Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Montag, 18. März 2013

Wieder und wieder 16:


Opis Kreuze. Unverständliche SMS. Ein Neujahrsvorsatz.



Am einunddreißigsten Dezember schloss ich kurz vor zweiundzwanzig Uhr mit einem halb erledigten, halb erleichterten Ächzen die Haustür auf und trug meine und Anitas Taschen hinein, während sie und Klaus als erstes die Fresspakete in die Küche brachten. Weihnachten bei meiner Familie im Dorf war schön gewesen. So idyllisch, wie bei uns nur möglich, und anfangs sogar ablenkend. An Heiligabend war die ganze Verwandtschaft mütterlicherseits zu uns gekommen und wir hatten eine große und laute Bescherung gehabt. Laut vor allem dank meiner Kusinen und Vettern unter fünfzehn, von denen es sieben an der Zahl gab – und nur einer davon war halbwegs gut erzogen. Warum mussten sich ausgerechnet die Leute wie die Karnickel vermehren, die von Kindererziehung keine Ahnung hatten?
Der fünfundzwanzigste war um einiges ruhiger und entspannender gewesen, denn den hatten wir bei Omi und Opi verbracht. Die beiden lebten in einem Mehrfamilienhaus mit vier oder fünf anderen älteren Pärchen zusammen und teilten sich die Kosten für die Hilfe bei den Dingen, die sie nicht mehr eigenhändig erledigen konnten. Eine Art betreutes Wohnen auf eigene Faust.
Opi hatte mich nach dem Essen kurz beiseite genommen und mir einen Hunderter hingehalten. Da ich wusste, dass die beiden in Sachen Rente nicht gerade das große Los gezogen hatten, schüttelte ich vehement den Kopf, aber Opi stopfte ihn mir einfach in die Tasche meiner Jeans und flüsterte verschwörerisch: „Führ deine Herzdame damit richtig fein aus, die wird sich freuen. Man muss das Leben genießen, solange man noch jung ist!“

„Ich hatte noch nie eine Herzdame, Opi.“
Es dauerte einen Moment, bis er den Fehler bemerkte, dann grinste er entschuldigend. „Deinen Herzbuben, dann. Den hast du doch?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Er will aber nicht von mir ausgeführt werden.“
„Wieso denn nicht? Bist doch ein gut aussehender Bursche – und jetzt auch noch vermögend!“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen und brachte mich damit zum Lachen. Leider hielt es nicht lange, schon gar nicht bei diesem Thema.
„Hab’s vermasselt“, antwortete ich schließlich, „so richtig.“
„Na und?“
Ich schaute ihn verwirrt an. „Wie, na und?“
Opi nahm mich am Arm und führte mich aus dem Wohnzimmer. „Was glaubst du denn, wie oft ich es bei deiner Großmutter schon vermasselt habe?“
„Äh“, machte ich hochintelligent, als er mir im Schlafzimmer bedeutete, mich auf die hohe Matratze des Bettes zu setzen.
Er öffnete das Fenster und setzte sich in den alten Sessel daneben. Dann holte er seine Pfeife hervor und füllte sie mit geübten Handgriffen. Als er schon paffte und ich immer noch nichts gesagt hatte, brummte er: „Bitte um Vergebung, Herrgott! Das ist schwierig, aber nicht so schwierig, Junge!“
„Habe ich versucht“, erwiderte ich seufzend, „und er hat mir gesagt, er will Abstand, keine Anrufe und schon gar kein Essen.“
Ich zog meine Beine aufs Bett und sog fast schon gierig die Luft ein. Pfeifengeruch war ein Stück meiner Kindheit und hatte auch heute noch den Effekt auf mich, dass ich mich gleich wohl und geborgen fühlte. Trotz der anstrengenden Weihnachtsfeier und trotz Mischa. Ich konnte gar nicht anders, als an Wochenenden mit selbst gebackenem Kuchen, Kirchenbesuch und sonntäglichem Fischen mit Opi auf dem Teich zu denken.
