Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Montag, 4. März 2013

Wieder und wieder 14


Meine Unschlüssigkeit. Seine Funkstille. Mikes Studio.


Drei Tage waren vergangen und mein Handy stumm geblieben. Ich war erleichtert – natürlich war ich das. Was sonst? Eben. Hätte er reagiert, wäre es nur peinlich geworden, für mich. Wegen vergessenen Wörtern und falsch platzierten Wörtern und falsch geschrieben Wörtern und … und wegen den Wörtern an sich. Genau.
Außerdem: Wahrscheinlich wusste er ja noch nicht mal, woher die SMS kam – klar, in seinem Leben gab es da sicher (hoffentlich!) nicht so viele Kandidaten, die sich generell für alles der letzten Zeit entschuldigen mussten, aber er kannte ja meine Nummer nicht. Und ich hatte meinen Namen nicht geschrieben. Bei einer solchen SMS von unbekanntem Absender würde ich garantiert denken, jemand hätte sich bei der Nummer vertan. Und da derjenige offensichtlich nicht ganz bei sich gewesen war, musste es auch nicht kommentiert werden. Genau.
Wenn er doch wusste, dass ich der unglückliche Absender war, sagte die ausgebliebene Reaktion auch genug.
Wieso sollte er auch antworten? Gerade, wenn er es wusste. Schließlich machte die Mini-Nachricht nichts wieder gut, war keine Entschädigung. War noch nicht einmal persönlich überreicht worden. Noch dazu namenlos. 
Aber … er reagierte eben nicht. Auch wenn ich darüber primär erleichtert war, kam die Enttäuschung doch auf einen gefährlich nahen zweiten Platz. Eine Reaktion, irgendeine Reaktion hätte schließlich auch eine Möglichkeit bedeutet, Kontakt aufzunehmen. Oder mir zumindest einen Anhaltspunkt gegeben, wie es ihm ging – denn die Frage ging mir seit Thomas’ Besuch und seiner Un-Antwort nicht mehr aus dem Kopf.

Leider war das nicht das einzige von Thomas’ Besuch, dass mir nicht mehr aus dem Kopf ging. ‚Bloße Statisten und Sprechrollen, die nur dazu da sind, damit die Straßen nicht so leer aussehen‘ – behandelte ich meine Mitmenschen, die wenigen, die mir nahe standen, wirklich so? Ich wollte gerne laut Nein schreien, aber … hatte Michael nicht etwas ähnliches angedeutet? Als er sagte, dass ich mich ihm gegenüber gleichgültig verhalten hatte? Hatte er sich auch nur wie eine Sprechrolle in Milo’s Life – directed, produced, written by and starring Yours Truly gefühlt?
Und wenn, was dann? Michael war verletzt gewesen, weil er sich ungeliebt gefühlt hatte, und hatte darauf mit seinen Spargeltarzanen geantwortet. Thomas war wütend gewesen, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet hatte, nachdem ich einfach so abgehauen war und … hatte mir vorgeworfen, mich nicht in andere hineinzuversetzen. Weil ich mich nicht gemeldet hatte, obwohl er jemand war, der sich schnell Sorgen machte. Aber das hatte ich doch wegen ihm getan, oder? Weil Thomas sein Freund war und ich nicht gewollt hätte, dass Klaus danach mit Michael rumhing.
Aber auch diesmal kam mir prompt der Gedanke, dass das nicht dasselbe war, weil Klaus und Michael nie befreundet gewesen waren. Und ihm folgte ein zweiter auf dem Fuße: Thomas war nicht wütend geworden, weil ich nicht mit ihm rumgehangen, sondern, weil ich jeglichen Kontakt verweigert hatte. Obwohl wir befreundet waren und obwohl er sich an dem Sonntag vor dem Auszug ebenfalls Sorgen gemacht hatte, weil ich die Nacht über verschwunden geblieben war. Seine Worte waren mehr als deutlich gewesen: „Eine SMS wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, oder?“ Und, mal ehrlich: Eine SMS mit Ja, ich lebe noch, danke der Nachfrage hätte ihn nicht im Geringsten gestört, auch wenn er von ihr erfahren hätte.
