Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 28:

‚Können wir diese Arrangements nicht auflösen? Können wir nicht einfach kuscheln, weil es schön ist?‘
Das war jetzt nicht sein Ernst. Dieser – er wollte mit meine Ausreden nehmen! Jetzt, wo ich mich halbwegs damit abgefunden hatte, jetzt, wo ich es halbwegs akzeptieren konnte – dank der Ausreden – jetzt wollte er sie mir wegnehmen! Das konnte er doch nicht tun – das war unfair, verdammt! Und sowieso, das hörte sich ja alles ganz toll hochtrabend an, aber die Realität sah nun einmal anders aus.
Ja, genau! Die Realität, die kam mir endlich mal zu Hilfe. Ansonsten war sie ja eher gegen mich – mit der sexuellen Orientierung und der Wanderlust meiner Eltern – aber heute, endlich, stellte sie sich auf meine Seite! Besser spät als nie, Bitch!
„Aber du bekommst eine Empfehlung dafür, dass du mir Nachhilfe gibst“, gab ich zu bedenken und war recht stolz auf mich, dass meine Stimme dabei gefasst und normal wirkte. Schon interessant, auf was für Dinge ich plötzlich stolz war – vor allem, da ich sonst meine Stimme so gut wie immer im Griff hatte. Keine Ahnung, wie meine ganze erarbeitete Persona bei ihm so schnell den Bach runter gegangen war.
Rubin verzog das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte, aber nie ganz eins wurde. „Vyvyan“, begann er, stockte, presste kurz die Lippen aufeinander und redete dann doch weiter, „ich habe meine Bewerbungen längst abgeschickt.“

Äh … huh?
„Du – was?“
Wie meinte er das? Wie hatte er das getan, ohne Empfehlungsschreiben – ich dachte, die Ami-Unis legten auf so einen Scheiß Wert?
„Die Bewerbungsfrist bei meinen gewählten Unis ist der erste Januar; für die sogenannte early-admission sogar der erste November.“
Oh.
Vielleicht hätte ich die Realität nicht vorschnell Bitch nennen sollen.
Ich meine … Januar? Erster Januar? Dann wäre die Empfehlung ja nie und nimmer rechtzeitig gewesen, sogar dann nicht, wenn Kirsten sie gleich am selben Tag geschrieben hätte, an dem er Rubin gefragt hatte, ob er mir Nachhilfe geben würde. Denn mal ehrlich: Das war Mitte Dezember gewesen und die Post brauchte ihre Zeit über den Ozean, vor allem, wenn dann noch Weihnachten und Neujahr dazukamen – und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Rubin ausgerechnet damit bis auf den letzten Drücker gewartet hatte. Und das bedeutete, dass … 
… dass er von Anfang an gewusst hatte, dass ihm die Empfehlung nichts brachte und sich trotzdem bereiterklärt hatte, seine Ferien damit zu verbringen, mir seine Muttersprache zu erklären. Das …
„Wieso …?“
Aber Rubin antwortete nicht. Er sah mich nur an, mit diesem Nicht-Lächeln das mir je länger desto deutlicher gleichzeitig verlegen, entschlossen, schüchtern, betrübt und hoffnungsvoll erschien. Ergab das Sinn? Wahrscheinlich nicht. Hier ergab sowieso gerade sehr wenig Sinn.
Er hatte mich am Anfang der Ferien doch noch nicht einmal gemocht! Oder? Das mit dem sympathisch – ‚Ich mag dich nicht nicht‘ – das war doch erst später gekommen. Nach Weihnachten und nach dem ersten Orgasmus. Orgasmen und Geschenke waren nun mal sehr effiziente Abkürzungen, wenn man jemandes Gunst erwerben wollte – was ich ja nicht hatte tun wollen, aber irgendwie trotzdem getan hatte.
‚Ich mag dich nicht nicht.‘
Doppelte Negation. Das war schlechter Stil, das wusste sogar ein Sprachschwachmat wie ich. Rausgestrichen ergab das:
Ich mag dich.
Er mochte – mochte er mich? So wirklich? Inwiefern?
Ach du Kacke – musste ich jetzt die Date-Diskussion doch wieder eröffnen?

