‚Können wir diese Arrangements nicht auflösen? Können wir nicht einfach
kuscheln, weil es schön ist?‘
Das war jetzt nicht sein Ernst. Dieser – er wollte mit meine Ausreden
nehmen! Jetzt, wo ich mich halbwegs damit abgefunden hatte, jetzt, wo ich es
halbwegs akzeptieren konnte – dank der Ausreden – jetzt
wollte er sie mir wegnehmen! Das konnte er doch nicht tun – das war unfair,
verdammt! Und sowieso, das hörte sich ja alles ganz toll hochtrabend an, aber
die Realität sah nun einmal anders aus.
Ja, genau! Die Realität, die kam mir endlich mal zu Hilfe. Ansonsten
war sie ja eher gegen mich – mit der sexuellen Orientierung und der
Wanderlust meiner Eltern – aber heute, endlich, stellte sie sich auf
meine Seite! Besser spät als nie, Bitch!
„Aber du bekommst eine Empfehlung dafür, dass du mir Nachhilfe
gibst“, gab ich zu bedenken und war recht stolz auf mich, dass meine Stimme
dabei gefasst und normal wirkte. Schon interessant, auf was für Dinge ich
plötzlich stolz war – vor allem, da ich sonst meine Stimme so gut wie
immer im Griff hatte. Keine Ahnung, wie meine ganze erarbeitete Persona bei ihm
so schnell den Bach runter gegangen war.
Rubin verzog das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte,
aber nie ganz eins wurde. „Vyvyan“, begann er, stockte, presste kurz die
Lippen aufeinander und redete dann doch weiter, „ich habe meine Bewerbungen
längst abgeschickt.“
Äh … huh?
„Du – was?“
Wie meinte er das? Wie hatte er das getan, ohne
Empfehlungsschreiben – ich dachte, die Ami-Unis legten auf so einen
Scheiß Wert?
„Die Bewerbungsfrist bei meinen gewählten Unis ist der erste Januar; für
die sogenannte early-admission sogar der erste November.“
Oh.
Vielleicht hätte ich die Realität nicht vorschnell Bitch nennen sollen.
Ich meine … Januar? Erster Januar? Dann wäre die
Empfehlung ja nie und nimmer rechtzeitig gewesen, sogar dann nicht, wenn
Kirsten sie gleich am selben Tag geschrieben hätte, an dem er Rubin gefragt hatte,
ob er mir Nachhilfe geben würde. Denn mal ehrlich: Das war Mitte Dezember
gewesen und die Post brauchte ihre Zeit über den Ozean, vor allem, wenn dann
noch Weihnachten und Neujahr dazukamen – und ich konnte mir nicht
vorstellen, dass Rubin ausgerechnet damit bis auf den letzten Drücker gewartet
hatte. Und das bedeutete, dass …
… dass er von Anfang an gewusst hatte, dass ihm die Empfehlung nichts
brachte und sich trotzdem bereiterklärt hatte, seine Ferien damit zu
verbringen, mir seine Muttersprache zu erklären. Das …
„Wieso …?“
Aber Rubin antwortete nicht. Er sah mich nur an, mit diesem Nicht-Lächeln
das mir je länger desto deutlicher gleichzeitig verlegen, entschlossen,
schüchtern, betrübt und hoffnungsvoll erschien. Ergab das Sinn? Wahrscheinlich
nicht. Hier ergab sowieso gerade sehr wenig Sinn.
Er hatte mich am Anfang der Ferien doch noch nicht einmal gemocht! Oder?
Das mit dem sympathisch – ‚Ich mag dich nicht nicht‘ – das
war doch erst später gekommen. Nach Weihnachten und nach dem ersten Orgasmus.
Orgasmen und Geschenke waren nun mal sehr effiziente Abkürzungen, wenn man
jemandes Gunst erwerben wollte – was ich ja nicht hatte tun wollen,
aber irgendwie trotzdem getan hatte.
‚Ich mag dich nicht nicht.‘
Doppelte Negation. Das war schlechter Stil, das wusste sogar ein
Sprachschwachmat wie ich. Rausgestrichen ergab das:
Ich mag dich.
Er mochte – mochte er mich? So wirklich? Inwiefern?
Ach du Kacke – musste ich jetzt die Date-Diskussion doch wieder
eröffnen?
