Mir fror langsam aber sicher alles ab, auch die Dinge, von denen ich nicht
einmal gewusst hatte, dass sie abfrieren konnten. Doch das war nicht der Grund,
warum ich mich schließlich bewegte. Nein, der Grund lag irgendwo zwischen
Rubins Fingerspitzen auf meiner Wange und meiner Erschöpfung. Und das war ich,
erschöpft. Nicht plötzlich, aber so richtig. Und der Drang, endlich Klarheit zu
schaffen, dimmte, als die Angst in seinem Blick zu mir durchdrang. Einerseits
machte mir das nur noch deutlicher, dass wir reden mussten, und das dringend;
andererseits konnte ich nicht nicht auf die Angst Rücksicht nehmen,
konnte mich nicht gegen den Drang wehren, sie ihm nehmen zu wollen. Wusste,
dass ich das nicht vollkommen tun konnte, und hasste mich irgendwo tief drinnen
für dieses Unvermögen.
Das Lächeln, das ich auf mein Gesicht zwingen wollte, wehrte sich
hartnäckig und blieb schließlich im rechten Mundwinkel hängen.
„Echt scheiße kalt hier“, brachte ich irgendwie hervor und sah
Erleichterung und noch etwas, das ich nicht erkannte, über sein Gesicht
einbrechen.
„Let’s go inside“, erwiderte er und nahm die Finger von meiner
Wange, um nach meiner Hand zu greifen, „I’ll fix you some hot cocoa with
marshmallows. It’ll help you warm up.“
Im ersten Moment, als ich ihn durch den Stoff meiner Handschuhe hindurch
gespürt hatte, hatte ich die Hand wegziehen wollen, rein instinktiv in der
ersten und ein wenig empört in der zweiten Sekunde. Aber im Gegensatz zu sonst
führte mein Körper diesen Befehl nicht aus und nach einer weiteren Sekunde
wurde mir bewusst, warum: Rubin würde damit nicht klarkommen, nicht jetzt.
Ich denke, uns war beiden klar, das eben etwas kaputtgegangen war, das wir
nicht wieder kitten konnten. Die Seifenblase war geplatzt. Dazu hatte er auf
meine Fragen nicht antworten müssen, denn keine Antwort war leider auch eine
Antwort. Und auf ihre Weise war sie noch deutlicher als Worte es gewesen wären.
Und da behaupteten alle, Kommunikation wäre der Grundstein einer Beziehung – so
ein Schwachsinn! Wir hätten besser daran getan, weiter nur Geplänkel
auszutauschen und das Reden und Kommunizieren Leuten überlassen, die damit auch
klarkamen. Und weil Rubin nicht damit klarkam und ich das Kartenhaus ebenfalls
nicht heute Nacht zum Einstürzen bringen wollte, nickte ich und ließ mich von
ihm ins Haus ziehen. Mir entging nicht, dass er die Tür hinter uns nicht nur
schloss, sondern verriegelte.
„I’ll take the groceries to the kitchen and get that cocoa goin’“,
sagte er, nahm mir meine Tasche ab und verschwand in der Küche.
Ich ließ mir Zeit dabei, mich aus den Klamotten zu schälen. Aber leider
half das nichts. Einerseits war es nur ein verschwindend geringer Aufschub,
andererseits … nun, andererseits wollte ein Teil von mir nichts als
ihm nach. Und ein Teil dieses Teils wollte ihn in den Arm nehmen, ihn halten,
ihn … küssen. Immer noch. Noch mehr. Ausgerechnet jetzt. Gerade
jetzt. Das war nicht gut, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich würde hier
bleiben, heute Nacht, dass hatte ich eben stumm versprochen, als ich über die
Schwelle getreten war und ich konnte es nicht bringen, dieses Versprechen zu
brechen. Aber dem Teil oder gar dem Teilsteil in mir nachgeben konnte ich auch
nicht, weil das wiederum einem ganz anderem Versprechen gleichkäme. Und dazu
war ich nicht bereit.
Als ich dann auch noch seine Jacke aufhob und auf einen Kleiderbügel
packte, war meine Schonfrist abgelaufen.
Rubin verstaute gerade die letzten Zutaten.
‚Kann ich etwas tun?’, wollte ich fragen und stoppte, bevor meine Stimmbänder
auch nur daran gedacht hatten, zu vibrieren. Neuer Versuch: „Kann ich dir zur
Hand gehen?“
Rubin wandte mir nur kurz den Kopf zu und schenkte mir ein Lächeln, das den
Namen nicht verdiente.