„Was das Einkaufen angeht“, sagte Rubin plötzlich in die anhaltende Stille meines Gedankentornados hinein, „wenn du magst, können wir auch zusammen nach dem Film gehen; der große Supermarkt drei Busstationen von hier hat bis vierundzwanzig Uhr geöffnet.“
Ich wiederholte mich, aber: Das war jetzt nicht sein Ernst, oder? Ich war gerade echt nicht in der Lage, übers Einkaufen nachzudenken! Und sowieso, er konnte nicht so was raushauen und dann einfach das Thema wechseln, verdammt!
„Rubin, wegen …“
„Kannst du’s dir überlegen?“, unterbrach er mich, „Nicht jetzt im Affekt antworten, sondern in Ruhe überlegen?“ Mir war schon klar, dass er gerade nicht mehr vom Einkaufen sprach, genauso, wie mir klar war, dass das sozusagen eine Bitte um Aufschub war. Dass er die Diskussion darüber, falls es denn zu einer kam, nicht hier und jetzt führen wollte – was ja an sich nicht schlecht war, denn erstens waren wir nicht unter uns und zweitens hatten wir den Filmbeginn als Zeitlimit. Dennoch, wie konnte er von mir verlangen, seine Worte mitsamt ihrer Bedeutung und deren Implikationen einfach beiseite zuschieben und zu verdrängen? Klar, ich war gut im Verdrängen und Ignorieren, aber so gut?
„… Bitte?“ Das Wort verließ seine Lippen auf so leisen Sohlen, dass ich schon beinahe glaubte, es mir nur eingebildet zu haben. Aber hätte ich es mir nur eingebildet, hätte es nicht diese Wirkung auf mich. Denn so ziemlich alles in mir entschied sich, dass ich entweder so gut war oder jetzt eben so gut werden musste – und im nächsten Moment nickte ich.
Da, endlich bekam ich wieder ein Lächeln, das den Namen auch verdiente! Nur ein kleines zwar, ohne Grübchen, aber es war ein Anfang. Also wandte ich alle mentale Kraft und Kontrolle auf, die ich hatte, schob die Gedanken, die seine Eröffnung ausgelöst hatte, weit, weit weg in eine Ecke und packte sie in eine Truhe, die ich verschloss. Wir wollten jetzt nicht darüber reden, sondern über … ah ja, einkaufen.  
Okay. Er meinte, der Supermarkt hätte bis Mitternacht auf. Ich warf einen Blick auf die Uhr: kurz vor sechs. In zwanzig Minuten begann die Vorstellung, zwei Stunden. Ja, das reichte locker.
Ich nickte erneut. „Gut, gehen wir heute noch einkaufen. Dann musst du aber wirklich  noch entscheiden, was du willst.“
Er überlegte und aß dabei seine letzten Fritten.
„Wie wär’s mit Gumbo?“, fragte er schließlich.
„Ich habe keine Ahnung, was das ist.“
„Ein traditioneller Eintopf aus Louisiana. Echt lecker.“
„Okay …“, machte ich, „aber ich habe keine Ahnung, wie man den kocht. Ich meine, Mac’n’Cheese sind im Grunde nur gebackene Käsenudeln, das ist keine große Herausforderung, aber bei einem Gericht, von dem ich noch nicht einmal gehört habe, habe ich auch keine Ahnung, worauf es ankommt; Eintopf hin oder her.“
Er zuckte mit den Schultern. „Dann lernen wir zusammen, wie es geht. Du weißt, wie man kocht, und ich weiß, wie es am Ende schmecken muss. Das kriegen wir schon hin.“
Ja, aber das war dann auch kein wirklicher Kochunterricht. Obwohl, das sollte ihm dann entgegenkommen, nicht wahr? Mit seiner Bitte und so.
Irgendwas mussten die mir in den Burger gemixt haben, denn ich fühlte, wie ich schon wieder nickte. „Wenn du meinst; probieren wir’s.“
„Schön!“ Er lächelte erfreut. „Und als Dessert dann den cheesecake – oh.“
Was denn jetzt schon wieder?
