Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Dienstag, 12. März 2013

Wieder und wieder 15:


Mein Stammeln. Ungetrunkener Kaffee. Sein Abstand.



Zwanzig Minuten konnten verdammt lange dauern. Noch schlimmer: Sie konnte sich erst zu einer Ewigkeit ausdehnen und dann plötzlich zu wenigen Millisekunden zusammenfallen. So fühlte es sich jedenfalls an, als ich auf der harten Holzbank saß und wie in Trance dabei zusah, wie Mischa vor seinem Trainer herumtänzelte und mit beeindruckender Geschwindigkeit und Präzision Schlagkombinationen und Schrittverbindungen übte, während Mike sich wie ein Gegner bewegte, bloß, ohne selber anzugreifen. Dafür konnte ich die geknurrten Befehle hören, die nach mehr Geschwindigkeit, mehr Automatisierung, mehr Power verlangten. Ich an seiner Stelle hätte Angst gehabt, dass Mischa einmal, nur ein einziges Mal daneben schlug und statt der schwarzroten Pratze mein Gesicht traf.
Nein, Boxen war eindeutig nichts für mich. Ich hätte zu viel Angst, nicht nur mir, sondern auch dem anderen wehzutun. Soviel Körperbeherrschtheit und Rhythmusgefühl würde ich nie und nimmer aufbauen können. Zuschauen aber hatte etwas Faszinierendes. Es war wie ein Tanz, nein, es war ein Tanz. Und niemand kam dabei zu Schaden, zumindest nicht heute, außerhalb des Ringes.
Und dann war es zu Ende. Sie stoppten wie auf Kommando und während Mischa erst in ein lockerndes Auf-der-Stelle-Joggen überging, redete Mike leise auf ihn ein, zeigte ihm verlangsamt ein paar Schläge und Abfolgen und deutete ihn wohl generell auf die zu verbessernden Dinge hin. Mischa nickte, blieb irgendwann stehen, ging zu dynamischem Dehnen über, sagte selber etwas. Als Mike ihm schließlich auf die Schulter klopfte und sich verabschiedete, schloss er mit ein paar statischen Dehnübungen ab. Und sah dabei immer noch verboten gut aus.

Mir war klar, dass er nun innerhalb von kürzester Zeit auch an mir vorbeigehen und mir, anders als Mike, nicht nur einen Seitenblick und ein freundliches Nicken schenken würde. Und schon wieder wäre ich am liebsten weggerannt, doch ich blieb sitzen, fühlte mich, als ob mein Arsch auf dem Holz festgefroren sei.
Mischa ging einige Schritte, beugte sich runter und hob eine Trinkflasche und ein Handtuch auf. Nach ein paar kräftigen Schlucken war meine Schonfrist vorüber, denn er drehte sich um und kam in meine Richtung. Er wischte sich mit dem Tuch über die Stirn, trank noch etwas der braunen Flüssigkeit in der Flasche – Proteinshake? – und kam generell immer näher ohne mich zu bemerken. Ich wollte aufstehen, etwas sagen, mich bewegen, aber nichts davon funktionierte. Mir wurde plötzlich klar, dass er, wenn er mich nicht von selbst bemerkte, an mir vorbeigehen würde, weil ich ihn nicht auf mich aufmerksam machen konnte.
Scheiße! Das konnte doch nicht wahr sein – er war nur ein Kerl, verdammt noch mal! Klar, ich hatte mich scheiße verhalten und wir hatten uns drei Wochen nicht mehr gesehen und er war nebenbei noch ein verdammt gut aussehender und momentan verschwitzter Kerl, aber dennoch: Er hatte zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf und fünf Sinne – Durchschnitt, verdammt noch mal!
… Wen wollte ich den hier eigentlich überzeugen? Mich oder mich?
Und dann traf sein Blick auf meinen, er blieb stehen und ich schoss hoch, bis ich unsicher auf meinen Füßen stand. Weiter kam ich nicht, aber hey, wenigstens etwas!
