Mein Stammeln. Ungetrunkener Kaffee. Sein Abstand.
Zwanzig Minuten konnten
verdammt lange dauern. Noch schlimmer: Sie konnte sich erst zu einer Ewigkeit
ausdehnen und dann plötzlich zu wenigen Millisekunden zusammenfallen. So fühlte
es sich jedenfalls an, als ich auf der harten Holzbank saß und wie in Trance
dabei zusah, wie Mischa vor seinem Trainer herumtänzelte und mit
beeindruckender Geschwindigkeit und Präzision Schlagkombinationen und
Schrittverbindungen übte, während Mike sich wie ein Gegner bewegte, bloß, ohne
selber anzugreifen. Dafür konnte ich die geknurrten Befehle hören, die nach
mehr Geschwindigkeit, mehr Automatisierung, mehr Power verlangten. Ich an
seiner Stelle hätte Angst gehabt, dass Mischa einmal, nur ein einziges Mal
daneben schlug und statt der schwarzroten Pratze mein Gesicht traf.
Nein, Boxen war eindeutig
nichts für mich. Ich hätte zu viel Angst, nicht nur mir, sondern auch dem
anderen wehzutun. Soviel Körperbeherrschtheit und Rhythmusgefühl würde ich nie
und nimmer aufbauen können. Zuschauen aber hatte etwas Faszinierendes. Es war
wie ein Tanz, nein, es war ein Tanz. Und niemand kam dabei zu Schaden,
zumindest nicht heute, außerhalb des Ringes.
Und dann war es zu Ende. Sie
stoppten wie auf Kommando und während Mischa erst in ein lockerndes
Auf-der-Stelle-Joggen überging, redete Mike leise auf ihn ein, zeigte ihm
verlangsamt ein paar Schläge und Abfolgen und deutete ihn wohl generell auf die
zu verbessernden Dinge hin. Mischa nickte, blieb irgendwann stehen, ging zu
dynamischem Dehnen über, sagte selber etwas. Als Mike ihm schließlich auf die
Schulter klopfte und sich verabschiedete, schloss er mit ein paar statischen
Dehnübungen ab. Und sah dabei immer noch verboten gut aus.
Mir war klar, dass er nun
innerhalb von kürzester Zeit auch an mir vorbeigehen und mir, anders als Mike,
nicht nur einen Seitenblick und ein freundliches Nicken schenken würde. Und
schon wieder wäre ich am liebsten weggerannt, doch ich blieb sitzen, fühlte
mich, als ob mein Arsch auf dem Holz festgefroren sei.
Mischa ging einige Schritte,
beugte sich runter und hob eine Trinkflasche und ein Handtuch auf. Nach ein
paar kräftigen Schlucken war meine Schonfrist vorüber, denn er drehte sich um
und kam in meine Richtung. Er wischte sich mit dem Tuch über die Stirn, trank
noch etwas der braunen Flüssigkeit in der Flasche – Proteinshake? – und
kam generell immer näher ohne mich zu bemerken. Ich wollte aufstehen, etwas
sagen, mich bewegen, aber nichts davon funktionierte. Mir wurde plötzlich klar,
dass er, wenn er mich nicht von selbst bemerkte, an mir vorbeigehen würde, weil
ich ihn nicht auf mich aufmerksam machen konnte.
Scheiße! Das konnte doch
nicht wahr sein – er war nur ein Kerl, verdammt noch mal! Klar, ich
hatte mich scheiße verhalten und wir hatten uns drei Wochen nicht mehr gesehen
und er war nebenbei noch ein verdammt gut aussehender und momentan
verschwitzter Kerl, aber dennoch: Er hatte zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf
und fünf Sinne – Durchschnitt, verdammt noch mal!
… Wen wollte ich den
hier eigentlich überzeugen? Mich oder mich?
Und dann traf sein Blick auf
meinen, er blieb stehen und ich schoss hoch, bis ich unsicher auf meinen Füßen
stand. Weiter kam ich nicht, aber hey, wenigstens etwas!
Sein Atem ging stockend, der
Haaransatz war nicht feucht, sondern nass und in seinem Gesicht zeigte sich
alles und gar nichts. War er schon immer so groß gewesen?
