Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 29:

Die Busfahrt zurück verlief in Schweigen. Rubin hatte sich entschuldigt, wofür genau – ob für Lukas’ blöde Anspielungen, dafür, dass er sich eine ganze Weile mit ihm unterhalten hatte oder für Lukas’ Existenz im Allgemeinen – wusste ich nicht. Wenn er schlau war, dann war es Letzteres, aber eigentlich war es auch egal. Dass sich die beiden mit Küsschen-Küsschen verabschiedeten, war auch egal. Wirklich. Auch, dass es eher nach einem Kuss statt zwei Küsschen ausgesehen hatte. War mir doch latte.
Was mich sehr wohl interessierte war, ob Rubin Lukas von … was auch immer zwischen uns war erzählt hatte oder ob es ein Schuss ins Blaue von Lukas’ Seite aus gewesen war … oder …
Oder.
Ob man es uns ansah.

Dass da etwas war, wenn auch etwas Undefiniertes. Undefinierbares?
Wenn, dann war das eine verdammte Katastrophe! In etwas über einer Woche fing die Schule wieder an und wir waren in derselben Klasse, saßen nebeneinander – es ging nicht, dass man uns etwas ansah!
Was zum Hades sollte ich denn jetzt tun? Sollte man es uns ansehen, dann – dann war die Schule mitsamt ihrer bedeutungslosen Idioten mein kleinstes Problem. Viel wichtiger war dann, dafür zu sorgen, dass Rubin im Leben nie mehr meine Familie zu sehen bekommen würde. Oder reichte einer von uns etwa schon aus, damit man es bemerkte? Nein, oder? Das konnte gar nicht sein.
Moment mal – Rubin war geoutet? Zumindest offenbar vor Lukas.
Scheiße. Vor wem denn noch? Wenn er wirklich geoutet war, dann musste ich – dann konnte ich nicht mehr – scheiße! Aber in der Schule war er das nicht, das hätte ich doch mitbekommen!…?
Doch. Sicher. Spätestens, als er sich neben mich gesetzt hatte, hätte ich mir Sprüche anhören dürfen, wenn es auch nur das kleinste Gerücht gäbe, dass er eventuell ab und zu vielleicht dem eigenen Geschlecht unter Umständen nicht zu eintausend Promille abgeneigt war. Garantiert. Doch, zumindest von Aaron. Ich wusste doch, dass es wenigstens etwas Gutes – einen winzigen Mini-Vorteil – haben musste, mit ihm befreundet zu sein.
Okay, jetzt hieß es, Schadensbegrenzung betreiben. Erster Schritt: Recherche. Inwieweit war er geoutet und inwiefern hatte er Lukas von … ‚dem hier‘ erzählt?
Gerade, als ich den Mund aufmachen wollte, stand Rubin auf. Unsere – seine Haltestelle. Zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Abend wurden wir von einer Eiseskälte verschluckt, die verdammt noch mal verboten gehörte! Wir waren die einzigen, die ausstiegen und natürlich stand auch niemand ohne besonderen Grund in der Gegend herum; erstens war es ein ruhiges Wohngebiet am Stadtrand, zweitens war es Freitagnacht und drittens war es – wie erwähnt – saukalt. Trotzdem blieb ich stehen, als Rubin losgehen wollte. Hier war wenigstens genug Licht, um sein Gesicht zu sehen.
„Sag mal“, begann ich und er drehte sich zu mir um, „hast du Lukas erzählt, dass wir …?“ … dass wir das waren oder taten, das wir eben waren oder taten. Definition unnötig. „Oder wie ist er darauf gekommen?“
Rubin riss die Augen auf, starrte mich eine Millisekunde lang an, dann schüttelte seinen Kopf schnell und ruckartig und biss sich auf die Lippen. War das Panik? Es sah wie Panik aus. Aber auch dies nur einen Augenblick lang; danach fing er sich und sah mich direkt an.
Not – not really.“ Kleine Wölkchen bildeten sich vor seinem Mund, machten seine Worte beinahe fassbar. „I mean, he knows I’m gay and … well … er hat dann wohl eins und eins zusammengezählt. Ich war … auffällig unsozial die letzten Tage.“ Beim diesem Satz war er fast nachdenklich geworden, aber nun sah er wieder auf und kam einen halben Schritt auf mich zu.
„Aber keine Angst, Lukas macht zwar dumme Anspielungen, aber er würde nie vor anderen etwas sagen! Außerdem kennt er sicher auch niemanden aus deinem Bekanntenkreis.“ Er hob seine freie Hand, ließ sie aber schneller sinken, als ich ahnen konnte, was er damit vorhatte. „Ich verspreche, er wird nichts sagen – ich kann auch noch mal mit ihm reden, wenn du willst, aber er würde wirklich nicht – wirklich nicht!“
Rubins Augen sahen groß aus. Groß und dunkel und warm. Aber sie waren ja immer warm. Das war mir schon am ersten Tag aufgefallen. Nur hatte ich da noch nicht gewusst, dass der Rest auch warm war.
Vyvyan?“
Das war kein Date gewesen, oder?
Hera, Hades und Hephaistos, warum konnten wir nicht mal Klartext reden?!
Aber wenn Lukas wusste, dass Rubin auf Männer stand – dann ja, dann lag der Schluss, dass er mit jemandem, mit dem er freitagnachts einkaufen ging, was am Laufen hatte, relativ nahe. Also konnte ich davon ausgehen, dass man uns nichts ansah. Vor allem dann nicht, wenn man wie unsere Mitschüler davon ausging, dass wir beide hetero waren.
„Okay“, sagte ich schließlich, „wenn du das sagst, wird’s wohl stimmen. Du kennst ihn besser als ich.“
Solange er es mir – uns – nicht aus völligem Unwissen heraus angesehen hatte, konnte ich damit leben. Wirklich. Irgendwie.
„Du bist nicht wütend?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nee, kannst ja nichts dafür.“ Außer der Tatsache, dass er mit so einem Unsympath befreundet war, versteht sich. „Aber … wer weiß es sonst noch alles, von dir, meine ich?“ Super, ich konnte es noch nicht einmal aussprechen. Schwul. Homosexuell. Rubin. Na ja, wenigstens konnte ich es denken. War doch auch was …
