Opis Kreuze. Unverständliche SMS. Ein Neujahrsvorsatz.
Am einunddreißigsten Dezember schloss ich kurz vor
zweiundzwanzig Uhr mit einem halb erledigten, halb erleichterten Ächzen die
Haustür auf und trug meine und Anitas Taschen hinein, während sie und Klaus als
erstes die Fresspakete in die Küche brachten. Weihnachten bei meiner Familie im
Dorf war schön gewesen. So idyllisch, wie bei uns nur möglich, und anfangs
sogar ablenkend. An Heiligabend war die ganze Verwandtschaft mütterlicherseits
zu uns gekommen und wir hatten eine große und laute Bescherung gehabt. Laut vor
allem dank meiner Kusinen und Vettern unter fünfzehn, von denen es sieben an
der Zahl gab – und nur einer davon war halbwegs gut erzogen. Warum
mussten sich ausgerechnet die Leute wie die Karnickel vermehren, die von
Kindererziehung keine Ahnung hatten?
Der fünfundzwanzigste war um einiges ruhiger und
entspannender gewesen, denn den hatten wir bei Omi und Opi verbracht. Die
beiden lebten in einem Mehrfamilienhaus mit vier oder fünf anderen älteren
Pärchen zusammen und teilten sich die Kosten für die Hilfe bei den Dingen, die
sie nicht mehr eigenhändig erledigen konnten. Eine Art betreutes Wohnen auf
eigene Faust.
Opi hatte mich nach dem Essen kurz beiseite
genommen und mir einen Hunderter hingehalten. Da ich wusste, dass die beiden in
Sachen Rente nicht gerade das große Los gezogen hatten, schüttelte ich vehement
den Kopf, aber Opi stopfte ihn mir einfach in die Tasche meiner Jeans und
flüsterte verschwörerisch: „Führ deine Herzdame damit richtig fein aus, die
wird sich freuen. Man muss das Leben genießen, solange man noch jung ist!“
„Ich hatte noch nie eine Herzdame, Opi.“
Es dauerte einen Moment, bis er den Fehler
bemerkte, dann grinste er entschuldigend. „Deinen Herzbuben, dann. Den hast du
doch?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Er will aber nicht
von mir ausgeführt werden.“
„Wieso denn nicht? Bist doch ein gut aussehender
Bursche – und jetzt auch noch vermögend!“ Er wackelte vielsagend mit
den Augenbrauen und brachte mich damit zum Lachen. Leider hielt es nicht lange,
schon gar nicht bei diesem Thema.
„Hab’s vermasselt“, antwortete ich schließlich,
„so richtig.“
„Na und?“
Ich schaute ihn verwirrt an. „Wie, na und?“
Opi nahm mich am Arm und führte mich aus dem
Wohnzimmer. „Was glaubst du denn, wie oft ich es bei deiner Großmutter schon
vermasselt habe?“
„Äh“, machte ich hochintelligent, als er mir im
Schlafzimmer bedeutete, mich auf die hohe Matratze des Bettes zu setzen.
Er öffnete das Fenster und setzte sich in den
alten Sessel daneben. Dann holte er seine Pfeife hervor und füllte sie mit geübten
Handgriffen. Als er schon paffte und ich immer noch nichts gesagt hatte,
brummte er: „Bitte um Vergebung, Herrgott! Das ist schwierig, aber nicht so
schwierig, Junge!“
„Habe ich versucht“, erwiderte ich seufzend, „und
er hat mir gesagt, er will Abstand, keine Anrufe und schon gar kein Essen.“
Ich zog meine Beine aufs Bett und sog fast schon
gierig die Luft ein. Pfeifengeruch war ein Stück meiner Kindheit und hatte auch
heute noch den Effekt auf mich, dass ich mich gleich wohl und geborgen fühlte.
Trotz der anstrengenden Weihnachtsfeier und trotz Mischa. Ich konnte gar nicht
anders, als an Wochenenden mit selbst gebackenem Kuchen, Kirchenbesuch und
sonntäglichem Fischen mit Opi auf dem Teich zu denken.