Und dennoch hatte ich alle Nachrichten und Anrufe von Thomas ignoriert. Nicht wegen ihm, nicht wegen Thomas, sondern … sondern, weil es für mich einfacher war, alles, was mit den letzten zwei Monaten zu tun hatte, zu verdrängen. Inklusive Thomas, der das nicht verdient hatte.
Ich ließ meinen Kopf nach hinten fallen, über den Rand der Luftmatratze, und starrte an die weiße Wand unter Klaus’ Schreibtisch. Den anderen, größeren, hatte Anita ins Wohnzimmer gestellt, damit er da weiterarbeiten konnte, aber der kleine hatte keinen Platz. Dass ich und meine Kisten hier das Zimmer belegten, war ja auch nur eine Übergangslösung. Und jetzt, wo ich Thomas keine Miete mehr überweisen musste, stand meiner Wohnungssuche nichts mehr im Weg.
Statisten und Sprechrollen.
Wieso hatte mir Thomas eigentlich die Handynummer gegeben? ‚Warum fragst du ihn nicht selbst?’ Hieß das … war das eine Aufforderung? Ich meine, natürlich war das eine, oder vielleicht eher eine Herausforderung, aber – eine ehrlich gemeinte? Wollte, erwartete er wirklich, dass ich mich bei ihm meldete? Aber Thomas hatte doch selbst gesagt, dass es besser sei, wenn ich ausziehen würde – also war er doch ebenfalls zu der Erkenntnis gekommen, dass ein klarer Schlussstrich am besten für alle Beteiligten war, oder? Ganz egal, wie sehr mir auffiel, dass nun eindeutig zu wenig Leberflecke in meinem Leben waren. Thomas hatte zugestimmt, am Ende.
‚Lass mich wissen, was dir sonst noch alles für Ausreden einfallen.’  
Äh, ja. Das hatte er auch gesagt.
Aber ich hatte mich gemeldet. Vielleicht nicht grammatikalisch oder orthografisch korrekt, aber gemeldet hatte ich mich. Und keine Reaktion bekommen. Was man als stummes ‚Scher dich zum Teufel‘ werten konnte, oder?
Ja. Sicher.
Natürlich konnte man das. Und das wiederum konnte ich als Ausrede benutzen, um die Zeit in der WG schnellst möglich zu vergessen und mein Leben weiterzuleben. Aber weil ich genau das gewollt hatte, hatte ich nicht auf Thomas’ Nachrichten reagiert und ihn damit verletzt. Was, wenn ich nun dasselbe tat? Meine, aus Feigheit geborenen, Wünsche auf andere projizierte, statt tatsächlich den Versuch zu unternehmen, mich in sie hineinzuversetzen? Und damit ihn schon wieder verletzte?
Aber nein, ich an seiner Stelle würde garantiert nichts mehr von mir hören wollen und deshalb auch fehlerhafte Nachrichten ignorieren. Mehr noch: würde sie ungelesen löschen. Ja, ich an seiner Stelle. Und … und er an seiner Stelle? Immerhin hatte er in den zwei Monaten selten so gehandelt, wie ich es getan hätte. Und manchmal so, dass es mir schwer fiel, ihn zu verstehen.
Also: Was würde er wollen? Was wollte er, höchstwahrscheinlich?
Ich drehte mich mit einem Ächzen auf die Seite und schloss die Augen. Es brachte nichts! Ich hatte keinen verdammten Schimmer, was Mischa wollte und was nicht! Woher auch? Ich war nicht er! 
Und daran würde sich auch nichts ändern, wenn ich einen weiteren Abend in diesem Zimmer auf meinem immer noch provisorischen Bett verbrachte!