„Dann gibst du ihm Abstand, bevor du erneut um Vergebung bittest. Und wieder und wieder, wenn es nötig ist.“
„Ich glaube nicht, dass das hilft. Er war wirklich sehr deutlich.“
„War deine Großmutter auch, mindestens einmal in zehn Jahren, und hat das auch die ganze Gegend hören lassen.“ Er hustete, klopfte sich gegen die Brust und räusperte sich. „Und ich bin zu Kreuze gekrochen, bis sie mir vergeben hat. Hat jedes Mal ein bisschen länger gedauert und mit dem Alter wird kriechen nicht einfacher, aber sie war es wert. Ist es noch.“
Ich musste bei der Vorstellung lächeln. Irgendwie dachte man als Kind nie daran, dass auch die Großeltern ein schwieriges oder gar aufregendes Leben gehabt haben könnten. Und bei einem alten Traumpärchen wie den meinen, waren richtig heftige Streitigkeiten in Kinderaugen ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich ehrlich war, war es auch jetzt schwierig, mir die beiden jung und leidenschaftlich streitend vorzustellen. Sie waren so ruhige, zufriedene Menschen geworden im Alter.
Er paffte und musterte mich unter seinen buschigen grauen Augenbrauen hervor. „Menschen können fast alles vergeben, Milo. Du musst ihnen nur zeigen, dass es das auch wert ist.“
„Ich weiß aber nicht, ob es das für ihn ist“, erwiderte ich leise, „Ich habe mich echt sch…lecht benommen. Mischa hat was Besseres verdient.“
Und Opi … lachte. „Was er verdient hat und was nicht, bestimmst nicht du, sondern der liebe Gott. Für dich ist nur eine Frage wichtig: Ist er es wert, dass man auf den Knien herumrutscht, damit er einem vergibt?“
„Ja.“ Da musste ich nicht lange nachdenken. Auch wenn mein einziger Anhaltspunkt die letzten vier mischalosen Wochen gewesen wäre, hätte ich nicht lange nachdenken müssen; sein sehr aktives Fehlen und meine Unfähigkeit, es zu verdrängen, waren Beweis genug.
„Dann tu es. Zeig ihm, dass er dir das wert ist. So oft und so deutlich wie nötig.“
Danach hatten wir nicht mehr viel gesagt, aber Opis Worte waren mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Auch nicht, als meine kleine Schwester mich dazu genötigt hatte, mit ihr am Stephanstag Vom Winde Verweht und die Fortsetzung, Scarlett, anzuschauen. Ich liebte Rosa, aber dennoch wünschte ich fast, sie würde auf Zombiefilme umsteigen. Die waren wenigstens selten länger als zwei Stunden.

Und nun, nach einer endlos erscheinenden Zugfahrt zusammen mit gefühlt tausend Idioten, die das Jahresende nicht am Arsch der Welt feiern wollten, waren wir wieder zurück, mit genug Verpflegung für die nächsten drei Jahre und völlig erledigt, obwohl Silvester noch nicht einmal richtig angefangen hatte. Ich bedauerte fast, dass wir nicht noch einen oder zwei Tage geblieben waren, aber Anitas Familie fuhr über Silvester nach Holland, meine feierte nicht ganz freiwillig bei Tante Inge, die ich mir nicht antun wollte, und Klaus kam zu Hause programmiertechnisch nicht vom Fleck, weil seine Familie gesamtheitlich an ADHS zu leiden schien und es, seit er ausgezogen war, bei seinen seltenen Besuchen an ihm austobte. Er liebte sie, aber er hielt sie nicht lange aus. Genauso wie ich Rosa liebte, mir aber jedes Mal einen Bruder wünschte, wenn sie die Filme über eine gewisse Südstaatenschönheit hervorkramte.
Mein neues Bett strahlte mir förmlich entgegen, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Oh ja! Anita bestand unter Garantie darauf, dass wir um Mitternacht anstießen, aber gleich danach würde ich mit meinem ersten eigenen Möbelstück kuscheln.
„Wollt ihr was zu essen?“, fragte Anita, als ich in die Küche kam.
Ich schüttelte den Kopf.