„Dann gibst du ihm Abstand, bevor du erneut um
Vergebung bittest. Und wieder und wieder, wenn es nötig ist.“
„Ich glaube nicht, dass das hilft. Er war wirklich
sehr deutlich.“
„War deine Großmutter auch, mindestens einmal in
zehn Jahren, und hat das auch die ganze Gegend hören lassen.“ Er hustete,
klopfte sich gegen die Brust und räusperte sich. „Und ich bin zu Kreuze
gekrochen, bis sie mir vergeben hat. Hat jedes Mal ein bisschen länger gedauert
und mit dem Alter wird kriechen nicht einfacher, aber sie war es wert. Ist es
noch.“
Ich musste bei der Vorstellung lächeln. Irgendwie
dachte man als Kind nie daran, dass auch die Großeltern ein schwieriges oder
gar aufregendes Leben gehabt haben könnten. Und bei einem alten Traumpärchen
wie den meinen, waren richtig heftige Streitigkeiten in Kinderaugen ein Ding der
Unmöglichkeit. Wenn ich ehrlich war, war es auch jetzt schwierig, mir die
beiden jung und leidenschaftlich streitend vorzustellen. Sie waren so ruhige,
zufriedene Menschen geworden im Alter.
Er paffte und musterte mich unter seinen buschigen
grauen Augenbrauen hervor. „Menschen können fast alles vergeben, Milo. Du musst
ihnen nur zeigen, dass es das auch wert ist.“
„Ich weiß aber nicht, ob es das für ihn ist“,
erwiderte ich leise, „Ich habe mich echt sch…lecht benommen. Mischa hat was
Besseres verdient.“
Und Opi … lachte. „Was er
verdient hat und was nicht, bestimmst nicht du, sondern der liebe Gott. Für
dich ist nur eine Frage wichtig: Ist er es wert, dass man auf den Knien
herumrutscht, damit er einem vergibt?“
„Ja.“ Da musste ich nicht lange nachdenken. Auch
wenn mein einziger Anhaltspunkt die letzten vier mischalosen Wochen gewesen
wäre, hätte ich nicht lange nachdenken müssen; sein sehr aktives Fehlen und
meine Unfähigkeit, es zu verdrängen, waren Beweis genug.
„Dann tu es. Zeig ihm, dass er dir das wert
ist. So oft und so deutlich wie nötig.“
Danach hatten wir nicht mehr viel gesagt, aber
Opis Worte waren mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Auch nicht, als
meine kleine Schwester mich dazu genötigt hatte, mit ihr am Stephanstag Vom
Winde Verweht und die Fortsetzung, Scarlett, anzuschauen. Ich liebte
Rosa, aber dennoch wünschte ich fast, sie würde auf Zombiefilme umsteigen. Die
waren wenigstens selten länger als zwei Stunden.
Und nun, nach einer endlos erscheinenden Zugfahrt
zusammen mit gefühlt tausend Idioten, die das Jahresende nicht am Arsch der
Welt feiern wollten, waren wir wieder zurück, mit genug Verpflegung für die
nächsten drei Jahre und völlig erledigt, obwohl Silvester noch nicht einmal
richtig angefangen hatte. Ich bedauerte fast, dass wir nicht noch einen oder
zwei Tage geblieben waren, aber Anitas Familie fuhr über Silvester nach
Holland, meine feierte nicht ganz freiwillig bei Tante Inge, die ich mir nicht
antun wollte, und Klaus kam zu Hause programmiertechnisch nicht vom Fleck, weil
seine Familie gesamtheitlich an ADHS zu leiden schien und es, seit er
ausgezogen war, bei seinen seltenen Besuchen an ihm austobte. Er liebte sie,
aber er hielt sie nicht lange aus. Genauso wie ich Rosa liebte, mir aber jedes
Mal einen Bruder wünschte, wenn sie die Filme über eine gewisse
Südstaatenschönheit hervorkramte.
Mein neues Bett strahlte mir förmlich entgegen,
als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Oh ja! Anita bestand unter Garantie
darauf, dass wir um Mitternacht anstießen, aber gleich danach würde ich mit
meinem ersten eigenen Möbelstück kuscheln.
„Wollt ihr was zu essen?“, fragte Anita, als ich
in die Küche kam.
Ich schüttelte den Kopf.
Klaus dagegen fragte: „Bier?“
Sie schnaubte. „Soviel du
willst – solange du es mit einer Gabel in den Mund kriegst.“
„Ich nehm lieber ‘n Löffel“, erwiderte er, „wie
bei Suppe.“
Sie schüttelte den Kopf, nahm dann aber drei Bier
aus dem Kühlschrank und scheuchte uns ins Wohnzimmer.