„Don’t worry, hot cocoa is one thing I’m awful good at makin’. It’ll
blow your mind.“ Er nahm sich Milch und Sahne aus dem Kühlschrank, schloss
diesen und suchte dann Kakaopulver, Zucker, Marshmallows und Salz zusammen.
Dass er jetzt anscheinend ganz auf Englisch umgeschaltet hatte, ließ ich
unkommentiert. Auch, dass sein ‚I’m‘ zu ‚Ahm’, sein ‚mind‘ zu
‚mahnd‘ und generell die Sprachmelodie sehr singend wurde, ließ ich unkommentiert. Zum Glück hatte ich
die letzte Zeit über genug Gelegenheit gehabt, mich an seine Aussprache zu gewöhnen;
denn auch wenn er den Südstaatenakzent sonst deutlich runterschraubte, vor
allem, wenn er außerhalb der Nachhilfe mit mir
redete – wahrscheinlich, um mir das Verständnis zu erleichtern, denn
ohne den Text vor mir zu haben war sein Singsang wirklich nicht gerade easy – so
ganz ausschalten konnte er ihn nicht. Musste er ja auch nicht, war ja immerhin
ein Stück seiner Herkunft. Und solange ich halbwegs verstand, was er mir sagen
wollte, war alles im Butter.
Er goss die Milch in zwei Tassen und stellte beide in die Mikrowelle. War
ja klar, Mikro statt Pfanne. Typisch Amis eben.
Trotz allem musste ich schmunzeln; doch als er sich zum mir umdrehte,
verging es mir. Sein Blick huschte über mein Gesicht, er kam zu mir und legte
mir den Handrücken erst an die Wange und danach an den Hals.
„Sit down, now. I’m going to get you a blanket.“ Zumindest war ich
mir fast sicher, dass der zweite Satz das heißen sollte, denn was ich hörte,
war: ‚Ahma git you a blanket’. Jedenfalls schob er mich Rückwärts auf
einen Stuhl zu, zog ihn unterm Tisch hervor und drückte mich an den Schultern
runter. „Just wait here, okay?“
Okay.
Viel schneller, als erwartet kam er mit der Fleecedecke zurück und wickelte
mich darin ein. Was war ich, ein Kleinkind? Vom babe zum Baby, super.
Beschweren tat ich mich natürlich nicht. Statt dessen sah ich ihm dabei zu,
wie er mit hektischen Bewegungen die heißen Schokoladen zubereitete, als wären
sie ein Allheilmittel.
***
Wenn auch nicht allheilend, so war der Kakao trotzdem lecker gewesen. Wirklich,
besser als der von Pa. Und auch die Marshmallows, die ich sonst immer irgendwie
scheiße fand, waren lecker, so halb aufgelöst in Milch, Schoko und
Schlagsahne.
Doch der Geschmack war nicht der einzige Grund, warum ich es bedauerte, als
ich aufgetrunken hatte. Hier am Tisch zu sitzen, sich gegenseitig anzuschweigen
und Kakao zu schlürfen war zwar alles andere als grandios, aber wenigstens
wusste ich dabei, was ich tun musste: sitzen, schweigen, schlürfen. Geht klar,
Boss! Aber jetzt, wo auch der letzte Rest Kakao ausgetrunken
war … jetzt mussten wir wohl ins Bett. Und das war gerade das Letzte,
was ich wollte. Neben Rubin liegen und … kuscheln? Wahrscheinlich
nicht. Jetzt kuschelten wir ja auch nicht. Kuscheln käme auch echt seltsam,
einfach deswegen, weil die Stimmung so tief im Arsch war, dass sie einem schon
wieder hochkam. Ich glaube, so schlimm war es noch nicht einmal in der Schule
gewesen. Das Schweigen während des Burgers war jedenfalls angeregte
Unterhaltung dagegen.
Ich wollte nicht vom Stuhl aufstehen, wollte die Fleecedecke nicht abgeben
müssen. Irgendwie kam mir dieses dumme Ding wie ein Schutzschild vor.
Vielleicht konnte ich sie ja mit ins Bett nehmen? Wenn ich denn heute überhaupt
bei ihm schlief; wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich das Sofa bekuscheln
würde, aber von mir aus wollte ich den Vorschlag nicht machen. Nicht, weil ich
zu schüchtern dafür war, sondern, weil ich nicht einschätzen konnte, ob es das
war, was Rubin wollte, oder ob … ob es alles noch schlimmer machen
würde.
Und weil ich nicht vom Stuhl aufstehen wollte, tat ich genau das: nicht
aufstehen. Blieb sitzen, starrte in meine Tasse, hörte den Sekunden beim
Verrecken zu.