„Können wir vielleicht zwei davon machen?“
„Zwei Käsekuchen? Wieso?“
„Na ja, ich gehe doch morgen auf Megans Silvesterparty und ich habe versprochen, was fürs Buffet mitzubringen. Und White Chocolate Cheesecake with Rasberries macht sicher sonst keiner.“
Stimmte ja, Rubin ging übermorgen auf eine Party. Hm. Er hatte mir ja gesagt, dass er gerne feierte, aber … keine Ahnung. War ja auch unwichtig.
„Sicher, können wir machen“, antwortete ich und trank meine Cola aus, „aber dann am besten kleinere Portionen, oder? So, dass jeder eins nehmen kann und keinen Teller braucht.“
„Das geht auch?“
„Klar. In gläsernen Förmchen würde es schöner aussehen, aber ich denke, für eine Party sind Muffinförmchen aus Papier die sicherere Wahl.“ Ich grinste. „Obwohl Scherben ja Glück bringen sollen.“
Rubin verzog das Gesicht. „Nein danke, wir nehmen Papier. Bei den Leuten sowieso.“
„Gut.“ Ich stand auf und sammelte meine Reste ein. „Wollen wir langsam mal rüber?“ Ich bemühte mich, mich so normal wie möglich zu verhalten. Also so, als hätte er nicht eben eine kleine Bombe in mein mühsam aufgerichtet und balanciertes Kartenhaus geworfen.
Wenn er nie irgendwelchen persönlichen Nutzen aus der Nachhilfe gezogen hatte, wieso zum Hades gab er sie mir dann? Also, jetzt zog er ja persönlichen … hm. Hatte er beim ersten Mal auch schon. Bisher hatte es noch keine Nachhilfe ohne Happy End gegeben. Hm!
Aber ich sollte ja nicht darüber nachdenken. Nachher dann, in Ruhe. Genau.
Wir warfen den Müll weg und verließen das Lokal. Eiseskälte umschloss uns augenblicklich. Scheiß Winter.
„Was machst du Sonntagabend?“, fragte er, als wir auf die Straße traten.
„Ich bleibe zu Hause.“ Was denn sonst? dass ich nicht freiwillig mit Theo und Company an einem Sauffest teilnehmen würde, sollte er wissen. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass ich es ihm auch schon gesagt hatte.
Wir überquerten die Straße und ich holte die Tickets raus.
„Ist Silvester wichtig bei euch? Wie Weihnachten?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Wir gingen in das Gebäude und ich zeigte dem aknegeplagten Jungen hinterm Schalter, der gleichzeitig als Ticketverkäufer und Kontrolleur fungierte, unsere Zutrittsberechtigungen. „Wir essen und spielen Spiele bis Mitternacht, dann stoßen wir an und es gibt Nachtisch – außer für Sue, die geht nach dem Essen mit Freunden weg.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich freu mich trotzdem darauf. Hab ja bisher noch nicht viel Zeit mit meiner Familie verbracht.“ Ich sagte das mit einem Grinsen, damit er es nicht als Anschuldigung oder weiß-Zeus-was interpretierte, aber das Lächeln, das ich darauf kam, war dünn.
„Natürlich.“
Ich sah ihn fragend an, aber er zog die Mundwinkel nur etwas weiter auseinander, und wies auf die rechte der beiden Türen im Erdgeschoss. Keine Ahnung, was jetzt schon wieder das Problem war.
Bevor die Vorwerbung anfing, schickte ich noch kurz eine Nachricht an Sue und bat sie, mir das Rezept für den Käsekuchen zu schicken. Dann schaltete ich das Handy auf stumm und ruckelte ich im Sitz zurecht. Auf in zwei Stunden erkauftes Hirntodland!