„Hi“, brachte ich schließlich
leise raus und hätte mir dafür am liebsten selbst in den Arsch getreten. Hi,
ja, das hörte sich absolut und definitiv nach der richtigen Begrüßung an!
„Ich, äh …“, fuhr ich
schnell fort, weil ich plötzlich Angst hatte, noch nicht mal ein Hi
zurückzubekommen. Irrationale Angst, da Mischa gut genug erzogen war, um andere
zu grüßen. „Ich wollte
… also – können … wir … reden? Wenn du Zeit
hast?“
Sein Blick war unergründlich
und immer noch starr auf mich gerichtet und machte mich noch nervöser, als ich
sowieso schon war. Dass ich bemerkte, wie sich seine Faust um das Handtuch
ballte, machte es nicht besser.
„Nur kurz“, schickte ich
hinterher, „bitte?“
Am Rande nahm ich die Stimme
der Trainerin der kleinen Gruppe wahr, die irgendwelche Anweisungen gabt, aber
sie war nicht wichtig genug, verschwamm trotz des beachtlichen Stimmvolumens zu
Undeutlichkeit.
Schließlich stieß er die Luft
aus seinen Lungen und wandte sich ab. „Ich muss duschen.“
Ich sah ihm hinterher und
wusste nicht, wie ich das auffassen sollte. Ja oder Nein? Geh weg oder Warte
hier?
Ich beschloss, dass ich
warten würde. Wenn ich schon frech genug war, um hier einfach so aufzutauchen,
dann konnte ich auch frech genug sein, den Satz so auszulegen, wie es mir am
besten passte.
Wahrscheinlich brauchte er
gar nicht so lange, ziemlich sicher war es kürzer als zwanzig Minuten, aber die
zwanzig Minuten vorher waren mir um einiges leichter vorgekommen. Als er aus
der Tür trat, durch die auch Ecki vorhin gekommen war, in Jeans und Jacke,
Sporttasche in der Hand, und in meine Ecke sah, bemerkte ich seine Anspannung
sogar aus der Entfernung. Dennoch wartete er, bis ich bei ihm ankam.
„Ah, habt ihr euch gefunden?
Super!“, sagte Ecki, als er vom Computer, der auf dem Tresen stand, aufsah,
„Habt noch ‘n schönen Abend!“
„Du auch. Bis
Sonntag – oder lässt du das ausfallen?“
„Hey, so alt bin ich
nicht! Die eine kleine Party steck ich noch weg!“ Ecki grinste, Mischa auch.
Das hatte ich wirklich vermisst. Es sah so – so –
Und dann wandte er sich von
Ecki ab und es war verschwunden.
Wenn ich ehrlich war, war es
auch nicht das Grinsen gewesen, dass ich vermisst hatte. Meines war
entspannter, echter. Aber es war besser als gar kein Grinsen.
Wir verließen das Boxstudio
und den Innenhof und traten auf den Bürgersteig.
„Wohin?“, fragte er viel zu
ruhig.
„Weiß nicht“, antwortete ich
und erinnerte mich dann nur noch an Anitas Vorschläge, „Kennst du einen Park
oder ein ruhiges Café in der Nähe?“
Er nickte und wandte sich
nach rechts. Wir sprachen nicht, während wir gingen. Worüber auch? Smalltalk
wäre unangebracht gewesen und etwas anderes tauschte man auf dem Weg zur
nächsten Sitzgelegenheit nun mal nicht aus.
Das Café, zu dem er mich führte,
war klein und verwinkelt. Er ging zielsicher bis ganz nach hinten zu einem
Holztisch, dessen Stühle mit zu großen, zu dicken Kissen ausgestattet waren.
Ich hatte ein wenig Angst, mich dumm anzustellen und runterzufallen, aber das
Kissen gab nach und mein Hintern fand sicheren Halt. Eins zu null für mich.
Ich nahm mir eine der beiden
Karten und tat, als ob ich nach etwas zu trinken suchte, obwohl ich natürlich
dasselbe wie immer nehmen würde. Aber so konnte ich mir wenigstens noch ein
wenig Zeit verschaffen, in der ich vielleicht endlich den Geistesblitz haben
würde, auf den ich schon die ganze Zeit wartete.