„Was das Einkaufen angeht“, sagte Rubin plötzlich in die anhaltende Stille
meines Gedankentornados hinein, „wenn du magst, können wir auch zusammen nach
dem Film gehen; der große Supermarkt drei Busstationen von hier hat bis
vierundzwanzig Uhr geöffnet.“
Ich wiederholte mich, aber: Das war jetzt nicht sein Ernst, oder? Ich war
gerade echt nicht in der Lage, übers Einkaufen nachzudenken! Und sowieso, er
konnte nicht so was raushauen und dann einfach das Thema wechseln, verdammt!
„Rubin, wegen …“
„Kannst du’s dir überlegen?“, unterbrach er mich, „Nicht jetzt im Affekt
antworten, sondern in Ruhe überlegen?“ Mir war schon klar, dass er gerade nicht
mehr vom Einkaufen sprach, genauso, wie mir klar war, dass das sozusagen eine
Bitte um Aufschub war. Dass er die Diskussion darüber, falls es denn zu einer
kam, nicht hier und jetzt führen wollte – was ja an sich nicht
schlecht war, denn erstens waren wir nicht unter uns und zweitens hatten wir
den Filmbeginn als Zeitlimit. Dennoch, wie konnte er von mir verlangen, seine
Worte mitsamt ihrer Bedeutung und deren Implikationen einfach beiseite
zuschieben und zu verdrängen? Klar, ich war gut im Verdrängen und Ignorieren,
aber so gut?
„… Bitte?“ Das Wort verließ seine Lippen auf so leisen Sohlen, dass
ich schon beinahe glaubte, es mir nur eingebildet zu haben. Aber hätte ich es
mir nur eingebildet, hätte es nicht diese Wirkung auf mich. Denn so ziemlich
alles in mir entschied sich, dass ich entweder so gut war oder jetzt eben so
gut werden musste – und im nächsten Moment nickte ich.
Da, endlich bekam ich wieder ein Lächeln, das den Namen auch verdiente! Nur
ein kleines zwar, ohne Grübchen, aber es war ein Anfang. Also wandte ich alle
mentale Kraft und Kontrolle auf, die ich hatte, schob die Gedanken, die seine
Eröffnung ausgelöst hatte, weit, weit weg in eine Ecke und packte sie in eine
Truhe, die ich verschloss. Wir wollten jetzt nicht darüber reden, sondern
über … ah ja, einkaufen.
Okay. Er meinte, der Supermarkt hätte bis Mitternacht auf. Ich warf einen
Blick auf die Uhr: kurz vor sechs. In zwanzig Minuten begann die Vorstellung,
zwei Stunden. Ja, das reichte locker.
Ich nickte erneut. „Gut, gehen wir heute noch einkaufen. Dann musst du aber wirklich noch entscheiden, was du willst.“
Er überlegte und aß dabei seine letzten Fritten.
„Wie wär’s mit Gumbo?“, fragte er schließlich.
„Ich habe keine Ahnung, was das ist.“
„Ein traditioneller Eintopf aus Louisiana. Echt lecker.“
„Okay …“, machte ich, „aber ich habe keine Ahnung, wie man den kocht.
Ich meine, Mac’n’Cheese sind im Grunde nur gebackene Käsenudeln, das ist
keine große Herausforderung, aber bei einem Gericht, von dem ich noch nicht
einmal gehört habe, habe ich auch keine Ahnung, worauf es ankommt; Eintopf hin
oder her.“
Er zuckte mit den Schultern. „Dann lernen wir zusammen, wie es geht. Du
weißt, wie man kocht, und ich weiß, wie es am Ende schmecken muss. Das kriegen
wir schon hin.“
Ja, aber das war dann auch kein wirklicher Kochunterricht. Obwohl, das
sollte ihm dann entgegenkommen, nicht wahr? Mit seiner Bitte und so.
Irgendwas mussten die mir in den Burger gemixt haben, denn ich fühlte, wie
ich schon wieder nickte. „Wenn du meinst; probieren wir’s.“
„Schön!“ Er lächelte erfreut. „Und als Dessert dann den cheesecake – oh.“
Was denn jetzt schon wieder?