***

Der Saal war angenehm halbleer. Wir saßen hinten in der Mitte, die einzigen in der letzen Reihe. Der Film war unterhaltsam. Ein Superhelden-Film mit Action und Humor. Völlig normal und ähnlich all der Superheldenfilme, die momentan so im Trend lagen – wenn man von der Tatsache absah, dass die zweite Hauptfigur schwul war. Nicht der Titelheld – bewahre! – aber der Sidekick. Der große, muskulöse, verdammt gut aussehende Sidekick, dessen Schauspieler wahrscheinlich sein halbes Leben im Fitnessstudio verbrachte.  In den ersten vierzig Minuten war es nur angedeutet gewesen, dann wurde es expliziter, genauso wie deutlicher wurde, dass er damit zu kämpfen hatte; aber dennoch blieb es relativ – wie soll ich sagen? Unauffällig. Insgesamt war der Film kurzweilig, aber auch nichts, was ich auf DVD haben wollte, immerhin gab es gefühlte tausend Filme wie diesen, wenn man von der einen Nebenhandlung absah. Dennoch war es das Richtige, um den Kopf freizukriegen, auch wenn es natürlich nicht mit … sagen wir, anderen Regionen des Hirntodlandes mithalten konnte. Wenn der Ort, an den mich Rubin heute Morgen geschickt hatte, ein Dschungel mit exotischer Fauna und Flora war, dann war das jetzt ein Stadtpark. Aber Hirntodland war und blieb Hirntodland und gerade brauchte ich das dringend. Plus, ich lernte wieder ein winziges Detail über Rubin: Er mochte nicht nur britische Komödien und Tim Burton, sondern auch Superhelden. Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, ob er früher Comics gelesen hatte. Gerade weil es mir etwas absurd vorkam, konnte ich es mir gut vorstellen.
Allerdings änderte sich das mit den Andeutungen im letzten Akt, als der Fokus des Liebesanteils sich schlagartig änderte: Die hübsche, möchtegern-taffe Jungfrau in Nöten war auf tragische Weise verstorben, der Titelheld hatte Rache geschworen und seine kleine Rebellentruppe um sich gescharrt. Und ausgerechnet in der Nacht vor dem finalen Kampf kam Sidekick zur Einsicht, dass es sich auch lohnte, für sich selbst zu kämpfen – was in seinem Fall bedeutete, dass er endlich den schnuckeligen Rebellen mit den blauen Augen flachlegte. Der wiederum hatte nur darauf gewartet, wie sollte es auch anders sein; wäre ja scheiße, wenn der Typ endlich seine sexuelle Orientierung ausleben wollte und dann vom ersten Kerl gleich ‘nen Korb kassieren würde.
Tja, und da waren wir jetzt: In einer verdammt Hollywood-typischen Sexszene, die es trotz der Tatsache, dass da in einer Aufnahme mehr Muskeln abgebildet waren als fünf normale Männer zusammen besaßen, schaffte, im See all der anderen solcher Szenen unterzugehen. Warme Töne, kurze Schnitte, in denen immer wieder für eine oder zwei Sekunden ein besonders ästhetisches Körperteil der Schauspieler aufblitzte, intensive Musik, die das nicht vorhandene Stöhnen übertünchte. Ooooh, Erotik!
Besonders aufregend fand ich das jetzt nicht. Auch nicht anstößig oder irgendwas. Es war  alles schön und gut, nur: Wie lange wollten die das denn noch zeigen? Entweder man spielte etwas nur an und ließ es im Dunkeln oder man zeigte wirklich was – aber die zeigten diese Liebesspielchen-Ausschnitte jetzt seit gefühlten fünf Stunden. Wie lange konnte der hintere Kerl denn? Und dann auch immer nur doggy-style, weil es ja die Missionarsstellung der Schwulen war. Ganz großes Kino, wirklich.
Ich schloss kurz die Augen, um sie etwas zu entspannen und Abstand zum Filmgeschehen zu bekommen. Als ich sie öffnete, ließ ich meinen Blick über die Hinterköpfe der anderen Besucher gleiten und warf schließlich auch einen Seitenblick zu Rubin – der mich ansah.
Ähm …?
Ich wandte mich ihm zu und sah ihn fragend an, aber er schien nach etwas in meinem Gesicht zu suchen; da war antworten natürlich nebensächlich. Und dann lächelte er halb, schüttelte den Kopf – à la ‚Es ist nichts’ – und wandte sich wieder der Leinwand zu.
Ich wiederholte: Ähm …?