Mischa nahm ebenfalls die
Karte, legte sie aber kurz darauf geschlossen wieder hin und ließ seinen Blick
durch den Raum gleiten. Wir waren die einzigen Gäste hier hinten, was wohl der
Sinn seiner Wahl gewesen war.
Im Gegensatz zu mir sah er
nicht scheiße aus, auch nicht aus der Nähe, auch nicht nach eingehender
Betrachtung aus den Augenwinkeln. Keine Augenringe, keine ungesunde
Gesichtsfarbe, keine widerspenstigen Haare, für die er keinen Nerv gehabt
hatte. Keine zerknitterten Kleider.
Als der Kellner in aller
Seelenruhe zu uns geschlendert kam und uns mit einem lässigen Lächeln begrüßte,
legte ich die Karte widerwillig nieder. Wir bestellten, der Kellner verzog
sich, wir saßen uns gegenüber. Und warteten. Er darauf, dass ich anfing, ich
darauf, dass ich einen Anfang fand. Nach einer Ewigkeit landete sein Blick
auffordernd auf mir und meiner senkte sich auf die Tischplatte.
Das war doch lächerlich!
Einfach lächerlich!
Ich wusste doch, was ich zu
sagen hatte, eigentlich. Und wenn ich nicht bald anfing, würde er sicher die
Geduld verlieren. Noch einmal, das war mir überdeutlich bewusst, würde ich das
wahnwitzige bisschen Mut in meinen Adern nicht zusammenkratzen können, um ihm
irgendwo aufzulauern. Also jetzt oder gar nie!
„Ich …“ brach ab.
Super, ich hatte bereits ein
ganzes Wort gesagt. Ich konnte echt stolz auf mich sein. Aber wie entschuldigte
man sich eloquent für generell alles und so einige Dinge im Speziellen?
Klaus mit seinem ‚aus dem
Bauch raus‘ hatte gut reden – mein Bauch war viel zu beschäftigt
damit, an der Grenze zur Übelkeit zu balancieren.
Neuer Versuch.
„Du …“ Ich sah hoch und
die grünen Sprenkel schnürten mir die Kehle zu. Wie konnten sie selbst dann so
leuchten, wenn der Blick so gezwungen ruhig war? Und wie konnte er auf dem
kleinen, trotz zu großen Sitzkissens unbequemen Stuhl so verdammt gut aussehen?
Und warum konnte er mich nicht anlächeln? Anschmunzeln? Angrinsen? Irgendwas?
Dieser harte Zug passte nicht zu seinem Mund, machte die Lippen schmaler und
strenger und … und ließ ihn so abweisend aussehen, dass meine Stimme
Selbstmordgedanken bekam.
Der Kaffee kam, bevor ich
einen zusammenhängenden Satz herausgebracht hatte. Der Kellner verschwand
erneut, aber ich hatte seinen verwunderten Blick durchaus bemerkt.
Mischas Kiefer begann zu
arbeiten. Ich konnte verstehen, dass er ungeduldig wurde – wurde ich ja
auch und dabei war ich derjenige, der hier nicht vom Fleck kam!
Ich verbot mir, den Latte
auch nur anzurühren, bevor ich nicht mindestens einen Anfang gefunden und
ausgesprochen hatte, aber auch das half nur mäßig. Erst, als Mischa den Mund
öffnete und ich Panik bekam, weil ich mir plötzlich sicher war, dass er nun
aufstehen und gehen würde, blökte ich ein hastiges „Du bist keine Sprechrolle!“
hervor.
Er sah mich überrascht und
fragend an.
„Was?“, präzisierte er, als
ich keine Anstalten machte, mich zu erklären.
„Du bist keine Sprechrolle“,
wieder holte ich, „und kein Statist. In … meinem Leben, meine ich.
