Meine Unschlüssigkeit. Seine Funkstille. Mikes Studio.
Drei Tage waren vergangen und
mein Handy stumm geblieben. Ich war erleichtert – natürlich war ich
das. Was sonst? Eben. Hätte er reagiert, wäre es nur peinlich geworden, für
mich. Wegen vergessenen Wörtern und falsch platzierten Wörtern und falsch
geschrieben Wörtern und … und wegen den Wörtern an sich. Genau.
Außerdem: Wahrscheinlich
wusste er ja noch nicht mal, woher die SMS kam – klar, in seinem
Leben gab es da sicher (hoffentlich!) nicht so viele Kandidaten, die sich
generell für alles der letzten Zeit entschuldigen mussten, aber er kannte ja
meine Nummer nicht. Und ich hatte meinen Namen nicht geschrieben. Bei einer
solchen SMS von unbekanntem Absender würde ich garantiert denken, jemand hätte
sich bei der Nummer vertan. Und da derjenige offensichtlich nicht ganz bei sich
gewesen war, musste es auch nicht kommentiert werden. Genau.
Wenn er doch wusste, dass ich
der unglückliche Absender war, sagte die ausgebliebene Reaktion auch genug.
Wieso sollte er auch
antworten? Gerade, wenn er es wusste. Schließlich machte die
Mini-Nachricht nichts wieder gut, war keine Entschädigung. War noch nicht
einmal persönlich überreicht worden. Noch dazu namenlos.
Aber … er reagierte
eben nicht. Auch wenn ich darüber primär erleichtert war, kam die Enttäuschung
doch auf einen gefährlich nahen zweiten Platz. Eine Reaktion, irgendeine
Reaktion hätte schließlich auch eine Möglichkeit bedeutet, Kontakt aufzunehmen.
Oder mir zumindest einen Anhaltspunkt gegeben, wie es ihm ging – denn
die Frage ging mir seit Thomas’ Besuch und seiner Un-Antwort nicht mehr aus dem
Kopf.
Leider war das nicht das
einzige von Thomas’ Besuch, dass mir nicht mehr aus dem Kopf ging. ‚Bloße
Statisten und Sprechrollen, die nur dazu da sind, damit die Straßen nicht so
leer aussehen‘ – behandelte ich meine Mitmenschen, die wenigen, die
mir nahe standen, wirklich so? Ich wollte gerne laut Nein schreien,
aber … hatte Michael nicht etwas ähnliches angedeutet? Als er sagte,
dass ich mich ihm gegenüber gleichgültig verhalten hatte? Hatte er sich auch
nur wie eine Sprechrolle in Milo’s Life – directed, produced,
written by and starring Yours Truly gefühlt?
Und wenn, was dann? Michael
war verletzt gewesen, weil er sich ungeliebt gefühlt hatte, und hatte darauf
mit seinen Spargeltarzanen geantwortet. Thomas war wütend gewesen, weil ich
mich nicht bei ihm gemeldet hatte, nachdem ich einfach so abgehauen war
und … hatte mir vorgeworfen, mich nicht in andere hineinzuversetzen. Weil
ich mich nicht gemeldet hatte, obwohl er jemand war, der sich schnell Sorgen
machte. Aber das hatte ich doch wegen ihm getan, oder? Weil Thomas sein
Freund war und ich nicht gewollt hätte, dass Klaus danach mit Michael rumhing.
Aber auch diesmal kam mir
prompt der Gedanke, dass das nicht dasselbe war, weil Klaus und Michael nie
befreundet gewesen waren. Und ihm folgte ein zweiter auf dem Fuße: Thomas war
nicht wütend geworden, weil ich nicht mit ihm rumgehangen, sondern, weil ich
jeglichen Kontakt verweigert hatte. Obwohl wir befreundet waren und obwohl er
sich an dem Sonntag vor dem Auszug ebenfalls Sorgen gemacht hatte, weil ich die
Nacht über verschwunden geblieben war. Seine Worte waren mehr als deutlich
gewesen: „Eine SMS wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, oder?“ Und,
mal ehrlich: Eine SMS mit Ja, ich lebe noch, danke der Nachfrage hätte ihn
nicht im Geringsten gestört, auch wenn er von ihr erfahren hätte.