Und dann piepste mein Handy in die Stille hinein. Meistens störte mich das
Ding ja nur unnötig – meistens war es jemand von der Schule
und nervte rum – aber heute freute ich mich ausnahmsweise darüber und
kramte es mit einem erleichterten Lächeln hervor. Egal wer es war, ich würde
mich bei ihm oder ihr bedanken müssen, und wenn es nur schon wieder Theo wegen
zocken sein sollte. Natürlich würde ich deswegen noch lange nicht zum Zocken
zustimmen. Ein bisschen Selbstachtung hatte ich noch.
Es war aber weder Theo noch die Jungs, sondern Fee.
Sorry, ich wollte mich schon früher melden, bin aber auf dem Sofa
eingeschlafen. Wir haben ewig im Stau gestanden und Timmy und Jasi waren auf
Quengel-Dauerschleife, aber wir sind
dann doch gut angekommen und Tante Emi hat mit einem Haufen Plätzchen
begrüßt. Ich hoffe, deine Nachhilfe heute war nicht allzu anstrengend. Vermiss
dich!
Ah, ja. Sie war ja heute zu ihrer Tante gefahren.
Irgendwie … war es komisch. Die SMS zu lesen
und … überhaupt an Fee zu denken. So ein bisschen bekam ich dabei ein
flaues Gefühl im Magen und das Lächeln, das aus purer Erleichterung auf mein
Gesicht gehüpft war, wurde nun automatisch noch breiter, auch wenn ich mich
nicht nach Lächeln fühlte. Keine Ahnung, warum es nicht erfror oder verschwand
oder was auch immer. Einerseits fühlte ich mich bei dem Gedanken an sie
schlecht und mein Gewissen meldete sich – sie ‚vermisste mich‘!
Und ich dachte noch nicht mal an sie – na und? War bei meinen
Exfreundinnen doch nicht anders gewesen – aber die … die
hatte ich nie betrogen. Und Fee … Fee hatte das echt nicht verdient.
Sie war echt … erträglich, nicht nur im Vergleich zu meinen
bisherigen Freundinnen oder zu anderen Mädchen, sondern auch im Vergleich zu
Theo und Anhang. Obwohl, Vic und Kim waren auch erträglich. Beide eher ruhig,
Kim dazu manchmal schon fast wortkarg. Aber gut, im Vergleich zu Dauergrinser
Theo oder Dauermeckerer Aaron war es auch nicht schwierig, ein Mindestmaß an
Erträglichkeit an den Tag zu legen.
Aber über meine Freunde konnte ich getrost einander Mal nachdenken
– oder auch nie, sie waren ja nur noch ein paar Monate relevant. Fee
hingegen – mit Fee musste ich mich bald auseinandersetzen. Und bis
dahin musste ich wissen, wie ich es ihr am schonendsten beibringen konnte
– denn ja, ich wollte es ihr schonend beibringen. Wie gesagt, sie war
erträglich. Und bis ich es ihr beibrachte, musste ich weiterspielen. Was ich
echt nicht bringen konnte, war, ihr die Tage bei ihrer Tante inklusive
Silvester zu vermiesen. Also zurückschreiben. Kein Ding.
Als ich kurz aufsah, traf mich Rubins Blick. Klar, er hatte ja mitbekommen,
dass die Nachricht eingetrudelt war. Er sah mich nicht direkt fragend an, aber
dennoch wusste ich, dass er sich fragte, von wem sie war.
„Fee“, sagte ich und versuchte erneut zu lächeln, „Sie sind bei ihren
Verwandten angekommen und – ich schreib nur kurz zurück.“
Rubins Gesichtsausdruck hatte sich bei ihrem Namen bereits verdüstert und
das Nicken, das ich auf meine Worte hin bekam, war recht abrupt. Aber was
wollte er denn? Noch war sie meine Freundin, da konnte ich sie schlecht
ignorieren.
…
So lange hatte ich noch nie für eine dumme SMS gebraucht. Ich wusste nicht
genau, wieso, aber das ‚Ich vermisse dich auch‘ oder eine ähnliche
Floskel wollte mir einfach nicht aus den Fingern. Schließlich entschied ich
mich um.
Meinst du, wir könnten uns am 2. Treffen? Nur, wenn du von der Heimfahrt
nicht zu müde bist.
Die Antwort kam prompt.
Natürlich! Ich würde mich freuen! Wir sollten so gegen 17h zu Hause sein.
Wenn du mich nicht gerade ans andere Ende der Stadt lotst, könnte ich um
18-18.30h da sein. :)
Ich schrieb ihr zurück, dass ich mich zeitlich nach ihr richten konnte und
bekam prompt ‚Dann 18.30h. Du weißt doch, Frauen und Badezimmer ;)‘
zurück.