Also – du … ich …“
Scheiße! Sicher, ich war
weder ein Obama, noch ein Cicero oder verdammter Shakespeare, aber eigentlich
brachte ich doch meistens das, was ich ausdrücken wollte, in Form deutlich
artikulierter Wörtern aus meinem Hals raus! Sicher, es waren öfter mal fatal
schlecht gewählte Wörter, aber Stammeln gehörte eigentlich nicht zu meinem
Repertoire, Stummheit auch nicht! Auch, wenn ich heute auf keinen Fall wieder
eine fatal schlechte Wortwahl treffen wollte, sollte es dennoch im Bereich des
Möglichen liegen, den Kern der Aussage rüberzubringen, oder? Halbwegs
verständlich und so wenig verletzend, wie nur irgend möglich.
„Was bin ich dann?“, fragte
er nach einem Moment, immer noch ruhig, immer noch … beherrscht. Ja,
das war er: beherrscht.
Das richtige Wort für Mischas
momentanen Seinszustand gefunden zu haben half mir leider nicht weiter, denn
augenblicklich fragte ich mich, was er beherrschen, was zurückhalten musste.
Keine der Antworten, die
durch meinen Kopf flogen, waren besonders angenehm. Also schob ich sie beiseite
und konzentrierte mich auf meine Antwort.
„Haupt…rolle?“ Meine Stimme
war viel zu dünn und viel zu leise, um überzeugt zu klingen, obwohl ich nicht
am Wahrheitsgehalt der Antwort zweifelte. Aber es auszusprechen war ein anderes
Paar Schuhe. Dennoch wiederholte ich bestimmter: „Momentan definitiv
eine … Hauptrolle.“
Er saß still, sein Blick
wurde intensiver. „Momentan.“
Ich zuckte mit den Schultern.
Ja, momentan. Bis vor zwei Monaten nicht, da war er in meiner Welt schließlich
nicht existent gewesen, und wie lange es dauern würde, bis ich ihn in der
Erinnerung zu einer Nebenrolle hinunterstufte, konnte ich nicht wissen.
Ich versuchte, seinem Blick
standzuhalten, schaffte es aber nur wenige Sekunden. Er war so nah, seit drei
Wochen das erste Mal, und dennoch war es unmöglich, die Hand auszustrecken und
ihn zu berühren. Wegen der Art, wie er seine Schultern gestrafft hielt und
wegen diesem Zug um seinen Mund. Und auch wegen dem Blick, mit dem er mich nun
musterte und nach etwas zu suchen schien. Und dabei wollte ich gerade nichts
anderes tun, als ihn zu berühren.
Ich nahm den Löffel und
kostete den Milchschaum, nun, da ich wenigstens einen Anfang gefunden hatte,
wenn auch keinen besonders eloquenten. Kaum hatte ich das getan, seufzte
Mischa.
„Wieso sind wir hier?“
Ich sah hoch, der zweite
Löffel Schaum blieb in der Luft hängen. War das nicht offensichtlich? Ich hatte
doch gesagt, ich wollte reden – gut, gerade das schien nicht ganz zu
funktionieren, aber das war doch irgendwie verständlich, oder? Viele Leute
hatten das ein oder andere Problem, wenn sie ihr Fehlverhalten offen der
betroffenen Person gegenüber eingestehen mussten. Und – und außerdem
hatte ich ihm doch … in der SMS stand doch, dass ich ihn vermisste.
War doch klar, dass ich ihn auch deshalb sehen wollte, oder? Weil er eben nicht
da gewesen war.
„Ich will mich
entschuldigen“, begann ich und wurde von einem ton- und humorlosen Lachen
unterbrochen.
Der Ausdruck war zurück. Auf
seinem Gesicht, der traurige, verletzte – warum?! Was hatte
ich jetzt getan, um den zu provozieren?
„Angenommen“, sagte er in
einem neutralen Tonfall, der so gar nicht zu dem Gesichtsausdruck passen
wollte.
Nun war es an mir, „Was?“ zu
fragen.
„Die Entschuldigung ist
angenommen“, verdeutlichte er und trank einen großen Schluck seines garantiert
noch heißen Kaffees. „Wenn das alles war …“ Er stand auf.
