Er lallte. Wir tanzten. Ich ging.
Das Bifröst war groß, laut und
möchtegern-schick, was bei dem Einrichtungsthema – nordische
Mythologie, beziehungsweise Kitsch-Wikinger – echt seltsam kam. Die Spiegeldecke
zum Beispiel gehörte zum ‚versucht schick‘, eine halb nackte Statue Thors mit
deutlich erkennbarem Ständer unter dem Lendenschurz dagegen … nun ja. Eher
nicht. Das ‚Highlight‘ war aber wohl der VIP-Bereich, der als Regenbogenbrücke
einmal quer über den Hauptraum führte und dem Club den Namen gegeben hatte.
Ich gab meine Jacke und, seufzend, auch meinen
Pullover an der Garderobe ab, als der Typ dahinter einen
skeptisch-auffordernden Blick schenkte. Ja, ich wusste, dass ich nicht
aufgebretzelt genug war, aber nachdem ich satte dreißig Euro Eintritt bezahlt
hatte, sollten die gefälligst ihre Klappe halten. Dreißig Euro! Und das nach
Mitternacht! Was für beschissene Clubs besucht Mischa denn?!
Den Pulli abzugeben, den mir meine Mutter heute
morgen auf den Leib gedrängt hatte, war aber eine gute Idee, denn kaum öffnete
ich die Tür, umschlang mich eine Hitzewelle, die meine Fluchtinstinkte innert
Millisekunden auf Hochtouren brachte. Ich wollte da nicht hinein. Lieber
lauerte ich ihm erneut im Boxstudio auf – scheiße, lieber nahm ich Boxstunden,
als das hier! Und woher wollte ich wissen, ob Mischa nicht schon längst einen
Typen ausgesucht und mit nach Hause genommen hatte?
Aber jetzt hatte ich eh schon bezahlt. Eine Runde
durch den Club … die Masse an Leuten, von denen die Hälfte nicht mehr
trug als der Plastik-Thor und die alle bereits seit Stunden betrunken
waren … begleitet von schrecklicher Musik in tinitusverursachender
Lautstärke … ja, das lag drin. Sicher lag das drin.
Wieso taten sich die Leute das freiwillig an? Und
bezahlten auch noch Unmengen dafür?
Ich öffnete die obersten Knöpfe meines Hemdes in
dem Versuch, die Hitze erträglicher zu machen, und stakste nach vorne. Ich
hatte Durst und war nervös und wollte etwas trinken und dazu eine Ausrede,
nicht gleich jetzt schon nach Mischa Ausschau halten zu müssen. Was ich machen
sollte, wenn ich ihn sah – ob mit oder ohne Kerl – war mir
nämlich mal wieder nicht ganz klar.
Hey du, Anita und Klaus waren der Meinung, deine
Verabschiedung sei eine Einladung gewesen, also bin ich hergedackelt – ähnlich
dämlich hörten sich alle Erklärungen an, die mir auf dem Weg hierhin
eingefallen waren.
Ich versuchte, so wenig Körperkontakt mit den
anderen Clubbesuchern zu machen wie möglich, aber das gelang mir nur mäßig. Bei
Mischa, im Boxstudio, hatte der Schweiß sexy gewirkt. Jetzt, hier, an Fremden,
wirkte er abstoßend. Richtig ekelerregend.
An die Bar gelang ich relativ schnell und an den
nächsten Barkeeper noch schneller. Vielleicht lag es daran, dass die meisten
sich bereits vor zwölf zu zwei drittel ins Koma gesoffen hatten, vielleicht
auch an der guten Organisation, aber jedenfalls bekam ich in null Koma nichts
eine eiskalte Cola vorgesetzt – zusammen mit einem nicht bestellten,
spöttischen Blick. Arschloch. Er mich auch.
Ich drehte mich um, lehnte gegen die Bar, da es
momentan nicht so aussah, als würde ich damit irgendwem im Weg stehen, und ließ
meinen Blick suchend über die Tanzfläche gleiten. Erneut fiel mir auf, wie viel
nackte Haut gezeigt wurde. Musste das denn sein? Obwohl die überraschende
Mehrheit der Freizügigen genug Grund hatten, auf das, was sie so bereitwillig
präsentierten, stolz zu sein, fand ich es dennoch zuviel des Guten. Das war
einfach nicht meine Welt.
Und dann entdeckte ich Mischa und war fast ein
wenig enttäuscht, dass er nicht zu den Halbnackten gehörte.
Das … ‚Lied‘ steuerte einen wummernden Höhepunkt an und das
Stroboskop verwandelte die fließenden Tanzbewegungen zu abgehakten,
aufblitzenden Bilder in der Dunkelheit.