„Nicht viele“, erwiderte er rasch, „eigentlich nur meine engen Freunde.“ Lukas zählte also zu seinen engeren Freunden? „Also, im Bekanntenkreis verstecke ich es auch nicht, aber – meine Eltern wissen von nichts und in der Schule ist es bisher auch nie zur Sprache gekommen.“
Okay. Also nur seine Freunde und Bekannte außerhalb der Schule. Damit konnte ich auch leben, nicht? Immerhin kannte ich von denen ja nur Megan – und jetzt höchst oberflächlich Lukas …
Moooment. Megan wusste es? Wenn Megan wusste, dass Rubin schwul war, und Lukas anhand derselben Information innerhalb von Sekunden die – leider – richtigen Schlüsse gezogen hatte, hieß das dann, dass auch Megan …?
Da waren diese Blicke zwischen den beiden gewesen, als ich gestern mit Kitty da gewesen war. Aber …
Egal.
Echt mal. Ändern konnte ich so oder so nichts daran und was diese dumme Tussi dachte, konnte mir ja mal so was vom am Arsch vorbei gehen.
Vyvyan?“ Leise war seine Stimme, vorsichtig. „Are you sure you’re not mad?
Ich nickte. War ich echt nicht. Nicht wirklich, zumindest. Ich hatte nur nach heute Abend über so einiges zu nachzudenken. „Lass uns nach Hause, mir ist kalt.“
Er lächelte zaghaft. „Dir ist immer kalt.“
„Nicht, wenn ich mit Betsy kuschle.“
Das Lächeln wurde breiter. „Siehst du, du musst doch bei mir einziehen.“
„Sieht fast so aus.“
Wir verließen die Bushaltestelle und stampften in Richtung seines Hauses los. Der Schnee auf dem schmalen Gehweg war längst niedergetrampelt worden und glich an manchen Stellen eher einer Schlittschuhbahn als etwas anderem. Das Letzte, was ich wollte, war, dass mein Arsch mit dem Boden Bekanntschaft machte, und deshalb ging ich um einiges langsamer, als meiner inneren Frostbeule lieb war. Aber hinfallen wäre wirklich ungünstig, vor allem, da in meiner Einkaufstüte die Eier -
AH!
Meine Rechte schnellte hervor und ich griff nach dem ersten, besten, nächsten Ding; Rubins Arm. Einen Augenblick lang bot er Halt und Stabilität, dann brachte ihn die Zugkraft selbst ins Wanken. Ich machte einen hastigen Schritt zurück, er ebenso; ich verlor das fast wiedergefundene Gleichgewicht wieder, versuchte es mit der Einkaufstüte auszubalancieren und klammerte mich noch stärker an seine Jacke.
Und dann war es vorbei. Wir standen beide auf beiden Füßen und hatten unsere Taschen und Hintern vor dem Aufprall gerettet, von den (Hühner-!) Eiern ganz zu schweigen. Helden des Alltags eben.
„Sorry“, sagte ich vom Schreck etwas aus der Puste.
„Alles okay?“
„Ja. Aber warum müssen Straßen nachts immer glatter sein als tagsüber?“
„Du betrachtest das aus der falschen Perspektive“, erwiderte er, „Sie sind tagsüber weniger glatt als nachts, damit niemand deinen nassen Hintern sieht, wenn du hinfällst.“
Ich grinste. „Klar.“ Ich sah an mir runter und bemerkte, dass ich immer noch seinen Arm festhielt, wenn auch nicht mehr so fest wie eben noch. Möglichst ruhig ließ ich los, aber ich hatte das Gefühl, dass er trotzdem wusste, dass mein erster Instinkt gewesen war, sie hastig wegzuziehen. Händchen halt. Nicht mein Ding.
Obwohl, nach dem Versprechen, das er mir heute morgen abgerungen – 
Huh. Das Versprechen. Zählte das auch zu den ‚Arrangements‘, die er auflösen wollte? Würde einerseits zwar wenig Sinn machen, weil … nun ja, weil er ja nichts verlor dabei. Es ging ja nur darum, dass er weiterhin kondomlos blasen –
Huh. Ich hatte auch geblasen. Auch ohne Kondom. Klar, heute, nur wenige Stunden, nachdem er mir sein Testergebnis unter die Nase gehalten hatte, war das auch okay, aber … wenn ich auch – also, falls (!) ich auch in Zukunft noch einmal – obwohl, das hatten wir ja schon besprochen, also, dass ich auch in Zukunft noch mal ‚ran‘ wollte. Ja, doch. War ja nicht schlecht gewesen. Eher aufregend. Und, wenn ich ehrlich war, gefiel es mir, so komplett die Kontrolle über seine Lust zu haben. War eben doch intensiver als beim Wichsen.
Anyway – bei Zeus, jetzt benutzte ich schon diese Scheißsprache! Aus, aus, pfui! Neustart:
Wie auch immer – viel besser! – wenn ich es ihm auch weiterhin mit dem Mund besorgen sollte, würde er dann auch die Finger von anderen lassen? Ich meine, bisher hatte er ja nicht wirklich Zeit dafür gehabt, da wir ja fast die ganzen Ferien über zusammen gewesen waren, aber morgen würde er ja mit Freunden weggehen (war Lukas dabei?) und übermorgen war die Party. Silversterpartys waren ja nicht unbedingt dafür bekannt, dass sich die Leute dort besonders gehemmt oder zurückhaltend verhielten.
Wollte ich überhaupt, dass er von anderen die Fingern ließ? Abgesehen von der Kondomsache, verstand sich, denn wie gesagt: Kondomgeschmack gleich urgs.
Und sollte ich wollen, dass er in der Praxis niemand anderen anfasste, wollte ich denn dann auch, dass er es mir auch noch versprach?
Weil, also … so ein Versprechen hatte ja schon eine gewisse Tragweite. Bei ihm, natürlich, nicht bei mir. Garantiert nicht, das hatte ich ja schon beschlossen.
Das waren Dinge, die ich mir wahrscheinlich erst klar sein sollte, bevor ich bei ihm genauer nachfragte. Ich wusste nicht, ob ich mit Antworten, die mir nicht schmeckten, so gut umgehen würde. Wagte es zu bezweifeln.