Anita saß in der Küche und blätterte in einer Zeitschrift, während der Backofen vor sich hinratterte. Auf der Anrichte stand eine backfeste Form mit Hähnchenbrust und Gemüse und irgendeiner Sauce.
„Dauert noch mindestens eine Stunde“, sagte sie und sah zu mir auf.
„Ist okay“, erwiderte ich, „hab eh noch keinen Hunger.“
Sie seufzte, wartete aber, bis ich mit einem Glas Orangensaft ihr gegenüber am Tisch saß. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie, sobald mein Arsch den Stuhl berührte, loslegen würde, aber sie musterte mich bloß schweigend.
„Ihr wisst, dass ich euch gern hab, oder?“, fragte ich schließlich und gab so der stummen Aufforderung nach.
„Natürlich.“ Sie kniff ihre Augen zusammen. „Wieso?“
„Thomas meinte was von Sprechrollen und Statisten …“ Sie nickte. Er war laut genug gewesen, dass sie es auch in der Küche verstanden hatten. „Und Michael hat etwas Ähnliches …“
„Michael ist ein Aas“, unterbrach sie mich, „und bei Thomas hast du dich doch gemeldet, oder?“
Ich nickte. „Gestern.“
„Und er hat geantwortet.“
„Ja.“
„Also geht’s hier weder um Thomas, noch um Michael. Und um Klaus oder mich schon gar nicht.“
Ich zuckte mit den Schultern und sie seufzte noch einmal, diesmal schwerer.
„Er hat nicht reagiert.“
„Nein.“ Ich schloss kurz die Augen.
„Hast du’s noch mal versucht?“
„Natürlich nicht!“
Anita sah mich so neutral an, wie sie es noch nie getan hatte. Ich wusste, dass sie sich gerade sehr beherrschte und dass das daran lag, dass sie und Klaus sich immer noch nicht einig waren.
„Wenn du dich also entschieden hast, aufzugeben, wo liegt dann das Problem? Dann ist es doch egal, ob er denkt, nur ein Statist zu sein oder nicht.“
„Sprechrolle“, korrigierte ich sie, „und ich habe nicht aufgegeben! Und er ist auch keine Sprechrolle! Und …“ Ich brach ab.
Und er war eben immer noch so deutlich nicht da.
„Du hast nicht aufgeben, willst ihn aber nicht kontaktieren und auch nicht mit ihm zusammensein? Was genau hast du dann nicht aufgegeben?“
„Ich …“ Wusste es nicht. Ich wollte doch nur, dass er da war, verdammt! Am besten so, wie es an dem Samstag gewesen war, mit gemeinsamen Zeitverbringen und Kennenlernen und … ja, und.
Ihr Blick wurde ungeduldig und sie schüttelte nach einigen weiteren Sekunden, in denen ich nichts rausbrachte, barsch den Kopf. „Das bringt nichts; konzentrieren wir uns lieber aufs Hier und Jetzt. Ich wiederhole: Wo ist das Problem, jetzt in diesem Moment?“
„Ich weiß nicht, was er möchte.“
Ihre Augenbrauen hüpften nach oben. „Klaus zufolge eine Beziehung.“
„Ja, vorher“, erwiderte ich leicht genervt, ohne zu wissen, was mich genau nervte, „ich will aber wissen, was er jetzt will. Und damit meine ich nicht Beziehung oder nicht Beziehung, sondern was ich tun soll. Ihn in Ruhe lassen? Lässt er die SMS deswegen unkommentiert? Aber warum hat mir Thomas die scheiß Nummer dann gegeben? Oder mich noch mal entschuldigen? Aber dann hätte er doch irgendwas antworten können – und, ich meine, als ich mich an dem Sonntag vor dem Auszug entschuldigt habe, meinte er nur, das sollte es auch. Und ich an seiner Stelle würde Ruhe wollen und das Ganze so schnell wie möglich versuchen zu vergessen, aber ich habe das Gefühl, dass Thomas nicht nur von sich gesprochen hat, als er meinte, ich würde nicht mal versuchen, mich in andere hineinzuversetzen – und ich weiß nicht, was ich tun soll und er ist so verdammt nicht da, dass es an Sadismus grenzt!“ Ich stoppte, überrascht von der Lautstärke meiner eigenen Stimme. Fantastisch, nun schrie ich schon Anita an.