„Wa… Mischa!“ Ich hielt
ihn am Arm fest. „Wieso willst du jetzt gehen?“
„Wozu sollte ich bleiben?“
„Damit wir reden können!“
Er schüttelte den Kopf, stand
auf und nahm Jacke und Sporttasche.
Warum? Was sollte das so
plötzlich? Was zum verfluchten Henker hatte ich falsch gemacht?!
„Ich denke, wir haben alles
gesagt.“
Ich ließ seinen Arm nicht los
und stellte mich ihm in den Weg. „Du hast mich noch nicht einmal ausreden
lassen!“, fuhr ich ihn an, „Wie können wir da alles gesagt haben? Du kannst
eine Entschuldigung nicht annehmen, bevor sie ausgesprochen wurde!“
„Ich will aber keine
Entschuldigungen, verdammt! Ich hatte … ich dachte, du wärest
vielleicht hier, weil … wie kannst du sagen, ich spiele eine Hauptrolle
und dann …“ Er brach ab und fuhr sich durch die Haare. „Du wolltest dein
Gewissen beruhigen, das hast du getan. Warum sollten wir weiter hier bleiben?“
Ich sah ihn geschockt an.
„Ich wollte nicht nur mein Gewissen beruhigen. Ich habe dich vermisst. Das hab
ich doch schon … in der SMS …“
„Bei der du garantiert
betrunken warst.“
„Woher …?“
Der harte Zug um seinen Mund
vertiefte sich. „Weil bisher immer so war? Du warst immer entweder betrunken
oder hast sonst irgendwie neben dir gestanden, wenn du die Mauern ein wenig
heruntergefahren hast. Die einzige Ausnahme war bei dem Kinobesuch und wir
haben ja gesehen, was dabei herausgekommen ist.“
Ich starrte ihn an. Das war
doch nicht … das konnte gar nicht stimmen. Oder?! Aber je mehr ich
zurückdachte – auch nach dem Date mit Alex, als ich Mischa das erste
Mal an den Kopf geworfen hatte, das er mir nicht mehr aus dem Kopf ging, war
ich betrunken gewesen.
„Jetzt bin ich nicht
betrunken“, erwiderte ich schließlich leise.
„Und jetzt willst du mit mir
zusammen sein? Traust mir nicht mehr zu, dich bei der nächsten Gelegenheit zu
betrügen, nur weil ich dich an deinen Michael erinnere?“
Die Frage, so direkt und in
dem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er glaubte, die Antwort schon
zu kennen, traf mich wie ein Schwall Eiswasser. Doch eine Antwort erwartete, wollte
er offenbar nicht, denn als ich den Mund zu einer öffnete, fuhr er bereits
fort:
„Du hast gesagt, es ist aus.
Und nun hast du dich dafür entschuldigt, wie du diese Nachricht gehandhabt
hast.“ Ich wollte protestieren, aber er hielt mich mit einem Blick davon ab.
„Milo, du … du sagst, du ‚vermisst’ mich, du willst mit mir
befreundet sein – aber ich habe dir bereits gesagt: Das reicht mir
nicht! Wenn …“
„Und du sagst das, als wäre
es völlig nebensächlich!“, brach es aus mir heraus und ich starrte ihn wütend
an, „Aber für mich ist es das nicht, okay? Ich bin es nicht gewohnt, Leute zu
vermissen – ich meine, ich werde es genießen, Weihnachten bei meinen
Eltern zu sein, aber ich sitze nicht rum und denke darüber nach, dass sie nicht
da sind. Und Anita habe ich manchmal wochenlang nicht gesehen und es ist mir
nicht einmal richtig aufgefallen – bei Klaus noch länger, weil der
genauso ist. Michael hab ich auch nicht vermisst. Weder während noch danach.