„Silvesterprogramm oder DVD? Für was anderes als
Fernsehen bin ich zu müde.“
„DVD“, erwiderte ich, „ich will keinen sinnlosen
Jahresrückblick.“
Klaus wählte den Film aus, ein Psychothriller mit
Irren, Wirren und Wendungen, von denen ich nicht viel mitbekam. Ich war zu
müde, um mich zu konzentrieren, und gleichzeitig mit meinen Gedanken woanders.
Mischa zeigen, dass er es wert war, hatte Opi
gesagt. Aber wie? Wie kroch man denn zu Kreuze? Betteln? Ich glaubte nicht,
dass Mischa davon allzu begeistert wäre. Außerdem hatte er Abstand gewollt
und … und woher sollte ich wissen, wann es okay war, wieder Kontakt
aufzunehmen? Zu früh wäre nicht gut, zu spät … wenn es nicht schon zu
spät war. Den ganzen Dezember über hatten wir nichts voneinander gehört. Okay,
nicht ganz, denn zumindest ich hatte bei Thomas ab und zu eine Bemerkung aufgeschnappt.
Als ich ihn nach dem unglücklichen Cafébesuch mit Mischa das erste Mal
getroffen hatte, hatte Thomas auf mich den Eindruck gemacht, dass er uns beiden
am liebsten den Hals umdrehen wollte. Nach ein paar Minuten aber hatte er sich
gefangen und seither klammerten wir das zwischen Mischa und mir aus, wenn wir
uns unterhielten. Trotzdem hatte er mir ganz nebenbei erzählt, dass Mischa
dieses Jahr nur für zwei Tage nach Hause fuhr. Gefahren war, mittlerweile.
Vielleicht sollte ich mal ganz subtil bei Thomas
nachfragen. Und wenn das mit dem subtil nicht ganz so klappte, wie geplant,
dann war das eben so.
Plan? Plan! Mehr oder weniger. Dann konnte ich
mich ja jetzt auch wieder dem Fernseher zuwenden, wo gerade enthüllt wurde,
dass der schwarzhaarige Typ – wer war er noch mal? – die
ganze Zeit über eigene Ziele verfolgt hatte. Aber ein Blick auf mein Handy
verriet mir, dass wir noch mindestens eine halbe Stunde Film vor uns hatten. Er
war also nicht der endgültige Bösewicht.
„Noch‘n Bier?“, fragte ich und stand auf. Klaus
nickte, Anita wollte lieber Saft.
Gerade, als ich zurück ins Wohnzimmer kam, piepste
mein Handy in meiner Hosentasche. Ich stellte die Getränke auf den Fernsehtisch
und nahm es hervor, sicher, dass die Nachricht von meinen Eltern kam, die mir
vorzeitig – „Bevor das Netz überlastet ist“ – ein schönes
neues Jahr wünschten, aber der Name auf dem Display ließ mich erstarren.
Bevor sich meine Eier verkrümeln konnten, öffnete
ich die SMS.
Dann tu was dagegen, verflucht!!
…
Ähm …?
„Was ist los?“, fragte Anita und drückte auf die
Pausentaste. „Du siehst geschockt aus.“
„Eher verwirrt“, erwiderte ich, setzte mich und
gab ihr das Handy. „Von Mischa.“
Sie las den Satz, runzelte die Stirn, sah mich an.
„Ich hab nicht gewusst, dass ihr euch schreibt.“
„Tun wir auch nicht. Das ist die erste SMS, die
ich von ihm erhalten hab. Seit … immer.“
Erneutes Stirnrunzeln, dann hielt sie das Gerät
auch noch Klaus hin.
„Wahrscheinlich hat er sich im Adressbuch verwählt“,
sagte ich und nahm einen tiefen Schluck meines Bieres. Was auch sonst? Die
Nachricht machte keinen Sinn. Dass er mir überhaupt eine Nachricht schrieb,
auch nicht.