Mischa gab ein herrliches Motiv ab.
Als die Musik sich wieder beruhigte, das
Stroboskop der Diskokugel wich und mein Glas bereits halbleer war, traf sich
plötzlich unser Blick. Ich hätte schwören können, dass mein Herz die nächsten
zehn bis zwanzig Schläge aussetzte, aber da ich regungslos stehenblieb statt
mit ernsthaften Herzrhythmusstörungen umzufallen, konnte das schlecht sein.
Und Mischa grinste. Offen, betrunken-befreit, zufrieden.
Anita und Klaus hatten wohl doch Recht gehabt.
Er hielt meinen Blick, während er weitertanzte,
sich regelrecht in die Musik zu schmiegen schien. Und wieder, wie im Boxstudio,
konnte ich keinen Muskel bewegen – zumindest keinen, den ich weder
zum Atmen noch zum Blinzeln brauchte.
So was war doch einfach unfair! Und wieso tanzte
er so gut? Große, muskelbepackte Kerle waren doch eigentlich dafür berühmt,
eher am Rand zu stehen und gut auszusehen. Aber das war eben Mischa und
Mischa – nun, bei Mischa sah es verdammt geil aus. Verlockend. Ein
Wunder, dass er nicht schon zehn …
Aus dem Nichts tauchte ein blonder Kerl auf,
vielleicht ein wenig größer als ich, und fing an, mit Mischa zu tanzen. Er
‚tanzte‘ ihn nicht ‚an‘, nein, er passte sich automatisch und ohne Zögern an
Mischas Bewegungen an.
Oy.
Ich stand nicht auf Déjà-vus. Schon gar nicht solche,
auch wenn der Spargeltarzan im Club damals dunkelhaarig und der jetzt kein
Spargeltarzan war.
Mischa ging ebenso
automatisch – beängstigend automatisch – auf den Blonden
ein, allerdings ohne unseren Blickkontakt zu unterbrechen. Und je stärker ich
meine Augenbrauen zusammenzog, die Lippen aufeinanderpresste, desto zufriedener
sah er aus, bis er schließlich mit einem herausfordernden Grinsen die Hände auf
die Hüften des Typs legte.
Okay, das war genug! Zuschauen würde ich nicht,
das tat ich mir nicht an. Ich leerte mein Glas, stellte es zurück auf die Theke
und ging – geradeaus auf die beiden zu. Ich hatte dreißig Euro
– plus drei fünfzig für die Cola – bezahlt, dafür wollte ich
wenigstens eine klare Abfuhr. Schön, wenn er zufrieden war, dass ich wirklich
dumm genug gewesen war, um herzukommen. Schön, wenn es ihm gut tat, mich wütend
zu sehen. Schön, wenn er jemanden gefunden hatte, der sich ihm mit
geschlossenen Augen anpassen konnte. Aber noch einmal würde ich mir nicht
wortlos einen Kerl anlachen um mich abzulenken und dann am Ende als schwarzer
Peter dastehen.
Ich wich einem Typen aus, der sich beim Tanzen
einmal über die gesamte Tanzfläche bewegte und griff nach Mischas Handgelenk,
sobald es in Reichweite kam. Ohne groß auf ihn oder den Blonden zu achten,
drehte ich mich wieder um und wollte ihn mitziehen, aber er stemmte sich nach
nur drei Schritten dagegen.
Scheiße. Nicht hier. Ich wollte
wenigstens – keine Ahnung, wenigstens noch einmal kurz mit ihm reden,
draußen.
Mit einem Ruck, der kurz in meiner Schulter
schmerzte, zog er mich zurück, drehte m…
Hirntod.
Mischa. Mund, Hände, Zunge. Er zog mich an
sich, schlang mitten auf der Tanzfläche die Arme um mich und ich, ich blieb
einfach nur stehen. Mein Mund hatte sich im selben Moment geöffnet, als Mischas
Lippen ihn berührt hatten. Der Kuss war stürmisch und betrunken und schmeckte
auch noch nach Alkohol – Tequila, igitt – aber es war Mischa
und auch wenn ich irgendwo wusste, auch wenn ein Teil von mir schrie, dass ich
ihn wegschieben musste, funktionierte es einfach nicht.
Als seine Hände auf meinen Hintern wanderten, fiel
mir auf, dass ich mich längst an seinen Rücken krallte, und als er sich von
meinen Lippen löste und am Kiefer entlang zu meinem linken Ohr küsste, wurde
mir klar, dass ich den Kuss erwidert hatte und meine Zunge sich nun ein wenig
alleingelassen fühlte.