Sie schien mir das aber nicht übel zu nehmen, sondern fixierte mich mit einem nachdenklichen Blick aus den Wahnsinnsaugen. Dann griff sie an ihren Hinterkopf, zog den Pferdeschwanz enger, ohne mich aus den Augen zu lassen. Andere hätte jetzt auf den Lippen gekaut oder mit irgendetwas gespielt, dem Ohrring, einem Anhänger, irgendetwas, aber Anita sah mich einfach nur an, das Make-up wie immer perfekt, aber ausnahmsweise nicht in der Lage, die Müdigkeit darunter ganz zu verdecken.
„Was denkst du denn, das du tun solltest?“, fragte sie schließlich.
„Genau das weiß ich ja nicht!“, antwortete ich nun wirklich genervt. Hatte sie denn gar nicht zugehört?
„Das glaube ich dir nicht.“ Ihr Blick haftete weiterhin auf mir, machte mich leicht unwohl. „Ich denke, du weißt, was deiner Meinung nach das Richtige ist, willst es aber nicht tun.“
„Woher soll ich es denn wissen? Ich bin nicht er, ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf geht.“
„Nein, du bist du. Deshalb habe ich auch gesagt ‚was deiner Meinung nach das Richtige ist‘.“
„Hab ich doch gesagt: Ihn in Ruhe lassen.“
„Ja? Das tust du schon seit fast drei Wochen und es bringt dich um den Schlaf. Hört sich nicht nach dem Richtigen an.“
„Ich dachte, wenigstens du würdest dich darüber freuen, dass es vorbei ist!“ Endlich schaffte ich es, den Blick von ihr abzuwenden und trank gierig einen Schluck O-Saft.
„Es ist aber offensichtlich nicht vorbei.“ Die Worte klangen, als müsste Anita jede einzelne Silbe durch ihre Lippen pressen. „Nicht von deiner Seite aus.“
Mein Magen verknotete sich schmerzhaft und ich hielt den Blick stur auf mein Glas gesenkt.
„Mi, ich will wirklich nicht, dass du wieder auf so einen verdammten hirnlosen Anabolikahuldiger hineinfällst, aber …“ Sie stockte, schloss die Zeitschrift, knurrte frustriert. „… Aber das jetzt, das ist doch auch nicht besser! Dir geht’s beschissen und ich …“ Sie brach ab. Als ich aufsah, traf mich ihr Blick erneut heftig, aber ganz anders als zuvor. Sie sah wütend aus, frustriert, ängstlich und … hilflos. Mit Hilflosigkeit konnte sie nicht umgehen, das wusste ich; meistens tat sie so, als existiere das in ihrer Welt nicht, als gäbe es immer etwas, das man tun konnte. Dass sie sie nun zeigte, schockierte mich.
„Klaus …“ Sie brach ab, seufzte. „Klaus meint, Mischa habe sich bisher korrekt verhalten. Und … also, soweit du erzählt hast, ist das … nicht widerlegbar.“ Nie im Leben hätte sie gesagt, dass es wohl der Wahrheit entsprach. Ich musste mir trotz allem ein Schmunzeln verkneifen. Anita konnte genauso wenig aus ihrer Haut raus wie ich.
„In dem Fall wäre es angebracht, dass du dich auch korrekt verhältst.“
„Und was? Noch mal persönlich mit ihm spreche und mich richtig entschuldige?“
Sie hielt das Lächeln nicht zurück. „Wenn denkst, dass du das tun solltest, ja.“
„Ta, ich kann das nicht!“, rief ich lauter als geplant und schüttelte heftig den Kopf.