Ich ignorierte geflissentlich, dass sie sich für mich hübsch machen wollte,
und schrieb ihr, dass ich mich wegen des Treffpunktes noch melden
würde – was ich nicht sagte, war, dass ich mir erst noch überlegen
musste, wo man am besten mit jemandem Schluss machte; bisher war das immer eher
spontan geschehen.
Super, ich freu mich schon! :*
Ja. Wahrscheinlich tat sie das sogar wirklich. War es gemein, dass sie sich
jetzt fast vier Tage lang darauf freuen würde, wenn ich so einen Grund für das
Treffen hatte?
Diesmal überwand ich mich und schrieb ihr ein ‚Ich mich auch‘
zurück. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sie sich jetzt schon Sorgen
machte. Nein, dann sollte sie sich doch lieber freuen.
Als ich das Handy wieder verschwinden ließ, stand Rubin abrupt auf, deutete
auf meine Tasse und fragte:
„You done with that?“
Okay, den Tonfall konnte nicht mal sein Singsang retten. Und dabei war ich
echt dankbar gewesen, ein bisschen Ablenkung bekommen zu
haben – hatte ja leider nicht lange gehalten.
Ich nickte. Er sammelte beide Tassen und Löffel ein, hielt sie kurz unter
den Wasserhahn und verstaute sie dann in der Spülmaschine.
Und ich? Ich blieb sitzen und fragte mich, wie viel an einem einzigen Abend
schief laufen konnte. Vielleicht wäre ich besser gegangen. Vorhin, als ich
nicht weiter auf das Haus zugehen konnte. Vielleicht hätte ich mich umdrehen
und gehen können. Wieso habe ich es nicht probiert?
Aber nein. Ganz so sehr Arschloch konnte ich dann doch nicht sein. Rubin
hatte das ganz klar nicht gewollt.
Arschloch sein würde ich aber, früher oder später. Leider. Weil, eben.
Keine Antwort war auch eine Antwort gewesen.
„Let’s go.“
Rubins Stimme war leicht unterkühlt, aber auch zurückhaltend, irgendwie. Es
tat mir leid. Aber ich …
„Vyvyan? Let’s go upstairs. To bed.“ Nicht ‚bed‘; ‚be-ad‘.
Dennoch, die Bedeutung blieb: Ins Bett. Ja. Konsequenzen ziehen konnte ich
morgen noch. Vielleicht war das sogar besser: Morgen hatte ich schließlich
endlich mal einen Tag für mich, konnte nachdenken und mir darüber klar werden,
was die beste Handlungsweise war. Ob ich abbrechen musste oder es ignorieren
konnte oder ob es einen Mittelweg gab, irgendwo versteckt.
Ich nickte, stand auf, ließ die Decke auf die Rückenlehne des Stuhls
fallen. Rubin hob die Hand, als wolle er sie in meinen Rücken legen und mich
sachte vorwärts schieben, aber sie berührte mich nicht, sondern schwebte einige
Zentimeter von meinem Rücken entfernt in der Luft.
Oben angekommen ließ ich Rubin zuerst ins Bad. Ich wusste nicht, wie ich
reagieren sollte, wenn er sich noch mal auszog, während ich bereits im Bett lag
und nicht anders konnte, als ihm dabei zuzuschauen. Es … erschien mir
falsch. Nicht wegen ihm oder mir oder uns, sondern wegen der Atmosphäre. Sie
war vieles, aber nicht erregend. Und dann trotzdem an so etwas zu denken,
das … keine Ahnung. Es war unangebracht.
Ich ließ mir schließlich mehr Zeit als nötig beim Zähneputzen und
Bettfertigmachen. Rubin lag bereits unter der Decke, als ich ins Zimmer
zurückkam, und hatte bis auf die Nachttischlampe das Licht überall bereits
gelöscht. Er lag … auf der Wandseite des Bettes. Und zwar wirklich
auf dieser Hälfte, so dass ich mich problemlos auf die andere Seite legen
konnte und wir uns wahrscheinlich kein Stück berühren mussten. Nicht bei seinem
Riesenbett. Ich runzelte leicht die Stirn, kommentierte das aber nicht. Am liebsten
hätte ich ja behauptet, dass das ‚sonst‘ anders war, aber wie konnte ich? So
oft war ich noch nicht in seinem Bett gewesen. Und … nun. Egal.
Ich zog mich aus. Rubins Blick lag dabei auf mir, aber er sah mir ins
Gesicht und sein Ausdruck war weder erfreut noch genießerisch noch irgendwas.