„Können wir vielleicht zwei davon machen?“
„Zwei Käsekuchen? Wieso?“
„Na ja, ich gehe doch morgen auf Megans Silvesterparty und ich habe
versprochen, was fürs Buffet mitzubringen. Und White Chocolate Cheesecake
with Rasberries macht sicher sonst keiner.“
Stimmte ja, Rubin ging übermorgen auf eine Party. Hm. Er hatte mir ja
gesagt, dass er gerne feierte, aber … keine Ahnung. War ja auch
unwichtig.
„Sicher, können wir machen“, antwortete ich und trank meine Cola aus, „aber
dann am besten kleinere Portionen, oder? So, dass jeder eins nehmen kann und
keinen Teller braucht.“
„Das geht auch?“
„Klar. In gläsernen Förmchen würde es schöner aussehen, aber ich denke, für
eine Party sind Muffinförmchen aus Papier die sicherere Wahl.“ Ich grinste.
„Obwohl Scherben ja Glück bringen sollen.“
Rubin verzog das Gesicht. „Nein danke, wir nehmen Papier. Bei den
Leuten sowieso.“
„Gut.“ Ich stand auf und sammelte meine Reste ein. „Wollen wir langsam mal
rüber?“ Ich bemühte mich, mich so normal wie möglich zu verhalten. Also so, als
hätte er nicht eben eine kleine Bombe in mein mühsam aufgerichtet und
balanciertes Kartenhaus geworfen.
Wenn er nie irgendwelchen persönlichen Nutzen aus der Nachhilfe gezogen
hatte, wieso zum Hades gab er sie mir dann? Also, jetzt zog er ja
persönlichen … hm. Hatte er beim ersten Mal auch schon. Bisher hatte
es noch keine Nachhilfe ohne Happy End gegeben. Hm!
Aber ich sollte ja nicht darüber nachdenken. Nachher dann, in Ruhe. Genau.
Wir warfen den Müll weg und verließen das Lokal. Eiseskälte umschloss uns
augenblicklich. Scheiß Winter.
„Was machst du Sonntagabend?“, fragte er, als wir auf die Straße traten.
„Ich bleibe zu Hause.“ Was denn sonst? dass ich nicht freiwillig mit Theo
und Company an einem Sauffest teilnehmen würde, sollte er wissen. Außerdem war
ich mir ziemlich sicher, dass ich es ihm auch schon gesagt hatte.
Wir überquerten die Straße und ich holte die Tickets raus.
„Ist Silvester wichtig bei euch? Wie Weihnachten?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Wir gingen in das Gebäude und ich zeigte dem
aknegeplagten Jungen hinterm Schalter, der gleichzeitig als Ticketverkäufer und
Kontrolleur fungierte, unsere Zutrittsberechtigungen. „Wir essen und spielen
Spiele bis Mitternacht, dann stoßen wir an und es gibt
Nachtisch – außer für Sue, die geht nach dem Essen mit Freunden weg.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich freu mich trotzdem darauf. Hab ja
bisher noch nicht viel Zeit mit meiner Familie verbracht.“ Ich sagte das mit
einem Grinsen, damit er es nicht als Anschuldigung oder weiß-Zeus-was
interpretierte, aber das Lächeln, das ich darauf kam, war dünn.
„Natürlich.“
Ich sah ihn fragend an, aber er zog die Mundwinkel nur etwas weiter
auseinander, und wies auf die rechte der beiden Türen im Erdgeschoss. Keine
Ahnung, was jetzt schon wieder das Problem war.
Bevor die Vorwerbung anfing, schickte ich noch kurz eine Nachricht an Sue
und bat sie, mir das Rezept für den Käsekuchen zu schicken. Dann schaltete ich
das Handy auf stumm und ruckelte ich im Sitz zurecht. Auf in zwei Stunden
erkauftes Hirntodland!
***
Der Saal war angenehm halbleer. Wir saßen hinten in der Mitte, die einzigen
in der letzen Reihe. Der Film war unterhaltsam. Ein Superhelden-Film mit Action
und Humor. Völlig normal und ähnlich all der Superheldenfilme, die momentan so
im Trend lagen – wenn man von der Tatsache absah, dass die zweite
Hauptfigur schwul war. Nicht der
Titelheld – bewahre! – aber der Sidekick. Der große,
muskulöse, verdammt gut aussehende Sidekick, dessen Schauspieler wahrscheinlich
sein halbes Leben im Fitnessstudio verbrachte. In den ersten vierzig Minuten war es nur angedeutet gewesen,
dann wurde es expliziter, genauso wie deutlicher wurde, dass er damit zu
kämpfen hatte; aber dennoch blieb es relativ – wie soll ich sagen?