Und dennoch hatte ich alle
Nachrichten und Anrufe von Thomas ignoriert. Nicht wegen ihm, nicht
wegen Thomas, sondern … sondern, weil es für mich einfacher war,
alles, was mit den letzten zwei Monaten zu tun hatte, zu verdrängen. Inklusive
Thomas, der das nicht verdient hatte.
Ich ließ meinen Kopf nach
hinten fallen, über den Rand der Luftmatratze, und starrte an die weiße Wand
unter Klaus’ Schreibtisch. Den anderen, größeren, hatte Anita ins Wohnzimmer
gestellt, damit er da weiterarbeiten konnte, aber der kleine hatte keinen
Platz. Dass ich und meine Kisten hier das Zimmer belegten, war ja auch nur eine
Übergangslösung. Und jetzt, wo ich Thomas keine Miete mehr überweisen musste,
stand meiner Wohnungssuche nichts mehr im Weg.
Statisten und
Sprechrollen.
Wieso hatte mir Thomas
eigentlich die Handynummer gegeben? ‚Warum fragst du ihn nicht selbst?’
Hieß das … war das eine Aufforderung? Ich meine, natürlich war das
eine, oder vielleicht eher eine Herausforderung, aber – eine ehrlich
gemeinte? Wollte, erwartete er wirklich, dass ich mich bei ihm meldete?
Aber Thomas hatte doch selbst gesagt, dass es besser sei, wenn ich ausziehen
würde – also war er doch ebenfalls zu der Erkenntnis gekommen, dass
ein klarer Schlussstrich am besten für alle Beteiligten war, oder? Ganz egal,
wie sehr mir auffiel, dass nun eindeutig zu wenig Leberflecke in meinem Leben
waren. Thomas hatte zugestimmt, am Ende.
‚Lass mich wissen, was
dir sonst noch alles für Ausreden einfallen.’
Äh, ja. Das hatte er auch
gesagt.
Aber ich hatte mich
gemeldet. Vielleicht nicht grammatikalisch oder orthografisch korrekt, aber
gemeldet hatte ich mich. Und keine Reaktion bekommen. Was man als stummes
‚Scher dich zum Teufel‘ werten konnte, oder?
Ja. Sicher.
Natürlich konnte man das. Und
das wiederum konnte ich als Ausrede benutzen, um die Zeit in der WG schnellst
möglich zu vergessen und mein Leben weiterzuleben. Aber weil ich genau das gewollt
hatte, hatte ich nicht auf Thomas’ Nachrichten reagiert und ihn damit
verletzt. Was, wenn ich nun dasselbe tat? Meine, aus Feigheit geborenen,
Wünsche auf andere projizierte, statt tatsächlich den Versuch zu unternehmen,
mich in sie hineinzuversetzen? Und damit ihn schon wieder verletzte?
Aber nein, ich an seiner
Stelle würde garantiert nichts mehr von mir hören wollen und deshalb auch
fehlerhafte Nachrichten ignorieren. Mehr noch: würde sie ungelesen löschen. Ja,
ich an seiner Stelle. Und … und er an seiner Stelle? Immerhin hatte
er in den zwei Monaten selten so gehandelt, wie ich es getan hätte. Und
manchmal so, dass es mir schwer fiel, ihn zu verstehen.
Also: Was würde er wollen?
Was wollte er, höchstwahrscheinlich?
…
Ich drehte mich mit einem
Ächzen auf die Seite und schloss die Augen. Es brachte nichts! Ich hatte keinen
verdammten Schimmer, was Mischa wollte und was nicht! Woher auch? Ich war
nicht er!
Und daran würde sich auch
nichts ändern, wenn ich einen weiteren Abend in diesem Zimmer auf meinem immer
noch provisorischen Bett verbrachte!