In einer anderen Situation hätte mich das durchaus ein wenig beleidigen
können – ich meine, hallo?! So oft stand ich nicht halbnackt in den
Schlafzimmern anderer Kerle, wenn die dann auch noch schwul waren, sollten sie das
gefälligst genießen! – aber der Ausdruck in seinen Augen war so ein
seltsames Gemisch, dass ich meine falsche Empörung bereits vergaß, bevor sie
aufkommen konnte.
Er hatte die Ecke der breiten Decke einladend zurückgeschlagen, machte aber
ansonsten keinen Wank, als ich mich zu ihm legte.
„Gute Nacht“, machte ich, auch wenn ich jetzt schon wusste, dass sie nicht
gut werden würde.
„G’night“, erwiderte er. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er noch etwas sagen
wollte, also hielt ich seinen Blick einen Moment lang, zwei – aber
nein, er schwieg still. Rührte sich nicht, sagte nichts, sah mich einfach nur
an. Dafür hatte ich heute leider keinen Nerv mehr. Gedankenlesen konnte ich
nicht, als löschte ich das Licht und legte mich hin.
***
Angenehm wurde es wirklich nicht, zumindest nicht innerhalb der nächsten
Minuten. Mein Teil der Decke wärmte sich langsam auf, aber es war dennoch nicht
gemütlich. Ich lag steif da und zählte die Sekunden, wartete darauf, dass er
sich bewegte – ein bisschen hätte bereits gereicht – aber
er tat es nicht. Sowieso machte er gerade den Eindruck, als würde er lieber
allein gelassen werden, als wäre ihm der Abstand zwischen uns nur Recht.
Ansonsten hätte er sich doch nicht ganz an den anderen Rand des Bettes gelegt.
Aber irgendwie … wollte ich so nicht daliegen. Und noch dümmer:
Ich war mir fast sicher, dass ich so nicht würde einschlafen können. Wie auch?
Immerhin hatte ich mich den ganzen Tag mental darauf eingestellt, dass ich
unter einer Kuschelattacke einschlafen würde; ich war einfach nicht spontan
genug für Last-Minute-Änderungen.
Hm. Aber er machte leider keinerlei Anstalten, an dem Abstand zwischen uns
etwas zu ändern. War er wütend wegen vorhin? Weil ich statt reinzukommen lieber
dumme Fragen gestellt hatte, von denen ich doch eigentlich wusste, dass sie zu
nichts Gutem führen konnten? Denn entweder seine Antwort lief darauf hinaus,
dass er nur ein bisschen Spaß von mir wollte – dann änderte sich
nichts und die Fragen waren überflüssig – oder aber darauf, dass er
mehr wollte – und dann, ja … dann. Und sein Schweigen hatte
leider doch eher …
Aber ich wollte ja erst morgen darüber nachdenken, nicht wahr? In Ruhe zu
Hause. Und wenn es dann darauf hinauslaufen sollte, dass das Kartenhaus in sich
zusammenfiel, dann – dann sollte ich vielleicht selbst ein bisschen
vorkuscheln. Rubin konnte ja die ganze Sache vergessen und dann hinaus in seine
Clubs und sich wen Neues zum Kuscheln suchen, aber ich? Ich würde
kuschelpartnerlos bleiben. Wahrscheinlich länger, als meiner schwulen Seit…
Ach ja. Da war ja nur die eine Seite. Keine bi-, keine heterosexuelle. All
homo, sozusagen. Also gut, dann eben: Wahrscheinlich länger, als mir lieb
war. So. Da! Ausgedacht, den blöden Satz.
Also, wenn man es so betrachtete, unter Einbezug der näheren und – in
meinem Fall auch etwas weiter entfernten Zukunft – dann hatte ich
vorkuscheln nötiger als er. Und jetzt, weil er so weit weg lag und offenbar
keinen Bock auf das ausgemachte Kuscheln hatte, da …
Ach, fuck. Ich wollte nicht so daliegen, okay? Ich wollte kuscheln, sogar,
wenn es das letzte Mal sein sollte. Vor allem, wenn es das letzte Mal
sein sollte. Also sollte ich eigentlich rüber rutschen und kuscheln. War ja
nichts dabei, hatte er auch oft genug getan.
Aber …
… aber eigentlich gingen die Annäherungen immer von ihm aus.
… aber wenn er gekuschelt hatte, war ich anfangs zwar grummelig gewesen,
aber nicht annähernd in der Stimmung, in der er gerade zu sein schien.
… aber wenn er mich wegschob oder sagte, er wolle lieber auf
gegenüberliegenden Seiten des Bettes schlafen, wäre das … unschön.
Wunderbar. Jetzt kam zu den neuentdeckten Homo-Jungfrauen-Komplexen
und … nun, dem ganzen anderen Dreck von heute auch noch Angst vor
Zurückweisung. Ganz genial, konnte ich gerade so richtig gut brauchen!