***

Von den halbdunkeln Straßen in den neonerleuchteten Supermarkt zu kommen war nicht unbedingt angenehm gewesen, aber die Wärme machte das wieder wett. Sue hatte mir das Rezept für den Kuchen geschickt, wir dann eines für Gumbo im Internet gefunden und nun ließ ich gerade den Cheddar in den Korb fallen. Was im Kino gewesen war, hatte er mir auch auf Nachfrage nicht verraten wollen. Ich hatte es dann auch dabei belassen. War ja nicht so, als ob es mich derart interessieren würde. Was ich mir aber nicht verkneifen konnte, war, ihn noch einmal auf seine Filmauswahl anzusprechen.
„Du dachtest also, der Film würde mir gefallen, ja?“, fragte ich, „Welcher Aspekt denn genau?“
Rubin sah erst überrascht auf, doch dann grinste er frech. „Der Phantastische. Du hast dich nicht schlecht über Eliaseis gefreut, und Fantasy und Superhelden liegen so weit auch wieder nicht auseinander …“
Ah ja. Klar.
„Und was hat dich daran interessiert?“
„Jetzt und hier lautet meine Antwort: dasselbe.“ Das Grinsen wurde verruchter. „Aber frag mich zu Hause noch mal.“
Ich schüttelte den Kopf und ging die paar Schritte zur Milch weiter. Warum bloß konnte ich mir seine zu-Hause-Antwort nur denken? Aber er hatte Recht: Das war ein Thema für zu Hause. Für Betsy, am besten, auch wenn die heute schon eingeschlafen war.
Moment mal – stand er etwa auf solche Muskelberge? Weil, wenn, dann … entspräche doch eher Kim seinem Typ und nicht ich, oder?
Hm.
Nicht drüber nachdenken. Nicht jetzt.
Am besten gar nicht.
Blieb nur noch die Frage, warum ich nach allem, was heute passiert war, so ruhig darüber reden konnte, dass wir gerade zwei Männern beim Schauvögeln zugeguckt hatten. Irgendwie war mir das selbst ein bisschen gruselig, aber dann wiederum sollte mir so einiges der letzen Tage – und insbesondere heute – gruselig vorkommen.
„Brauchst du für morgen noch was zu essen?“, wechselte ich ziemlich abrupt das Thema, „Außer den Crêpes?“
Rubins Augenbrauen hüpften nach oben. „Bietest du gerade an, was für mich vorzubereiten?“
Also, erstens kochte ja er und nicht ich und zweitens hatte ich nichts dergleichen getan. Von mir aus konnte er auch nur einen Fruchtjogurt essen. Obwohl es auch keine große Sache wäre, morgens etwas zusammenzubrutzeln, dass er dann nur noch aufwärmen brauchte.
„Wir könnten eine einfache Gemüsequiche machen, die kannst du dann essen, wann auch immer du zurück bist.“ Notfalls auch zum Frühstück am Sonntag – wenn ich möglichst früh auftauchen sollte, ging ich jetzt einfach mal davon aus, dass er spätestens dann auch wieder zu Hause sein würde.
Rubin schmunzelte. „Sag mal, gibt es eigentlich etwas, das du nicht kochen kannst?“
„Hab ich doch gesagt: asiatisch“, erwiderte ich grinsend und steuerte zurück in Richtung Gemüseabteilung. 
Auf halbem Weg stockte Rubin, aber nur eine Sekunde, dann ging er weiter.
„Was ist?“, fragte ich. Und diesmal bekam ich eine Antwort.
„Da ist jemand, den ich kenne.“ Er nickte in die Richtung eines Typen: groß, blond, für die Jahreszeit eindeutig zu kalt angezogen. Noch nicht mal einen Schal hatte der um!
… Und?
Doch bevor ich das fragen konnte, sah der Typ uns – oder besser, Rubin – und kam grinsend rüber. Rubin lächelte angespannt und warf mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
Was denn, er hatte jetzt aber nicht Angst, dass ich … ja was eigentlich? Ihn outete? Das war ja wohl absurd.
„Rubihn, was machst du denn hier?“, fragte der Typ und umarmte ihn. Innig, irgendwie. Und ein bisschen zu lang.
Und – hatte der eben wirklich die zweite Silbe betont? Also nicht Rubin, so wie es korrekt war, sondern Rubihn wie der Edelstein? Ich dachte, Rubin mochte das nicht?