Anita saß in der Küche und
blätterte in einer Zeitschrift, während der Backofen vor sich hinratterte. Auf
der Anrichte stand eine backfeste Form mit Hähnchenbrust und Gemüse und
irgendeiner Sauce.
„Dauert noch mindestens eine
Stunde“, sagte sie und sah zu mir auf.
„Ist okay“, erwiderte ich,
„hab eh noch keinen Hunger.“
Sie seufzte, wartete aber,
bis ich mit einem Glas Orangensaft ihr gegenüber am Tisch saß. Eigentlich hatte
ich erwartet, dass sie, sobald mein Arsch den Stuhl berührte, loslegen würde,
aber sie musterte mich bloß schweigend.
„Ihr wisst, dass ich euch
gern hab, oder?“, fragte ich schließlich und gab so der stummen Aufforderung
nach.
„Natürlich.“ Sie kniff ihre
Augen zusammen. „Wieso?“
„Thomas meinte was von
Sprechrollen und Statisten …“ Sie nickte. Er war laut genug gewesen, dass
sie es auch in der Küche verstanden hatten. „Und Michael hat etwas
Ähnliches …“
„Michael ist ein Aas“,
unterbrach sie mich, „und bei Thomas hast du dich doch gemeldet, oder?“
Ich nickte. „Gestern.“
„Und er hat geantwortet.“
„Ja.“
„Also geht’s hier weder um
Thomas, noch um Michael. Und um Klaus oder mich schon gar nicht.“
Ich zuckte mit den Schultern
und sie seufzte noch einmal, diesmal schwerer.
„Er hat nicht reagiert.“
„Nein.“ Ich schloss kurz die
Augen.
„Hast du’s noch mal
versucht?“
„Natürlich nicht!“
Anita sah mich so neutral an,
wie sie es noch nie getan hatte. Ich wusste, dass sie sich gerade sehr beherrschte
und dass das daran lag, dass sie und Klaus sich immer noch nicht einig waren.
„Wenn du dich also
entschieden hast, aufzugeben, wo liegt dann das Problem? Dann ist es doch egal,
ob er denkt, nur ein Statist zu sein oder nicht.“
„Sprechrolle“, korrigierte
ich sie, „und ich habe nicht aufgegeben! Und er ist auch keine Sprechrolle!
Und …“ Ich brach ab.
Und er war eben immer noch so
deutlich nicht da.
„Du hast nicht aufgeben,
willst ihn aber nicht kontaktieren und auch nicht mit ihm zusammensein? Was
genau hast du dann nicht aufgegeben?“
„Ich …“ Wusste es nicht.
Ich wollte doch nur, dass er da war, verdammt! Am besten so, wie es an
dem Samstag gewesen war, mit gemeinsamen Zeitverbringen und Kennenlernen
und … ja, und.
Ihr Blick wurde ungeduldig
und sie schüttelte nach einigen weiteren Sekunden, in denen ich nichts
rausbrachte, barsch den Kopf. „Das bringt nichts; konzentrieren wir uns lieber
aufs Hier und Jetzt. Ich wiederhole: Wo ist das Problem, jetzt in diesem
Moment?“
„Ich weiß nicht, was er
möchte.“
Ihre Augenbrauen hüpften nach
oben. „Klaus zufolge eine Beziehung.“
„Ja, vorher“, erwiderte ich
leicht genervt, ohne zu wissen, was mich genau nervte, „ich will aber wissen,
was er jetzt will. Und damit meine ich nicht Beziehung oder nicht
Beziehung, sondern was ich tun soll. Ihn in Ruhe lassen? Lässt er die SMS
deswegen unkommentiert? Aber warum hat mir Thomas die scheiß Nummer dann
gegeben? Oder mich noch mal entschuldigen? Aber dann hätte er doch irgendwas
antworten können – und, ich meine, als ich mich an dem Sonntag vor
dem Auszug entschuldigt habe, meinte er nur, das sollte es auch. Und ich
an seiner Stelle würde Ruhe wollen und das Ganze so schnell wie möglich
versuchen zu vergessen, aber ich habe das Gefühl, dass Thomas nicht nur von
sich gesprochen hat, als er meinte, ich würde nicht mal versuchen, mich in
andere hineinzuversetzen – und ich weiß nicht, was ich tun soll
und er ist so verdammt nicht da, dass es an Sadismus grenzt!“ Ich stoppte,
überrascht von der Lautstärke meiner eigenen Stimme. Fantastisch, nun schrie
ich schon Anita an.