„Das stimmt nicht“, erwiderte sie ruhig, „du kannst sehr wohl. Du kannst gehen, du kannst sprechen, als kannst du auch zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Du hast einfach Angst. Das ist was anderes.“
„Das weiß ich selbst“, zischte ich, „Das meine ich ja: Ich krieg das nicht hin! Vorher falle ich in Ohnmacht!“
„Das bezweifle ich.“
Wie konnte sie jetzt grinsen?! Mir war es ernst damit!
„Angst kann man überwinden, Milo. Wenn man sich ihr stellt.“
„Toll, das hilft mir jetzt weiter: Glückskeksweisheiten!“ Ich grummelte unwillig und beschäftigte mich wieder mit meinem Saft. Der verlangte wenigstens nichts von mir, noch nicht einmal, dass ich ihn austrank, bevor er warm und ungenießbar wurde.
„Von alleine wird nichts besser werden“, sagte sie nach einer Weile und nahm die Zeitschrift wieder zur Hand.
Wie konnte sie jetzt lesen? Wir waren mitten im Gespräch und ich war noch keinen Schritt weiter!
Zu ihm zu gehen lag wirklich nicht im Bereich des Möglichen. Immerhin – die letzten Worte, die er zu mir gesagt hatte, waren: Für jemanden, der solche Angst davor hat, verletzt zu werden, fällt es dir erstaunlich leicht, andere zu verletzen.
Und jetzt – jetzt war das zwei Wochen – nein, fast drei – her und ich hatte kein einziges Wort mehr mit ihm gewechselt. Außer dieser verschissen blöden, infantilen SMS, die es mir noch viel unmöglicher machte, ihm unter die Augen zu treten!
Er hatte so verletzt ausgesehen. So …
Scheiße, hätte ich ihm wirklich nichts gesagt? Wegen dem Umzug? Hätte ich die Möglichkeit gehabt, wäre ich der Konfrontation tatsächlich ausgewichen?
Ich wusste nicht, wie oft ich mir diese Frage seither gestellt hatte, aber je länger ich darüber nachdachte, desto schlimmer fand ich die Vorstellung. Das Letzte, was er Samstag zu mir gesagt hatte, war, dass er nicht mein Freund sein konnte, weil er in mich verliebt war. Und keine achtundvierzig Stunden später wäre ich einfach weg gewesen. Ausgezogen.
Wer tat denn so was?
Als mir zum ersten Mal aufgefallen war, dass wir zwischen „Ich bin in dich verliebt; ich kann nicht dein Freund sein“ und „Es stimmt also. Du haust ab!“ kein einziges Wort gewechselt hatten, und dass es vielleicht beinahe keinen Wortwechsel mehr gegeben hätte, war mir übel geworden. Sicher, ich war kommunikationstechnisch kein Genie und hatte auch nie behauptet, ein besonders mutiges Exemplar meiner Spezies zu sein, aber alleine, dass ich die Möglichkeit, mich derart feige zu verhalten, nicht ausschließen konnte, sagte einen ganzen Haufen Dinge über mich, die ich lieber nicht wissen wollte. 
Er hatte Recht: Es fiel mir offenbar viel zu leicht, anderen weh zu tun. Ihm weh zu tun. Um mich zu schützen? Sicher. Vielleicht. Wahrscheinlich, irgendwie. Aber es war doch mehr als bezeichnend, dass ich, obwohl ich dachte, in ihn verliebt zu sein, dennoch ohne Zögern mein Wohl über seines stellte.