Klaus dagegen fragte: „Bier?“
Sie schnaubte. „Soviel du willst – solange du es mit einer Gabel in den Mund kriegst.“
„Ich nehm lieber ‘n Löffel“, erwiderte er, „wie bei Suppe.“
Sie schüttelte den Kopf, nahm dann aber drei Bier aus dem Kühlschrank und scheuchte uns ins Wohnzimmer.
„Silvesterprogramm oder DVD? Für was anderes als Fernsehen bin ich zu müde.“
„DVD“, erwiderte ich, „ich will keinen sinnlosen Jahresrückblick.“
Klaus wählte den Film aus, ein Psychothriller mit Irren, Wirren und Wendungen, von denen ich nicht viel mitbekam. Ich war zu müde, um mich zu konzentrieren, und gleichzeitig mit meinen Gedanken woanders.
Mischa zeigen, dass er es wert war, hatte Opi gesagt. Aber wie? Wie kroch man denn zu Kreuze? Betteln? Ich glaubte nicht, dass Mischa davon allzu begeistert wäre. Außerdem hatte er Abstand gewollt und … und woher sollte ich wissen, wann es okay war, wieder Kontakt aufzunehmen? Zu früh wäre nicht gut, zu spät … wenn es nicht schon zu spät war. Den ganzen Dezember über hatten wir nichts voneinander gehört. Okay, nicht ganz, denn zumindest ich hatte bei Thomas ab und zu eine Bemerkung aufgeschnappt. Als ich ihn nach dem unglücklichen Cafébesuch mit Mischa das erste Mal getroffen hatte, hatte Thomas auf mich den Eindruck gemacht, dass er uns beiden am liebsten den Hals umdrehen wollte. Nach ein paar Minuten aber hatte er sich gefangen und seither klammerten wir das zwischen Mischa und mir aus, wenn wir uns unterhielten. Trotzdem hatte er mir ganz nebenbei erzählt, dass Mischa dieses Jahr nur für zwei Tage nach Hause fuhr. Gefahren war, mittlerweile.
Vielleicht sollte ich mal ganz subtil bei Thomas nachfragen. Und wenn das mit dem subtil nicht ganz so klappte, wie geplant, dann war das eben so.
Plan? Plan! Mehr oder weniger. Dann konnte ich mich ja jetzt auch wieder dem Fernseher zuwenden, wo gerade enthüllt wurde, dass der schwarzhaarige Typ – wer war er noch mal? – die ganze Zeit über eigene Ziele verfolgt hatte. Aber ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass wir noch mindestens eine halbe Stunde Film vor uns hatten. Er war also nicht der endgültige Bösewicht.
„Noch‘n Bier?“, fragte ich und stand auf. Klaus nickte, Anita wollte lieber Saft.
Gerade, als ich zurück ins Wohnzimmer kam, piepste mein Handy in meiner Hosentasche. Ich stellte die Getränke auf den Fernsehtisch und nahm es hervor, sicher, dass die Nachricht von meinen Eltern kam, die mir vorzeitig – „Bevor das Netz überlastet ist“ – ein schönes neues Jahr wünschten, aber der Name auf dem Display ließ mich erstarren.
Bevor sich meine Eier verkrümeln konnten, öffnete ich die SMS.
Dann tu was dagegen, verflucht!!
… 
Ähm …?
„Was ist los?“, fragte Anita und drückte auf die Pausentaste. „Du siehst geschockt aus.“
„Eher verwirrt“, erwiderte ich, setzte mich und gab ihr das Handy. „Von Mischa.“
Sie las den Satz, runzelte die Stirn, sah mich an. „Ich hab nicht gewusst, dass ihr euch schreibt.“
„Tun wir auch nicht. Das ist die erste SMS, die ich von ihm erhalten hab. Seit … immer.“
Erneutes Stirnrunzeln, dann hielt sie das Gerät auch noch Klaus hin.
„Wahrscheinlich hat er sich im Adressbuch verwählt“, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck meines Bieres. Was auch sonst? Die Nachricht machte keinen Sinn. Dass er mir überhaupt eine Nachricht schrieb, auch nicht.