Sie schien mir das aber nicht
übel zu nehmen, sondern fixierte mich mit einem nachdenklichen Blick aus den
Wahnsinnsaugen. Dann griff sie an ihren Hinterkopf, zog den Pferdeschwanz
enger, ohne mich aus den Augen zu lassen. Andere hätte jetzt auf den Lippen
gekaut oder mit irgendetwas gespielt, dem Ohrring, einem Anhänger, irgendetwas,
aber Anita sah mich einfach nur an, das Make-up wie immer perfekt, aber
ausnahmsweise nicht in der Lage, die Müdigkeit darunter ganz zu verdecken.
„Was denkst du denn, das du
tun solltest?“, fragte sie schließlich.
„Genau das weiß ich ja
nicht!“, antwortete ich nun wirklich genervt. Hatte sie denn gar nicht
zugehört?
„Das glaube ich dir nicht.“
Ihr Blick haftete weiterhin auf mir, machte mich leicht unwohl. „Ich denke, du
weißt, was deiner Meinung nach das Richtige ist, willst es aber nicht tun.“
„Woher soll ich es denn
wissen? Ich bin nicht er, ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf geht.“
„Nein, du bist du. Deshalb
habe ich auch gesagt ‚was deiner Meinung nach das Richtige ist‘.“
„Hab ich doch gesagt: Ihn in
Ruhe lassen.“
„Ja? Das tust du schon seit
fast drei Wochen und es bringt dich um den Schlaf. Hört sich nicht nach dem
Richtigen an.“
„Ich dachte, wenigstens du
würdest dich darüber freuen, dass es vorbei ist!“ Endlich schaffte ich es, den
Blick von ihr abzuwenden und trank gierig einen Schluck O-Saft.
„Es ist aber
offensichtlich nicht vorbei.“ Die Worte klangen, als müsste Anita jede einzelne
Silbe durch ihre Lippen pressen. „Nicht von deiner Seite aus.“
Mein Magen verknotete sich
schmerzhaft und ich hielt den Blick stur auf mein Glas gesenkt.
„Mi, ich will wirklich nicht,
dass du wieder auf so einen verdammten hirnlosen Anabolikahuldiger hineinfällst,
aber …“ Sie stockte, schloss die Zeitschrift, knurrte frustriert. „… Aber
das jetzt, das ist doch auch nicht besser! Dir geht’s beschissen und
ich …“ Sie brach ab. Als ich aufsah, traf mich ihr Blick erneut heftig,
aber ganz anders als zuvor. Sie sah wütend aus, frustriert, ängstlich
und … hilflos. Mit Hilflosigkeit konnte sie nicht umgehen, das wusste
ich; meistens tat sie so, als existiere das in ihrer Welt nicht, als gäbe es
immer etwas, das man tun konnte. Dass sie sie nun zeigte, schockierte mich.
„Klaus …“ Sie brach ab,
seufzte. „Klaus meint, Mischa habe sich bisher korrekt verhalten.
Und … also, soweit du erzählt hast, ist das … nicht
widerlegbar.“ Nie im Leben hätte sie gesagt, dass es wohl der Wahrheit
entsprach. Ich musste mir trotz allem ein Schmunzeln verkneifen. Anita konnte
genauso wenig aus ihrer Haut raus wie ich.
„In dem Fall wäre es
angebracht, dass du dich auch korrekt verhältst.“
„Und was? Noch mal persönlich
mit ihm spreche und mich richtig entschuldige?“
Sie hielt das Lächeln nicht
zurück. „Wenn denkst, dass du das tun solltest, ja.“
„Ta, ich kann das
nicht!“, rief ich lauter als geplant und schüttelte heftig den Kopf.