Unauffällig. Insgesamt war der Film kurzweilig, aber auch nichts, was ich auf
DVD haben wollte, immerhin gab es gefühlte tausend Filme wie diesen, wenn man
von der einen Nebenhandlung absah. Dennoch war es das Richtige, um den Kopf
freizukriegen, auch wenn es natürlich nicht mit … sagen wir, anderen
Regionen des Hirntodlandes mithalten konnte. Wenn der Ort, an den mich Rubin
heute Morgen geschickt hatte, ein Dschungel mit exotischer Fauna und Flora war,
dann war das jetzt ein Stadtpark. Aber Hirntodland war und blieb Hirntodland
und gerade brauchte ich das dringend. Plus, ich lernte wieder ein winziges
Detail über Rubin: Er mochte nicht nur britische Komödien und Tim Burton,
sondern auch Superhelden. Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, ob er früher
Comics gelesen hatte. Gerade weil es mir etwas absurd vorkam, konnte ich es mir
gut vorstellen.
Allerdings änderte sich das mit den Andeutungen im letzten Akt, als der
Fokus des Liebesanteils sich schlagartig änderte: Die hübsche, möchtegern-taffe
Jungfrau in Nöten war auf tragische Weise verstorben, der Titelheld hatte Rache
geschworen und seine kleine Rebellentruppe um sich gescharrt. Und ausgerechnet
in der Nacht vor dem finalen Kampf kam Sidekick zur Einsicht, dass es sich auch
lohnte, für sich selbst zu kämpfen – was in seinem Fall bedeutete,
dass er endlich den schnuckeligen Rebellen mit den blauen Augen flachlegte. Der
wiederum hatte nur darauf gewartet, wie sollte es auch anders sein; wäre ja
scheiße, wenn der Typ endlich seine sexuelle Orientierung ausleben wollte und
dann vom ersten Kerl gleich ‘nen Korb kassieren würde.
Tja, und da waren wir jetzt: In einer verdammt Hollywood-typischen
Sexszene, die es trotz der Tatsache, dass da in einer Aufnahme mehr Muskeln
abgebildet waren als fünf normale Männer zusammen besaßen, schaffte, im See all
der anderen solcher Szenen unterzugehen. Warme Töne, kurze Schnitte, in denen
immer wieder für eine oder zwei Sekunden ein besonders ästhetisches Körperteil
der Schauspieler aufblitzte, intensive Musik, die das nicht vorhandene Stöhnen
übertünchte. Ooooh, Erotik!
Besonders aufregend fand ich das jetzt nicht. Auch nicht anstößig oder
irgendwas. Es war alles schön und
gut, nur: Wie lange wollten die das denn noch zeigen? Entweder man spielte
etwas nur an und ließ es im Dunkeln oder man zeigte wirklich was – aber
die zeigten diese Liebesspielchen-Ausschnitte jetzt seit gefühlten fünf
Stunden. Wie lange konnte der hintere Kerl denn? Und dann auch immer nur
doggy-style, weil es ja die Missionarsstellung der Schwulen war. Ganz großes
Kino, wirklich.
Ich schloss kurz die Augen, um sie etwas zu entspannen und Abstand zum
Filmgeschehen zu bekommen. Als ich sie öffnete, ließ ich meinen Blick über die
Hinterköpfe der anderen Besucher gleiten und warf schließlich auch einen
Seitenblick zu Rubin – der mich ansah.
Ähm …?
Ich wandte mich ihm zu und sah ihn fragend an, aber er schien nach etwas in
meinem Gesicht zu suchen; da war antworten natürlich nebensächlich. Und dann
lächelte er halb, schüttelte den Kopf – à la ‚Es ist
nichts’ – und wandte sich wieder der Leinwand zu.
Ich wiederholte: Ähm …?
***
Von den halbdunkeln Straßen in den neonerleuchteten Supermarkt zu kommen
war nicht unbedingt angenehm gewesen, aber die Wärme machte das wieder wett.
