig, als mich an seiner Hand festzuhalten und den Moment zu genießen. Wenn er jetzt noch sein Bein zwischen meine … obwohl, keine Ahnung, ob ich mich dann noch zurückhalten könnte. Dennoch: Ein Versuch war’s wert. Schließlich war er trotz allem noch hier.


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