„Das stimmt nicht“, erwiderte
sie ruhig, „du kannst sehr wohl. Du kannst gehen, du kannst sprechen,
als kannst du auch zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Du hast
einfach Angst. Das ist was anderes.“
„Das weiß ich selbst“,
zischte ich, „Das meine ich ja: Ich krieg das nicht hin! Vorher falle ich in
Ohnmacht!“
„Das bezweifle ich.“
Wie konnte sie jetzt
grinsen?! Mir war es ernst damit!
„Angst kann man überwinden,
Milo. Wenn man sich ihr stellt.“
„Toll, das hilft mir jetzt
weiter: Glückskeksweisheiten!“ Ich grummelte unwillig und beschäftigte mich
wieder mit meinem Saft. Der verlangte wenigstens nichts von mir, noch nicht
einmal, dass ich ihn austrank, bevor er warm und ungenießbar wurde.
„Von alleine wird nichts
besser werden“, sagte sie nach einer Weile und nahm die Zeitschrift wieder zur
Hand.
Wie konnte sie jetzt lesen?
Wir waren mitten im Gespräch und ich war noch keinen Schritt weiter!
Zu ihm zu gehen lag wirklich
nicht im Bereich des Möglichen. Immerhin – die letzten Worte, die er
zu mir gesagt hatte, waren: Für jemanden, der solche Angst davor hat,
verletzt zu werden, fällt es dir erstaunlich leicht, andere zu verletzen.
Und jetzt – jetzt
war das zwei Wochen – nein, fast drei – her und ich hatte
kein einziges Wort mehr mit ihm gewechselt. Außer dieser verschissen blöden,
infantilen SMS, die es mir noch viel unmöglicher machte, ihm unter die Augen zu
treten!
Er hatte so verletzt
ausgesehen. So …
Scheiße, hätte ich ihm
wirklich nichts gesagt? Wegen dem Umzug? Hätte ich die Möglichkeit gehabt, wäre
ich der Konfrontation tatsächlich ausgewichen?
Ich wusste nicht, wie oft ich
mir diese Frage seither gestellt hatte, aber je länger ich darüber nachdachte,
desto schlimmer fand ich die Vorstellung. Das Letzte, was er Samstag zu mir
gesagt hatte, war, dass er nicht mein Freund sein konnte, weil er in mich
verliebt war. Und keine achtundvierzig Stunden später wäre ich einfach weg
gewesen. Ausgezogen.
Wer tat denn so was?
Als mir zum ersten Mal
aufgefallen war, dass wir zwischen „Ich bin in dich verliebt; ich kann nicht
dein Freund sein“ und „Es stimmt also. Du haust ab!“ kein einziges Wort
gewechselt hatten, und dass es vielleicht beinahe keinen Wortwechsel mehr
gegeben hätte, war mir übel geworden. Sicher, ich war kommunikationstechnisch
kein Genie und hatte auch nie behauptet, ein besonders mutiges Exemplar meiner
Spezies zu sein, aber alleine, dass ich die Möglichkeit, mich derart
feige zu verhalten, nicht ausschließen konnte, sagte einen ganzen Haufen Dinge
über mich, die ich lieber nicht wissen wollte.
Er hatte Recht: Es fiel mir
offenbar viel zu leicht, anderen weh zu tun. Ihm weh zu tun. Um mich zu
schützen? Sicher. Vielleicht. Wahrscheinlich, irgendwie. Aber es war doch mehr
als bezeichnend, dass ich, obwohl ich dachte, in ihn verliebt zu sein, dennoch
ohne Zögern mein Wohl über seines stellte.
So eine Bullenkacke! Wenn es
nach mir ginge, hätte ich mein ganzes Leben verbringen können, ohne solche
Gedanken zu haben. Denn vor sich selbst konnte man nicht weglaufen. Wenn ich
Seiten an mir sah, die ich zum Kotzen fand, dann konnte ich mich nicht einfach
wegdrehen und jemand anderen suchen, mit dem ich meine Zeit verbringen konnte.