Sein Atem ging stockend, der Haaransatz war nicht feucht, sondern nass und in seinem Gesicht zeigte sich alles und gar nichts. War er schon immer so groß gewesen?
„Hi“, brachte ich schließlich leise raus und hätte mir dafür am liebsten selbst in den Arsch getreten. Hi, ja, das hörte sich absolut und definitiv nach der richtigen Begrüßung an!
„Ich, äh …“, fuhr ich schnell fort, weil ich plötzlich Angst hatte, noch nicht mal ein Hi zurückzubekommen. Irrationale Angst, da Mischa gut genug erzogen war, um andere zu grüßen. „Ich wollte … also – können … wir … reden? Wenn du Zeit hast?“
Sein Blick war unergründlich und immer noch starr auf mich gerichtet und machte mich noch nervöser, als ich sowieso schon war. Dass ich bemerkte, wie sich seine Faust um das Handtuch ballte, machte es nicht besser.
„Nur kurz“, schickte ich hinterher, „bitte?“
Am Rande nahm ich die Stimme der Trainerin der kleinen Gruppe wahr, die irgendwelche Anweisungen gabt, aber sie war nicht wichtig genug, verschwamm trotz des beachtlichen Stimmvolumens zu Undeutlichkeit.
Schließlich stieß er die Luft aus seinen Lungen und wandte sich ab. „Ich muss duschen.“
Ich sah ihm hinterher und wusste nicht, wie ich das auffassen sollte. Ja oder Nein? Geh weg oder Warte hier?
Ich beschloss, dass ich warten würde. Wenn ich schon frech genug war, um hier einfach so aufzutauchen, dann konnte ich auch frech genug sein, den Satz so auszulegen, wie es mir am besten passte.
Wahrscheinlich brauchte er gar nicht so lange, ziemlich sicher war es kürzer als zwanzig Minuten, aber die zwanzig Minuten vorher waren mir um einiges leichter vorgekommen. Als er aus der Tür trat, durch die auch Ecki vorhin gekommen war, in Jeans und Jacke, Sporttasche in der Hand, und in meine Ecke sah, bemerkte ich seine Anspannung sogar aus der Entfernung. Dennoch wartete er, bis ich bei ihm ankam.
„Ah, habt ihr euch gefunden? Super!“, sagte Ecki, als er vom Computer, der auf dem Tresen stand, aufsah, „Habt noch ‘n schönen Abend!“
„Du auch. Bis Sonntag – oder lässt du das ausfallen?“
„Hey, so alt bin ich nicht! Die eine kleine Party steck ich noch weg!“ Ecki grinste, Mischa auch. Das hatte ich wirklich vermisst. Es sah so – so –
Und dann wandte er sich von Ecki ab und es war verschwunden.
Wenn ich ehrlich war, war es auch nicht das Grinsen gewesen, dass ich vermisst hatte. Meines war entspannter, echter. Aber es war besser als gar kein Grinsen.
Wir verließen das Boxstudio und den Innenhof und traten auf den Bürgersteig.
„Wohin?“, fragte er viel zu ruhig.
„Weiß nicht“, antwortete ich und erinnerte mich dann nur noch an Anitas Vorschläge, „Kennst du einen Park oder ein ruhiges Café in der Nähe?“
Er nickte und wandte sich nach rechts. Wir sprachen nicht, während wir gingen. Worüber auch? Smalltalk wäre unangebracht gewesen und etwas anderes tauschte man auf dem Weg zur nächsten Sitzgelegenheit nun mal nicht aus.

Das Café, zu dem er mich führte, war klein und verwinkelt. Er ging zielsicher bis ganz nach hinten zu einem Holztisch, dessen Stühle mit zu großen, zu dicken Kissen ausgestattet waren. Ich hatte ein wenig Angst, mich dumm anzustellen und runterzufallen, aber das Kissen gab nach und mein Hintern fand sicheren Halt. Eins zu null für mich.