***

An der Haustür angekommen stoppten wir und Rubin stellte seine Einkaufstasche hin, um nach dem Schlüssel zu kramen. Das Licht über der Tür ließ seine Haare warm leuchten. Er fand den Schlüssel, schloss auf, nahm die Tasche und trat ein.
Es war echt schweinekalt. Klar, Ende Dezember und spätnachts. Ich sollte rein.
Vyvyan?“ Rubin hatte sich bereits die Jacke ausgezogen und drehte sich nun um und sah mich verwirrt an. „Was ist los?“
Ja, was war los? Wieso stand ich hier wie in Bronze gegossen, statt hinein in die Wärme zu gehen? Wärme, die immer mehr entfleuchte, je länger er die Tür für mich aufhielt. Betsy schlief schließlich bereits.
Aber ich konnte nicht. Aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht bewegen. Ich wollte hinein, aber gleichzeitig auch nicht. Was sollte das denn?!
Ich sah ihn an. Das Licht im Hausflur war um einiges heller als das der Außenlampe und dadurch, dass es sonst stockduster war, wurde mir der Unterschied zwischen ‚hier‘ und ‚da‘ noch deutlicher: Bei ihm war es hell und warm und sicher und wohlig; hier draußen war es kalt und finster und einsam. Und trotzdem konnte ich meine Beine nicht dazu bewegen, auch nur einen Schritt auf ihn zuzutun. Wenn das mal keine Metapher für irgendwas war. Pf.
Babe …?“ Nun war seine Stimme nur noch ein ängstliches Wispern. Ich verstand nicht, was gerade passierte, doch dann hob ich wie automatisch den Kopf und fragte, ohne vorher zu wissen, was ich fragen wollte:
„Warum hast du dich bereiterklärt, mir Nachhilfe zu geben?“