Sue hatte mir das Rezept für den Kuchen geschickt, wir dann eines für Gumbo im
Internet gefunden und nun ließ ich gerade den Cheddar in den Korb fallen. Was
im Kino gewesen war, hatte er mir auch auf Nachfrage nicht verraten wollen. Ich
hatte es dann auch dabei belassen. War ja nicht so, als ob es mich derart
interessieren würde. Was ich mir aber nicht verkneifen konnte, war, ihn noch
einmal auf seine Filmauswahl anzusprechen.
„Du dachtest also, der Film würde mir gefallen, ja?“, fragte ich, „Welcher
Aspekt denn genau?“
Rubin sah erst überrascht auf, doch dann grinste er frech. „Der
Phantastische. Du hast dich nicht schlecht über Eliaseis gefreut, und
Fantasy und Superhelden liegen so weit auch wieder nicht auseinander …“
Ah ja. Klar.
„Und was hat dich daran interessiert?“
„Jetzt und hier lautet meine Antwort: dasselbe.“ Das Grinsen wurde
verruchter. „Aber frag mich zu Hause noch mal.“
Ich schüttelte den Kopf und ging die paar Schritte zur Milch weiter. Warum
bloß konnte ich mir seine zu-Hause-Antwort nur denken? Aber er hatte Recht: Das
war ein Thema für zu Hause. Für Betsy, am besten, auch wenn die heute schon
eingeschlafen war.
Moment mal – stand er etwa auf solche Muskelberge? Weil, wenn,
dann … entspräche doch eher Kim seinem Typ und nicht ich, oder?
Hm.
Nicht drüber nachdenken. Nicht jetzt.
Am besten gar nicht.
Blieb nur noch die Frage, warum ich nach allem, was heute passiert war, so
ruhig darüber reden konnte, dass wir gerade zwei Männern beim Schauvögeln
zugeguckt hatten. Irgendwie war mir das selbst ein bisschen gruselig, aber dann
wiederum sollte mir so einiges der letzen Tage – und insbesondere
heute – gruselig vorkommen.
„Brauchst du für morgen noch was zu essen?“, wechselte ich ziemlich abrupt
das Thema, „Außer den Crêpes?“
Rubins Augenbrauen hüpften nach oben. „Bietest du gerade an, was für mich
vorzubereiten?“
Also, erstens kochte ja er und nicht ich und zweitens hatte ich nichts
dergleichen getan. Von mir aus konnte er auch nur einen Fruchtjogurt essen.
Obwohl es auch keine große Sache wäre, morgens etwas zusammenzubrutzeln, dass
er dann nur noch aufwärmen brauchte.
„Wir könnten eine einfache Gemüsequiche machen, die kannst du dann essen,
wann auch immer du zurück bist.“ Notfalls auch zum Frühstück am
Sonntag – wenn ich möglichst früh auftauchen sollte, ging ich jetzt
einfach mal davon aus, dass er spätestens dann auch wieder zu Hause sein würde.
Rubin schmunzelte. „Sag mal, gibt es eigentlich etwas, das du nicht kochen
kannst?“
„Hab ich doch gesagt: asiatisch“, erwiderte ich grinsend und steuerte
zurück in Richtung Gemüseabteilung.
Auf halbem Weg stockte Rubin, aber nur eine Sekunde, dann ging er weiter.
„Was ist?“, fragte ich. Und diesmal bekam ich eine Antwort.
„Da ist jemand, den ich kenne.“ Er nickte in die Richtung eines Typen:
groß, blond, für die Jahreszeit eindeutig zu kalt angezogen. Noch nicht mal
einen Schal hatte der um!
… Und?
Doch bevor ich das fragen konnte, sah der Typ uns – oder besser,
Rubin – und kam grinsend rüber. Rubin lächelte angespannt und warf
mir einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
Was denn, er hatte jetzt aber nicht Angst, dass ich … ja was
eigentlich? Ihn outete? Das war ja wohl absurd.
„Rubihn, was machst du denn hier?“, fragte der Typ und umarmte ihn.
Innig, irgendwie. Und ein bisschen zu lang.
Und – hatte der eben wirklich die zweite Silbe betont? Also nicht
Rubin, so wie es korrekt war, sondern Rubihn wie der Edelstein?
Ich dachte, Rubin mochte das nicht?