„Du biss eifersstisch!“ Er hörte sich so
selbstzufrieden an, wie es nur Betrunkene konnten.
No shit, Sherlock!
Eigentlich wollte ich ihn dafür nun wirklich wegstoßen
und … und keine Ahnung was. Was hatte ich noch mal gewollt? Ihn davon
abhalten, sich irgend einen fremden Kerl zu schnappen, flachzulegen und es dann
morgen mitsamt dem Kater zu bereuen? Mission accomplished, würde ich
sagen, denn so wie sich seine Finger in meinen Arsch gruben, hatte er wohl
nicht vor, den so schnell loszulassen.
„Ja“, erwiderte ich erregt – in allen
drei Bedeutungen: angesäuert, aufgewühlt und aufgegeilt.
Letzteres – nein, die letzten zwei Dinge waren unausweichlich,
wenn er so verdammt nah war und meinen Arsch mittlerweile nicht nur anpackte,
sondern knetete. Scheiße, wo war seine verdammte Selbstbeherrschung hin?!
„Flix’s Janns Freund“, lallte er in mein Ohr und
biss mir gleich darauf ins Ohrläppchen. Ein Blitz zuckte durch meinen Körper
und ich legte den Kopf zur Seite, damit er besser rankam. Das sollte echt nicht
so antörnend sein – er war sturzbesoffen, verdammt noch mal!
„Jann tanßt nisch.“
Plötzlich spürte ich eine Wand im
Rücken – wie zur Hölle?! Ich hatte mich doch gar nicht bewegt und wir
waren auch nicht von der Tanzfläche runter …
Mit einem Blick zur Seite sah ich, dass wenigstens
das zweite davon stimmte. Mischa drängte mich gegen einen der Pfeiler der
‚Regenbogenbrücke‘ in der Mitte des Raumes. Seine Hände wanderten nach oben,
von den Hüften zu meinen Seiten, nach vorne zum Bauch, dann zum obersten
geschlossenen Knopf.
„Du wolltest doch Abstand!“, rief ich über die
Musik hinweg in einem schwachen Versuch, Vernunft sprechen zu lassen.
„Morgn wieda.“
Worte wie Eiswasser. Ich wusste nicht, was ich
erwartet hatte, aber … nicht das. Ich hatte noch nicht einmal
erwartet, dass er mich küssen, schon gar nicht so küssen würde
– oder den Knopf meines Hemdes mitten im Club öffnen,
verdammt! – aber diese Worte und, scheiße, vor allem ihre implizite
Bedeutung hatte ich weder erwartet noch hören wollen. Nicht aus seinem Mund.
Niemals nie.
Hatte ich vor wenigen Wochen noch wirklich
gedacht, dass es einfacher wäre, wenn er genau so denken würde? Eine Nacht lang
zügellos sein und danach wieder zur Tagesordnung übergehen? Dumm war gar kein
Ausdruck.
Nun schob ich ihn wirklich von mir, was er
deutlich irritiert geschehen ließ.
„Du bist betrunken!“
Er starrte mich an, dann grinste er. „Unddu
nisch!“
Mischa strahlte mich an, als hätte er die Antwort
auf die Riemannsche Hypothese gefunden, legte eine Hand in meinen Rücken und
führte mich zielsicher durch die tanzenden Leiber zur Bar. Dort angekommen
stellte er sich hinter mich, schlang einen Arm um meinen Bauch und schmiegte
sein Gesicht an mein Haar. Als seine Finger unter mein Hemd schlüpften, lief
mir ein viel zu angenehmer Schauer den Rücken hinunter. Wa–wann hatte er mir
das Hemd aus der Hose gezogen?
Bevor ich reagieren konnte, hielt er die andere
Hand nach oben und signalisierte dem Barkeeper, einem anderen als ich vorhin
hatte, zwei. Zwei was? Aber der Typ schien Mischa wortlos zu verstehen und
gleich darauf standen zwei Kurze vor uns und Mischa schob einen Schein über die
Theke, während ich noch angeekelt auf die Gläser sah.
Oh nein, das musste nun echt nicht sein. Kein
Tequila, schon gar nicht pur und auf ex. Da halfen auch Zimt und Orangenscheibe
nicht, die nun mit dem Wechselgeld zusammen geliefert wurden.
Mischa schob mir eines der Dinger hin und hielt
die Hand vor meinen Mund. Ich tat ihm – haha, klar, nur für ihn,
nicht, weil ich das sowieso wollte, an noch ganz anderen
Stellen – den Gefallen und leckte über die Stelle zwischen Daumen und
Zeigefinger. Dann ließ er meinen Bauch kurz los, streute sich Zimt darauf und
griff nach einem Stück Orange. Seine Finger fanden wieder zurück auf meinen
Bauch und er hielt mir den Zimt auffordernd unter die Nase.