Anitas Lippen waren zu einem schmalen Strich
zusammengepresst, als sie mir das Handy zurückgab, und sie sah alles andere als
glücklich aus. So ganz verstand ich den fast schon anklagenden Blick nicht,
immerhin hatte ich nun echt nichts getan – oder hätte ich die
Nachricht etwa ungelesen löschen sollen? – aber dann sah ich zurück
auf das Display, um mich zu versichern, dass ich mich nicht verlesen hatte, und
starrte auf den blinkenden Telefonhörer, den mein Handy zeigte, wenn es dabei
war, eine Verbindung aufzubauen.
‚Mischa wird angerufen‘ stand da.
„Spinnst du?!“, rief ich, aber sie gab mir einen
Klaps auf den Hinterkopf, der mich verstummen ließ.
„Du wolltest die ganze Zeit über eine Ausrede, um
dich bei ihm zu melden, jetzt hat er dir eine auf dem Silbertablett serviert“,
erwiderte sie mit neutraler Stimme, „ich hab keine Lust, dass du die nächsten
vier Wochen lang rumheulst, weil du sie nicht ergriffen hast. Übrigens hat er
das Gespräch eben angenommen.“
Ich sah hektisch zum Handy und riss es in der
nächsten Sekunde hoch an mein Ohr.
„Ja, hallo?“
Rauschen, rhythmisches Rauschen, das aus einer
Mischung aus lautem Techno, unzähligen Stimmen und schlechtem Empfang bestand.
„Hab … gsagt …“ Seine Worte war in
dem Gewirr fast nicht auszumachen. „…stand.“
„Mischa? Ich versteh dich nicht!“, rief ich und
ging – wann war ich denn wieder aufgestanden? – mit meinem
Bier in der Hand in den Flur. „Mischa?!“
„… anrufscht.“
„Ich versteh nichts!“
Er sagte irgendetwas Undeutliches, dann nahm das
Rauschen wieder Überhand. Ich widerstand dem Drang, ihm noch tausendmal zu
sagen, dass ich nichts verstand und wartete stattdessen ab, was passieren
würde.
Mischa! Er hatte abgenommen! Er war da, am anderen
Ende der Leitung!
Auf einer Party?
Wahrscheinlich, war ja auch Silvester. Nicht alle
waren so partyscheu wie ich.
Dann wurde das Rauschen schlagartig weniger, ich
hörte ihn etwas sagen, allerdings sprach er nicht in den Hörer. Entfernt eine
Tür, dann war Stille.
„Jann sagd, ‘schsoll mir disch ausm kopvögeln“,
kam seine Stimme plötzlich viel zu klar und viel zu undeutlich.
„Bitte?“
„‘Schsei ßu verkampft. Wegn Sex und so. Mussnisch
gleich die groß Liebe sein, Ablenkng un Spaß geht auch.“ Er knurrte frustriert. „Jann’at gut
redn. Is‘mit Flix zusamm. Glügglisch.“
„Du bist betrunken.“ Und wie.
Ich spürte … Enttäuschung. Ich hatte
keine Ahnung, was die SMS bedeuten sollte, aber jetzt wurde mir klar, dass er
sie nicht geschrieben hätte, wenn er alkoholtechnisch nicht bereits jenseits
von Gut und Böse stünde.
Und ein bisschen verstand ich, wie er sich gefühlt
haben musste. Nur eben noch um einiges schlimmer.
„‘Schsilvesta.“
Ja, es war Silvester. Da wurde es schon fast von
einem verlangt, vor Mitternacht bereits hackedicht zu sein. Was hatte ich erwartet?
„Mischa, was hast du gemeint, in der SMS?“, fragte
ich und wappnete mich innerlich gegen die Antwort.
„Isch wollt die gansseit schreim, oda anrufn, aba
‘schbin schtarck bliebn.“
„Du hast mir nicht geschrieben?“
„Sag‘sch doch.“
Ich zögerte, wollte es aber genau wissen.
Außerdem … außerdem war seine Aussprache vielleicht unter aller Sau,
aber seine Stimme war immer noch so wunderbar tief. Und gegen die Aussprache
durfte ich nichts sagen, ich war betrunken erfahrungsgemäß selbst nicht besser.
„Dann hast du dich im Empfänger vertan? Bei der
SMS vorhin?“
„Was’ne SMS?“, fragte er träge, „‘Sch hab gtanßt.“
Ich stutzte. „Du hast doch eben eine SMS geschrieben.