„Einkaufen, siehst du doch.“ Das Lächeln war bereits echter, entspannter.
Dann wandte er sich halb zu mir. „Vyvyan, das ist Lukas … ein
Freund. Lukas, Vyvyan.“
Wieso das Zögern?
„Hi!“ ‚Lukas‘ streckte mir mit einem breiten Zahnpastawerbungslächeln die
Hand entgegen. „Du bist sein …?“
Entweder die beiden waren wirklich gut befreundet oder der Typ war einer
von der Sorte, die dachten, dass man ihnen das bisschen Frechsein schon
verzeihen würde, nur weil sie selbst im Winter richtig braungebrannt waren und
mit wilder Surferfrisur und Dauerlächeln trumpfen konnten. Oder er dachte, er
hätte ‚jungenhaften Charme‘ oder wie die das im Fernsehen gerne nannten. Hatte
er nicht. Außerdem war Solarium ungesund und in zehn Jahren würde er die Haut
eines Fünfzigjährigen haben, hatte ihm das noch niemand gesagt? Oder dachte er,
er wäre die große Ausnahme der vorschnellen Hautalterung?
„… Nachhilfeschüler“, vollendete ich dennoch den Satz und schüttelte
ihm brav, aber nicht besonders enthusiastisch die Hand.
Das Grinsen wurde augenblicklich breiter. „Nachhilfe, sicher.“ Okay, nicht
nur breiter, sondern auch dreckiger. Juhu. „Worin gibt er dir denn Nachhilfe?“
„Englisch.“
„Ach?“, machte Lukas und sah wieder Rubin an, „Ich wusste ja gar nicht,
dass das dein Ding ist. Hätte eher auf Französisch getippt.“
Was?
Und wieso wurde Rubin rot?
…
Oh.
Ha. Ha.
„Lukas!“ Rubin boxte ihn in die Schulter und sah ihn ärgerlich an, aber der
schien das nicht ernst zu nehmen.
„Ach komm schon, es ist später Freitagabend – du willst mir doch
nicht wirklich erzählen, dass ihr jetzt nach Hause geht, um euch mit der
englischen Grammatik zu beschäftigen?“
Er sah von Rubin zu mir, aber ich erwiderte den Blick ruhig. Was wir heute
Nacht vorhatten, ging ihn herzlich wenig an.
„Und wozu braucht ihr dann …“, begann er und warf einen Blick in den
Einkaufskorb an meinem Arm, „… tonnenweise Frischkäse?!“ Sein Blick
war Gold wert.
„Vyvyan bringt mir im Gegenzug für die Englischstunden Kochen bei“,
erklärte Rubin, „Der ist für den cheesecake, den ich morgen zu Megan und
Lilly mitbringe.“
„Lecker!“ Das Werbegrinsen war zurück und Lukas sah wieder ganz unschuldig
aus, als hätte er nicht eben noch auf BDSM-verdächtige Rollenspiele angespielt.
„Dann kannst du mich ja auch bald mal bekochen.“ Und schon war er seine
Unschuld erneut los – aber nur für eine Sekunde, dann wandte er sich
an mich. „Kommst du Silvester auch?“
Rubin sah mich ebenfalls an. Bildete ich mir das ein oder war er wieder
angespannter? Dabei hatten wir das Thema Silvester doch schon tausendmal
besprochen. Es gab keinen Grund Angst zu haben, dass ich mich selbst einlud
oder von diesem Kerl einladen lassen würde. Und ja, er wirkte wie der Typ
Mensch, der So-gut-wie-Fremde zu anderer Leute Partys einlud.
„Nein“, antwortete ich und versuchte noch nicht einmal zu lächeln. Langsam
hatte ich genug. Das war Rubins ‚… Freund‘, nicht meiner, also musste ich
auch keine Zeit mit ihm verbringen. Vor allem, da er mir alles andere als
sympathisch war. Deswegen sagte ich zu Rubin: „Ich geh schon mal den Rest
einsammeln.“ Und zu Lukas: „Mach’s gut.“ Gefreut, ihn kennenzulernen hatte es
mich ja nicht.
„Mach’s besser“, antwortete er mir doch tatsächlich – wie alt war
der Spruch denn bitte? „Und viel Spaß beim Lernen. Er kann dir sicher viel
beibringen.“ Und wir waren schon wieder zurück beim unanständigen Grinsen und
beim Von-Rubin-geboxt-werden. Jetzt wackelte er auch noch mit den Augenbrauen.