…
Mir war kalt.
Nicht so wirklich, natürlich, weil Rubins Decke ja schön flauschig warm
war, aber … trotzdem eben. Nicht warm genug, ergo kalt. Eigentlich
ließe sich durchaus schlüssig argumentieren, dass Rubin ein schlechter
Gastgeber war, wenn er mich hier so erfrieren ließ. Im eigenen Zimmer, nein,
sogar im eigenen Bett! Echt mal, keinen Anstand, diese Amis. Schlimm.
Aber wir waren hier ja nicht im Amiland, sondern in Deutschland. Und wir
Deutschen hatten Anstand – auch, wenn ich theoretisch und
praktisch keinen deutschen Pass besaß, zählte ich mich jetzt einfach kulturell
mal dazu. War ja hier aufgewachsen. Und sogar wenn nicht – die
Engländer waren ja wohl die Personifizierung des Anstandes! Tja, hätten sich
die blöden Amis nicht von ihnen abgekapselt, müsste ich jetzt nicht hier liegen
und irgendwie fast unter der kuschelig warmen Decke erfrieren. Alles deren
Schuld.
Okay, das wurde langsam lächerlich. Aber es war ja wirklich etwas kühl, so am Bettrand, ganz alleine …
Und wenn ich nicht bald mal meine Eier wiederfand, musste ich mir echt
Gedanken machen. Rubin hatte auch kein solches Drama gemacht, sondern einfach
gekuschelt, Punkt. Und was er konnte, konnte ich schon lange.
Ich schloss meine Augen, atmete tief ein und rückte näher, bis ich neben
ihm lag. Dann drehte ich mich auf meine Seite, damit ich ihn sehen konnte. Den
Kopf auf seinen Oberkörper legen, so wie er es bei mir machte, war nicht
wirklich mein Ding, aber ich rückte mein Gesicht nah genug heran, so dass ich
die Stirn an seine Schulter lehnen konnte. Und damit er nicht aufsitzen und
wegrücken würde, legte ich meine Hand auf seine Brust. Nur deswegen.
Ich wartete eine Sekunde, zwei, drei – und zählte bis fünfzehn,
bevor ich eine Reaktion bekam. Bei fünfzehn seufzte er und ließ den Kopf ein
winziges bisschen in meine Richtung rollen. Ich wertete das positiv und
beschloss, dass er nichts gegen Kuscheln hatte. Und nun, da es mir wohler war,
konnte ich auch versuchen, zu verstehen, was überhaupt passiert war. Denn
eigentlich war ich beim Kakaotrinken der festen Überzeugung gewesen, dass die
Stimmung nicht noch angespannter und unangenehmer werden konnte. Aber offenbar
hatte Fees SMS das ja doch geschafft.
„Ich dachte, Mädchen zählen nicht?“
Gut, vielleicht hätte ich die Formulierung einen Moment länger überdenken
sollen. War aber gerade nicht möglich, denn denken brachte in letzter Zeit
regelmäßig unschöne Konsequenzen mit sich.
„Past ones don’t“, antwortete er leise und endlich wieder halbwegs
verständlich, „but present ones are a different story.“
Rubin reckte den Hals und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Sorry,
Vyvyan. It ain’t your fault.“
Wirklich nicht? Wie konnte es nicht mein Fehler sein? Immerhin war ich
derjenige, der mit ihm rummachte, obwohl ich eine Freundin hatte. Aber ich
hatte ursprünglich ja auch gedacht, dass ihm das egal war.
Vielleicht hätte er diese Frage auch besser unbeantwortet gelassen.
*********
So mit Vyvyan im Bett zu liegen ohne ihn berühren zu … ohne ihn
zu berühren, das war deprimierend. Frustrierend. Torture. Aber ich wusste
nicht, ob er noch kuscheln wollte. Nicht, nachdem ich den Abend so in den
Sand – no. Not just the night. I’d possibly fucked up everything.
Scratch ‚possibly‘.
Nicht nach meinem mistake, jedenfalls, noch weniger, nachdem ich keine
einzige seiner Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hatte und am wenigsten,
nachdem ihn diese Ziege ausgerechnet in der Situation daran erinnern musste,
dass er einen verflucht einfachen und bequemen Ausweg aus der Situation hatte.
Es war nicht nur einen Ausweg, sondern gleichzeitig auch der path of least
resistance. Er müsste nur das ‚Experiment‘ – what a fucked up
name for ‚us‘! – beenden und könnte so tun, als ob nie was
gewesen wäre. Kein Konflikt mit Felizitas, keiner mit seiner ‚Freunden‘, keinen
mit dem Rest der Schule, seiner Familie oder – oder mir. Sich
umdrehen und nie mehr zurückschauen war definitiv die einfachste
Handlungsmöglichkeit für ihn. Never mind that I would end up cryin’ myself
to sleep like a little girl.