Konnte ich ihn nicht einfach so ablecken, ohne
Tequila? Über den Zimt ließ sich ja verhandeln.
So ganz war mir nicht klar, warum ich nach kurzem
Zögern die Augen schloss, den Zimt ableckte, den Kurzen exte und mich dann mit
der Orange füttern ließ, aber ich tat es. Vielleicht lag es an einer
einzelgängerischen Variante von
Gruppenzwang – Mischazwang? – vielleicht auch einfach
daran, dass er mir noch nie einen Drink ausgegeben hatte.
Pfui Teufel, das – eklig!
Ich versuchte verzweifelt, den Geschmack der
Orange so gut wie möglich in meinem Mund zu verteilen und den
Alkoholnachgeschmack damit zu vertreiben. Für Tequila war ich eindeutig
nicht betrunken genug. Ich fühlte Mischa an meinem Rücken lachen, ignorierte es
aber. Morgen früh würde es umgekehrt sein.
Auf seine stumme Aufforderung hin streute ich
neuen Zimt auf seine Hand, doch als er nach dem zweiten Glas greifen wollte,
hielt ich ihn fest und drehte mich halb zu ihm um.
„Du hattest genug!“
Das brachte mir einen Blick, der deutlicher als
jede Worte „Ach, und seit wann entscheidest das du?“ fragte.
„Dir wird’s morgen so schon beschissen gehen!“,
fügte ich hinzu und festigte meinen Griff.
„‘Sdoch egal“, brummte er, machte aber keine
Anstalten, das Glas zu nehmen.
„Mir nicht.“
Er musterte mich mit betrunkener Konzentration,
bevor er … knurrte. Auweia?
„Kannsu dischma entschein?!“
Hatte ich doch schon. Aber er wollte ja nicht
mehr.
Und auch wenn ich in Blickduellen regelmäßig den
Kürzeren zog, gab ich diesmal nicht nach. Ich hatte keine Ahnung, wie viel er
schon gehabt hatte, aber seiner Aussprache nach musste es mehr als genug sein.
Schließlich drückte er mir einen harten Kuss auf
und zog die Hand zurück. „Dann trinkin du. ‘Schhab bezahlt.“
Urgs. Muss ich?
Aber wieder ließ ich mich von ihm umdrehen, verzog
das Gesicht diesmal bereits beim Ablecken des Zimts und brachte es hinter mich.
Als sich das Gesöff in meinen Magen brannte, wurde mir kurz leicht schwindlig.
Wann hatte ich zuletzt was gegessen? Beim
gemeinsamen Frühstück mit meinen Eltern und Rosa … dann das Sandwich
von Mama im Zug … ein paar Nüsse. Das war’s. Mir schwante Übles, aber
Mischa ließ mir keine Zeit um groß darüber nachzudenken, denn er führte mich
schnurstracks wieder auf die Tanzfläche.
„Wolltisch schon so lange“, sagte er betörend nah
an meinem Ohr, zog mich an sich und begann, sich mit mir im Takt der Musik zu
bewegen. Nach Außen hin sah es wahrscheinlich nicht besonders aus – er
sternhagelvoll und ich seit Geburt rhythmusgestört – aber von Innen
fühlte es sich wunderbar an. Trotz der scheiß Musik, trotz der Besoffenen um
uns herum, trotz der Hitze und vor allem trotz „Morgen wieder“, das ich
erfolgreich immer weiter in den Hintergrund drängte. Vielleicht hatte die
Doppelportion Tequila doch etwas Gutes.
***
„Na’hause … nischmea wa’ten …“
Die Worte kamen nur undeutlich bei mir an, erstens
wegen seinem Alkoholpegel, zweitens wegen der lauten Musik und drittens wegen
mir, denn ich war gänzlich in meiner eigenen Welt abgetaucht, in der es nur
Mischa und mich und ganz leise im Hintergrund diesen bescheuerten Technobeat
gab. Ich hatte weder eine Ahnung, wie lange wir jetzt schon getanzt hatten,
noch, ob er überhaupt noch wusste, mit wem er tanzte. Respektive, wen er hier
auf den Ausgang zuschob. Oder zog ich ihn? Scheißegal.
Erst, als wir in den kühleren Vorraum kamen, die
Tür zum Club hinter uns zufiel und die Musik auf ein beinahe leises Volumen
dämpfte, blieb ich stehen.