Ich nahm mir eine der beiden Karten und tat, als ob ich nach etwas zu trinken suchte, obwohl ich natürlich dasselbe wie immer nehmen würde. Aber so konnte ich mir wenigstens noch ein wenig Zeit verschaffen, in der ich vielleicht endlich den Geistesblitz haben würde, auf den ich schon die ganze Zeit wartete.
Mischa nahm ebenfalls die Karte, legte sie aber kurz darauf geschlossen wieder hin und ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Wir waren die einzigen Gäste hier hinten, was wohl der Sinn seiner Wahl gewesen war.
Im Gegensatz zu mir sah er nicht scheiße aus, auch nicht aus der Nähe, auch nicht nach eingehender Betrachtung aus den Augenwinkeln. Keine Augenringe, keine ungesunde Gesichtsfarbe, keine widerspenstigen Haare, für die er keinen Nerv gehabt hatte. Keine zerknitterten Kleider.
Als der Kellner in aller Seelenruhe zu uns geschlendert kam und uns mit einem lässigen Lächeln begrüßte, legte ich die Karte widerwillig nieder. Wir bestellten, der Kellner verzog sich, wir saßen uns gegenüber. Und warteten. Er darauf, dass ich anfing, ich darauf, dass ich einen Anfang fand. Nach einer Ewigkeit landete sein Blick auffordernd auf mir und meiner senkte sich auf die Tischplatte.
Das war doch lächerlich! Einfach lächerlich!
Ich wusste doch, was ich zu sagen hatte, eigentlich. Und wenn ich nicht bald anfing, würde er sicher die Geduld verlieren. Noch einmal, das war mir überdeutlich bewusst, würde ich das wahnwitzige bisschen Mut in meinen Adern nicht zusammenkratzen können, um ihm irgendwo aufzulauern. Also jetzt oder gar nie!
„Ich …“ brach ab.
Super, ich hatte bereits ein ganzes Wort gesagt. Ich konnte echt stolz auf mich sein. Aber wie entschuldigte man sich eloquent für generell alles und so einige Dinge im Speziellen?
Klaus mit seinem ‚aus dem Bauch raus‘ hatte gut reden – mein Bauch war viel zu beschäftigt damit, an der Grenze zur Übelkeit zu balancieren.
Neuer Versuch.
„Du …“ Ich sah hoch und die grünen Sprenkel schnürten mir die Kehle zu. Wie konnten sie selbst dann so leuchten, wenn der Blick so gezwungen ruhig war? Und wie konnte er auf dem kleinen, trotz zu großen Sitzkissens unbequemen Stuhl so verdammt gut aussehen? Und warum konnte er mich nicht anlächeln? Anschmunzeln? Angrinsen? Irgendwas? Dieser harte Zug passte nicht zu seinem Mund, machte die Lippen schmaler und strenger und … und ließ ihn so abweisend aussehen, dass meine Stimme Selbstmordgedanken bekam.
Der Kaffee kam, bevor ich einen zusammenhängenden Satz herausgebracht hatte. Der Kellner verschwand erneut, aber ich hatte seinen verwunderten Blick durchaus bemerkt.
Mischas Kiefer begann zu arbeiten. Ich konnte verstehen, dass er ungeduldig wurde – wurde ich ja auch und dabei war ich derjenige, der hier nicht vom Fleck kam!
Ich verbot mir, den Latte auch nur anzurühren, bevor ich nicht mindestens einen Anfang gefunden und ausgesprochen hatte, aber auch das half nur mäßig. Erst, als Mischa den Mund öffnete und ich Panik bekam, weil ich mir plötzlich sicher war, dass er nun aufstehen und gehen würde, blökte ich ein hastiges „Du bist keine Sprechrolle!“ hervor.
Er sah mich überrascht und fragend an.
„Was?“, präzisierte er, als ich keine Anstalten machte, mich zu erklären.