Anitas Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als sie mir das Handy zurückgab, und sie sah alles andere als glücklich aus. So ganz verstand ich den fast schon anklagenden Blick nicht, immerhin hatte ich nun echt nichts getan – oder hätte ich die Nachricht etwa ungelesen löschen sollen? – aber dann sah ich zurück auf das Display, um mich zu versichern, dass ich mich nicht verlesen hatte, und starrte auf den blinkenden Telefonhörer, den mein Handy zeigte, wenn es dabei war, eine Verbindung aufzubauen.
‚Mischa wird angerufen‘ stand da.
„Spinnst du?!“, rief ich, aber sie gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf, der mich verstummen ließ.
„Du wolltest die ganze Zeit über eine Ausrede, um dich bei ihm zu melden, jetzt hat er dir eine auf dem Silbertablett serviert“, erwiderte sie mit neutraler Stimme, „ich hab keine Lust, dass du die nächsten vier Wochen lang rumheulst, weil du sie nicht ergriffen hast. Übrigens hat er das Gespräch eben angenommen.“
Ich sah hektisch zum Handy und riss es in der nächsten Sekunde hoch an mein Ohr.
„Ja, hallo?“
Rauschen, rhythmisches Rauschen, das aus einer Mischung aus lautem Techno, unzähligen Stimmen und schlechtem Empfang bestand.
„Hab … gsagt …“ Seine Worte war in dem Gewirr fast nicht auszumachen. „…stand.“
„Mischa? Ich versteh dich nicht!“, rief ich und ging – wann war ich denn wieder aufgestanden? – mit meinem Bier in der Hand in den Flur. „Mischa?!“
„… anrufscht.“
„Ich versteh nichts!“
Er sagte irgendetwas Undeutliches, dann nahm das Rauschen wieder Überhand. Ich widerstand dem Drang, ihm noch tausendmal zu sagen, dass ich nichts verstand und wartete stattdessen ab, was passieren würde.
Mischa! Er hatte abgenommen! Er war da, am anderen Ende der Leitung!
Auf einer Party?
Wahrscheinlich, war ja auch Silvester. Nicht alle waren so partyscheu wie ich.
Dann wurde das Rauschen schlagartig weniger, ich hörte ihn etwas sagen, allerdings sprach er nicht in den Hörer. Entfernt eine Tür, dann war Stille.
„Jann sagd, ‘schsoll mir disch ausm kopvögeln“, kam seine Stimme plötzlich viel zu klar und viel zu undeutlich.
„Bitte?“
„‘Schsei ßu verkampft. Wegn Sex und so. Mussnisch gleich die groß Liebe sein, Ablenkng un Spaß geht auch.“  Er knurrte frustriert. „Jann’at gut redn. Is‘mit Flix zusamm. Glügglisch.“
„Du bist betrunken.“ Und wie.
Ich spürte … Enttäuschung. Ich hatte keine Ahnung, was die SMS bedeuten sollte, aber jetzt wurde mir klar, dass er sie nicht geschrieben hätte, wenn er alkoholtechnisch nicht bereits jenseits von Gut und Böse stünde.
Und ein bisschen verstand ich, wie er sich gefühlt haben musste. Nur eben noch um einiges schlimmer.
„‘Schsilvesta.“
Ja, es war Silvester. Da wurde es schon fast von einem verlangt, vor Mitternacht bereits hackedicht  zu sein. Was hatte ich erwartet?
„Mischa, was hast du gemeint, in der SMS?“, fragte ich und wappnete mich innerlich gegen die Antwort.
„Isch wollt die gansseit schreim, oda anrufn, aba ‘schbin schtarck bliebn.“
„Du hast mir nicht geschrieben?“
„Sag‘sch doch.“
Ich zögerte, wollte es aber genau wissen. Außerdem … außerdem war seine Aussprache vielleicht unter aller Sau, aber seine Stimme war immer noch so wunderbar tief. Und gegen die Aussprache durfte ich nichts sagen, ich war betrunken erfahrungsgemäß selbst nicht besser.