Er war doch mit seinen Freunden hier, oder? Diesem
Jan und … mindestens noch dessen Freund, dem blonden, mit dem Mischa
so vertraut getanzt hatte. Wollte er sich nicht verabschieden?
„Schip?“, fragte er und ich gab ihm den Chip mit
der Nummer meiner Jacke, ohne es wirklich zu registrieren.
Ich sah mich um, auf die schwarz gestrichenen
Wände, den dreckigen Boden, mein offenes Hemd. Was zum …? Kein Wunder war
mir kalt.
Ernüchtert, obwohl ich nicht wirklich betrunken
gewesen war, knöpfte ich es rasch wieder zu. Nein, betrunken nicht, nur
angetrunken. Und schlichtweg trunken. Von Mischa, von seinen Küssen,
seinen Händen.
Aber Bescheid geben sollte er ihnen wirklich,
oder? Hatte er bei Thomas ja auch gemacht, als wir zusammen weggewesen waren.
Zur Sicherheit, damit sie sich keine Sorgen machten. Obwohl sie wahrscheinlich
jenseits aller Sorgen knülle waren.
Mischa kam zu mir und hielt mir die Jacke hin, in
deren Ärmel mein Pullover steckte.
„Warte“, sagte ich und drehte mich mit dem
Oberkörper wieder zur Tür des Clubs, „wollen wir nicht …“
Mischa, in seiner gloriosen
Unzurechnungsfähigkeit, verstand meinen Blick sowie den Satzanfang völlig
falsch und unterbrach mich.
„‘Schfick disch nisch im Darkroom!“, schnauzte er,
drückte mir die Jacke gegen die Brust und stampfte Richtung Türsteher, der ihm
stirnrunzelnd die Tür aufhielt.
„Mischa, das meinte ich nicht!“, rief ich
hinterher, aber er ging einfach hinaus.
Verdammte Scheiße!
Ich riss den Pulli aus dem Ärmel und versuchte,
die Jacke anzuziehen, während ich ihm hinterher eilte.
„Der beruhigt sich sicher ebenso schnell wieder“,
meinte der Türsteher und klopfte mir gutmütig auf die Schulter, als ich an ihm
vorbeiging, „Macht der Alkohol.“
Ich schenkte ihm ein halbwegs dankbares Lächeln
und trat in die eiskalte Neujahrsnacht hinaus. Mischa stand einige Meter weiter
neben einem Taxi, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf die
Eingangstür gerichtet. Als sich unsere Blicke trafen, machte er eine
auffordernde Kopfbewegung, die auf gut Deutsch in etwa „Beweg deinen Arsch
her!“ bedeutete.
Mit einem Ruck zog ich den Reißverschluss meiner
Jacke hoch und ging zu ihm. Ich konnte unmöglich gehen, wenn er sauer
und – eventuell – verletzt war. Nicht schon wieder.
„Schreib deinen Freunden, dass du gegangen bist“,
bat ich ihn, als er mir die Tür aufhielt und ich ins Taxi krabbelte.
Er brummte zustimmend. Sobald er neben mir saß,
schickte sein Mund sämtliche Zweifel, die gerade von der Januarluft ans Licht
gezogen worden waren, wieder in die Dunkelheit hinab. Wo sie hingehörten.
‚Falsch‘? ‚Keine gute Idee‘? Wie kam ich darauf?
Mischa zu küssen war eine verdammt gute Idee!
***
Ich war wirklich höchstens angetrunken, aber
dennoch konnte ich, als wir bei der Wohnungstür ankamen, nicht mehr sagen, wer
das Taxi bezahlt oder wie lange die Fahrt gedauert hatte. Mischa hielt den
Schlüssel in der Hand, hatte aber sichtbar Schwierigkeiten, das Schloss zu
treffen, bis ich seine Hand nahm und führte. Das brachte mir einen Kuss ein.
Hm. Wenn er sich immer so bedankte, sollte ich mir angewöhnen, ihm wo es nur
ging zu helfen.
Zu spät, zischte eine Stimme in
meinem Kopf, morgen wird er keine Hilfe mehr wollen!
Ich verdrängte sie und drückte viel lieber die Tür
auf, um mit ihm in den Flur zu stolpern. Jacken und Schuhe fielen zu Boden, die
Haustür wurde zugedrückt, ich zog ihn durchs Wohnzimmer. Als seine Zimmertür
sich auch hinter uns schloss, seufzte er.
„Endlisch!“
Ja. Dito.
Ich befreite Mischa von seinem Shirt und fing
seine Hände ein, um sie mir aus dem Weg zu schaffen. Wie sollte ich seinen
Oberkörper erkunden, wenn er immer noch damit beschäftigt war, mein Hemd zu
öffnen?