So eine Bullenkacke! Wenn es nach mir ginge, hätte ich mein ganzes Leben verbringen können, ohne solche Gedanken zu haben. Denn vor sich selbst konnte man nicht weglaufen. Wenn ich Seiten an mir sah, die ich zum Kotzen fand, dann konnte ich mich nicht einfach wegdrehen und jemand anderen suchen, mit dem ich meine Zeit verbringen konnte. Selbstreflexion war beschissen. Keine gute Angewohnheit. Bisher war ich auch größtenteils ohne ausgekommen.
Und bisher hatte ich niemanden wie ihn gehabt.
Wäre es wohl besser gelaufen, wenn ich ihn vor Michael getroffen hätte? Ohne das Bild vom Spargeltarzan mit erhobenem Arsch im Kopf?
Vielleicht. Anfangs. Vielleicht hätte ich mich auf ihn eingelassen – nein, sicher hätte ich das. Und hätte mich dabei so gefühlt, wie ich mich bei Michael gefühlt hatte. Das erste Mal nicht nur gewollt, sondern begehrt.
Und dann?
… Hätte ich mit erschreckender Wahrscheinlichkeit dieselben Fehler gemacht, die ich bei Michael – und bei ihm ja auch – gemacht hatte. Er hätte vielleicht nicht so reagiert wie Michael, aber ewig hätte er sich auch nicht verletzen lassen.
Eigentlich war es müßig, über Wenns und Vielleichts nachzudenken, aber etwas Besseres hatte ich ja auch nicht zu tun, solange ich hier rumsaß. 
Am liebsten wollte ich nur noch weg, wollte die Tür schließen und diese Episode als beendet, die Lektion als gelernt betrachten und nie wieder daran denken müssen, dass ich vielleicht ohne ein Wort aus der Wohnung verschwunden wäre. Und das, obwohl er mir nun wirklich nichts getan hatte. Und vor allem, weil ich mir irgendwann in den letzten Wochen in einer durchwachten Nacht zwischen der Geisterstunde und dem Rumpeln der Müllmänner eingestanden hatte, dass ich Michael die Schuld auch schlecht zuschieben konnte. Michael hatte mich betrogen und verletzt, aber Michael hatte ihn nicht verletzt. Das hatte ich ganz alleine hingekriegt.
Ja, ich wollte abschließen und davonrennen und am liebsten nie wieder daran denken müssen, dass ich ausgerechnet bei jemandem wie ihm so ziemlich alles falsch gemacht hatte, aber … aber. Ich war fortgerannt und hatte versucht, es zu vergessen, und das hatte nicht nur nicht funktioniert, sondern auch Thomas wütend gemacht und – noch schlimmer – dazu geführt, dass Anita und Klaus sich stritten.
Ich kreuzte meine Arme auf dem Tisch und ließ meinen Kopf darauf fallen. So ging das nicht weiter. Aber …
„Ich kann unmöglich bei ihm auftauchen“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu Anita, „Jetzt, nach drei Wochen! Und – und – was sollte ich denn überhaupt sagen?“
„Das, was dein Bauch sagen will.“ Ich riss meinen Kopf hoch und sah Klaus mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. „Das hab ich dir doch schon gesagt.“
„Wie lange stehst du schon da?“
„Lenk nicht ab.“ Er kam in die Küche hinein und machte sich eine frische Tasse Kaffee. „Nach drei Wochen ist übrigens immer noch besser als nach drei Jahren.“
Da hatte er Recht. Und ich musste wirklich mit ihm reden, sonst würde ich es bereuen. Wenn ich schon das Arschloch war, das vielleicht ohne ein Wort verschwunden wäre, dann wollte ich wenigstens ebenfalls das Arschloch sein, dass sich dafür anständig entschuldigte. Er hatte definitiv eine richtige Entschuldigung verdient. Und die Chance, mir zu sagen, wie egal ihm das alles mittlerweile war. Oder mich niederzumachen. Oder mir, mit Verspätung, eine reinzuhauen, auch wenn ich wusste, dass er das nicht tun würde. Dito fürs Niedermachen.