„Dann hast du dich im Empfänger vertan? Bei der SMS vorhin?“
„Was’ne SMS?“, fragte er träge, „‘Sch hab gtanßt.“
Ich stutzte. „Du hast doch eben eine SMS geschrieben. Vor, keine Ahnung, zwei, drei Minuten.“
„M-mh“, brummte Mischa, „Thomas’at Katja angrufn. Musst arbeitn, die Arme. Jetß isser weg, hatse abgholt.“
Wieso erzählte er mir jetzt von Thomas? Und warum konnten Betrunkene nie klare Antworten geben? Wenn man selber auch betrunken war, funktionierten die Gespräche irgendwie immer, oder schienen es wenigstens zu tun, aber wenn einer nüchtern war, sah die Sache anders aus.
Und dann machte es klick bei mir.
„Du hast dein Handy Thomas gegeben?“
„Seins vergessen. Dabei dacht’sch, er hätt’s mitghabt.“
Okay, nun wurde mir einiges klarer. Wie, warum die SMS so grammatisch korrekt geschrieben war, obwohl Mischa noch nicht einmal mehr grammatisch korrekt sprechen konnte.
Also hatte Mischa mir nicht betrunken geschrieben, sondern gar nicht. Scheiße.
Aber – aber Thomas … warum sollte er mir plötzlich so eine SMS schreiben? Was meinte er damit, „Dann tu was dagegen“? Wogegen?
„Sag was!“
„Was soll ich denn sagen, Mischa?“
„‘Schmag deine Stimme. So warm. Unddein Lächen.“ Kurz hörte es sich an, als ob er beim Sprechen selber lächeln würde, doch bei den nächsten Worten verschwand das wieder. „Misch lächest du fasst nie an. Nisch rischtig. Immanua Thomas. Das’nisch fair!“
„Du machst mich eben nervös“, erwiderte ich, während ich mich fragte, ob ich nicht besser auflegte. Ich wollte nicht auflegen, aber … aber Mischa hatte sich nicht selbst gemeldet, also galt das mit dem Abstand wohl immer noch. Jetzt sprach er zwar mit mir, aber nur, weil er betrunken war.
„‘Schwill nisch mea in disch valiebt sein.“
Ich erstarrte.
Autsch.
„Ech nisch. Tut nua weh.“
Ja. Mir auch. Weil er nicht mehr wollte und weil ich zu spät war und weil … weil es ihm wehtat.
„‘Schglaub, Jann’at Recht. ‘Schsuch mir ‘nen Kerl, jetße. Der Club’s voll davon.“
Mir wurde übel und ich konnte spüren, wie das Blut mein Gesicht verließ. Das musste er mir doch nun wirklich nicht sagen. Echt nicht. Ich begann, auf dem Flur auf und ab zu gehen.
„Du bist betrunken“, wiederholte ich lahm, „du wirst es morgen bereuen.“
„Vleicht. Nisch, wenn’s funkßioniert. Sons’auch egal.“
Jetzt sollte ich definitiv auflegen. Darauf, dass er mir im Detail erklärte, wie er den Typen genau aussuchen und aufreißen wollte, konnte ich nun wirklich verzichten.
„Tut’s das?“
„Was?“, fragte ich zurück, „Funktionieren?“
Er brummte zustimmend.
„Woher soll ich das wissen?“
„Du bissnich so vekamft wie’sch. Hassnischts gegn One-Night-S…s…“ Er brach ab und es hörte sich ein bisschen so an, als ob er nicht mehr wüsste, wie der Ausdruck endete.
Wie besoffen war er eigentlich?
Nicht mein Problem, sagte ich mir. Geht mich nichts an.
„Ich hab’s nicht ausprobiert“, erwiderte ich. Nein, ich hatte noch nicht einmal daran gedacht. Wozu sollte das auch gut sein, mit irgendeinem Fremden zu schlafen, wenn Mischa andauernd in meinem Kopf herumspukte? Das war absolut sinnbefreit. „Hast wohl auf mich abgefärbt.“
Er lachte, obwohl es kein Witz gewesen war. Es war ein ebenso deutlich betrunkenes Lachen, wie seine Aussprache deutlich betrunken war. Und dennoch rieselte es wie Eisregen meine Wirbelsäule entlang. Das war doch bekloppt. Betrunkene waren nicht sexy!