„Du bist keine Sprechrolle“, wieder holte ich, „und kein Statist. In … meinem Leben, meine ich. Also – du … ich …“
Scheiße! Sicher, ich war weder ein Obama, noch ein Cicero oder verdammter Shakespeare, aber eigentlich brachte ich doch meistens das, was ich ausdrücken wollte, in Form deutlich artikulierter Wörtern aus meinem Hals raus! Sicher, es waren öfter mal fatal schlecht gewählte Wörter, aber Stammeln gehörte eigentlich nicht zu meinem Repertoire, Stummheit auch nicht! Auch, wenn ich heute auf keinen Fall wieder eine fatal schlechte Wortwahl treffen wollte, sollte es dennoch im Bereich des Möglichen liegen, den Kern der Aussage rüberzubringen, oder? Halbwegs verständlich und so wenig verletzend, wie nur irgend möglich.
„Was bin ich dann?“, fragte er nach einem Moment, immer noch ruhig, immer noch … beherrscht. Ja, das war er: beherrscht.
Das richtige Wort für Mischas momentanen Seinszustand gefunden zu haben half mir leider nicht weiter, denn augenblicklich fragte ich mich, was er beherrschen, was zurückhalten musste.
Keine der Antworten, die durch meinen Kopf flogen, waren besonders angenehm. Also schob ich sie beiseite und konzentrierte mich auf meine Antwort.
„Haupt…rolle?“ Meine Stimme war viel zu dünn und viel zu leise, um überzeugt zu klingen, obwohl ich nicht am Wahrheitsgehalt der Antwort zweifelte. Aber es auszusprechen war ein anderes Paar Schuhe. Dennoch wiederholte ich bestimmter: „Momentan definitiv eine … Hauptrolle.“
Er saß still, sein Blick wurde intensiver. „Momentan.“
Ich zuckte mit den Schultern. Ja, momentan. Bis vor zwei Monaten nicht, da war er in meiner Welt schließlich nicht existent gewesen, und wie lange es dauern würde, bis ich ihn in der Erinnerung zu einer Nebenrolle hinunterstufte, konnte ich nicht wissen.
Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, schaffte es aber nur wenige Sekunden. Er war so nah, seit drei Wochen das erste Mal, und dennoch war es unmöglich, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Wegen der Art, wie er seine Schultern gestrafft hielt und wegen diesem Zug um seinen Mund. Und auch wegen dem Blick, mit dem er mich nun musterte und nach etwas zu suchen schien. Und dabei wollte ich gerade nichts anderes tun, als ihn zu berühren.
Ich nahm den Löffel und kostete den Milchschaum, nun, da ich wenigstens einen Anfang gefunden hatte, wenn auch keinen besonders eloquenten. Kaum hatte ich das getan, seufzte Mischa.
„Wieso sind wir hier?“
Ich sah hoch, der zweite Löffel Schaum blieb in der Luft hängen. War das nicht offensichtlich? Ich hatte doch gesagt, ich wollte reden – gut, gerade das schien nicht ganz zu funktionieren, aber das war doch irgendwie verständlich, oder? Viele Leute hatten das ein oder andere Problem, wenn sie ihr Fehlverhalten offen der betroffenen Person gegenüber eingestehen mussten. Und – und außerdem hatte ich ihm doch … in der SMS stand doch, dass ich ihn vermisste. War doch klar, dass ich ihn auch deshalb sehen wollte, oder? Weil er eben nicht da gewesen war.
„Ich will mich entschuldigen“, begann ich und wurde von einem ton- und humorlosen Lachen unterbrochen.
Der Ausdruck war zurück. Auf seinem Gesicht, der traurige, verletzte – warum?! Was hatte ich jetzt getan, um den zu provozieren?
„Angenommen“, sagte er in einem neutralen Tonfall, der so gar nicht zu dem Gesichtsausdruck passen wollte.
Nun war es an mir, „Was?“ zu fragen.
„Die Entschuldigung ist angenommen“, verdeutlichte er und trank einen großen Schluck seines garantiert noch heißen Kaffees. „Wenn das alles war …“ Er stand auf.