„Einkaufen, siehst du doch.“ Das Lächeln war bereits echter, entspannter. Dann wandte er sich halb zu mir. „Vyvyan, das ist Lukas … ein Freund. Lukas, Vyvyan.“
Wieso das Zögern?
„Hi!“ ‚Lukas‘ streckte mir mit einem breiten Zahnpastawerbungslächeln die Hand entgegen. „Du bist sein …?“
Entweder die beiden waren wirklich gut befreundet oder der Typ war einer von der Sorte, die dachten, dass man ihnen das bisschen Frechsein schon verzeihen würde, nur weil sie selbst im Winter richtig braungebrannt waren und mit wilder Surferfrisur und Dauerlächeln trumpfen konnten. Oder er dachte, er hätte ‚jungenhaften Charme‘ oder wie die das im Fernsehen gerne nannten. Hatte er nicht. Außerdem war Solarium ungesund und in zehn Jahren würde er die Haut eines Fünfzigjährigen haben, hatte ihm das noch niemand gesagt? Oder dachte er, er wäre die große Ausnahme der vorschnellen Hautalterung?
„… Nachhilfeschüler“, vollendete ich dennoch den Satz und schüttelte ihm brav, aber nicht besonders enthusiastisch die Hand.
Das Grinsen wurde augenblicklich breiter. „Nachhilfe, sicher.“ Okay, nicht nur breiter, sondern auch dreckiger. Juhu. „Worin gibt er dir denn Nachhilfe?“
„Englisch.“
„Ach?“, machte Lukas und sah wieder Rubin an, „Ich wusste ja gar nicht, dass das dein Ding ist. Hätte eher auf Französisch getippt.“
Was?
Und wieso wurde Rubin rot?
Oh.
Ha. Ha. 
„Lukas!“ Rubin boxte ihn in die Schulter und sah ihn ärgerlich an, aber der schien das nicht ernst zu nehmen.
„Ach komm schon, es ist später Freitagabend – du willst mir doch nicht wirklich erzählen, dass ihr jetzt nach Hause geht, um euch mit der englischen Grammatik zu beschäftigen?“
Er sah von Rubin zu mir, aber ich erwiderte den Blick ruhig. Was wir heute Nacht vorhatten, ging ihn herzlich wenig an.
„Und wozu braucht ihr dann …“, begann er und warf einen Blick in den Einkaufskorb an meinem Arm, „… tonnenweise Frischkäse?!“ Sein Blick war Gold wert.
Vyvyan bringt mir im Gegenzug für die Englischstunden Kochen bei“, erklärte Rubin, „Der ist für den cheesecake, den ich morgen zu Megan und Lilly mitbringe.“
„Lecker!“ Das Werbegrinsen war zurück und Lukas sah wieder ganz unschuldig aus, als hätte er nicht eben noch auf BDSM-verdächtige Rollenspiele angespielt. „Dann kannst du mich ja auch bald mal bekochen.“ Und schon war er seine Unschuld erneut los – aber nur für eine Sekunde, dann wandte er sich an mich. „Kommst du Silvester auch?“
Rubin sah mich ebenfalls an. Bildete ich mir das ein oder war er wieder angespannter? Dabei hatten wir das Thema Silvester doch schon tausendmal besprochen. Es gab keinen Grund Angst zu haben, dass ich mich selbst einlud oder von diesem Kerl einladen lassen würde. Und ja, er wirkte wie der Typ Mensch, der So-gut-wie-Fremde zu anderer Leute Partys einlud.
„Nein“, antwortete ich und versuchte noch nicht einmal zu lächeln. Langsam hatte ich genug. Das war Rubins ‚… Freund‘, nicht meiner, also musste ich auch keine Zeit mit ihm verbringen. Vor allem, da er mir alles andere als sympathisch war. Deswegen sagte ich zu Rubin: „Ich geh schon mal den Rest einsammeln.“ Und zu Lukas: „Mach’s gut.“ Gefreut, ihn kennenzulernen hatte es mich ja nicht.