„Du wirst es morgen garantiert bereuen. Das ist dir klar?“, fragte ich und bereitete mich gedanklich darauf vor, das Gespräch nun wirklich zu beenden, und dann den Rest der Nacht möglichst nicht mehr an ihn zu denken.
Haha, genau. Als ob das funktionieren würde.
Vielleicht sollte ich mich auch betrinken.
„‘Smir egal“, erwiderte er fast trotzig, „‘Schleg heut Nacht wen flach. Aus’m Club.“
Tu, was du nicht lassen kannst.
Ich wünsch dir, dass es hilft.
Bitte nicht!
All das hätte ich sagen können, wollte ich sagen, aber ich schwieg. Es brachte sowieso nichts. Er war betrunken und ich hatte nach all der Scheiße nicht das Recht, so was zu sagen.
„‘Schbin im Bif…rösst.“
„Was?“, fragte ich, hörte aber nur das Tuten der toten Leitung. Er hatte aufgelegt, einfach so. Ohne Tschüss, ohne Neujahrswunsch –
Er war betrunken. Und hatte mir keine SMS geschrieben. Was erwartete ich denn?

Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, drückte Klaus die Pausentaste. Beide sahen mich an, Klaus neutral abwartend, Anita forschend und nicht gerade glücklich.
„Und?“, fragte sie schließlich, als ich eine halbe Minute ohne ein Wort zu sagen unschlüssig mitten im Zimmer gestanden hatte.
„Er hat mir nicht geschrieben, war wohl Thomas.“
Sie sah mich ungeduldig an. „Und um das herauszufinden, hast du solange gebraucht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Er ist betrunken. Will sich jetzt einen Typen zum Ficken suchen.“
Anitas Blick wurde dunkel. „Das hat er dir gesagt?“
„Ja. Hat sich erst während des Gesprächs dafür entschieden.“ Ich versuchte, meine Stimme so neutral wie möglich zu halten, aber es wollte mir nur leidlich gelingen. Eigentlich hatte ich auch keine Lust, hier Rede und Antwort zu stehen. Nein, mein Bett rief nun noch lauter als vorher nach mir und ich trank einen tiefen Schluck. Sobald die Flasche leer war, ging ich schlafen, Silvester hin oder her.
„Und das war alles?“, fragte sie mit einem Ton, der deutlich machte, dass sie Mischa gerade am liebsten filetiert hätte. Mit einem Buttermesser.
„Sein Kumpel hätte ihm gesagt, das würde helfen und Mischa sei in Sachen Sex zu verkrampft. Thomas holt jetzt Katja ab. Er mag mein Lächeln, aber er will nicht mehr in mich verliebt sein, weil’s nur weh tut. Er geht sich jetzt im Club ‘nen Typen suchen, weil vielleicht funktioniert’s ja und dann wird er es morgen auch nicht bereuen“, ratterte ich alle Punkte runter. Eigentlich hatten wir wirklich nichts gesagt. „Und er ist im … Beef Roast.“
„Wo?“
„Keine Ahnung. Er hat aufgelegt, bevor ich nachfragen konnte“, erwiderte ich. „Hörte sich aber nach Beef Roast an. Oder Beef Röst.“ Ich zuckte noch einmal mit den Schultern. „Is’ ja auch egal.“
Noch ein Schluck Bier. Noch ein oder zwei, dann war ich fertig.
„Wie jetzt“, begann Anita langsam, „er sagt dir: ‚Ich such mir jetzt einen Typen‘, fügt ‚Ich bin im Beef Roast‘ hinzu und hängt dann einfach auf?“
Ich nickte. „Wie gesagt: Er ist betrunken.“
Sie ächzte gequält. „Und du kombinatorisch in etwa so talentiert wie ein Stück Apfelkuchen.“ Sie sah zu Klaus, der den Blick ruhig erwiderte, und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass ich das tue“, murmelte sie vor sich hin, bevor sie Klaus wieder ansah. „Mach schon.“
Er lächelte zufrieden, nahm sich seinen Laptop vom Tisch und fing an zu tippen.
„Was wird das?“, fragte ich irritiert.