„Wa… Mischa!“ Ich hielt ihn am Arm fest. „Wieso willst du jetzt gehen?“
„Wozu sollte ich bleiben?“
„Damit wir reden können!“
Er schüttelte den Kopf, stand auf und nahm Jacke und Sporttasche.
Warum? Was sollte das so plötzlich? Was zum verfluchten Henker hatte ich falsch gemacht?!
„Ich denke, wir haben alles gesagt.“
Ich ließ seinen Arm nicht los und stellte mich ihm in den Weg. „Du hast mich noch nicht einmal ausreden lassen!“, fuhr ich ihn an, „Wie können wir da alles gesagt haben? Du kannst eine Entschuldigung nicht annehmen, bevor sie ausgesprochen wurde!“
„Ich will aber keine Entschuldigungen, verdammt! Ich hatte … ich dachte, du wärest vielleicht hier, weil … wie kannst du sagen, ich spiele eine Hauptrolle und dann …“ Er brach ab und fuhr sich durch die Haare. „Du wolltest dein Gewissen beruhigen, das hast du getan. Warum sollten wir weiter hier bleiben?“
Ich sah ihn geschockt an. „Ich wollte nicht nur mein Gewissen beruhigen. Ich habe dich vermisst. Das hab ich doch schon … in der SMS …“
„Bei der du garantiert betrunken warst.“
„Woher …?“
Der harte Zug um seinen Mund vertiefte sich. „Weil bisher immer so war? Du warst immer entweder betrunken oder hast sonst irgendwie neben dir gestanden, wenn du die Mauern ein wenig heruntergefahren hast. Die einzige Ausnahme war bei dem Kinobesuch und wir haben ja gesehen, was dabei herausgekommen ist.“
Ich starrte ihn an. Das war doch nicht … das konnte gar nicht stimmen. Oder?! Aber je mehr ich zurückdachte – auch nach dem Date mit Alex, als ich Mischa das erste Mal an den Kopf geworfen hatte, das er mir nicht mehr aus dem Kopf ging, war ich betrunken gewesen.
„Jetzt bin ich nicht betrunken“, erwiderte ich schließlich leise.
„Und jetzt willst du mit mir zusammen sein? Traust mir nicht mehr zu, dich bei der nächsten Gelegenheit zu betrügen, nur weil ich dich an deinen Michael erinnere?“
Die Frage, so direkt und in dem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er glaubte, die Antwort schon zu kennen, traf mich wie ein Schwall Eiswasser. Doch eine Antwort erwartete, wollte er offenbar nicht, denn als ich den Mund zu einer öffnete, fuhr er bereits fort:
„Du hast gesagt, es ist aus. Und nun hast du dich dafür entschuldigt, wie du diese Nachricht gehandhabt hast.“ Ich wollte protestieren, aber er hielt mich mit einem Blick davon ab. „Milo, du … du sagst, du ‚vermisst’ mich, du willst mit mir befreundet sein – aber ich habe dir bereits gesagt: Das reicht mir nicht! Wenn …“
„Und du sagst das, als wäre es völlig nebensächlich!“, brach es aus mir heraus und ich starrte ihn wütend an, „Aber für mich ist es das nicht, okay? Ich bin es nicht gewohnt, Leute zu vermissen – ich meine, ich werde es genießen, Weihnachten bei meinen Eltern zu sein, aber ich sitze nicht rum und denke darüber nach, dass sie nicht da sind. Und Anita habe ich manchmal wochenlang nicht gesehen und es ist mir nicht einmal richtig aufgefallen – bei Klaus noch länger, weil der genauso ist. Michael hab ich auch nicht vermisst. Weder während noch danach. Ich war wütend und verletzt, aber ich habe nicht in meinem Zimmer gesessen und daran gedacht, wie verdammt nicht da er war!“ Plötzlich, bemerkte ich, hatte ich keine Probleme mehr, den Mund aufzubekommen. Wenigstens etwas. „Wenn ich sage, dass ich dich vermisse, dann ist das für mich nichts, was in einem Nebensatz abgetan werden könnte!“ 
Ich packte ihn grob am Nacken und zog ihn zu mir runter. Wahrscheinlich ließ er es nur wegen des Überraschungseffektes zu, aber in dem Moment, als meine Lippen seine berührten, war mir das scheiß egal. Am Rande fiel mir auf, dass es schon wieder ich war, der den ersten Kuss initiierte, wie bei dem Zombie-Abend. Aber als Mischas Arme sich um mich schloss, wurde es unwichtig. Seine Umarmung war fast schon schmerzhaft stark, aber ich wollte es gar nicht anders, sondern drängte mich noch fester an ihn. Zähne klackten aufeinander, Finger gruben sich in Haut, Atem wurde zum Luxusgut. Und dann war es vorbei. Er schob mich von sich.