Vor, keine Ahnung, zwei, drei Minuten.“
„M-mh“, brummte Mischa, „Thomas’at Katja angrufn.
Musst arbeitn, die Arme. Jetß isser weg, hatse abgholt.“
Wieso erzählte er mir jetzt von Thomas? Und warum
konnten Betrunkene nie klare Antworten geben? Wenn man selber auch betrunken
war, funktionierten die Gespräche irgendwie immer, oder schienen es wenigstens
zu tun, aber wenn einer nüchtern war, sah die Sache anders aus.
Und dann machte es klick bei mir.
„Du hast dein Handy Thomas gegeben?“
„Seins vergessen. Dabei dacht’sch, er hätt’s
mitghabt.“
Okay, nun wurde mir einiges klarer. Wie, warum die
SMS so grammatisch korrekt geschrieben war, obwohl Mischa noch nicht einmal
mehr grammatisch korrekt sprechen konnte.
Also hatte Mischa mir nicht betrunken geschrieben,
sondern gar nicht. Scheiße.
Aber – aber Thomas … warum
sollte er mir plötzlich so eine SMS schreiben? Was meinte er damit, „Dann tu
was dagegen“? Wogegen?
„Sag was!“
„Was soll ich denn sagen, Mischa?“
„‘Schmag deine Stimme. So warm. Unddein Lächen.“
Kurz hörte es sich an, als ob er beim Sprechen selber lächeln würde, doch bei
den nächsten Worten verschwand das wieder. „Misch lächest du fasst nie an.
Nisch rischtig. Immanua Thomas. Das’nisch fair!“
„Du machst mich eben nervös“, erwiderte ich,
während ich mich fragte, ob ich nicht besser auflegte. Ich wollte nicht
auflegen, aber … aber Mischa hatte sich nicht selbst gemeldet, also
galt das mit dem Abstand wohl immer noch. Jetzt sprach er zwar mit mir, aber
nur, weil er betrunken war.
„‘Schwill nisch mea in disch valiebt sein.“
Ich erstarrte.
Autsch.
„Ech nisch. Tut nua weh.“
Ja. Mir auch. Weil er nicht mehr wollte und weil
ich zu spät war und weil … weil es ihm wehtat.
„‘Schglaub, Jann’at Recht. ‘Schsuch mir ‘nen Kerl,
jetße. Der Club’s voll davon.“
Mir wurde übel und ich konnte spüren, wie das Blut
mein Gesicht verließ. Das musste er mir doch nun wirklich nicht sagen. Echt
nicht. Ich begann, auf dem Flur auf und ab zu gehen.
„Du bist betrunken“, wiederholte ich lahm, „du
wirst es morgen bereuen.“
„Vleicht. Nisch, wenn’s funkßioniert. Sons’auch
egal.“
Jetzt sollte ich definitiv auflegen.
Darauf, dass er mir im Detail erklärte, wie er den Typen genau aussuchen und
aufreißen wollte, konnte ich nun wirklich verzichten.
„Tut’s das?“
„Was?“, fragte ich zurück, „Funktionieren?“
Er brummte zustimmend.
„Woher soll ich das wissen?“
„Du bissnich so vekamft wie’sch. Hassnischts gegn
One-Night-S…s…“ Er brach ab und es hörte sich ein bisschen so an, als ob er
nicht mehr wüsste, wie der Ausdruck endete.
Wie besoffen war er eigentlich?
Nicht mein Problem, sagte ich mir. Geht
mich nichts an.
„Ich hab’s nicht ausprobiert“, erwiderte ich.
Nein, ich hatte noch nicht einmal daran gedacht. Wozu sollte das auch gut sein,
mit irgendeinem Fremden zu schlafen, wenn Mischa andauernd in meinem Kopf
herumspukte? Das war absolut sinnbefreit. „Hast wohl auf mich abgefärbt.“
Er lachte, obwohl es kein Witz gewesen war. Es war
ein ebenso deutlich betrunkenes Lachen, wie seine Aussprache deutlich betrunken
war. Und dennoch rieselte es wie Eisregen meine Wirbelsäule entlang. Das war
doch bekloppt. Betrunkene waren nicht sexy!