Selbstreflexion war beschissen. Keine gute Angewohnheit. Bisher war ich auch
größtenteils ohne ausgekommen.
Und bisher hatte ich
niemanden wie ihn gehabt.
Wäre es wohl besser gelaufen,
wenn ich ihn vor Michael getroffen hätte? Ohne das Bild vom Spargeltarzan mit
erhobenem Arsch im Kopf?
Vielleicht. Anfangs.
Vielleicht hätte ich mich auf ihn eingelassen – nein, sicher hätte
ich das. Und hätte mich dabei so gefühlt, wie ich mich bei Michael gefühlt
hatte. Das erste Mal nicht nur gewollt, sondern begehrt.
Und dann?
… Hätte ich mit
erschreckender Wahrscheinlichkeit dieselben Fehler gemacht, die ich bei Michael
– und bei ihm ja auch – gemacht hatte. Er hätte vielleicht nicht
so reagiert wie Michael, aber ewig hätte er sich auch nicht verletzen lassen.
Eigentlich war es müßig, über
Wenns und Vielleichts nachzudenken, aber etwas Besseres hatte ich ja auch nicht
zu tun, solange ich hier rumsaß.
Am liebsten wollte ich nur
noch weg, wollte die Tür schließen und diese Episode als beendet, die Lektion
als gelernt betrachten und nie wieder daran denken müssen, dass ich vielleicht
ohne ein Wort aus der Wohnung verschwunden wäre. Und das, obwohl er mir nun
wirklich nichts getan hatte. Und vor allem, weil ich mir irgendwann in den
letzten Wochen in einer durchwachten Nacht zwischen der Geisterstunde und dem
Rumpeln der Müllmänner eingestanden hatte, dass ich Michael die Schuld auch
schlecht zuschieben konnte. Michael hatte mich betrogen und verletzt, aber
Michael hatte ihn nicht verletzt. Das hatte ich ganz alleine
hingekriegt.
Ja, ich wollte abschließen
und davonrennen und am liebsten nie wieder daran denken müssen, dass ich
ausgerechnet bei jemandem wie ihm so ziemlich alles falsch gemacht hatte,
aber … aber. Ich war fortgerannt und hatte versucht, es zu
vergessen, und das hatte nicht nur nicht funktioniert, sondern auch Thomas
wütend gemacht und – noch schlimmer – dazu geführt, dass
Anita und Klaus sich stritten.
Ich kreuzte meine Arme auf
dem Tisch und ließ meinen Kopf darauf fallen. So ging das nicht weiter.
Aber …
„Ich kann unmöglich bei ihm
auftauchen“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu Anita, „Jetzt, nach drei
Wochen! Und – und – was sollte ich denn überhaupt sagen?“
„Das, was dein Bauch sagen
will.“ Ich riss meinen Kopf hoch und sah Klaus mit verschränkten Armen im
Türrahmen stehen. „Das hab ich dir doch schon gesagt.“
„Wie lange stehst du schon
da?“
„Lenk nicht ab.“ Er kam in
die Küche hinein und machte sich eine frische Tasse Kaffee. „Nach drei Wochen
ist übrigens immer noch besser als nach drei Jahren.“
Da hatte er Recht. Und ich
musste wirklich mit ihm reden, sonst würde ich es bereuen. Wenn ich schon das
Arschloch war, das vielleicht ohne ein Wort verschwunden wäre, dann wollte ich
wenigstens ebenfalls das Arschloch sein, dass sich dafür anständig
entschuldigte. Er hatte definitiv eine richtige Entschuldigung verdient. Und
die Chance, mir zu sagen, wie egal ihm das alles mittlerweile war. Oder mich
niederzumachen. Oder mir, mit Verspätung, eine reinzuhauen, auch wenn ich
wusste, dass er das nicht tun würde. Dito fürs Niedermachen.