Ugh, fuck! Felizitas konnte ja mal so gar nichts dafür. Sie wusste noch
nicht einmal, dass da überhaupt ein Konflikt war. Wahrscheinlich dachte sie,
sie hätte endlich die perfekte Beziehung gefunden. Mit dem einzigen
siebzehnjährigen Kerl, der sie nicht zu Sex drängte. What a joke. Und dennoch konnte sie
nichts dafür. Eigentlich … eigentlich war ich hier der Böse. The
mistress. The other man. Das beschissene Experiment. Und dennoch konnte ich
sie nicht mehr ausstehen; schon eine ganze Weile nicht, wenn ich ehrlich zu mir
war. Eigentlich … schon seit die beiden zusammengekommen waren, auch
wenn ich mir das da noch nicht eingestanden hatte.
Aber es brachte nichts, jetzt hier über Felizitas zu philosophieren und mir
Vorwürfe zu machen, weil ich sie in Gedanken ungerecht
behandelte – sowieso: Und wenn schon! Ich schuldete ihr nichts. Nur,
weil wir zufällig in die gleiche Schule gingen, musste ich nicht auf sie
Rücksicht nehmen. Sie hatte in meinem Leben keinerlei Rolle gespielt, bis sie
mir Vyvyan vor der Nase weggeschnappt hatte. Musste ich ihn eben
zurückschnappen.
Wenn er es denn zuließ. Wenn er ihre SMS nicht als Omen sah und zurück zu
ihr dackelte. Wenn er nicht doch zu dem Schluss kam, auf der Kinsey-Skala um
einiges näher bei der Null als bei der Sechs zu liegen und dass es deswegen
wenig Sinn machte, die Möglichkeiten zwischen zwei Männern weiter zu
erforschen, einfach, weil es ihm nicht lag und nicht genug gab, um ihn
dauerhaft mit einem Mann glücklich werden zu lassen.
War es sehr unfair von mir, zu hoffen, dass er nicht bi war? Bisher war
mir das immer egal gewesen und ich war nicht biphob, aber bei
Vyvyan … konnte ich echt keine weibliche Konkurrenz brauchen. Sollte
er bisexuell sein, würde er doch eh als Hete enden. Da machte ich mir nichts
vor. Path of least resistance and all that shit. In dem Fall konnte ich
nur hoffen, dass er nicht vor dem Sommer zu dem Schluss kam, bi zu sein.
Ah, fuck. Not again. Repeat after me: Do. Not. Think. About. The. Future. War
schon deprimierend genug, so weit entfernt von ihm zu liegen, dass ich mir noch
nicht einmal mehr einbilden konnte, sein Körperwärme zu spüren. Da musste ich
mich nicht noch zusätzlich damit runterziehen, dass er von meinem
Amerika-Vorschlag wohl eher wenig begeistert wäre. Sogar, wenn er die USA nicht
so hassen würde; warum sollte er für einen Ferienflirt sein Studium –
Wie war das noch mit dem sich nicht weiter selbst runterziehen? Mich selbst
bemitleiden konnte ich immer noch, wenn er weg war. Endgültig weg, verstand
sich. Und bis dahin musste ich eben mein Bestes geben und ihn davon überzeugen,
dass ‚endgültig weg‘ einfach keine akzeptable Option darstellte, für keinen von
uns. Mit wem sollte er denn dann experimentieren, hm? Und blasen konnte ich
garantiert auch besser als seine kleine Vorzeige-Jungfrau – das
konnte er sich gar nicht entgehen lassen wollen.
That’s right, he –
Er bewegte sich!
… Auf mich zu? Ja, definitiv!
Und dann – oh Gott – sein Kopf an meiner Schulter,
seine Hand auf – kuschelte er sich gerade an mich?! Was war das
jetzt, ein gutes Zeichen? Hieß das, ich durfte zurückkuscheln? Aber wenn ich
das tat – nah, bad idea. Ich würde ihn nur umklammern und
erdrücken, so wie Elvira es bei den Tiny Toons gemacht hatte. Niemand mochte
Elvira, aber Vyvyan, Vyvyan sollte mich mögen. Selbstbeherrschung hieß das
Zauberwort, und diesmal sollte ich mich besser dran halten. Hatte ja gesehen,
was passierte, wenn die Pferde mit mir durchgingen.
Ich schloss kurz die Augen, atmete kontrolliert ein und entließ die Luft.