Scheiß Knöpfe. Außerdem konnte mein Hemd warten.
Ich hätte schwören können, dass er noch besser
aussah als das letzte Mal, auch wenn ich gleichzeitig hätte schwören können,
dass das nicht möglich war. Er brummte unzufrieden, als ich seine Hände von mir
nahm, entspannte sich aber, sobald meine Lippen sein Schlüsselbein berührten.
Wie konnte jemand nach einer durchzechten Nacht in
einem überfüllten Club so gut schmecken? Das war doch gemeingefährlich! Ich
küsste mich bis zu seiner rechten Brustwarze runter und biss im selben Moment
hinein, als ich mit beiden Händen seinen Hintern packte. Er stöhnte, tief und
kehlig und losgelöst. Als er mich an sich presste, spürte ich, dass es offenbar
nicht so viel Alkohol gewesen war, dass es nun ein Problem darstellte.
Ungeduldig öffnete ich seine Hose und ging vor ihm
in die Knie, um sie ihm auszuziehen. Das süffisante Grinsen, mit dem er auf
mich hinab sah und das seine Gedanken nur allzu deutlich verriet, schickte
beinahe schmerzhafte Schauer meine Wirbelsäule hinab, direkt in meinen Schritt.
Als er die Jeans los war, drückte ich meine Lippen auf die Wölbung seiner Pants
und stand dann wieder auf.
Jetzt, jetzt, jetzt!
Ich wollte ihn jetzt und sofort, mit Haut und
Haaren! Also drehte ich uns beide um und schob ihn kurzerhand aufs Doppelbett
zu. Er ließ sich darauf fallen und rückte in die Mitte. Sein Blick allein ließ
meinen Mund trocken werden.
„Hemd!“, verlangte er und ich öffnete Knopf für
Knopf, während sich das Bild, das sich mir bot, in mich aufsaugte. Scheiße.
Hätte jeder Mensch einen Mischa, würde die Pornoindustrie zugrunde gehen.
Sobald die Knöpfe aus dem Weg waren, krabbelte ich
zu ihm und setzte mich auf seine Beine. Mischa legte die Hände auf meinen
Bauch, fuhr langsam und genüsslich hoch, bis er bei meinen Schultern ankam und
mir das Hemd abstreifte. Dann zog er mich zu einem Kuss hinunter.
„Milo …!“, seufzte er und schaffte es, trotz
des Alkohols und der Geilheit zärtlich zu klingen.
Und zum gefühlt hundertsten Mal an diesem
Abend – in dieser Nacht – erstarrte ich, als hätte mich
jemand nackt in einen Gletschersee geworfen.
Ja, ich war ins Bifröst gegangen, weil ich
wusste, dass er es morgen bereuen würde, wenn er sich betrunken einen
One-Night-Stand gesucht und mit nach Hause genommen hätte. Ebenfalls ja, seine
Reaktion hatte mich überrascht. Und nochmals ja, seine Küsse hatten mich einmal
mehr überrumpelt und meinen Verstand ausgeschaltet.
Ja, leider war das hier meine Chance, mir für ein
paar Stunden einzubilden, ich hätte es nicht versaut. Morgen würde es doppelt
und dreifach so wehtun, aber heute, jetzt, nur für eine Weile …
Doch ich konnte nicht. Wenn Mischa sich bei einem
x-beliebigen One-Night-Stand morgen schon schlecht fühlen würde, wollte ich mir
nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich der One-Night-Stand war. Nein. Er hatte
mir den Namen des Clubs genannt, weil er gewollt hatte, dass ich hinging, er
hatte mich so offensichtlich absichtlich eifersüchtig gemacht, weil er gewollt
hatte, dass ich dazwischen ging, und er hatte mich geküsst und offenbar längst
entschieden, dass wir heute zusammen nach Hause gehen würden, aber er war
sturzbetrunken. Und ich nicht. Ich war nüchtern genug, um zu wissen,
dass ich der letzte Kerl war, den er heute ficken wollte.
Vielleicht konnte ich ignorieren, dass ich ihn ab
morgen nicht mehr haben konnte, aber garantiert nicht, dass er mich ab morgen
nicht mehr haben wollen würde.
Ich hatte mich unbewusst aufgerichtet und Mischa
versuchte, mich wieder zu ihm hinunter zu ziehen, doch ich hielt dagegen.
„Ich …“ Das Wort kratzte meine viel zu enge
Kehle hinauf. „… hol dir ein Aspirin.“
„Ws?“, machte er unbegeistert.