*********

Mein Herz setzte aus. Vyvyan stand keine zwei Meter von mir entfernt, aber mit einem Mal erschien er mir unerreichbar – noch unerreichbarer als in der Schule. Und das leise Stimmchen, das den ganzen Abend über in meinem Kopf gewesen war, schrie auf.
Ich hätte es ihm nicht sagen dürfen! Das mit der Bewerbungsfrist. Ich hätte ihn nie bitten sollen, unseren Deal zu vergessen – ich wusste doch, dass er dazu noch nicht bereit war. Was hatte ich denn erwartet? Noch dazu, nachdem er heute so unendlich viele Schritte auf mich zugekommen war! Wir waren jetzt nicht nur exclusive, nein, er hatte auch von selbst Fragen zu meiner Familie gestellt und war – wieder von sich aus! Completely and absolutely von sich aus! – auf eine ganz neue Art intim geworden. Ich wusste doch aus eigener Erfahrung, was für ein großer Schritt das war – wieso zum Geier hatte ich nicht einmal, just once in my fucking life, damit zufrieden sein können? Hatte ich am Morgen noch auf einen traumhaften High geschwebt und das Gefühl gehabt, mir sei mit seinem Treueversprechen eine Deadline erlassen worden, so waren danach meine Zweifel, Ungeduld und die Sehnsucht – nay, die Sucht nach mehr zurückgekehrt. With a vengeance. Und jetzt stand ich hier und obwohl es arschkalt war, wollte er noch nicht einmal mehr mein Haus betreten.
Goddammit! Einmal nur. Ein einziges Mal ein kleines bisschen Geduld haben, war das denn wirklich zuviel verlangt? Dabei hätte ich doch nie im Leben gedacht, dass wir überhaupt je soweit kamen, wie wir gekommen waren, geschweige denn noch vor Neujahr.
Er war heute sogar mit mir ausgegangen, verdammt! Und was tat ich? Statt einfach nur den Abend zu genießen, versuchte ich, ihn unaufhörlich in die Richtung zu drängen, die mir genehm war – und was Vyvyan genehm war, interessierte mich nicht.
I was such a fucking asshole. Wenn er ging, dann … I deserved it. Der letzte Bus war noch längst nicht weg, er konnte sich einfach umdrehen und gehen.
But … wenn er jetzt ging – ich bezweifelte, dass er zurückkommen würde. Der Meinung war auch die Stimme in meinem Kopf, die mir die ganze Zeit über schon zugeflüstert hatte, dass etwas nicht in Ordnung war. Nur, eben, jetzt flüsterte sie nicht mehr.
Fuck, ich musste etwas sagen, musste ihm antworten, musste Worte finden, die ihn dazu brachten, die ganze Scheiße zu vergessen und hinein zu kommen. Zu mir. In die Wärme. Die mochte er doch so gerne. Fuck.
„I …“ Nicht Englisch, nicht jetzt. Nicht noch mehr provozieren, keinen weiteren Grund geben abzuhauen. „Habe ich doch gesagt: Ich wollte – will – dir helfen.“ Unter anderem. Aus einem ganz spezifischen, egoistischen Grund.
„Wie selbstlos von dir.“ O no, no sarcasm. Don’t shut down! „Vor allem, wo wir uns kaum gekannt haben.“
Was sollte ich sagen? Er hatte ja Recht. Ich war nicht der Typ, der jedem x-Beliebigen aus der reinen Güte seines Herzens heraus half. Kein guter Samariter. Ich brauchte schon einen Grund, um jemandem außerhalb meines Freundeskreises zu helfen.
„Dann kannst du Theo ja auch bei seinen Matheproblemen zu Hand gehen. Ich tret auch die Hälfte meiner Zeit ab, damit du so wenig Mehraufwand wie möglich hast.“
Nein, nein, nein … wieso sagte er denn so was? Wie konnte er auch nur daran denken?
„Ich habe dir doch gesagt, ich mag deine ‚Freunde‘ nicht, keinen von ihnen.“ Luft holen, ruhig bleiben. „Dich schon.“
Lie! A lie by omission, but still a lie. Und ich wollte doch ehrlich zu ihm sein; aber wenn ich das war, so richtig, dann war er weg. ‚Mögen’, das war ein Witz. ‚Festhalten und nie mehr loslassen wollen‘ kam der Sache schon näher.