Dann ließ ich den Kopf zur Seite rollen, damit ich ihn wenigstens ansehen
konnte. Auch, wenn ich nur seine Haare sah. Es kribbelte in meinen Fingerspitzen
und drückte in meinem Bauch. Ich wollte ihn berühren, wollte ihn halten, aber
ich durfte nicht riskieren, dass es ihm nach dem Debakel vor dem Haus zu viel
war. Also kein Festklammern. Kein ‚Please don’t leave!‘. Kein gar nichts.
„Ich dachte, Mädchen zählen nicht?“, fragte er leise und ich hätte fast
laut gelacht. So naiv, dass er vergangene sexuelle Erfahrungen und aktuelle
Beziehungen auf eine Stufe stellte, konnte er nicht sein. Und war er auch
nicht, da war ich mir sicher. Die Frage zielte nicht darauf ab, ob sie generell
zählten, sondern für mich. Persönlich. Ob ich ein Problem mit seiner Beziehung
hatte. Wieder eine Frage, die ich lieber nicht beantwortet hätte, gerade heute
Nacht. Aber ausweichen hatte keine gute Reaktion hervorgerufen.
„Past ones don’t“, erwiderte ich zögerlich und wog jedes Wort auf der
Goldwaage, „but present ones are a different story.“ Das war die
Wahrheit. Seine Exfreundinnen waren mir schnuppe. Und gleichzeitig war es die
harmloseste Formulierung, die mir auf die Schnelle eingefallen war. Ein
bisschen anstrengend war es ja schon, immer so aufpassen zu müssen, was ich wie
wann und in welcher Situation sagte. Aber das würde sich sicher legen, wenn er
sich, mich und vor allem Uns akzeptiert hatte. Wenn ihm bewusst wurde, dass er
mich mochte.
He did, right? Like me?
Ja. Er war noch hier. Wäre er sonst sicher nicht. Und irgendwie fühlte er
sich gerade unsicher an. Bildete ich mir wahrscheinlich nur ein, aber dass er
von sich aus zu mir gerutscht war, war sicher nicht einfach so passiert. Schon
gar nicht heute Abend. Gutes Zeichen. Gutes, gutes Zeichen! Nur unsicher sollte
er bitte nicht sein. Oder jetzt irgendwas in meine Antwort
hineininterpretieren, was zwar da war, er aber dennoch nicht heraushören
sollte.
Ich streckte mich und drückte meine Lippen an seine Stirn. „Sorry, Vyvyan. It
ain’t your fault.“ Nein, war es nicht. Er konnte nichts dafür, dass ich viel
zu viel viel zu schnell wollte oder dass ich heute ihm Kino kurz in einen
Tagtraum abgedriftet war, in dem ich einen Grund hatte, mich noch vor
Studienbeginn vor meinen Eltern zu outen; in dem ich endlich seine Hand halten
durfte; in dem er seine Samstage mit mir verbrachte, halb zu zweit, halb mit
meinen Freunden – mit denen er sich natürlich verstand. Was
auch sonst. War ja mein verfickter Tagtraum.
Eine Weile lagen wir still nebeneinander und ich hatte genug damit zu tun,
meine Hände und Arme und Lippen im Zaum zu halten. Würde um den Verstand küssen
bei ihm auf Dauer funktionieren, wären wir jetzt nicht in dieser Situation.
Aber wenigstens umarmen, wenigstens ihn an mich ziehen sollte doch eigentlich
drin liegen. Right?
„Ich habe mich mit ihr verabredet.“ Say what? „Deswegen der
Nachrichtenaustausch vorhin.“
Warum zum Teufel erzählte er mir das jetzt auch noch? Ich hätte besser
schlafen können, wenn ich nichts von ihrem kommenden Date – wait a second! Er hatte gesagt, er würde bei der nächsten
Gelegenheit mit ihr Schluss machen. Das war die nächste Gelegenheit. Aber
würde er sie auch nutzen?
„You gonna end it?“, fragte ich, weil ich keine Lust hatte, still vor
mich hinzurätseln.
„Ja.“
Ja! Yes! Fuck yeah!
„Am zweiten“, fügte er hinzu und gab mir damit endlich mal was Handfestes
in Bezug auf Felizitas. Am zweiten. Noch vier Tage. Das würde ich aushalten.
Und bis dahin würde ich ‚uns‘ auch wieder hinkriegen. Ich musste nur endlich (!)
aufhören, ihn zu überfordern und ihm den Abstand geben, den er offenbar
brauchte. Mich zurückhalten; Geduld haben; darauf warten, dass er von selbst
einen Schritt auf mich zukam. Easy as pie – nur leider konnte
ich nicht backen.
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