Noch bevor ich wusste, was passierte, legte er einen Fünf-Euroschein für den Kaffee auf den Tisch.
„Ich will niemanden, der mich nur dann will, wenn er aufgewühlt oder betrunken ist. Niemanden, der es am Morgen danach bereut oder erst davon überzeugt werden muss, es nicht zu bereuen.“
„Mi…“
Er schüttelte den Kopf in einer deutlichen „Nicht“-Geste. Er öffnete den Mund, überlegte es sich aber anders und schloss ihn mit einem frustrierten Kopfschütteln.
„Mach’s gut.“
Und dann ging er.

Ich stand wie versteinert da und sah dabei zu, wie sein Rücken um die Ecke verschwand, auf dem Weg in den Vorderraum des Cafés und von da aus …
Meine Füße setzten sich in Bewegung, bevor mein Hirn den Befehl geben konnte. Ich hatte vorhin nicht übertrieben: Mischas Nicht-da-sein war viel schlimmer gewesen als Michaels … Abwesenheit, ja, aber auch als die Trennung als Ganzes. Bei der Trennung hatte ich keine Wahl gehabt – doch schon, aber die Option, mit ihm zusammenzubleiben war nicht vertretbar. Außerdem hätte sich das Bild des Spargeltarzans deswegen nicht in Luft aufgelöst. Aber hier, hier hatte ich eine Wahl. Entweder, ich ließ ihn gehen und konnte mich auf eine Fortsetzung der letzten drei Wochen freuen, oder – oder ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, mir noch eine Chance zu geben. Und wenn, dann … 
Irgendwann würde es wahrscheinlich wehtun, ja. Weil die wenigsten Beziehungen bis zum Tod hielten, vor allem, wenn einer der beiden ein Talent hatte, genau das Falsche zu tun und zu sagen. Und es würde schlimmer sein als bei Michael. So. Viel. Schlimmer. Aber … davor … davor hatte es gute Chancen, um Welten besser zu werden als das Jahr mit Michael. Und sogar, wenn nicht – ich wollte die letzten drei Wochen nicht fortsetzen und ich wollte den Ausdruck nicht mehr auf Mischas Gesicht wissen. Vielleicht sah er nicht so schlecht aus wie ich, aber die Anspannung in seinem Körper, der starre Blick hatten ebenso eine Geschichte zu erzählen wie die Ringe unter meinen Augen.
Ich bekam ihn in dem schmalen Flur zu fassen, der zum Vorderraum führte. Noch einmal griff ich nach ihm, hielt ihn am Ärmel fest.
Er drehte sich halb zu mir um und sah mich mit einer Mischung aus Überraschung, Wut, Frust, Verwunderung, Schmerz und … und etwas an, das meinen Mund trocken werden ließ.
„Essen?“, krächzte ich ohne genau zu wissen, was ich eigentlich sagte. Aus dem Bauch raus, hatte Klaus gemeint. Nun, mein Bauch offenbar nicht besonders einfallsreich.
Seine Augenbrauen hoben sich. „Bitte?“
„Möcht… ich – würdest du … essen gehen? Mit mir?“
Die Mischung in seinen Augen brauste auf, blieb aber größtenteils dieselbe. Dann schloss er sie für einen Moment.