Manche Menschen …
… gingen mir noch schneller auf den Keks als andere. Erst Megan und
nun dieser Clown; Rubihns Menschengeschmack ließ zu wünschen übrig.
***
Ach, auf die Wange küssen und im Gesicht rumfummeln war also okay, ja? Gut
zu wissen.
Oder galt das nur für ihn, weil er seinerseits nichts versprochen hatte?
*********
„Du hast ihn vertrieben!“
Er grinste spitzbübisch. „Das war aber auch leicht.“
„Lukas!“ Ich knuffte ihn nun schon zum dritten Mal innerhalb zehn Minuten
in die Schulter, aber natürlich störte ihn das herzlich wenig. Im Gegenteil, er
rieb sich genüsslich über die Stelle und senkte seine Stimme:
„Oh ja, schlag mich, Süßer; du weißt, wie’s mir gefällt!“
Es war echt gruselig, wie überzeugend er das hinbekam. Ich rollte gespielt
genervt die Augen, konnte aber ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Du kannst
froh sein, dass ich mich schon vor ihm geoutet habe – ansonsten wäre
ich jetzt echt wütend.“
„Wenn er nach mehreren Stunden alleine mit dir noch nicht kapiert hätte,
dass du stockschwul bist, wäre er selber schuld.“ Er drehte sich kurz um und
sah zu Vyvyan hinüber, der gerade Grünzeug in den Korb packte. „Mal im Ernst:
Er ist ja ganz knackig …“ Seine Stimme verlor sich, während sein Blick
Vyvyans Rückansicht noch einmal genauer scannte. „… aber ein bisschen arg
knurrig. Hätte nicht gedacht, dass du auf so was stehst.“
Aber er schon oder was?
Ja.
Nicht, dass er sich an Vyvyan ranmachen würde, aber ich wusste, dass genau
dieses Knurrige und Abweisende Lukas anstachelte. Er liebte Herausforderungen.
Ein unbeteiligter Beobachter hätte von mir vermutlich dasselbe gedacht, aber
dem war nicht so. Ich wollte keine Herausforderung, ich wollte Vyvyan.
„Er ist nicht knurrig!“, erwiderte ich heftiger als nötig, „Zumindest
nicht, wenn wir alleine sind. Muss an dir liegen.“
Und genau da lag mein Problem. Nicht bei Lukas’ abschätzendem Blick, denn
das der Vyvyan interessant finden würde, war mir durchaus klar gewesen. War ja
nicht gerade Quasimodo, mein babe. Was mich fuchste, war Vyvyans Verhalten.
Lukas fuhr sich durch seine Wuschelhaare und grinste schief. Den
Gesichtsausdruck kannte ich gut genug. „Kann sein. Hatte nicht den Eindruck,
dass er mich besonders mag.“
No shit, Sherlock.
„Das liegt nicht an dir. Vyvyan mag außer seiner Familie niemanden so
richtig.“
Aber außer mir ließ er es niemanden spüren. Nicht seine Hampelmänner, nicht
den Rest der Schule; sogar zu Megan war er immer höflich und zuvorkommend
gewesen. Zu allen, nur zu mir nicht – and now he was making out
with me. Ich hatte mir lange genug eingeredet, dass seine Unfreundlichkeit
mir gegenüber eigentlich etwas Gutes war, weil es bedeutete, dass er zu
mir – im Gegensatz zu seinen Freunden – wenigstens ehrlich
war. An seiner glatten Everybody’s Darling-Fassade konnte man nur
abprallen, aber am richtigen Vyvyan gab es genug Ecken und Kanten, an denen man
sich festhalten konnte. Und ich verstand nicht, warum er das jetzt noch jemand
anderem zeigte. Und dann noch ausgerechnet Lukas.
Was, wenn das Vyvyans Art war, auf Leute zu reagieren, die er attraktiv
fand? Lukas und ich sahen uns nicht unähnlich. Er war etwas größer, seine Haare
dunkler, eher honigblond, und generell sportlicher, hatte eher Vyvyans
Körperbau, aber je nachdem, worauf Vyvyan denn eigentlich stand, könnten wir
beide ins Schema passen.