„Mach’s besser“, antwortete er mir doch tatsächlich – wie alt war der Spruch denn bitte? „Und viel Spaß beim Lernen. Er kann dir sicher viel beibringen.“ Und wir waren schon wieder zurück beim unanständigen Grinsen und beim Von-Rubin-geboxt-werden. Jetzt wackelte er auch noch mit den Augenbrauen. Manche Menschen …
… gingen mir noch schneller auf den Keks als andere. Erst Megan und nun dieser Clown; Rubihns Menschengeschmack ließ zu wünschen übrig.

***

Ach, auf die Wange küssen und im Gesicht rumfummeln war also okay, ja? Gut zu wissen.
Oder galt das nur für ihn, weil er seinerseits nichts versprochen hatte?



*********

„Du hast ihn vertrieben!“
Er grinste spitzbübisch. „Das war aber auch leicht.“
„Lukas!“ Ich knuffte ihn nun schon zum dritten Mal innerhalb zehn Minuten in die Schulter, aber natürlich störte ihn das herzlich wenig. Im Gegenteil, er rieb sich genüsslich über die Stelle und senkte seine Stimme:
„Oh ja, schlag mich, Süßer; du weißt, wie’s mir gefällt!“
Es war echt gruselig, wie überzeugend er das hinbekam. Ich rollte gespielt genervt die Augen, konnte aber ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Du kannst froh sein, dass ich mich schon vor ihm geoutet habe – ansonsten wäre ich jetzt echt wütend.“
„Wenn er nach mehreren Stunden alleine mit dir noch nicht kapiert hätte, dass du stockschwul bist, wäre er selber schuld.“ Er drehte sich kurz um und sah zu Vyvyan hinüber, der gerade Grünzeug in den Korb packte. „Mal im Ernst: Er ist ja ganz knackig …“ Seine Stimme verlor sich, während sein Blick Vyvyans Rückansicht noch einmal genauer scannte. „… aber ein bisschen arg knurrig. Hätte nicht gedacht, dass du auf so was stehst.“
Aber er schon oder was?
Ja.
Nicht, dass er sich an Vyvyan ranmachen würde, aber ich wusste, dass genau dieses Knurrige und Abweisende Lukas anstachelte. Er liebte Herausforderungen. Ein unbeteiligter Beobachter hätte von mir vermutlich dasselbe gedacht, aber dem war nicht so. Ich wollte keine Herausforderung, ich wollte Vyvyan.
„Er ist nicht knurrig!“, erwiderte ich heftiger als nötig, „Zumindest nicht, wenn wir alleine sind. Muss an dir liegen.“
Und genau da lag mein Problem. Nicht bei Lukas’ abschätzendem Blick, denn das der Vyvyan interessant finden würde, war mir durchaus klar gewesen. War ja nicht gerade Quasimodo, mein babe. Was mich fuchste, war Vyvyans Verhalten.
Lukas fuhr sich durch seine Wuschelhaare und grinste schief. Den Gesichtsausdruck kannte ich gut genug. „Kann sein. Hatte nicht den Eindruck, dass er mich besonders mag.“
No shit, Sherlock.
„Das liegt nicht an dir. Vyvyan mag außer seiner Familie niemanden so richtig.“ 
Aber außer mir ließ er es niemanden spüren. Nicht seine Hampelmänner, nicht den Rest der Schule; sogar zu Megan war er immer höflich und zuvorkommend gewesen. Zu allen, nur zu mir nicht – and now he was making out with me. Ich hatte mir lange genug eingeredet, dass seine Unfreundlichkeit mir gegenüber eigentlich etwas Gutes war, weil es bedeutete, dass er zu mir – im Gegensatz zu seinen Freunden – wenigstens ehrlich war. An seiner glatten Everybody’s Darling-Fassade konnte man nur abprallen, aber am richtigen Vyvyan gab es genug Ecken und Kanten, an denen man sich festhalten konnte. Und ich verstand nicht, warum er das jetzt noch jemand anderem zeigte. Und dann noch ausgerechnet Lukas.
Was, wenn das Vyvyans Art war, auf Leute zu reagieren, die er attraktiv fand? Lukas und ich sahen uns nicht unähnlich. Er war etwas größer, seine Haare dunkler, eher honigblond, und generell sportlicher, hatte eher Vyvyans Körperbau, aber je nachdem, worauf Vyvyan denn eigentlich stand, könnten wir beide ins Schema passen.