„Ich wiederhole: Wir haben uns kaum gekannt.“
‚Ja, aber ich hatte genug Zeit gehabt, dich zu beobachten. Noch dazu sind Gefühle nicht rational – sag nicht, dass du das nicht weißt.‘ Natürlich erwiderte ich das nicht. Ich war ja nicht komplett verblödet. „Wollen wir nicht drinnen weiterreden? Die Kälte zieht rein.“
Vyvyan ignorierte meinen Einwurf. „Bist du mir auch deshalb gleich bei der ersten Gelegenheit an die Wäsche? Weil du mich ‚sympathisch‘ fandest?“
„Ich – das war doch nicht geplant gewesen!“
„Nein?“
„Nein!“ Ich überlegte fieberhaft, aber mir fiel nichts ein, was ich anfügen sollte; zumindest nichts, das ich auch sagen konnte ohne zu riskieren, dass er auf dem Absatz kehrt machte und ging.
‚Ich konnte mich einfach nicht mehr beherrschen, als ich endlich einmal mit dir alleine war‘?
‚Du hast vor mir gesessen und deinen verdammten Lolli derart bearbeitet, dass ich alleine davon hätte kommen können‘?
‚I’m gay and you’re hot as july; of course I’d try to get with you, even if I wasn’t completely fucking head over heals in love!‘
Ein Satz schlimmer als der andere.
„Das war also alles? Du setzt deine Ferien aufs Spiel, weil du einem Mitschüler helfen willst, den du halbwegs sympathisch findest, und machst dich dann an ihn ran, weil – was, sich die Gelegenheit dazu bot?“
Natürlich nicht. Verdammt noch mal, ich war gerade völlig überfordert Wenn er so weitermachte, würde ich noch anfangen zu heulen – und auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich die Situation retten konnte, eines wusste ich: Wir waren uns nie und nimmer so nah, dass wir voreinander heulen könnten. Heulen stand auf der Liste der Dinge, die ich jetzt auf keinen Fall tun durfte, verdammt weit oben.
Vyvyan, es ist spät, wir sind beide müde; lass uns morgen früh in Ruhe darüber reden.“
Und komm rein. Komm rein und lass mich die Tür hinter dir abschließen. Und dann komm ins Bett, damit ich dich festhalten und mir einbilden kann, dass es etwas bringt.
„Ich dachte, du würdest mir heute alle Fragen, die ich mir ausdenken kann, beantworten?“
Ja, aber doch nicht solche! Noch nicht – irgendwann, gerne, wenn er uns nur noch etwas Zeit gab. Genug, damit er lernen konnte damit umzugehen, dass er mich mochte. Er musste mich einfach mögen – er war so früh zu mir gekommen heute, er hatte wie selbstverständlich frische Unterwäsche mitgebracht, so was tat man doch nicht, wenn man jemanden nicht mochte. Er hatte mich im Mund gehabt. Geschluckt. Er hatte sich von mir halten lassen. Er … er …
„Please, babe. Let’s talk tomorrow. Please.“ Dass ich mal einen Kerl ehrlich anbetteln würde, hätte ich auch nicht gedacht. Aber es war mir egal, solange er nur wieder herkam. „Wir hatten so einen schönen Abend; lass uns den doch ruhig ausklingen lassen und morgen reden wir dann. Wenn … wenn du drüber geschlafen hast.“ Und ich Zeit hatte, mir Antworten zu überlegen, die gleichzeitig wahr und für ihn akzeptabel waren. Ich wollte ihn nicht anlügen.
Und noch immer stand er da, Einkaufstasche in der Hand, Schal um den Hals, Mütze auf dem Kopf, mittlerweile rote Nase und Backen – und tat keinen Wank.
„Dann beantworte mir wenigstens das“, begann er und irgendetwas sagte mir, dass ich diesmal besser auf seine Frage einging, wenn ich nicht alleine schlafen wollte. „Was war das heute Abend für dich?“