„Damit die Kopfschmerzen morgen nicht ganz so
schlimm werden“, erwiderte ich und wollte aufstehen, doch er zog mich mit einem
Ruck zurück auf seine Brust.
„Egal“, brummte er und küsste mich, doch ich
stemmte mich erneut hoch. Und das, obwohl seine Haut auf meiner Haut sich
wirklich, wirklich verboten gut anfühlte.
„Mir nicht!“, erwiderte ich bestimmt.
Mischa grummelte, ließ mich aber los. „Bail
disch!“
„Natürlich.“
In der Küche angekommen atmete ich erst einmal
tief durch. Dann öffnete ich den Kühlschrank und fand auf Anhieb, was ich
suchte: eine Flasche Gatorade. Ich holte das Aspirin raus und trank erst
langsam ein Glas Leitungswasser, bevor ich zurückging. Je nüchterner, desto
besser.
Mischa lag immer noch auf dem Bett, genauso wie
vorher, und hob träge den Kopf, als ich eintrat.
„Endlisch“, wiederholte er und streckte die Hand
nach mir aus.
Mein Herz krampfte sich zusammen.
„Hier.“ Ich gab ihm zwei Pillen und hob seinen
Kopf an die Flasche. „Schlucken, diesmal!“
Er tat wie geheißen und grinste danach.
„ßufriedn?“
Ich nickte, stellte die Flasche auf sein
Nachtischchen und fing seine Hände ein, bevor er sie auf meine Hüften legen
konnten.
„Ich muss ins Bad.“ Es fühlte sich an, als ob die
Worte sich an meinen Lippen festkrallen wollten.
Er ächzte. „Ech’ jeß?“
„Ja.“
„Muss sein?“
„Ja.“
Er ließ den Kopf nach hinten fallen und schloss
frustriert die Augen.
„Ma’schon!“, brummte er, aber seine Stimme war
bereits leise, die Bewegungen träger. Es war eben doch eine ganze Menge Alkohol
und eine lange, anstrengende Nacht gewesen.
Ich ging und setzte mich auf den Klodeckel. Wann
konnte ich wohl wieder raus? Lange würde es sicher nicht dauern, so müde, wie
er eben schon gewirkt hatte. Aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.
***
Irgendetwas zwischen zwanzig Minuten und einer
halben Stunde später tapste ich zurück in Mischas Zimmer. Er lag auf der Seite,
eine Hand unterm Kopfkissen, die andere in meinem Hemd vergraben. Ich seufzte.
Das Hemd konnte ich also vergessen. Nun denn.
Vorsichtig breitete ich die Decke, die ich vom
Sofa geklaut hatte, über ihm aus und zog mich wieder zurück. Doch an der
Zimmertür stoppte ich.
Sollte ich …?
Dann drehte ich mich um, ging zum Schreibtisch und
schrieb im Licht meines Handys eine kurze Nachricht auf einen Zettel.
Zwei hast du in der Nacht schon genommen. Mehr als
6 pro Tag sind nicht empfehlenswert.
Tu dir selbst einen Gefallen und zerkau sie nicht
wieder.
Ich zögerte. Dann fügte ich hinzu:
Ich hoffe, dein Kater ist nicht allzu schlimm.
Milo.
Ich richtete mich auf, drehte mich ab und hielt
dann schon wieder inne.
Es war Neujahr. Gut erzogene Menschen wünschten
sich gegenseitig Floskeln. Aber ‚Frohes Neues!‘ erschien mir in dem
Zusammenhang verdammt unpassend. Und ich wollte nicht, dass er es in den
falschen Hals kriegte.
Kurz überlegte ich, dann zuckte ich mit den
Schultern. Worte waren nicht mein Metier, das wussten wir beide.
PS: Sorry für den beschissenen Start ins neue
Jahr. Es kann nur noch besser werden.
Ich schlich zurück und legte das Papier auf die
Aspirinpackung neben der Gatorade.
Ich schaffte es, die Zimmertür beinahe lautlos
hinter mir zuzuziehen und durchs Wohnzimmer zu schleichen, aber im Flur
stolperte ich schließlich über einen seiner oder meiner Schuhe und krachte
gegen die kleine Kommode. Die Messingschale mit den Hausschlüsseln darauf fiel
scheppernd zu Boden und ich verharrte.
Bitte, bitte lass ihn nicht aufgewacht sein!
Eine Tür wurde geöffnet, leise Schritte kamen in
meine Richtung. Ich schloss ergeben die Augen, bevor ich bemerkte, dass sie
nicht vom Wohnzimmer, sondern vom Ende des Flurs her kamen.