Ich war wütend und verletzt, aber ich habe nicht in meinem Zimmer gesessen und
daran gedacht, wie verdammt nicht da er war!“ Plötzlich, bemerkte ich,
hatte ich keine Probleme mehr, den Mund aufzubekommen. Wenigstens etwas. „Wenn
ich sage, dass ich dich vermisse, dann ist das für mich nichts, was in einem
Nebensatz abgetan werden könnte!“
Ich packte ihn grob am Nacken
und zog ihn zu mir runter. Wahrscheinlich ließ er es nur wegen des
Überraschungseffektes zu, aber in dem Moment, als meine Lippen seine berührten,
war mir das scheiß egal. Am Rande fiel mir auf, dass es schon wieder ich war,
der den ersten Kuss initiierte, wie bei dem Zombie-Abend. Aber als Mischas Arme
sich um mich schloss, wurde es unwichtig. Seine Umarmung war fast schon
schmerzhaft stark, aber ich wollte es gar nicht anders, sondern drängte mich
noch fester an ihn. Zähne klackten aufeinander, Finger gruben sich in Haut,
Atem wurde zum Luxusgut. Und dann war es vorbei. Er schob mich von sich.
Noch bevor ich wusste, was
passierte, legte er einen Fünf-Euroschein für den Kaffee auf den Tisch.
„Ich will niemanden, der mich
nur dann will, wenn er aufgewühlt oder betrunken ist. Niemanden, der es am
Morgen danach bereut oder erst davon überzeugt werden muss, es nicht zu
bereuen.“
„Mi…“
Er schüttelte den Kopf in
einer deutlichen „Nicht“-Geste. Er öffnete den Mund, überlegte es sich aber
anders und schloss ihn mit einem frustrierten Kopfschütteln.
„Mach’s gut.“
Und dann ging er.
Ich stand wie versteinert da
und sah dabei zu, wie sein Rücken um die Ecke verschwand, auf dem Weg in den
Vorderraum des Cafés und von da aus …
Meine Füße setzten sich in
Bewegung, bevor mein Hirn den Befehl geben konnte. Ich hatte vorhin nicht
übertrieben: Mischas Nicht-da-sein war viel schlimmer gewesen als Michaels
… Abwesenheit, ja, aber auch als die Trennung als Ganzes. Bei der Trennung
hatte ich keine Wahl gehabt – doch schon, aber die Option, mit ihm
zusammenzubleiben war nicht vertretbar. Außerdem hätte sich das Bild des
Spargeltarzans deswegen nicht in Luft aufgelöst. Aber hier, hier hatte ich eine
Wahl. Entweder, ich ließ ihn gehen und konnte mich auf eine Fortsetzung der
letzten drei Wochen freuen, oder – oder ich versuchte, ihn davon zu
überzeugen, mir noch eine Chance zu geben. Und wenn, dann …
Irgendwann würde es
wahrscheinlich wehtun, ja. Weil die wenigsten Beziehungen bis zum Tod hielten,
vor allem, wenn einer der beiden ein Talent hatte, genau das Falsche zu tun und
zu sagen. Und es würde schlimmer sein als bei Michael. So. Viel. Schlimmer.
Aber … davor … davor hatte es gute Chancen, um Welten
besser zu werden als das Jahr mit Michael. Und sogar, wenn
nicht – ich wollte die letzten drei Wochen nicht fortsetzen und ich
wollte den Ausdruck nicht mehr auf Mischas Gesicht wissen. Vielleicht sah er
nicht so schlecht aus wie ich, aber die Anspannung in seinem Körper, der starre
Blick hatten ebenso eine Geschichte zu erzählen wie die Ringe unter meinen
Augen.
Ich bekam ihn in dem schmalen
Flur zu fassen, der zum Vorderraum führte. Noch einmal griff ich nach ihm,
hielt ihn am Ärmel fest.
Er drehte sich halb zu mir um
und sah mich mit einer Mischung aus Überraschung, Wut, Frust, Verwunderung,
Schmerz und … und etwas an, das meinen Mund trocken werden ließ.
„Essen?“, krächzte ich ohne
genau zu wissen, was ich eigentlich sagte. Aus dem Bauch raus, hatte Klaus
gemeint. Nun, mein Bauch offenbar nicht besonders einfallsreich.
Seine Augenbrauen hoben sich.
„Bitte?“
„Möcht… ich – würdest
du … essen gehen? Mit mir?“
Die Mischung in seinen Augen
brauste auf, blieb aber größtenteils dieselbe. Dann schloss er sie für einen
Moment.