„Mi, versuch doch wenigstens, mitzudenken“, seufzte sie und klopfte neben sich aufs Sofa, „Der Typ, in den du verliebt bist und der dich wohl auch nicht so einfach vergessen kann, wie er gerne würde, sagt dir, er geht jetzt einen Kerl aufreißen. Und dann sagt er dir, in welchem Club er ist. Ungefragt, nehme ich an?“
Ich nickte. Ja, ungefragt.
Und dann verstand ich, worauf sie hinaus wollte.
„Nein“, sagte ich schnell, „garantiert nicht! Er will nicht – er hat das nicht gesagt, damit ich …“
„Wozu denn dann?“
„Er ist betrunken. Da muss nicht immer alles Gesagte einen Sinn ergeben“, erwiderte ich, „Außerdem: Er ist betrunken – hätte er gewollt, dass ich hingehe und ihn davon überzeuge, dass er sich keinen Silvester-One-Night-Stand suchen will, hätte er das genauso deutlich gesagt, wie er das mit dem Lächeln gesagt hat.“
„Es war deutlich, Milo.“
„Gefunden“, sagte Klaus und sah mich grinsend an, „Von wegen Beef Roast; wenn ich mich nicht täusche, ist er im Bifröst, einem Schwulenclub in der Nähe der Arena.“
Bifröst. Ja, das konnte auch sein.
Das Grinsen wich einem überraschten Ausdruck. „Der Eintrittspreis heute wird dir nicht gefallen.“ Er sah auf die Uhr, zurück auf den Bildschirm, überlegte einen Moment. „Na, bist du da bist, ist es eh nach Mitternacht. Dann ist’s billiger, aber immer noch unverschämt.“
„Ich geh da garantiert nicht hin!“, protestierte ich, „Er wollte Abstand.“
„Er hat das Gespräch angenommen, oder? Und geführt. Und, dass er immer noch in dich verliebt ist. Und er hat dir gesagt, wo er ist.“ Sie stoppte, schüttelte brüsk den Kopf. „Aber bitte, wenn dir das nicht genug ist, dann bleib hier. Heul noch einen Monat rum, dann such dir wen anderes. Mit etwas Glück findest du jemanden, der nicht aussieht wie Arnold 2.0.“
„Das tut er nicht!“, fuhr ich sie an, „Du hast ihn ja noch nicht einmal gesehen!“
„Du seit einem Monat auch nicht. Vielleicht hat er sich in der Zwischenzeit in Richtung Arnie verändert?“
Ich verschränkte die Arme und beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. „Ich habe keinen Bock, zuzusehen, wie er jemanden abschleppt.“
„Du wolltest doch zu Kreuze kriechen?“, fragte Klaus ruhig und wartete tatsächlich, bis ich widerwillig nickte. „Geh hin, bitte ihn, es nicht zu tun. Sag ihm, warum. Deutlich.“ Er ignorierte, dass sich mein Gesicht immer unwilliger verzog.
Das hatte ich doch schon versucht, als er nüchtern gewesen war. Was sollte es denn bringen, wenn er seine Meinung eh nicht änderte?
Aber Opi hatte gesagt, ich müsse am Ball bleiben. Bei ihm hätte es funktioniert.
„Es wäre ein Anfang.“ Klaus sah mich an. „Außer, du hast dich inzwischen entschlossen, aufzugeben. Oder willst einfach nicht mehr.“
„Was, wenn ihr ihn falsch versteht und er dennoch mit dem Kerl abzieht?“
„Wenn du hier bleibst, tut er das so oder so. Zu verlieren hast du also nichts, außer ein bisschen Stolz.“ Er zeigte auf den Laptop. „Soll ich dir die Karte ausdrucken? Ist ein ganzes Stück von der nächsten Haltestelle entfernt.“
Ich sah auf die Uhr. Zwanzig vor Zwölf. Irgendwie war ich kein bisschen mehr müde.
Wenn es bei Opi funktioniert hatte, war es wohl einen Versuch wert. Auch um zwanzig vor Mitternacht an Silvester. Und ich hatte mir ja vorgenommen, es wenigstens zu versuchen, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass ich das gleich nach meiner Rückkehr tun würde. Aber … wenn heute nicht die Nacht war, um gute Vorsätze in die Tat umzusetzen, wann denn dann?


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