Aber woher zum Geier sollte ich den Mumm nehmen, in die Wohnung zurückzugehen? Die Vorstellung, zu klingeln, von Thomas oder dem Neuen die Tür geöffnet und dann gesagt zu bekommen, dass er gerade nicht da war – oder schlimmer: dass er da war, und dann mit ihm in der Küche oder dem Wohnzimmer zu stehen, wo … nein.
„Dann triff ihn eben auf neutralem Boden. Einem Park, einem Café oder so.“
Ich sah überrascht zu Anita. Hatte ich das eben ausgesprochen?
„Und wie bringe ich ihn dahin?“
„Ruf ihn an. Wenn das nicht klappt, lauerst du ihm halt irgendwo auf. Vor der Uni oder dem Fitnessstudio oder wo auch immer.“
„Boxstudio“, erwiderte ich automatisch, „er trainiert im Boxstudio.“
„Dann gehst du eben dahin.“ Ihr Ton war brüsk und es war klar, dass ihr lieber gewesen wäre, wenn ich die ganze Sache einfach hätte vergessen können. Aber das konnte ich eben nicht.
„Und wenn er nicht reden will?“
„Dann bleibst du hartnäckig“, erwiderte Klaus und nahm seinen Kaffee, „war er ja auch lang genug.“
Ich ächzte gequält. Hartnäckigkeit war ebenso wenig eine meiner Stärken wie Mut oder Extraversion.
„Ich …“
„Milo!“, unterbrach mich Anita scharf, „Du hast dich doch längst entschieden, also beweg gefälligst deinen Arsch!“
Ich sah sie überrascht und leicht überfordert an, doch dann machte sie eine ungeduldige, auffordernde Bewegung mit der Hand und ich stand schneller von meinem Stuhl auf, als ich „Okay“ murmeln konnte.

***

Er war nicht ans Telefon gegangen. Dreimal hatte ich es versucht, dreimal hatte es sechsmal geklingelt und dann auf die Mailbox umgeschaltet. Und wieder fühlte ich mich gleichzeitig enttäuscht und erleichtert. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich sagen sollte, und bezweifelte stark, dass ich übers Telefon auch nur ein Wort rausbekommen hätte.
Da es Freitagabend gegen halb sieben gewesen und er oft genug gegen acht, halb neun vom Training zurückgekommen war, hatte Klaus kurzerhand nach Mike’s Boxstudio gegoogelt und tatsächlich eine Adresse gefunden. Scheiß digitales Zeitalter, das mir nicht einmal einen Vorbereitungstag ließ.
Obwohl ich ja theoretisch drei Wochen gehabt hatte, um mich vorzubereiten. Aber was nutzte das, wenn ich es nicht getan hatte, weil – nun, ich hatte Wichtigeres zu tun gehabt, okay? Mich selbst zu bemitleiden, zum Beispiel!
Jedenfalls war es jetzt kurz vor sieben und ich stand in der richtigen Straße vor der richtigen Hausnummer und starrte auf das schwarzweiße Schild. Ich wollte da nicht rein. Ich konnte doch nicht einfach reinspazieren und –
Aber wenn ich jetzt den Schwanz einzog, würde Anita ihn mir abschneiden. Also musste ich, nur schon, um den Hausfrieden zu wahren – wiederherzustellen – eben da rein. Konnte nicht so schwer sein, waren ja nur ein paar Schritte in den Hof und dann rechts, wie das Schild mich wissen ließ.
Am liebsten wäre ich gerannt – weit weg von hier und gleichzeitig ins Studio hinein. Ich wollte ihn sehen, aber ich konnte darauf verzichten, den Ausdruck zu sehen, den er bei meinem Anblick bekommen würde. Dennoch setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieß schließlich sogar die Tür auf.