Als er mich wieder ansah,
huschte sein Blick über mein Gesicht. Den Leberfleck konnte ich leider nicht
sehen, da er vom Kragen verdeckt war, aber ich war mir sicher, dass er ebenso
pulsierte wie die freigelassene Haut. Es war gleichzeitig viel schwerer und
viel leichter, mich dazu zu zwingen, ihm in die Augen zu sehen, als es hätte
sein sollen. Ich tat es so selbstsicher wie möglich und ignorierte, dass sein
Kiefer schon wieder arbeitete.
Bis ich es nicht mehr
aushielt, was, zugegeben, nicht sehr lange war.
„Du schuldest mir auch noch
ein Essen.“
„Was?“
Ich nickte etwas zu heftig.
„Also, eigentlich schulde ich dir eines, aber du schuldest mir die
Möglichkeit, die Schuld bei dir begleichen zu können.“ Was natürlich nicht
stimmte, da ich mir die selbst genommen hatte. Ich griff nach Strohhalmen, aber
das war mir gerade egal. Ich war selber dafür verantwortlich, dass mir nur
Strohhalme geblieben waren.
„Das Drei-Gänge-Menü?“, fuhr ich
fort, „Wegen der Nachhilfe? Du hast gesagt, wenn es länger als ‘ne Woche
dauert, gibt’s Zinsen und – und ich weiß nicht, was du dir darunter
vorgestellt hast, aber ich dachte, statt von mir angekohlte Möhren vorgesetzt
zu bekommen wär ein Menü von jemandem, der wirklich kochen kann, nicht
schlecht? Mit Vorspeise und Nachspeise und …“ Mir wurde bewusst, dass
meine Erklärung ins Sinnlose abrutschte und brach ab. Vorspeise und Nachspeise,
ja, und sogar einen Hauptgang! Oder eben drei. Wirklich, wie ein
Restaurantbesuch ablief, musste ich ihm nicht erklären.
„Du willst deine Schulden
wegen der Nachhilfe begleichen?“
„Nein!“ Ich zog an seinem
Arm, bis er sich ganz zu mir umdrehte. „Ich will mit dir essen gehen.
Aber … falls du eine Ausrede …“
Mischas Blick wurde wieder
undeutbar. Zumindest für mich.
„Ich bin nicht du“, erwiderte
er ruhig, „Ich brauche keine Ausrede, wenn ich mit jemandem essen gehen will.“
„Ich weiß.“ Aber was, wenn er
nicht sicher war, ob er wollte oder nicht? Ansonsten hätte er doch schon längst
geantwortet.
Das tat er auch weiterhin
nicht. Was jetzt? Die Hand von seiner Jacke nehmen, ihn gehen lassen? Die Idee
fand mein Bauch so gar nicht berauschend. Aber ewig hier stehen konnte wir auch
nicht. Ich hörte, wie ein paar Gäste das Café betraten und sich zum Glück vorne
einen Platz suchten.
Je länger es dauerte, desto
sicherer wurde ich mir, dass er Nein sagen würde.
„Ich bin nicht betrunken,
aber auch kein Quell der inneren Ruhe, gerade“, sagte ich schließlich, „Ich
werd die Einladung nicht bereuen, sobald ich mich beruhigt habe,
aber … wenn du möchtest, kann ich dich morgen anrufen
und … noch einmal fragen. Vielleicht bin ich dann ruhiger und
vielleicht … hast du dann eine Antwort.“
Er zögerte, doch dann
schüttelte er den Kopf.
„Ich denke, das ist keine
gute Idee. Das Anrufen. Und das Essen.“
Mein Bauch zog sich auf die
Größe eines Sandkorns zusammen.
„Ich brauch erst mal Abstand.
Versteh das bitte.“
Mein Nicken kam automatisch,
denn dem bittenden, ruhigen und gleichzeitig unterschwellig grollenden Ton
hatte ich nichts entgegenzusetzen. Ich musste meine Finger zwingen, sich
Millimeter für Millimeter seiner Jacke zurückzuziehen. Als er sich abwandte,
verstand ich zum ersten Mal, dass es manchmal mehr Kraft benötigte, jemanden
loszulassen als ihn festzuhalten.
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