Außerdem: Jeder mochte Lukas. Er war zwar stinkfrech, aber auf liebenswerte Art.
Zu solchen Leuten war Vyvyan in der Schule immer besonders freundlich, auch
wenn er sie nicht zu seinen ‚engen Freunden‘ erkor. Eigentlich …
I mean, yeah, I knew I was overreacting like crazy, but …
I was overreacting, right?
Ich hatte ja eh schon das Gefühl, dass etwas schief lief, heute Abend. Und
das war seit meinem blöden Vorschlag mit dem Deal immer schlimmer geworden.
Dass er auf den Vorschlag nicht eingehen würde, war mir auch
klar – ich war zu schnell zu weit hervorgeprescht – und
jetzt hoffte ich nur, dass er deswegen nicht Reißaus nehmen würde. Am liebsten
wäre ich kurzfristig in einen anderen Film gegangen, hätte irgendwas Unverfänglicheres
geschaut. Aber wir hatten die Tickets ja schon gehabt. Ich konnte echt froh
sein, dass er so locker darauf reagiert hatte.
Aber eben, ich hatte schon vor meinem schlecht getimten Anfall von
Offenheit dieses kleine, leise, nagende Stimmchen gehört. So leise, dass ich es
nicht genau verstehen konnte, aber dennoch wusste ich, was die Essenz seiner
Warnung war: irgendetwas stimmte nicht. Es war … alles ein bisschen
zu reibungslos gelaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich es kitten konnte,
weil ich nicht genau wusste, woran es lag.
In short, I had been happy on borrowed time. And I
didn’t … couldn’t …
„Und dich?“
Ich schüttelte die Gedanken ab, zwang mich zurück in das Gespräch mit Lukas
und zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Manchmal denke ich, dass alles dafür spricht, dann aber …“
… dann fragte ich mich, ob ich nicht zuviel in seine Experimentier- und
Kuschelfreudigkeit hineinlas. Küssen wollte er mich ja nicht und spätestens
seit Pretty Woman wussten wir doch alle, dass das kein gutes Zeichen war.
„Warum fragst du ihn nicht einfach?“ Natürlich, in Lukas’ Welt war alles so
einfach. Lukas war ja auch schon hunderttausendmal verliebt gewesen, und das
hielt meistens irgendwas zwischen fünf Minuten und ein paar Wochen an. „Oder
sagst ihm, dass du ihn magst?“
„Hab ich schon.“ Indirekt. Und mit Taten, mit Berührungen. Mit Blicken.
„Und was hat er gesagt?“
Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte er auch sagen, wenn ich es gleich
danach mit ‚Ich finde dich sympathisch‘ abgeschwächt hatte? Aber hätte ich das
nicht getan …
Lukas ächzte. „Mann, Rubin …!“ Genau wie Megan, das Kopfschütteln. „Dann
mach es eben noch mal. Und noch mal und noch mal, wenn nötig. Bis du weißt, was
Sache ist.“
„Sorry, aber deine Art hat ihn in nicht einmal drei Minuten in die Flucht
geschlagen.“
„Aber er geht nachher immer noch mit dir nach Hause“, erwiderte er und
wackelte wieder mit den Augenbrauen, so dass ich mir ein Lachen verkneifen
musste. So ein Kindskopf! „So schlimm kann’s also nicht gewesen sein“, fügte er
hinzu, zog mich a sich und wollte mich aus Gewohnheit zum Abschied auf den Mund
küssen, aber ich drehte den Kopf etwas, so dass er die Wange traf. Er warf mir
einen amüsierten, liebevoll-spöttischen Blick zu, streichelte mit den
Fingerknöcheln von meiner Schläfe über meine Wange und murmelte: „So ein
bisschen vermiss ich dich schon, weißt du? Ist gar nicht so einfach, guten
Ersatz zu finden – auch wenn die Suche Spaß macht.“ Dann grinste er
mich frech an und verschwand in Richtung des Bierregals.
Als ich zur Gemüseabteilung sah, wartete Vyvyan bereits auf mich.
Wie gesagt, für Lukas war das so verdammt einfach. Wenn der Kerl heute ‚Nein danke‘ sagte,
suchte er sich morgen eben den nächsten, der ihm Herzklopfen bescherte. Mein
Herz aber hatte kein ADHS.
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