Das Boxstudio war anders, als ich erwartet hatte. In meinem Kopf erschienen bei dem Begriff immer Bilder aus Filmen, mit hartem Betonboden, alten Sandsäcken und spartanisch-abgenutzer Einrichtung. Oh ja, und einer Menge schwitzender Muskelberge mit Verletzungen in verschiedenen Stadien. Ich aber fand mich nun in einem hellen Gang wieder, der nach wenigen Schritten in einen großen Raum überging. Weiße Wände, gerahmte Fotos von Kämpfen und Siegern, heller Parkettboden, moderne, saubere Geräte. Im rechten Teil hingen mehrere blaue Sandsäcke in einigem Abstand nebeneinander und eine Gruppe aus drei Männern und zwei Frauen trainierte mit einer äußerst fitten Trainerin. Frauen. Huh. Es roch noch nicht einmal nach Schweiß.
„Kann ich dir helfen?“
Ich drehte mich um und sah einen jungen Mann auf mich zukommen. Seine dunklen Haare waren feucht und er trug ein Frotteetuch um den Hals. Er war nur minimal größer als ich, aber dafür breiter. Kräftiger.
„Bist du neu? Der Anfängerkurs fängt erst in einer Stunde an, aber du kannst gern warten.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht angemeldet …“
„Ein Schnuppertraining dann? Wir hätten nachher noch einen Platz frei und die Gruppe ist wirklich angenehm“, sagte er freundlich und kam vor mir zu stehen, „Oder erst mal zuschauen? Ich bin übrigens Ecki, einer der Trainer.“
Ich nahm seine Hand, leicht überfordert. „Milo.“
„Freut mich, Milo. Also, wie können wir dir helfen?“
„Ich …“
Komm schon, das konnte nicht so schwer sein! Das hier war ein Fremder und ich musste nur sagen, weswegen ich hier war. Das würde ich hinkriegen!
„… wollte eigentlich … also …“ Das fing grandios an. Ich holte tief Luft. „Ist Mischa da?“
Er hob überrascht die Augenbrauen, lächelte dann aber. „Klar, der wohnt ja momentan fast hier.“ Er drehte sich um und zeigte in den hinteren Teil des Raumes, hinter den Ring. „Er trainiert gerade mit Mike. Soll ich ihn holen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wie lange dauert das Training noch?“
„Wahrscheinlich noch so fünfzehn, zwanzig Minuten. Willste warten?“
„Wenn das okay ist.“
„Klar. Setz dich am besten da drüben auf die Bank, dann kannst du zuschauen.“ Er grinste frech aber freundlich. „Vielleicht kommst du ja dabei auf den Geschmack? Falls ja, ich bin an der Theke und nehme gerne neue Anmeldungen entgegen.“
Obwohl mir das Herz nicht bis zum Hals, sondern bereits im Hals schlug, musste ich nun doch schmunzeln. „Mal sehen“, erwiderte ich und ging, um mich zu setzen.
Von der Bank aus hatte ich einen guten Ausblick, sowohl auf die Gruppe als auch auf Mike und – endlich! – Mischa. Und von der Sekunde an, in der ich ihn sah, wurde die Gruppe und der gesamte Rest des Raumes belanglos.
Scheiße, er sah – scheiße!
Hätte er geplant, mir zu zeigen, was ich idiotischerweise verpasste, hätte er es nicht besser machen können. Sein Trainingsshirt klebte an ihm wie eine zweite Haut, sein Blick war vollends konzentriert auf den älteren, kahlköpfigen Schrank von einem Mann vor ihm gerichtet und seine Muskeln bewegten sich unter der verschwitzten Haut als wollten sie die Pracht der Schöpfung im Alleingang feiern.
Mein Mund wurde innerhalb von Sekunden trocken und meine Handflächen feucht. Und jetzt durfte ich ihn noch zwanzig IQ-vernichtende Minuten lang aus der Ferne ansabbern, bevor ich ihn möglichst kohärent davon überzeugen musste, mir zuzuhören. Bei etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, wie ich es formulieren sollte. Wunderbar.


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