Das Licht wurde eingeschaltet und ich blinzelte
einem ebenso momentan lichtblinden Thomas entgegen.
Er musterte mich schweigend. Ich wartete, aber als
nichts kam, bückte ich mich und hob Schlüssel und Schale auf. Stellte sie
zurück. Nahm meine Jacke vom Boden.
„Du gehst?“ Thomas Stimme klang kratzig.
„Nicht wirklich, oder?“
„Doch“, erwiderte ich.
„Milo, verdammt!“, flüsterte er aufgebracht, „Du
kannst doch unmöglich mit ihm – und dann mitten in der Nacht
abhauen!“
„Ich habe nicht mit ihm geschlafen.“
Er sah mich ungläubig an. „Nein?“
„Nein.“
„Wieso nicht? Du bist hier
und … ihr …“ Er fuchtelte in der Luft herum und brach ab.
„Er hat bei so was Bedingungen“, erwiderte ich
leise, immer noch darauf bedacht, Mischa nicht doch noch zu wecken.
Thomas’ Blick verriet mir, dass er mich gerade für
unterbelichtet hielt. „Und du glaubst immer noch, dass du die nicht erfüllen
willst? Du hast doch die letzten Wochen …“
„Ich schon“, fiel ich ihm ins Wort und versuchte,
meine Stimme möglichst ruhig und neutral zu halten, „aber er nicht mehr. Da war
er sehr deutlich.“
Thomas starrte mich an und wusste offenbar nicht,
was er sagen sollte.
„Ich bezweifle, dass er morgen … oder
besser: heute, wenn er aufwacht, so glücklich darüber wäre, wenn er mich gefickt
hätte, um mich aus dem Kopf zu bekommen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Und
genau das wollte er. Aber er war ja auch blau wie ein Veilchen.“
„Milo … denkst du echt, dass er dich aus
dem Kopf kriegen müsste, wenn er wirklich nicht mehr wollen würde?“
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen.
Dass da noch Gefühle waren, bezweifelte ich ja nicht. Die Frage war, ob er sich
auf sie – auf mich – einlassen würde. Ich hatte mir
vorgenommen, nicht aufzugeben, ja, aber wenn meine Chancen so schon klein waren,
dann würde mit ihm zu schlafen, wenn er nicht zurechnungsfähig war, sie sicher
nicht verbessern.
„Ich will aber nicht … so.
Verstehst du?“
„Und deshalb gehst du?“
„Ich habe ihm einen Zettel geschrieben.“
Thomas sah mich schweigend an und seufzte
schließlich. „Früher dachte ich immer, zwischen zwei Kerlen sei das sicher
einfacher, weil Frauen so kompliziert sind, aber – mittlerweile bin
ich echt froh, hetero zu sein.“ Er grinste plötzlich schelmisch. „Deswegen und
weil Frauen echt heiß sind.“
Ich erwiderte das Grinsen, auch wenn ich ihm da
nicht zustimmen konnte. „Wo ist eigentlich deine Freundin?“
„Katja schläft heute bei mir“, erwiderte er und
ging damit auf meinen Themawechsel ein, „Sie hat nach Mitternacht nicht mehr
lange durchgehalten. War anstrengend, auf Arbeit.“
„Hab ich sie geweckt?“
Er schüttelte den Kopf. „Das könntest du gerade
nicht einmal, wenn du es darauf anlegen würdest. Wenn sie schläft, schläft sie.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Ich schlüpfte in meine Schuhe und wollte die Jacke
anziehen, als ich den Pullover auf dem Boden bemerkte. Danke, Mama. Der war
doch eine gute Idee gewesen.
„Frohes neues Jahr“, wünschte ich ihm kurz darauf
fertig angezogen, „auch an Katja.“
***
Als ich nach Hause kam, versuchte ich erneut, so
leise wie möglich zu sein, aber Anita hatte mich trotzdem gehört. Sie kam im
Pyjama aus dem Schlafzimmer und sah mich fragend an.
„Hab ihn nach Hause gebracht“, murmelte ich.
„Und?“
Morgn wieda.
Ich hätte schwören können, sein Worte erneut zu
hören, nur diesmal leise, nah an meinem Ohr, wie ein geflüstertes Versprechen.
Oder eine Drohung.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, nichts war besser
geworden. Und irgendwie … war ich einfach nur … ausgelaugt.
Ich war gerade schlicht und einfach zu müde, um positiv zu bleiben und mir
Hoffnung zu machen.
Anita kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Sie war kein Kuscheltyp,
ich eigentlich auch nicht, aber in dem Moment war das nebensächlich.
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