Aber woher zum Geier sollte
ich den Mumm nehmen, in die Wohnung zurückzugehen? Die Vorstellung, zu
klingeln, von Thomas oder dem Neuen die Tür geöffnet und dann gesagt zu
bekommen, dass er gerade nicht da war – oder schlimmer: dass er da
war, und dann mit ihm in der Küche oder dem Wohnzimmer zu stehen,
wo … nein.
„Dann triff ihn eben auf
neutralem Boden. Einem Park, einem Café oder so.“
Ich sah überrascht zu Anita.
Hatte ich das eben ausgesprochen?
„Und wie bringe ich ihn
dahin?“
„Ruf ihn an. Wenn das nicht
klappt, lauerst du ihm halt irgendwo auf. Vor der Uni oder dem Fitnessstudio
oder wo auch immer.“
„Boxstudio“, erwiderte ich
automatisch, „er trainiert im Boxstudio.“
„Dann gehst du eben dahin.“ Ihr
Ton war brüsk und es war klar, dass ihr lieber gewesen wäre, wenn ich die ganze
Sache einfach hätte vergessen können. Aber das konnte ich eben nicht.
„Und wenn er nicht reden
will?“
„Dann bleibst du hartnäckig“,
erwiderte Klaus und nahm seinen Kaffee, „war er ja auch lang genug.“
Ich ächzte gequält.
Hartnäckigkeit war ebenso wenig eine meiner Stärken wie Mut oder Extraversion.
„Ich …“
„Milo!“, unterbrach mich
Anita scharf, „Du hast dich doch längst entschieden, also beweg gefälligst
deinen Arsch!“
Ich sah sie überrascht und
leicht überfordert an, doch dann machte sie eine ungeduldige, auffordernde
Bewegung mit der Hand und ich stand schneller von meinem Stuhl auf, als ich
„Okay“ murmeln konnte.
***
Er war nicht ans Telefon
gegangen. Dreimal hatte ich es versucht, dreimal hatte es sechsmal geklingelt
und dann auf die Mailbox umgeschaltet. Und wieder fühlte ich mich gleichzeitig
enttäuscht und erleichtert. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich sagen
sollte, und bezweifelte stark, dass ich übers Telefon auch nur ein Wort
rausbekommen hätte.
Da es Freitagabend gegen halb
sieben gewesen und er oft genug gegen acht, halb neun vom Training
zurückgekommen war, hatte Klaus kurzerhand nach Mike’s Boxstudio gegoogelt und
tatsächlich eine Adresse gefunden. Scheiß digitales Zeitalter, das mir nicht
einmal einen Vorbereitungstag ließ.
Obwohl ich ja theoretisch
drei Wochen gehabt hatte, um mich vorzubereiten. Aber was nutzte das, wenn ich
es nicht getan hatte, weil – nun, ich hatte Wichtigeres zu tun
gehabt, okay? Mich selbst zu bemitleiden, zum Beispiel!
Jedenfalls war es jetzt kurz
vor sieben und ich stand in der richtigen Straße vor der richtigen Hausnummer
und starrte auf das schwarzweiße Schild. Ich wollte da nicht rein. Ich konnte
doch nicht einfach reinspazieren und –
Aber wenn ich jetzt den
Schwanz einzog, würde Anita ihn mir abschneiden. Also musste ich, nur schon, um
den Hausfrieden zu wahren – wiederherzustellen – eben da
rein. Konnte nicht so schwer sein, waren ja nur ein paar Schritte in den
Hof und dann rechts, wie das Schild mich wissen ließ.
Am liebsten wäre ich
gerannt – weit weg von hier und gleichzeitig ins Studio hinein. Ich
wollte ihn sehen, aber ich konnte darauf verzichten, den Ausdruck zu sehen, den
er bei meinem Anblick bekommen würde. Dennoch setzte ich einen Fuß vor den
anderen und stieß schließlich sogar die Tür auf.