Ich schloss kurz die Augen. Hinter meinen Augenlidern huschten Bilder vorbei. Davon, wie ich ihm die Wahrheit sagte; davon, wie sein Gesicht aussah, wenn ich ihm meine Gefühle gestand – mein Kopf konnte sich nicht entscheiden, ob er geschockt, mitleidig oder gar angeekelt aussehen würde, also sah ich alles zusammen; davon, wie er mir sagte, dass es ihm leid täte, aber dass wir dann besser nichts mehr miteinander zu tun hätten; davon, wie er mich daran erinnerte, dass ich ihm selbst gesagt hatte, dass ich nicht mit jemandem zusammensein wollen würde, der nicht das Gleiche für mich empfand wie ich für ihn.
‚Ich erwidere das nicht; ich wollte nur ein wenig experimentieren. Ich dachte, das sei uns beiden klar‘.
Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen, obwohl es sich wie eine Fratze anfühlte und wahrscheinlich auch nicht viel besser aussah.
„Hab ich doch gesagt“, sagte ich leise und versuchte die Bilder zu ignorieren, die ihn sich umdrehen und weggehen sahen, „wir hatten einen schönen Abend. Zusammen. Wir hätten uns auch zu Hause auf Betsy einen schönen Abend machen können, aber stattdessen sind wir essen und ins Kino gegangen.“
Natürlich war es für mich ein Date gewesen. Natürlich war es für ihn keines. Noch nicht. Aber irgendwann später, wenn wir darauf zurücksahen, dann würde er sicher auch zustimmen, dass es unser erstes Date gewesen war. Und wir konnten den Jahrestag feiern, immer am neunundzwanzigsten – 
Was dachte ich da?! ‚Jahrestag‘? ‚Wenn wir darauf zurücksahen‘? Shit, eigentlich machte ich mir doch da sonst nichts vor. Jedenfalls nicht bewusst. Heute in einem Jahr würde ich in den Staaten sein und studieren und Vyvyan – Vyvyan würde überall, nur nicht in den Staaten sein.
Vielleicht wäre es sogar besser, wenn er jetzt gehen würde. Wenn ich vollkommen ehrlich zu ihm wäre und er mir geradeheraus sagen würde, dass ich mir keine Hoffnungen machen sollte. A clean cut – vielleicht war es das, was ich brauchte. Vielleicht würde es mir helfen, besser, schneller, einfacher über ihn hinwegzukommen.
Aber ich wollte nicht. Ich wollte jeden möglichen Tag, jede Stunde, jede verdammte Sekunde, die ich mit ihm haben konnte, auch haben, und ich wollte sie genießen. Auch, wenn ich dann am Ende in Princeton saß und vor Liebeskummer einging. Sollte ja charakterstärkend sein, so richtiger schlimmer Herzschmerz.
„Reicht das nicht erstmal?“, fragte ich und konnte mich nicht dazu bringen, lauter zu sprechen. Ich hatte nicht Angst, dass er dann davonlief, aber … doch, irgendwie hatte ich genau das. Ich ließ meine Jacke neben die Tür plumpsen, so dass diese nicht zufallen konnte, und ging langsam auf ihn zu. So kalt. So unglaublich kalt. Hätte die Jacke besser mal wieder angezogen. Ich blieb vor ihm stehen, wagte es kaum und streckte dennoch die Hand  aus. Legte sie an seine Wange. Ebenfalls kalt. Hoffentlich ließ er mich sie wieder aufwärmen. „Can’t we just … not label it? Just enjoy it for what it is?“
Vyvyan blieb starr, bewegte sich nicht und sah mich einfach nur an, aber ich glaubte zu sehen, wie es in dem Blau seiner Augen kämpfte.
„Man braucht doch nicht immer alles in Schubladen stecken.“
Lüge. Nun wirklich.
Nein, man musste nicht immer alles Schubladen stecken und generell war ich sowieso kein Fan von Schubladendenken, aber diese eine Sache, das zwischen uns, das wollte ich unbedingt in eine Schublade einsortieren. Und zwar die, deren Aufschrift ‚Feste Beziehung‘ lautete. Die, die ich vergessen konnte. Ich wollte wirklich nicht lügen. Vor allem nicht ihn anlügen, aber noch weniger wollte ich ihn verlieren. Das bisschen von ihm, das er mir zugestand.