Als er mich wieder ansah, huschte sein Blick über mein Gesicht. Den Leberfleck konnte ich leider nicht sehen, da er vom Kragen verdeckt war, aber ich war mir sicher, dass er ebenso pulsierte wie die freigelassene Haut. Es war gleichzeitig viel schwerer und viel leichter, mich dazu zu zwingen, ihm in die Augen zu sehen, als es hätte sein sollen. Ich tat es so selbstsicher wie möglich und ignorierte, dass sein Kiefer schon wieder arbeitete.
Bis ich es nicht mehr aushielt, was, zugegeben, nicht sehr lange war.
„Du schuldest mir auch noch ein Essen.“
„Was?“
Ich nickte etwas zu heftig. „Also, eigentlich schulde ich dir eines, aber du schuldest mir die Möglichkeit, die Schuld bei dir begleichen zu können.“ Was natürlich nicht stimmte, da ich mir die selbst genommen hatte. Ich griff nach Strohhalmen, aber das war mir gerade egal. Ich war selber dafür verantwortlich, dass mir nur Strohhalme geblieben waren.
„Das Drei-Gänge-Menü?“, fuhr ich fort, „Wegen der Nachhilfe? Du hast gesagt, wenn es länger als ‘ne Woche dauert, gibt’s Zinsen und – und ich weiß nicht, was du dir darunter vorgestellt hast, aber ich dachte, statt von mir angekohlte Möhren vorgesetzt zu bekommen wär ein Menü von jemandem, der wirklich kochen kann, nicht schlecht? Mit Vorspeise und Nachspeise und …“ Mir wurde bewusst, dass meine Erklärung ins Sinnlose abrutschte und brach ab. Vorspeise und Nachspeise, ja, und sogar einen Hauptgang! Oder eben drei. Wirklich, wie ein Restaurantbesuch ablief, musste ich ihm nicht erklären.
„Du willst deine Schulden wegen der Nachhilfe begleichen?“
„Nein!“ Ich zog an seinem Arm, bis er sich ganz zu mir umdrehte. „Ich will mit dir essen gehen. Aber … falls du eine Ausrede …“
Mischas Blick wurde wieder undeutbar. Zumindest für mich.
„Ich bin nicht du“, erwiderte er ruhig, „Ich brauche keine Ausrede, wenn ich mit jemandem essen gehen will.“
„Ich weiß.“ Aber was, wenn er nicht sicher war, ob er wollte oder nicht? Ansonsten hätte er doch schon längst geantwortet.
Das tat er auch weiterhin nicht. Was jetzt? Die Hand von seiner Jacke nehmen, ihn gehen lassen? Die Idee fand mein Bauch so gar nicht berauschend. Aber ewig hier stehen konnte wir auch nicht. Ich hörte, wie ein paar Gäste das Café betraten und sich zum Glück vorne einen Platz suchten.
Je länger es dauerte, desto sicherer wurde ich mir, dass er Nein sagen würde.
„Ich bin nicht betrunken, aber auch kein Quell der inneren Ruhe, gerade“, sagte ich schließlich, „Ich werd die Einladung nicht bereuen, sobald ich mich beruhigt habe, aber … wenn du möchtest, kann ich dich morgen anrufen und … noch einmal fragen. Vielleicht bin ich dann ruhiger und vielleicht … hast du dann eine Antwort.“
Er zögerte, doch dann schüttelte er den Kopf.
„Ich denke, das ist keine gute Idee. Das Anrufen. Und das Essen.“
Mein Bauch zog sich auf die Größe eines Sandkorns zusammen.
„Ich brauch erst mal Abstand. Versteh das bitte.“
Mein Nicken kam automatisch, denn dem bittenden, ruhigen und gleichzeitig unterschwellig grollenden Ton hatte ich nichts entgegenzusetzen. Ich musste meine Finger zwingen, sich Millimeter für Millimeter seiner Jacke zurückzuziehen. Als er sich abwandte, verstand ich zum ersten Mal, dass es manchmal mehr Kraft benötigte, jemanden loszulassen als ihn festzuhalten.

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