„Du wirst es morgen garantiert bereuen. Das
ist dir klar?“, fragte ich und bereitete mich gedanklich darauf vor, das
Gespräch nun wirklich zu beenden, und dann den Rest der Nacht möglichst nicht
mehr an ihn zu denken.
Haha, genau. Als ob das funktionieren würde.
Vielleicht sollte ich mich auch betrinken.
„‘Smir egal“, erwiderte er fast trotzig, „‘Schleg
heut Nacht wen flach. Aus’m Club.“
Tu, was du nicht lassen kannst.
Ich wünsch dir, dass es hilft.
Bitte nicht!
All das hätte ich sagen können, wollte ich
sagen, aber ich schwieg. Es brachte sowieso nichts. Er war betrunken und ich
hatte nach all der Scheiße nicht das Recht, so was zu sagen.
„‘Schbin im Bif…rösst.“
„Was?“, fragte ich, hörte aber nur das Tuten der
toten Leitung. Er hatte aufgelegt, einfach so. Ohne Tschüss, ohne
Neujahrswunsch –
Er war betrunken. Und hatte mir keine SMS
geschrieben. Was erwartete ich denn?
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, drückte Klaus
die Pausentaste. Beide sahen mich an, Klaus neutral abwartend, Anita forschend
und nicht gerade glücklich.
„Und?“, fragte sie schließlich, als ich eine halbe
Minute ohne ein Wort zu sagen unschlüssig mitten im Zimmer gestanden hatte.
„Er hat mir nicht geschrieben, war wohl Thomas.“
Sie sah mich ungeduldig an. „Und um das
herauszufinden, hast du solange gebraucht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Er ist betrunken.
Will sich jetzt einen Typen zum Ficken suchen.“
Anitas Blick wurde dunkel. „Das hat er dir
gesagt?“
„Ja. Hat sich erst während des Gesprächs dafür
entschieden.“ Ich versuchte, meine Stimme so neutral wie möglich zu halten,
aber es wollte mir nur leidlich gelingen. Eigentlich hatte ich auch keine Lust,
hier Rede und Antwort zu stehen. Nein, mein Bett rief nun noch lauter als
vorher nach mir und ich trank einen tiefen Schluck. Sobald die Flasche leer
war, ging ich schlafen, Silvester hin oder her.
„Und das war alles?“, fragte sie mit einem Ton,
der deutlich machte, dass sie Mischa gerade am liebsten filetiert hätte. Mit
einem Buttermesser.
„Sein Kumpel hätte ihm gesagt, das würde helfen
und Mischa sei in Sachen Sex zu verkrampft. Thomas holt jetzt Katja ab. Er mag
mein Lächeln, aber er will nicht mehr in mich verliebt sein, weil’s nur weh
tut. Er geht sich jetzt im Club ‘nen Typen suchen, weil vielleicht
funktioniert’s ja und dann wird er es morgen auch nicht bereuen“, ratterte ich
alle Punkte runter. Eigentlich hatten wir wirklich nichts gesagt. „Und er ist
im … Beef Roast.“
„Wo?“
„Keine Ahnung. Er hat aufgelegt, bevor ich
nachfragen konnte“, erwiderte ich. „Hörte sich aber nach Beef Roast an. Oder
Beef Röst.“ Ich zuckte noch einmal mit den Schultern. „Is’ ja auch egal.“
Noch ein Schluck Bier. Noch ein oder zwei, dann
war ich fertig.
„Wie jetzt“, begann Anita langsam, „er sagt dir:
‚Ich such mir jetzt einen Typen‘, fügt ‚Ich bin im Beef Roast‘ hinzu und hängt
dann einfach auf?“
Ich nickte. „Wie gesagt: Er ist betrunken.“
Sie ächzte gequält. „Und du kombinatorisch in etwa
so talentiert wie ein Stück Apfelkuchen.“ Sie sah zu Klaus, der den Blick ruhig
erwiderte, und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass ich das tue“,
murmelte sie vor sich hin, bevor sie Klaus wieder ansah. „Mach schon.“
Er lächelte zufrieden, nahm sich seinen Laptop vom
Tisch und fing an zu tippen.
„Was wird das?“, fragte ich irritiert.