2 Kommentare:

  1. Heute mal wieder im Anonym Modus, weil ich vom Handy aus lese. Also erstmal wieder top geschrieben.. bei den letzten.. 3? Kapiteln oder weiss grad nicht seit wann's weiter ging :D bin ich nur noch am laecheln ohne spass. So suess wie Vyvy langsam aber sicher auftaut.

    Und heute fand ichs besonders schoen eine laengere Sicht von Rubin lesen zu koennen. Immer weiter so.
    Du, Vyv und Rubin seid mein Mittwochs Highlight :3

    Liebe gruesse, Eva

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ab und zu braucht man einfach Abwechslung, und wenns nur vom eingeloggten zum anonymen Modus ist, wa? ;)
      Es freut mich sehr, dass dir die letzten Kapitel gefallen haben. :) Aber - am Lächeln? Rubin hat gerade voll die Angst und du lächelst? Wie fies! ;P

      Ja, die lange Rubin-Sicht. Die hat mir auch Spaß gemacht, weil er sich so herrlich einfach schreibt. Auch wenn mir die Szene an sich so gar nicht gefällt. Aber gut. Vielleicht wird die nächste längere Rubin-Sicht zuckriger. Ich würd's ihm wünschen.
      Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! (Und eine schöne restliche Adventszeit! ^^)

      Löschen