Außerdem: Jeder mochte Lukas. Er war zwar stinkfrech, aber auf liebenswerte Art. Zu solchen Leuten war Vyvyan in der Schule immer besonders freundlich, auch wenn er sie nicht zu seinen ‚engen Freunden‘ erkor. Eigentlich …
I mean, yeah, I knew I was overreacting like crazy, but …
I was overreacting, right?
Ich hatte ja eh schon das Gefühl, dass etwas schief lief, heute Abend. Und das war seit meinem blöden Vorschlag mit dem Deal immer schlimmer geworden. Dass er auf den Vorschlag nicht eingehen würde, war mir auch klar – ich war zu schnell zu weit hervorgeprescht – und jetzt hoffte ich nur, dass er deswegen nicht Reißaus nehmen würde. Am liebsten wäre ich kurzfristig in einen anderen Film gegangen, hätte irgendwas Unverfänglicheres geschaut. Aber wir hatten die Tickets ja schon gehabt. Ich konnte echt froh sein, dass er so locker darauf reagiert hatte.
Aber eben, ich hatte schon vor meinem schlecht getimten Anfall von Offenheit dieses kleine, leise, nagende Stimmchen gehört. So leise, dass ich es nicht genau verstehen konnte, aber dennoch wusste ich, was die Essenz seiner Warnung war: irgendetwas stimmte nicht. Es war … alles ein bisschen zu reibungslos gelaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich es kitten konnte, weil ich nicht genau wusste, woran es lag.
In short, I had been happy on borrowed time. And I didn’t … couldn’t …
„Und dich?“
Ich schüttelte die Gedanken ab, zwang mich zurück in das Gespräch mit Lukas und zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Manchmal denke ich, dass alles dafür spricht, dann aber …“ … dann fragte ich mich, ob ich nicht zuviel in seine Experimentier- und Kuschelfreudigkeit hineinlas. Küssen wollte er mich ja nicht und spätestens seit Pretty Woman wussten wir doch alle, dass das kein gutes Zeichen war.
„Warum fragst du ihn nicht einfach?“ Natürlich, in Lukas’ Welt war alles so einfach. Lukas war ja auch schon hunderttausendmal verliebt gewesen, und das hielt meistens irgendwas zwischen fünf Minuten und ein paar Wochen an. „Oder sagst ihm, dass du ihn magst?“
„Hab ich schon.“ Indirekt. Und mit Taten, mit Berührungen. Mit Blicken.
„Und was hat er gesagt?“
Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte er auch sagen, wenn ich es gleich danach mit ‚Ich finde dich sympathisch‘ abgeschwächt hatte? Aber hätte ich das nicht getan …
Lukas ächzte. „Mann, Rubin …!“ Genau wie Megan, das Kopfschütteln. „Dann mach es eben noch mal. Und noch mal und noch mal, wenn nötig. Bis du weißt, was Sache ist.“
„Sorry, aber deine Art hat ihn in nicht einmal drei Minuten in die Flucht geschlagen.“
„Aber er geht nachher immer noch mit dir nach Hause“, erwiderte er und wackelte wieder mit den Augenbrauen, so dass ich mir ein Lachen verkneifen musste. So ein Kindskopf! „So schlimm kann’s also nicht gewesen sein“, fügte er hinzu, zog mich a sich und wollte mich aus Gewohnheit zum Abschied auf den Mund küssen, aber ich drehte den Kopf etwas, so dass er die Wange traf. Er warf mir einen amüsierten, liebevoll-spöttischen Blick zu, streichelte mit den Fingerknöcheln von meiner Schläfe über meine Wange und murmelte: „So ein bisschen vermiss ich dich schon, weißt du? Ist gar nicht so einfach, guten Ersatz zu finden – auch wenn die Suche Spaß macht.“ Dann grinste er mich frech an und verschwand in Richtung des Bierregals.
Als ich zur Gemüseabteilung sah, wartete Vyvyan bereits auf mich.
Wie gesagt, für Lukas war das so verdammt einfach. Wenn der Kerl heute ‚Nein danke‘ sagte, suchte er sich morgen eben den nächsten, der ihm Herzklopfen bescherte. Mein Herz aber hatte kein ADHS.

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