„Mi, versuch doch wenigstens, mitzudenken“,
seufzte sie und klopfte neben sich aufs Sofa, „Der Typ, in den du verliebt bist
und der dich wohl auch nicht so einfach vergessen kann, wie er gerne würde,
sagt dir, er geht jetzt einen Kerl aufreißen. Und dann sagt er dir, in welchem
Club er ist. Ungefragt, nehme ich an?“
Ich nickte. Ja, ungefragt.
Und dann verstand ich, worauf sie hinaus wollte.
„Nein“, sagte ich schnell, „garantiert nicht! Er
will nicht – er hat das nicht gesagt, damit ich …“
„Wozu denn dann?“
„Er ist betrunken. Da muss nicht immer
alles Gesagte einen Sinn ergeben“, erwiderte ich, „Außerdem: Er ist betrunken – hätte
er gewollt, dass ich hingehe und ihn davon überzeuge, dass er sich keinen
Silvester-One-Night-Stand suchen will, hätte er das genauso deutlich gesagt,
wie er das mit dem Lächeln gesagt hat.“
„Es war deutlich, Milo.“
„Gefunden“, sagte Klaus und sah mich grinsend an,
„Von wegen Beef Roast; wenn ich mich nicht täusche, ist er im Bifröst,
einem Schwulenclub in der Nähe der Arena.“
Bifröst. Ja, das konnte auch sein.
Das Grinsen wich einem überraschten Ausdruck. „Der
Eintrittspreis heute wird dir nicht gefallen.“ Er sah auf die Uhr, zurück auf
den Bildschirm, überlegte einen Moment. „Na, bist du da bist, ist es eh nach
Mitternacht. Dann ist’s billiger, aber immer noch unverschämt.“
„Ich geh da garantiert nicht hin!“, protestierte
ich, „Er wollte Abstand.“
„Er hat das Gespräch angenommen, oder? Und
geführt. Und, dass er immer noch in dich verliebt ist. Und er hat dir
gesagt, wo er ist.“ Sie stoppte, schüttelte brüsk den Kopf. „Aber bitte, wenn
dir das nicht genug ist, dann bleib hier. Heul noch einen Monat rum, dann such
dir wen anderes. Mit etwas Glück findest du jemanden, der nicht aussieht wie
Arnold 2.0.“
„Das tut er nicht!“, fuhr ich sie an, „Du hast ihn
ja noch nicht einmal gesehen!“
„Du seit einem Monat auch nicht. Vielleicht hat er
sich in der Zwischenzeit in Richtung Arnie verändert?“
Ich verschränkte die Arme und beschloss, nicht
weiter darauf einzugehen. „Ich habe keinen Bock, zuzusehen, wie er jemanden
abschleppt.“
„Du wolltest doch zu Kreuze kriechen?“, fragte
Klaus ruhig und wartete tatsächlich, bis ich widerwillig nickte. „Geh hin,
bitte ihn, es nicht zu tun. Sag ihm, warum. Deutlich.“ Er ignorierte,
dass sich mein Gesicht immer unwilliger verzog.
Das hatte ich doch schon versucht, als er nüchtern
gewesen war. Was sollte es denn bringen, wenn er seine Meinung eh nicht
änderte?
Aber Opi hatte gesagt, ich müsse am Ball bleiben.
Bei ihm hätte es funktioniert.
„Es wäre ein Anfang.“ Klaus sah mich an. „Außer,
du hast dich inzwischen entschlossen, aufzugeben. Oder willst einfach nicht
mehr.“
„Was, wenn ihr ihn falsch versteht und er dennoch
mit dem Kerl abzieht?“
„Wenn du hier bleibst, tut er das so oder so. Zu
verlieren hast du also nichts, außer ein bisschen Stolz.“ Er zeigte auf den
Laptop. „Soll ich dir die Karte ausdrucken? Ist ein ganzes Stück von der
nächsten Haltestelle entfernt.“
Ich sah auf die Uhr. Zwanzig vor Zwölf. Irgendwie
war ich kein bisschen mehr müde.
Wenn es bei Opi funktioniert hatte, war es wohl
einen Versuch wert. Auch um zwanzig vor Mitternacht an Silvester. Und ich hatte
mir ja vorgenommen, es wenigstens zu versuchen, auch wenn ich nicht gedacht
hätte, dass ich das gleich nach meiner Rückkehr tun würde. Aber … wenn
heute nicht die Nacht war, um gute Vorsätze in die Tat umzusetzen, wann denn
dann?
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