Das Boxstudio war anders, als
ich erwartet hatte. In meinem Kopf erschienen bei dem Begriff immer Bilder aus
Filmen, mit hartem Betonboden, alten Sandsäcken und spartanisch-abgenutzer
Einrichtung. Oh ja, und einer Menge schwitzender Muskelberge mit Verletzungen
in verschiedenen Stadien. Ich aber fand mich nun in einem hellen Gang wieder,
der nach wenigen Schritten in einen großen Raum überging. Weiße Wände, gerahmte
Fotos von Kämpfen und Siegern, heller Parkettboden, moderne, saubere Geräte. Im
rechten Teil hingen mehrere blaue Sandsäcke in einigem Abstand nebeneinander
und eine Gruppe aus drei Männern und zwei Frauen trainierte mit einer äußerst
fitten Trainerin. Frauen. Huh. Es roch noch nicht einmal nach Schweiß.
„Kann ich dir helfen?“
Ich drehte mich um und sah
einen jungen Mann auf mich zukommen. Seine dunklen Haare waren feucht und er
trug ein Frotteetuch um den Hals. Er war nur minimal größer als ich, aber dafür
breiter. Kräftiger.
„Bist du neu? Der
Anfängerkurs fängt erst in einer Stunde an, aber du kannst gern warten.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich
bin nicht angemeldet …“
„Ein Schnuppertraining dann?
Wir hätten nachher noch einen Platz frei und die Gruppe ist wirklich angenehm“,
sagte er freundlich und kam vor mir zu stehen, „Oder erst mal zuschauen? Ich
bin übrigens Ecki, einer der Trainer.“
Ich nahm seine Hand, leicht
überfordert. „Milo.“
„Freut mich, Milo. Also, wie
können wir dir helfen?“
„Ich …“
Komm schon, das konnte nicht
so schwer sein! Das hier war ein Fremder und ich musste nur sagen, weswegen ich
hier war. Das würde ich hinkriegen!
„… wollte
eigentlich … also …“ Das fing grandios an. Ich holte tief Luft. „Ist
Mischa da?“
Er hob überrascht die
Augenbrauen, lächelte dann aber. „Klar, der wohnt ja momentan fast hier.“ Er
drehte sich um und zeigte in den hinteren Teil des Raumes, hinter den Ring. „Er
trainiert gerade mit Mike. Soll ich ihn holen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wie
lange dauert das Training noch?“
„Wahrscheinlich noch so
fünfzehn, zwanzig Minuten. Willste warten?“
„Wenn das okay ist.“
„Klar. Setz dich am besten da
drüben auf die Bank, dann kannst du zuschauen.“ Er grinste frech aber
freundlich. „Vielleicht kommst du ja dabei auf den Geschmack? Falls ja, ich bin
an der Theke und nehme gerne neue Anmeldungen entgegen.“
Obwohl mir das Herz nicht bis
zum Hals, sondern bereits im Hals schlug, musste ich nun doch
schmunzeln. „Mal sehen“, erwiderte ich und ging, um mich zu setzen.
Von der Bank aus hatte ich
einen guten Ausblick, sowohl auf die Gruppe als auch auf Mike und
– endlich! – Mischa. Und von der Sekunde an, in der ich ihn sah,
wurde die Gruppe und der gesamte Rest des Raumes belanglos.
Scheiße, er sah – scheiße!
Hätte er geplant, mir zu
zeigen, was ich idiotischerweise verpasste, hätte er es nicht besser machen
können. Sein Trainingsshirt klebte an ihm wie eine zweite Haut, sein Blick war
vollends konzentriert auf den älteren, kahlköpfigen Schrank von einem Mann vor
ihm gerichtet und seine Muskeln bewegten sich unter der verschwitzten Haut als
wollten sie die Pracht der Schöpfung im Alleingang feiern.
Mein Mund wurde innerhalb von
Sekunden trocken und meine Handflächen feucht. Und jetzt durfte ich ihn noch
zwanzig IQ-vernichtende Minuten lang aus der Ferne ansabbern, bevor ich ihn
möglichst kohärent davon überzeugen musste, mir zuzuhören. Bei etwas, von dem
ich keine Ahnung hatte, wie ich es formulieren sollte. Wunderbar.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen