Am nächsten Morgen hatte ich so wenig Lust wie selten, aufzustehen.
Irgendwann war ich doch eingeschlafen, aber von Tiefschlaf oder erholend konnte
nicht die Rede gewesen sein, denn ich fühlte mich wie gerädert – nein, wie
gerädert, zermantscht, mit dem Mörser bearbeitet, durchgekaut und wieder
ausgespuckt. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass Rubin nicht im Zimmer war.
Wenigstens etwas, wenigstens einen Moment für mich, um mich auf heute
vorzubereiten. Der Tagesplan soweit: Frühstück mit Rubin, Nachhilfe mit Rubin.
Ju. Hu. Aber immerhin würde ich morgen – mit Theo und Kompanie weg
müssen. Doppel-Juhu. Und am Tag danach wieder Nachhilfe. Verdammt noch
mal, war es denn wirklich zu viel verlangt, in den Weihnachtsferien einen Tag
lang nur auf dem Sofa herumzulümmeln und kleine Schwester-Prinzessinnen vor
bösen Drachen zu retten?
Aber jammern brachte bekanntlich wenig. Je schneller ich die Sache anging,
desto schneller würde mein Lümmel-Tag kommen. Und das gestern Abend, das war
ein guter Anfang gewesen; es hatte mich zwar eine halbe Nacht Schlaf und ein
paar blaue Kronjuwelen gekostet, aber ich hatte es überlebt. Wenn ich brav so
weitermachte, war der Moment geistiger Umnachtung von vorgestern bald weit
entfernte, fast vergessene Vergangenheit. Ganz abgesehen davon, dass die
Nachhilfe auch einfacher und stressfreier werden würde, wenn mein Körper
endlich kapierte, dass er auf Rubin nicht zu reagieren hatte. Genau. Ich setzte
mich auf, schlug die Decke zurück und streckte mich ausgiebig. Auf in den
Kampf!
Die Tür wurde leise geöffnet und Rubin trat ein, in Jeans, ohne Socken und
mit einem Handtuch um den Schultern anstatt des Hemdes. Nasse Haare. Nasse,
verstrubbelte Haare.
Hera, Hades und Hephaistos, warum hatte mir niemand gesagt, wie Rubin mit
nassen, verstrubbelten Haaren und vom heißen Wasser leicht geröteter Haut
aussah?!
Das war nicht fair. So früh am Morgen – einfach nicht
fair. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr so müde und gerädert. Und das
gerade dann, wenn ich mich entschieden hatte … aber so etwas passierte ja oft,
nicht wahr? Der Verstand entschied etwas und bis der Körper das mitbekam,
verging eben einige Zeit. Das war wie in der Geisterbahn: Der Verstand wusste,
dass es nur ein alter Säufer im Bettlaken war, die Beine rannten trotzdem los und
der Mund rief nach Mama.
Genau dasselbe Phänomen. Absolut.
Einhundertprozentig.
Wirklich.
Steh nicht einfach so da, verdammt noch mal! Du bist schließlich keine
Marmorstatue!
Obwohl, die Hautfarbe kam in etwa hin und ich hätte sowieso fast geglaubt,
dass er das mit Absicht tat – wie, um mir zu zeigen, was ich
verpasste. Zu was ich Nein gesagt hatte.
Wie gesagt, fast. Dann aber machte er dieses kleine o-Geräusch, fuhr sich
durch die Haare – nicht, du machst alles futsch! – und
fragte:
„Du bist wach?“
Und nein, das war eindeutig nicht die intelligenteste Frage des Jahres.
Vielleicht lag es ja an der frühen Stunde und er war einfach ein
Nachtmensch – Nacht … nein, daran wollte ich nicht denken.
Ich nickte.
„Gerade aufgewacht.“
Das war auch nicht die intelligenteste Antwort des Jahres, aber bei mir war
es natürlich Absicht, schließlich konnte ich ihn nicht schon am Morgen dumm
Aussehen lassen.
… Ha, genau.
„Deine Schwester hat gesagt, ich könne duschen, und – ich habe
vergessen die mitzunehmen.“ Er zeigte auf die frische Unterwäsche, die ich ihm
gestern gegeben hatte. Und er wirkte entweder nervös oder peinlich berührt.
… Und das wiederum machte mich nervös.
War Unterwäsche vielleicht doch zu intim? Aber das war nicht das erste Mal,
dass ich das tat und bisher hatte ich mir nie etwas dabei gedacht. Außerdem war
sie sauber – und viel
intimer, als den wichtigsten Abend des Jahres mit jemandes Familie zu
verbringen war es ja wohl nicht – konnte es ja gar nicht sein, denn
das war das Intimste, was ich mir vorstellen konnte. Deswegen hatte mir das in
Verbindung mit Rubin auch solche Bauchschmerzen bereitet.
„Sicher.“ Ich stand auf, versuchte unerwünschte Gedanken per imaginären
Bulldozer zu verscheuchen und ging auf meinen Schrank zu.
„Willst du auch ein frisches Hemd?“, fragte ich mit der leisen Hoffnung,
dass dadurch das ganze Unterwäsche-Dings ein wenig normaler
wirkte – nur für den Fall, dass es doch nicht ganz so normal war, wie
ich dachte, versteht sich.
Ich nahm mir selbst frische Kleider raus und drehte mich dann um.
„Ja“, erwiderte er, „gern. Danke,“
„Nicht dafür. Musst du noch mal ins Bad?“
„Meine Sachen holen.“
„Okay.“
Dann konnte ich jetzt duschen. Und ich schwor mir, mit dem Wasser auch die
Erinnerung an vorgestern abzuwaschen – und gestern – und,
wenn ich schon dabei war, auch an das Bild, das er eben abgegeben hatte. Besser
für mich und – nun, nur für mich, aber das war ja auch das
einzige, was wirklich zählte.
***
Es schien funktioniert zu haben. Eine Dreiviertelstunde später saß ich im
Kreise meiner Lieben plus Rubin am Tisch und frühstückte, während die
Normalität wieder eingekehrt war; wenn man es normal nennen konnte, dass Rubin
sich so schrecklich nett verhielt, zumindest zu meiner Familie. Sehr wohl
normal war, dass mir das schrecklich auf den Keks ging, egal, ob es nun mein
Weihnachtsfest harmonisch über die Bühne gehen lassen hatte oder nicht.
„Vyvy? Kommst du nachher mit nach draußen?“ Kitty sah mich mit ihren großen
Schokoaugen an und versuchte sich ziemlich erfolgreich an einem Hundeblick.
„Ich will in den Schnee!“
In die weiße Hölle?
Sicher, für meine Kitty-Maus doch immer. Nur lieber später als früher.
„Erst nach Vyvyans Nachhilfe.“ Mum sah Kitty einige Sekunden lang mit
diesem typischen Eltern-Blick an und wandte sich dann an mich. „Du hast doch
heute Nachhilfe, nicht?“
Eigentlich war das der Plan gewesen.
„Hast du überhaupt Zeit gehabt, etwas vorzubereiten?“, fragte ich Rubin und
merkte selbst, wie sehr man mir anhörte, dass ich auf eine negative Antwort
hoffte.
Aber Rubin wäre nicht Rubin gewesen, wenn er das nicht ignoriert und kühl
lächelnd geantwortet hätte: „Natürlich, ich hatte vorgestern Abend mehr als
genug Zeit.“
Toll. Wirklich. Da kam Freude auf.
Und ja, ich war mir bewusst, dass ich ihm eigentlich dankbar sein sollte.
Immer noch. Trotzdem … ich war wohl gerade in meiner dritten rebellischen Phase
oder so.
„Willst du nachher gleich mitkommen? Dann könntest du am Nachmittag immer
noch mit Catherine in den Schnee.“ Rubin sah mich fragend an.
Ich nickte, auch wenn von wollen keine Rede sein konnte. Aber wie gesagt:
Je früher wir anfingen, desto früher würden wir fertig sein, und ich wollte
Zeit mit Kitty verbringen – vielleicht nicht unbedingt draußen, aber
wenn sie sich die Nasenspitze abfrieren wollte, bitte.
***
Der Bus, in den wir eine halbe Stunde später eingestiegen waren, fuhr
ruckelnd und ächzend aus meinem Viertel immer weiter hinaus, dem Stadtrand zu.
Ich saß, mit Handschuhen, Winterjacke, Schal und Wollmütze dick eingemummelt,
am Fenster und verfluchte die Kälte, die mir von der Scheibe entgegenkam.
Vielleicht war ich ein bisschen kälteempfindlich, aber diesmal lag es nicht an
mir; es war so kalt draußen, dass sogar der Schnee fror. Und ich überlegte mir
jetzt bereits zig Ausreden, um am Nachmittag nicht da raus zu müssen.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Kitty, nachdem sie gemerkt hatte, dass es
heute wirklich kalt war, auch nicht mehr unbedingt in den Schnee wollte,
aber das Problem mit Kitty war, dass sie, wenn sie sich einmal etwas in den
Kopf gesetzt hatte, das da so leicht nicht mehr herausbekam, sogar, wenn sie
wollte. Sie würde mich nach draußen schleifen, außer, ich gab ihr eine
gute Ausrede, es nicht zu tun.
Der Bus fuhr weiter und weiter und weiter aus unserer schönen Stadt
hinaus – nun, nicht ganz hinaus, aber um ein Haar. Als wir
gerade hierher gezogen waren, hatte ich gedacht, dass das Haus, das meine
Eltern diesmal gemietet hatten am ‚Stadtrand‘ lag, aber gegen das
hier lebten wir im Zentrum. Ich meine, die Häuser standen nicht einmal
annähernd dichtgedrängt, sondern eher verstreut und etwas weiter hinten erhob
sich ein bewaldeter Hügel. Wenn man nur in diese Richtung schaute und den
Verkehrslärm (der auch beträchtlich geringer war als sonst wo, wo ich seit dem
Sommer gewesen war) ausblendete, konnte man sich einreden, in einem größeren
Dorf zu sein.
Und plötzlich konnte ich Rubin ein kleines bisschen besser verstehen. Dass
er es die ‚Idylle einer Kleinstadt inmitten einer Großstadt‘ genannt hatte und dass
er wegwollte – auch wenn ich immer noch der Meinung war, dass Amerika
nicht die Lösung sein konnte.
Nein, Amerika war, wenn überhaupt, das Problem, nur im Großformat. In so
vieler Hinsicht.
„Kommst du?“ Rubin stand auf dem untersten Tritt und sah mich an. Einen
Moment lang war ich echt weggewesen. Wie konnte sich die Umgebung innerhalb
weniger Minuten so verändern? Von mir zu ihm hatte es etwa vierzig Minuten
gedauert – vierzig Minuten im städtischen Verkehr und nicht auf der
Schnellstraße, versteht sich.
Ich stand auf und folgte ihm hinaus in die Kälte, die Straße ein Stück
hinauf, in eine Seitenstraße, ein wenig runter, wieder rauf, geradeaus … wie
weit denn noch? Wenn das die nächste Bushaltestelle war, dann lagen die hier
wirklich weiter auseinander als bei uns.
Schließlich standen wir vor einem altmodischen Fachwerkhaus, mit Gartentor,
Gartenzaun und – man höre und staune – einem Garten!
Und nicht einfach ein Fleckchen Wiese rechts und links der Einfahrt, so wie bei
uns – nein, ganz viel Grün mit einzelnen Bäumen, das dem Anschein
nach das Haus umrundete. Genug Grün, um Kinder darauf herumtoben zu lassen. Wir
waren in einem verdammten Dorf.
Ich hasste Dörfer.
Nicht nur, weil sie klein und einengend und langweilig waren, sondern auch,
weil es dort immer viel schwieriger war, Anschluss zu finden. Jeder kannte
jeden und jeder Neue würde die ersten zwanzig Jahre lang der Neue sein, egal,
wie gut er sich anpasste. Scheiß Herdenverhalten. Außerdem, wenn man
sich einen Freundeskreis aufgebaut hatte, waren die Leute meist so verdammt anhänglich.
In einer Stadt gab es immer ein Kommen und Gehen und wenn man sich aus den
Augen verlor, war das nicht so schlimm, aber in einem Dorf, da hatte man nur seine
Nachbarn – und vielleicht noch die aus den Nachbardörfern. Die
wollten einen behalten und alles über einen wissen und – argh!
Schlimm.
Stadtmenschen waren angenehmer, solange man eine gewisse Distanz wahrte.
Rubin öffnete das Gartentor, das in seiner Winzigkeit so unnütz wie rein
dekorativ war und mich an die Gartentore in den amerikanischen Familienserien
erinnerte, die Kitty manchmal schaute; ja, auch meine Miss Kitty war nicht ganz
perfekt. Dann gingen wir über den Weg aus hellen Steinen zur Haustür, Rubin
holte den Schlüssel aus seiner Jackentasche, steckte ihn ins Schloss, drehte,
zog ihn heraus, drückte die Klinke und – endlich! – wir
konnten hinein, ins warme, oh, so warme Haus.
Ich hatte keinen Bock. Nicht auf Englisch, nicht auf Rubin, nicht darauf,
bald wieder da raus zu müssen. Heute war echt ein bescheidener Tag.
Trotzdem wickelte ich mich brav aus meinem Schal und streifte danach Mütze,
Handschuhe und Jacke ab, die mir Rubin alle abnahm und, wieder ganz der
Gentleman, der er nicht war, aufhängte.
„Willst du was zu trinken?“, fragte er, während er seine eigenen Sachen
verstaute und ich mich mäßig interessiert umsah. Das Innere war … gemütlich.
Altmodisch, aber ohne wirklich alt auszusehen. Viel Holz, dunkles Holz, aber
cremefarbene Wände und sanftes Licht. Wahrscheinlich war es irgendwann
renoviert worden.
„Habt ihr Cola da?“
Rubin grinste spöttisch. „Vyvyan, wir sind Amis. Was den
meisten Menschen Wasser und den Engländern Tee ist, ist für uns bekanntlich
Cola.“ Er ging den Flur entlang und rief, noch bevor ich einen Schritt machen
konnte: „Schuhe ausziehen, please.“
Und ja, er war wieder bei etwa achtzig Prozent seiner Schulstimme
angekommen. Was hatte ich jetzt schon wieder verbrochen? Und verbrochen hatte
ich etwas, ansonsten wäre er nicht plötzlich wieder so gewesen, nicht
wahr? Bis eben war er doch noch halbwegs erträglich – auch wenn das
vielleicht hauptsächlich daran lag, dass wir die ganze Busfahrt über
geschwiegen hatten. Trotzdem, bei mir zu Hause … aber gut, da war auch meine
Familie dabei – nur, dass er in den Momenten, in denen wir alleine
gewesen waren, auch halbwegs erträglich gewesen war. Hatte er sich etwa
erst jetzt daran erinnert, dass ich ihm gestern einen Korb gegeben hatte?
Konnte nicht sein. Außerdem hatte er sich gestern Nacht entschuldigt, schien
also einzusehen, dass er und ich in meinem Bett keine gute Kombination waren.
Noch außerdemer bezog sich der Kommentar ja wohl eindeutig auf das ‚Gespräch‘
bei der Nachhilfe gestern. Von wegen Amis hören sich wie rollige Katzen an. War
er jetzt wirklich plötzlich deswegen wieder sauer?
…
Egal. Es konnte mir egal sein, welche Laus ihm gerade wieder über die Leber
gelaufen war. Ich dachte sowieso zu viel über ihn nach – wobei
natürlich jeder noch so kleine Gedanke, der mit ihm zu tun hatte, einer zu viel
war.
Ich folgte ihm in die Küche, wo er gerade zwei Gläser mit Cola füllte.
„Nur weil ich gesagt habe, dass sich Amerikanisch scheiße anhört, heißt das
noch lange nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen Amerikaner habe“, begann
ich, bevor ich mich zügeln konnte. Ich hatte kaum geschlafen, keinen Bock auf
Englischnachhilfe und es war scheiße kalt. Fazit: Ich war gereizt. Ich hatte versucht
mich zusammenzureißen, aber darauf, dass er schon wieder so verdammt arrogant
dreinschaute und, noch schlimmer, sich so benahm, konnte ich echt verzichten.
Was sollte das? „Sicher, ich verstehe nicht, wie ihr Bush Junior wählen
konntet – zweimal! – und Obama hat mich auch nicht
überzeugt, der hat zwar gute Intentionen, kriegt aber nichts auf die
Reihe – sowieso, eure ganze Politik ist ziemlich für’n
Arsch – und der übertriebene Patriotismus auch, ganz zu schweigen von
dem Einheitsbrei, den Hollywood verbricht und der echt verboten gehört …“
„Vyvyan?“, unterbrach er mich, „Du schweifst ab und das hilft deiner Argumentation
nicht.“
Ich schnaubte. Vielleicht hatte er Recht, aber es ärgerte mich, dass er so
von oben herab sagen musste. Wie hielt Megan es nur mit ihm aus?!
„Was ich sagen wollte: Du brauchst nicht beleidigt sein, nur weil ich eure
Aussprache nicht mag; das ist schließlich nur Geschmacksache und kein Angriff
gegen dich.“
„Ach?“
„Ja. Mein Problem mit dir ist ja auch nicht, dass du Amerikaner bist,
sondern, dass ich dich einfach nicht ausstehen kann.“
Einen Moment lang sah er mich überrascht an, dann lachte er trocken und
schüttelte den Kopf.
„Sehr beruhigend, danke. Aber ich war gar nicht beleidigt.“ Er reichte mir
eines der Gläser, nahm die Flasche und das andere Glas in die Hände und
bedeutete mir mit einem Kopfnicken, die Küche zu verlassen. „A lil’
disheartened, though. Now more than ever.“
Na toll. Konnte er nicht Deutsch sprechen? Die Stunde hatte schließlich
noch nicht angefangen und wenn bei einem Gespräch zwischen zwei Personen einer
plötzlich eine Sprache zu sprechen anfing, die der andere nicht verstand, war
das Gespräch tot. Rubin hatte gerade unser Gespräch umgebracht.
„Jetzt mehr als zuvor was?“
Doch er antwortete nicht, oder besser, nicht darauf. Statt dessen
sagte er:
„Da, die Treppe hoch, dann nach rechts drehen und geradeaus auf die Tür
zu.“
Dann eben nicht. Begraben wir das Gespräch, ist eh besser; es war kein
Meisterwerk. Trotzdem, es nur deswegen gleich unter die Erde zu schicken …
Rubins Zimmer war recht groß und ziemlich
unordentlich – gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt
hatte – ich meine, hätte, wenn ich denn einen Gedanken daran
verschwendet hätte. So, wie er auftrat, mit seiner unnahbaren Art und den immer
perfekten glatten Haaren, hatte ich unbewusst angenommen, dass auch sein Zimmer
dies widerspiegeln würde, aber die Kleider auf dem Boden und die Bücher und
CD-Hüllen, die mit ihnen dort kuschelten, belehrten mich eines Besseren.
„Sorry“, sagte er und beeilte sich, einiges davon aufzusammeln, „ich
dachte, ich hätte heute noch Zeit aufzuräumen.“
„Wegen mir brauchst du dir keine Umstände zu machen.“
Rubin hielt inne, schnaubte spöttisch und erwiderte: „Stimmt. Aber es wird
sowieso langsam Zeit.“ Er warf die Kleidungsstücke in seiner Hand aufs Bett und
zeigte auf den Schreibtisch – auf einen der beiden, um genau zu sein.
Wofür brauchte ein einzelner Kerl zwei Schreibtische? Zwei überfüllte
Schreibtische.
Ich warf meinen Rucksack hin, zog den Stuhl ein wenig zurück und hob die
Dinge, die darauf lagen, auf den Tisch. Während ich mich setzte und mein
eigenes Zeug hervorholte, räumte Rubin einen Teil der Tischplatte provisorisch
frei, so dass ich wenigstens genug Platz hatte, um meine Mappe und den
Bleistift hinzulegen. Dann schaltete er seinen Computer an.
„Ich muss die Blätter für heute erst ausdrucken, aber ich dachte, wir üben
das, was ich dir vorgestern erklärt habe noch ein bisschen und gehen dann zu
ein paar etwas schwierigeren Beispielen über.“ Schulstimme, neunzig
Prozent – auch wenn man in der Schule äußerst selten so lange Sätze
zu hören bekam.
Ich seufzte. „Kann’s kaum erwarten.“
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich hatte keine Lust. Es war
Weihnachten, Kitty wartete, ein tolles Buch wartete, meine Familie und die
Weihnachtsplätzchen warteten; alles gute Gründe, um gerade nicht hier zu
sein. Vor allem nicht, wenn er so war.
Gut, er war eigentlich nie anders und das Buch hatte ich ihm zu verdanken,
aber … ach, keine Ahnung. Irgendwas lief heute falsch. Es … es fühlte
sich an, wie ich mir Nachhilfe bei Rubin ursprünglich vorgestellt hatte, nicht
so, wie sie bisher gewesen war.
Rubin ignorierte meinen Kommentar und druckte kurz darauf einen Stapel
Blätter aus. Zum Glück war er ein wenig kleiner als der letzte.
Und dann? Dann machte ich mich an die Aufgaben, während Rubin entweder
weiter aufräumte oder sich an den Schreibtisch lehnte und mir etwas erklärte.
Seine Schulstimme behielt er bei, die Englischaufgaben schienen endlos,
Kirschlutscher hatte ich natürlich keine mit und meine Laune rutschte immer
weiter gen Hades. Und als er irgendwann mit dem Aufräumen fertig war und damit
begann, sich nicht mehr so sehr an den Tisch als viel mehr zu mir rüberzulehnen – gerade
so nahe, dass ich mein Shampoo an ihm riechen konnte – kein
Zitronengras, heute, aber dennoch roch es nach ihm – oder einer
Mischung aus ihm und mir – und das war wahrscheinlich das Schlimmste,
denn, wie gesagt, als er anfing, sich zu mir herüberzulehnen, hatte ich kurze,
scheiß verdammt zuckersüße Flashbacks vom morgendlichen Rubin mit Wuschelfrisur
und mit meiner Konzentration war es nicht mehr weit. Und das, obwohl ich mir
sagte, dass es Blödsinn war. Meine Konzentration hatte nicht wegen Rubin flöten
zu gehen – wegen Kitty oder dem Buch oder dem verlorenen Festtag oder
meinetwegen auch wegen meiner schlechten Laune, aber nicht wegen ihm. Schon gar
nicht, da … also, da ich das Gefühl hatte, dass er sich nicht nur
distanzierter gab, sondern auch mehr Abstand hielt. Mehr als
sonst – nein, ‚sonst‘ hörte sich nach Regelmäßigkeit an; ‚mehr als
vorher‘ war der treffende Ausdruck. ‚Sonst‘ hatte er schließlich kaum ein Wort
mit mir gewechselt, denn ‚sonst‘ war in der Schule.
Und nein, das alles half meiner Laune nicht.
***
„Hier, es ist nicht ‚can’t‘, sondern ‚couldn’t‘.“ Rubin legte
das Blatt mit den Aufgaben vor mich hin, stützte sich mit einer Hand auf der
Stuhllehne ab und zeigte mit der anderen auf den Satz, den ich falsch hatte.
Nein, Moment, ich korrigiere: Er zeigte auf den Satz, den ich aus demselben
beschissenen Grund wie mindestens zehn vor ihm falsch hatte. Scheiß Englisch.
„‚Couldn’t‘, natürlich.“ Ich hatte so was von genug hiervon. Wenn
ich es nicht verstanden hätte, wäre es okay gewesen, daran war ich bei dieser
Scheißsprache gewöhnt, aber wenn ich Fehler machte, einfach nur, weil ich mich
nicht richtig konzentrieren konnte, dann regte mich das auf.
„Weißt du warum?“ Es war eine neutrale Frage; kein Hohn, Spott oder
unausgesprochenes ‚Wann lernt er es endlich?‘. Und dennoch fuchste es
mich – vielleicht fuchste es mich aber gerade weil er es so neutral
sagte. Dachte er echt, dass ich dumm genug war, um es immer noch nicht
kapiert zu haben?
Ich schmiss den Stift hin. „Weil der verdammte übergeordnete Satz in der
scheiß Vergangenheit steht!“ Ja, das war mein gekränktes Ego, das da sprach …
oder besser, fluchte. „Mir reicht’s! Ich dreh mich in einem verdammten Kreis
und es bringt so einfach nichts!“ Und nein, ich würde ihm garantiert
nicht sagen, dass es hilfreich sein könnte, wenn er einfach entweder einen
halben Meter Sicherheitsabstand hielt oder – kein, kein Oder. Nur
über meine verstümmelte, zerhackstückelte und geschändete Leiche.
Rubin nahm sein Handy hervor, warf einen Blick drauf und nickte.
„Was hältst du von einer Pause? Wir sind seit zweieinhalb Stunden dran.“
„Zweieinhalb Stunden?“ Ich zog seine Hand zu mir und sah selbst drauf. Ein
Uhr drei. Dann hatte es sich also nicht nur wie eine Ewigkeit angefühlt, es war
auch eine gewesen.
„Sorry, ich habe wohl die Zeit vergessen.“
„Keine Angst, ich verstehe das.“ Ich ließ seine Hand los. „Es macht einfach
zu viel Spaß, mich ein wenig zu quälen, nicht wahr?“
Er grinste. Der Bastard hatte echt den Nerv zu grinsen. Mit Grübchen.
„Hast du Hunger? Es ist Mittag.“
Ich nickte. „Irgendwie schon, ja.“
Wir gingen in die Küche. Rubin sah sich um ohne auch nur einen Schrank zu
öffnen, warf dann erst einen Blick auf das Telefon an der Wand und danach auf
mich.
„Auf was hast du Lust? Meine Kochkünste fangen bei Nudeln an und hören bei
Spaghetti auf, aber ich habe die Nummer von ein paar guten Lieferdiensten;
Mamas Art, dafür zu sorgen, dass sich ihr Sohn auch ja was halbwegs Richtiges
zu essen besorgt, während sie weg ist.“
„Meine würde mir wahrscheinlich einen Kühlschrank voller Gemüse dalassen
und mir alles Geld, mit dem ich Junkfood kaufen könnte, wegnehmen.“
Ein kleines Grinsen. „Deine Mutter scheint ziemlich hardcore zu sein, wenn
es ums Essen geht.“
„So könnte man es auch sagen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber
Spaghetti hört sich gut an; ich mag italienisch.“
„Gut.“
Er setzte Wasser auf, holte die Nudeln hervor und öffnete dann ein
Küchenschränkchen, nur um innezuhalten. Er schob ein paar Dinge hin und her,
stand auf, öffnete den – dem Anschein nach wohl
gefüllten – Kühlschrank und suchte da noch ein paar Augenblicke lang,
bevor er seufzte.
„Ich glaube, das wird nichts; wir haben keine Sauce mehr. Nur Ketchup, aber
das Zeug esse ich nicht als Saucenersatz.“
„Ich auch nicht.“ Ich zögerte, dann fügte ich hinzu: „Aber du hast doch
Tomaten? Wenn du willst, kann ich eine Sauce machen.“
Er drehte sich zu mir um und musterte mich einen Moment.
„Wenn es dir nichts ausmacht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wieso sollte es? Ist ja nur eine
Tomatensauce – und ich habe Hunger.“ Ich zeigte auf den Kühlschrank.
„Darf ich?“
„Knock yourself out.“
„Deutsch, bitte.“
„Tob dich aus, hau rein – so was in der Art.“
„Ich will keine Übersetzung, ich will, dass du von Anfang an deutsch
sprichst. Ich habe Pause, schon vergessen?“ Ich holte die Tomaten heraus und
sah, was sonst noch Brauchbares da war, bevor ich mich zu ihm umdrehte. „Wie
wär’s mit einer Tomaten-Mozzarella-Sauce?“
„Ich habe Mozzarella?“
„Würde ich sonst fragen?“
Er grinste, schon wieder. „Keine Ahnung. Würdest du?“
Dieser Kerl würde mich noch ins Grab bringen; aber wenigstens sprach er
wieder normal – oder, einfach nicht mit seiner
Schulstimme – also eigentlich eher ‚abnormal‘, denn die Schulstimme
war ja – ach, egal. Er war gerade halbwegs erträglich, das wollte ich
sagen.
***
„Danke für die Hilfe, Vyvyan.“ Rubin lächelte leicht spöttisch, die
Grübchen nur angedeutet. „Die Sauce war echt gut.“
Ich schnaubte und räumte aus Gewohnheit meinen Teller ab.
„Was willst du hören? Dass die Spaghetti auch sehr lecker waren?“ Ich
drehte das Wasser auf, um den Teller abzuwaschen. „Ich habe nur Tomaten und
Käse in eine Pfanne geworfen.“
„Schon wieder so gereizt? Bis eben war doch noch alles okay.“
Das musste er gerade sagen.
Er gab mir seinen Teller und ich schrubbte beide ab.
„Bis eben war ich am essen; jetzt muss ich gleich wieder der englischen
Grammatik die Füße küssen.“
Rubin nahm mir die Teller aus der Hand, bevor sie richtig sauber waren und
tat sie in die Spülmaschine. Bei Zeus, ich vermisste die Spülmaschine in
unserem vorherigen Haus – das waren zauberhafte Monate ohne
eingeschrumpelte Hände gewesen.
„Nun, wir haben eine Mittagspause gemacht und die geht normalerweise eine
Stunde, nicht? Dann haben wir noch gute zwanzig Minuten.“
„Vielleicht“, erwiderte ich und entfernte das Gröbste vom Besteck, bevor
ich es ihm gab, „aber je schneller wir weitermachen, desto schneller sind wir
fertig und ich draußen, mit Kitty … in der Kälte.“ Was für ein scheiß Tag.
Er schloss die Spülmaschine, richtete sich auf und sah mich an, mit einem
fast schon spitzbübischen Blitzen in den Augen.
„Trockne deine Hände, dann zeige ich dir etwas, das deine Laune heben
wird.“
„Woher willst du wissen, was meine Laune hebt?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er und ließ seinen Blick dann einmal langsam an
mir herunter- und wieder heraufgleiten, „aber bisher habe ich auch nicht so
falsch gelegen.“
Ähm, bildete ich mir das nur ein oder wurde sein Blick jetzt, da er mir
wieder in die Augen schaute, intensiver? Er meinte doch nicht …?
Ich schluckte. Wenn, dann hatte er sich verrechnet, denn ich hatte nicht
vor, noch einmal mit ihm zu …
Rubin grinste und trat einen Schritt auf mich zu.
„Ich dachte an das Buch, aber du denkst gerade an etwas Versautes,
stimmt’s?“
Ich? Nein. Nie. Vor allem nicht in Verbindung mit dir.
Absolut nicht.
Er kam noch einen Schritt näher und stand nun direkt vor mir. Und trotzdem
nicht so nah wie … oder? Ach was, das bildete ich mir ein. Und wenn
nicht, dann war es mir, wenn schon, recht, dass er Abstand hielt.
„Eigentlich hatte ich etwas anderes vor, aber wenn du deine Meinung
geändert haben solltest …“
„Nein!“ Ich schob ihn weg, was er widerstandslos zuließ, und ging schnellen
Schrittes zur Küchentür. „Habe ich nicht. Du wolltest mir etwas zeigen?“
„Komm mit.“
Er führte mich aus der Küche, nach rechts, vor eine Tür. Ich nahm an, dass
es die zum Wohnzimmer war, aber wissen tat ich es nicht. Sie sah aus wie alle
Türen in diesem Haus: dunkel, schwer, mit Rissen und Eisenbeschlägen und
Klinken, die sicher ebenso alt wie das Holz waren. Wahrscheinlich waren sie ein
Überbleibsel von vor der Restauration, aber ich mochte sie – ich
mochte das Haus, neu und modern, aber mit alten Elementen wie diesen Türen.
Wenn man von den Bewohnern und der Lage absah, war es ziemlich cool. Vielleicht
konnte ich meine Eltern ja davon überzeugen, dass wir uns das nächste Mal auch
so etwas suchten.
Rubin trat hinter mich und legte eine Hand vor meine Augen.
„Augen zu.“
„Warum?“
„Weil ich es dir sonst nicht zeige.“
Ich schnaubte verächtlich. „Muss ja was ganz Tolles sein, wenn du so einen
Wirbel drum machst.“
Ich hörte das Türschloss aufgehen und spürte Wärme. Wenigstens war das
Wohnzimmer anständig geheizt. Obwohl, darüber konnte ich mich nicht beschweren:
Hier war es sogar wärmer als bei uns.
Er legte die freie Hand zwischen meine Schulterblätter – und
nein, das provozierte keine Bilder oder Erinnerungen daran, wie wir keine zwei
Tage zuvor vor meiner Tür gestanden hatten. Gar keine.
„Wie gesagt, ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird – aber
wenn du nicht willst …“
„Vergiss es, jetzt hast du mich neugierig gemacht.“
Er lachte und ich konnte es an meinem Rücken spüren, einmal mehr. Wenn auch
diesmal nur durch seine Hand.
„Gut“, sagte er und schob mich mit sanftem Druck einen Schritt nach vorn,
danach einen weiteren und noch einen.
Und ja, ich kam mir ein bisschen blöd vor.
Zwei Schritte in den Raum hinein, dann ein kurzer Stopp. Rubin schloss die
Tür, aber ohne die Hand vor meinen Augen wegzunehmen; eigentlich war das
überflüssig, denn ich hatte – nur die Moiren wussten,
warum – die Augen längst geschlossen. Danach trat er wieder an mich
heran und legte die zweite Hand erneut auf meinen Rücken. Er drehte mich nach
links, schob mich noch ein paar Schritte geradeaus und nahm dann meine Hand in
seine. Er hob sie an und drückte sie auf Brusthöhe gegen eine glatte Oberflä…
„Au!“
Erschrocken stolperte ich einen Schritt zurück und stieß dabei hart gegen
ihn, aber er schlang die Arme um meinen Bauch und behielt die Balance.
Eigentlich war das etwas Gutes, denn ich hatte keine Lust, mit ihm auf dem
Boden zu landen, aber als wir beide wieder sicher auf unseren Füßen standen,
zögerte er vielleicht zwei Sekunden, bevor er los ließ und einen Schritt
zurücktrat. Hastig zurücktrat. Das fand ich dann doch übertrieben; nur,
weil ich nicht mit ihm hatte rummachen wollen – oder, weil ich Amerikanisch
nicht mochte, so ganz sicher, was das Problem war, war ich mir
nicht – musste er nicht so tun, als hätte ich die Krätze.
Aber egal. Im Moment gab es Wichtigeres – den riesigen,
blauweißen Kachelofen vor mir, zum Beispiel.
Ich legte noch einmal meine Handfläche darauf und diesmal, da ich darauf
vorbereitet war, fühlte sich das leichte Brennen einfach nur elysisch an.
Wärme! Hitze! Ich trat ganz an den Ofen heran und lehnte mich nach vorne, mit
der Wange an die Kacheln.
Es tat weh. Es war zu heiß. Es tat weh – aber das erste
Mal in meinem Leben konnte ich erahnen, wie man Masochist sein konnte. Es war
ein verdammt angenehmer Schmerz, so angenehm, dass sogar meine innere Memme die
Klappe hielt – und das hieß was. Das Beste daran war natürlich, dass,
sobald der Schmerz verging, die Wärme kommen würde, und an der war ja wohl gar
nichts auszusetzen.
Plötzlich war Rubins Verhalten nur noch nebensächlich. Sollte er doch so
launisch sein, wie er wollte, solange ich dafür seinen Ofen betatschen durfte.
Es war so warm. So unglaublich wundervoll warm, dass mir ein Schauer den
Rücken hinunter lief.
Ich seufzte zufrieden. „Er ist wunderschön.“
„Wie kommst du darauf, dass es ein Er ist?“
„Erstens heißt es ‚der Ofen‘ und zweitens ist er blau – das ist die
Farbe für Jungs.“
Rubin lachte erneut. Echt jetzt, seit wann hatte er gute Laune?
… Seit wann wusste er, was gute Laune überhaupt war?
„Es heißt aber auch ‚der Mensch‘ und es gibt trotzdem ein oder zwei weibliche
Exemplare“, erwiderte er, „Und das ist himmelblau; das tragen Jungs, wenn sie
älter werden, eher selten. Außerdem hat mein Vater den bauen lassen und er
schwört, dass es eine Sie ist. Er nennt sie Betsy.“
„Betsy.“ Ich wandte den Kopf, um die andere Wange gegen die Kacheln zu
drücken. „Ich bin dein.“
„Ihr kennt euch noch keine fünf Minuten.“
„Noch nie was von Liebe auf den ersten Blick gehört?“
„Daran glaube ich nicht.“
Ich auch nicht, aber das musste ich ihm nicht unter die Nase binden.
„Na komm, Romeo, Betsy hat auch noch andere gute Seiten.“
Vergiss es. Du bringst mich hier nicht mehr weg.
... Aber fragen schadet bekanntlich nicht.
„Was für welche?“
„Nun, ihre geheizte Bank, auf der man sich wahlweise die ganze Vorder- oder
Rückseite wärmen lassen kann, zum Beispiel.“
Okay, das klang gut. Gut genug, um mich so lange von Betsy zu lösen, wie es
brauchte, um um sie herum zu sehen. Tatsächlich: An der Wand entlang war eine
Bank mit denselben Kacheln, deren ‚Rücklehne‘ wiederum breit genug
war, dass man sich auch darauf setzen konnte. Die elysischen Felder konnten
nicht einladender wirken, zumindest nicht auf mich, nicht mitten im Winter.
***
Kurz darauf lag ich bäuchlings auf der Lehne, die Fußsohlen gegen Betsy
gestemmt, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet und im festen Glauben,
dass Betsys und meine Begegnung Schicksal war. Warum sonst hätte die Bank genau
die richtige Länge, so dass ich mich auf ihr ausstrecken konnte?
Und ja, die Tatsache dass Rubin etwa gleich groß war wie ich, ignorierte
ich komplett. Betsy war nicht sein Schicksal, sondern meines, Punkt.
Es war warm, heiß, perfekt. Meine Brust, mein Bauch, meine Oberschenkel,
meine Arme, alles war so herrlich warm, dass ich gar nicht anders konnte, als
zufrieden zu seufzen. Und hätte Rubin nicht in diesem Moment auf dem unteren
Teil der Bank gesessen, mit dem Rücken an Betsy gelehnt, dann hätte ich sehr
wahrscheinlich mein Shirt ein wenig nach oben geschoben, um die Kacheln direkt
auf meinem Bauch spüren zu können. Den Pulli hatte ich längst ausgezogen und
mir auf den Rücken gelegt, denn der fühlte sich jetzt verhältnismäßig kühl an.
„Na, habe ich zu viel versprochen?“, fragte Rubin nach ein paar Minuten.
Eigentlich wollte ich nicht mit ihm reden, ich wollte nur genießen, aber
einerseits schien seine Schulstimme gerade im Urlaub zu sein und andererseits
war mir zu wohl, um mich künstlich aufzuregen.
„Ich glaub, ich will Betsy heiraten.“
Er lachte, schon wieder. Aber egal, generell war es mir lieber, er
war gut gelaunt als … nun, als wie sonst. War angenehmer für uns
alle.
„Ich glaube nicht, dass mein Vater das zulassen würde – sie ist
noch minderjährig und du gehst auch noch zur Schule.“
„Dann adoptiere ich sie eben.“
„Das lässt er noch weniger zu, immerhin ist sie so was wie sein Tochterersatz.“
„Wie meinst du das?“
Träge öffnete ich ein Auge und sah zu Rubin, der den Blick erwiderte.
„Er sagt immer, er hätte sich damals entscheiden müssen: Betsy oder ein
zweites Kind, beides habe finanziell einfach nicht drin gelegen. Das Ergebnis siehst
du ja.“
„Dein Vater ist ein weiser Mann.“
Grübchen.
An die könnte ich mich wirklich gewöhnen.
„Das dachte ich gerade auch.“
Ich erwiderte nichts, etwa zwei Minuten lang, doch dann, gerade, als ich
dachte, dass ich wohl auch dieses Gespräch als begraben – ich meine
natürlich, beendet – betrachten durfte, sagte ich ohne nachzudenken:
„Dann werde ich ihr Patenonkel. Der hat schließlich auch Besuchsrecht,
oder?“
Erst dachte ich, er würde nicht antworten – was mich nicht
überrascht hätte, schließlich war es ziemlich kindisch, unreif oder wie man das
auch immer nennen wollte; ich meine, wir unterhielten uns darüber, wie ich mich
an einen Kachelofen binden konnte. Solche Gespräche führte ich mit
Kitty, Sue oder Pa, aber nicht mit Leuten aus meiner Klasse – und
wenn die es unter sich taten, nervte es mich.
„Sicher“, erwiderte er dann doch noch, „aber Patenonkel zu sein ist eine
Aufgabe, die mit einigen Pflichten daherkommt: regelmäßige Besuche, Geschenke
zu Geburtstag, Namenstag und Weihnachten, das gemeinsame Ostereiersuchen an
Ostern … bist du sicher, dass du bereit dafür bist?“
„Ostern? Hält sie da nicht schon Sommerschlaf?“
„Nicht immer, manchmal ist es an Ostern noch sehr kalt.“
Auch wieder wahr.
„Hm. Aber die Besuche, die in die Zeit des Sommerschlafs fallen, die werde
ich wohl in den Winter verschieben – bringt ja nichts, wenn sie
sowieso schläft.“ Ich ruckelte mich ein bisschen zurecht. „Und da ich ein guter
Patenonkel bin, wären das so viele, dass es sich fast nicht mehr lohnt, wenn
ich dazwischen nach Hause gehe. Am besten quartiere ich mich also im Winter
einfach hier ein und verbringe meine ganze Zeit mit Betsy.“
Da, Grübchen. Tiefe Grübchen.
„Und ich soll dich durchfüttern, oder was?“
„Ach, ich brauch nicht viel, wenn es warm genug ist. Außerdem würdest du
nur einkaufen gehen – füttern würde ich, du kannst ja nicht kochen.“
„Und du schon?“
„Natürlich – ich weiß nicht, ob’s dir aufgefallen ist, aber meine
Mutter hält verdammt viel von Haushaltspflichten-Verteilung. Und kochen ist
immer noch besser als abwaschen.“
Rubin streckte die Beine aus und grinste noch ein bissen breiter.
„Ich glaub, wir haben einen Deal. Solange du mich bekochst, darfst du so
viel mit Betsy kuscheln, wie du willst.“
Sehr schön. Wirklich, das gefiel mir – und es bestätigte, dass
alles seinen Preis hatte, sogar hypothetische Patenonkelschaften.
„Irgendwelche speziellen Vorlieben?“
Ich wusste nicht, warum ich das Spiel weiterspielte. Eigentlich hatten wir
mehr als genug geredet, wenn man bedachte, dass ich gar nicht zum reden
hergekommen war. Und ich mochte ihn ja nicht einmal – mit Leuten, die
man nicht mochte, führte man eigentlich auch keinen Small Talk. Obwohl, so, wie
er jetzt gerade war, entspannt und zur Abwechslung mal nicht arrogant, mit
Grübchen …
Nein, stopp. Ich mochte ihn nicht und dabei blieb es. Das war einfacher,
denn solange ich ihn offiziell nicht mochte, musste ich nicht so tun, als würde
ich ihn mögen. … Ähm, ihr wisst, was ich meine.
Ich bemerkte das dreckige Grinsen etwas spät und verstand im ersten
Augenblick nicht, was es verursacht hatte, aber dann wurde mir klar, dass es
meine Formulierung gewesen sein musste und ich brummte: „Was das Essen
betrifft, du Ferkel.“
Das Grinsen blieb, aber er antwortete mir. „Italienisch, indisch und
natürlich amerikanisch – asiatisch mag ich dagegen nicht so.“
Ich nickte und schloss die Augen. Beim Olymp, Betsy war einfach nur genial!
„Das trifft sich gut, asiatisch kann ich nämlich nicht. Indisch aber auch
nur Curry.“
„Keine Angst, ich bin nicht besonders anspruchsvoll, wenn’s ums Essen
geht.“
Und sonst schon?
Obwohl, die Frage erübrigte sich wohl, immerhin ging es hier um einen Kerl,
der anscheinend in unserer ganzen Schule niemanden fand, der gut genug war,
damit er sich mit ihm abgab.
***
„Vyvyan?“
Ich brummte. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber es war mir
auch egal. Es war warm, es war wohlig, es war wunderbar.
„Es ist zwanzig nach zwei.“
Schön für dich.
Einige Momente vergingen, dann:
„Wir sollten langsam weitermachen, meinst du nicht auch?“
Sollen? Vielleicht. Wollen? Garantiert nicht.
„Will lieber hier bleiben.“
Ein kurzer Moment der Stille.
„Wenn wir nicht bald anfangen, werden wir nicht fertig, bevor du nach Hause
musst.“
War das mein Problem? Nein.
„Vyvyan, wenn wir heute nicht damit fertig werden, werde ich darauf
bestehen, dass du morgen kommst und wir es nachholen.“
„Will nicht aufstehen.“
Nicht jetzt. Es war gerade so … warm.
Ich öffnete meine Augen, um meiner Aussage mehr Gewicht zu verleihen. Meine
Lider hatten, zugegeben, auch ein wenig mehr Gewicht als sonst – ich
war nicht eingeschlafen, hatte aber gedöst – und dabei
herausgefunden, dass dösen auf einem Kachelofen genial war. Mein Sichtfeld
stellte sich als ein wenig unscharf heraus, aber eines erkannte ich dennoch:
die Grübchen.
Ja, doch. Die waren schon irgendwie gut.
„Wie du willst.“
***
„Vyvyan?“
Nicht schon wieder!
„Vyvyan, es ist fast halb vier – wenn du dich nicht langsam
von Betsy trennst, ist es dunkel, bis du zu Hause bist.“
„Hab keine Angst vorm Dunkeln.“
Also lass mich in Ruhe.
„Aber du wolltest doch noch mit Catherine in den Schnee, oder?“
Hm, Miss Kitty. Sie würde Betsy lieben, garantiert.
… Moment. Kitty, Schnee – halb vier Uhr? Nachmittags?!
Scheiße.
Ich schoss auf, drehte mich um und griff nach meinem Pulli, um ihn
anzuziehen.
„Wann fährt der nächste Bus? Wie lange braucht der noch mal zu mir? Dreißig
…“
„Vierzig Minuten.“
„Scheiße! Kitty bringt mich um, wenn ich zu spät nach Hause komme.“
„Wenn du dich beeilst, schaffst du’s noch auf den sechsunddreißiger.“
Mehr musste er nicht sagen. Ich rannte nach oben, packte mein Zeug
zusammen, rannte wieder runter und zog mich in Windeseile an.
Ohne Betsy war mit kalt. Scheiß Winter.
„Wo ist die Bushaltestelle noch mal?“, fragte ich, während ich mir den
Schal um den Hals schlang.
„Ich bring dich hin.“ Rubin, bereits in Jacke, Schuhen und Handschuhen,
nahm die Hausschlüssel und kam mit mir nach draußen. Und ja, ich gebe es zu:
Ich war ein klein wenig ungeduldig.
„Vyvyan, ich habe zwar gesagt, du sollst dich beeilen, aber rennen
müssen wir nicht.“
„Ich will jetzt aber rennen, okay? Es beruhigt mein schlechtes Gewissen und
verbraucht das scheiß Adrenalin.“ Oder so. Ich hatte keine Ahnung, ob rennen
wirklich dabei half, aber ich wollte jetzt wirklich rennen. Der
Bürgersteig war ja schneefrei gehalten.
„So schlimm wird’s doch nicht werden, auch wenn du zu spät kommst, oder?“,
fragte er und kam mir entgegen, „Erklär ihr einfach, warum du es nicht
geschafft hast. Immerhin bist du ihr Lieblingsbruder, wenn ich das richtig
mitgekriegt habe.“
Ja, und ihr einziger, aber das tat hier nichts zur Sache.
„Rubin, Kitty ist neun. Da hilft keine Logik – ganz
abgesehen davon, dass ‚Ich hab den Kachelofen dir vorgezogen‘ ja wohl bei keinem
weiblichen Wesen punkten würde.“
Er seufzte, aber dann bekam ich ein Nicken – und wir rannten zur
Bushaltestelle.
***
Als wir ankamen, war vom Bus noch nichts zu sehen. Natürlich, Rubin hatte
ja gesagt, dass wir nicht zu rennen bräuchten, und wann hatte Rubin schon
Unrecht?
Trotzdem, ich hatte auch Recht gehabt: Es fühlte sich gut an, ein bisschen
aus der Puste zu sein. So, als hätte ich es wenigstens versucht.
Rubin allerdings sah gar nicht glücklich aus.
„Sportmuffel?“
Uh, der Blick, den ich dafür kriegte, sah echt angepisst aus. Ich hatte gar
nicht gewusst, dass er so dreinschauen konnte.
„Nicht direkt. Ich kann nur sinnloses Rennen nicht ausstehen. Basketball
ist okay, Marathonläufe dagegen nicht.“
Ich grinste. „Das war nie und nimmer ein Marathonlauf.“
„Aber genauso unnötig.“
„Na komm, jetzt hast du’s ja hinter dir.“ Ja, ich war ein klein wenig
schadenfreudig – obwohl ein Teil von mir daran zweifelte, dass das wirklich
das passende Wort war. Aber es gefiel mir, ihn ‚angepisst‘ zu sehen. Erstens,
weil er dann, nun, eben angepisst war; zweitens, weil es ihn menschlicher
machte; und drittens, weil man das in der Schule nie zu Gesicht bekam.
Rubin musterte mich und grinste dann schief. „Das wirst du morgen bereuen.“
„Morgen?“
Er hob eine Augenbraue, dann vertiefte sich das Grinsen. „Du hast
zugestimmt, morgen das nachzuholen, was du heute wegen Betsy vor dir
hergeschoben hast. Schon vergessen?“
Oh, Mist! Das meinte er doch nicht ernst, oder? Immerhin war ich da
nicht zurechnungsfähig gewesen. Und morgen, morgen war – der
sechsundzwanzigste. Das angedrohte Treffen mit Theo & Co.
Und plötzlich konnte ich fühlen, wie sich meine Gesichtszüge entspannten.
Der morgige Tag war eh schon verloren – aber wenn ich die Wahl hatte,
dann verbrachte ich meine Zeit lieber damit, mein Englisch aufzubessern, als
mit Theo und den anderen in irgendeiner Spelunke. Das lag nicht an meiner Liebe
für Englisch oder Sympathie für Rubin, sondern einfach daran, dass Lernen
wenigstens sinnvoll war.
„Oh.“
„‚Oh‘? Das ist alles?“ Rubin musterte mich erneut, diesmal
skeptisch. „Ich hätte mehr Widerstand erwartet.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt Schlimmeres.“
„Wow … Betsy muss ja wirklich Eindruck hinterlassen haben.“
„Glaub mir, das hat sie.
„… Aber?“
„Aber mein ‚fehlender Widerstand‘ hat andere Gründe.“
„Die da wären?“
Ich zuckte erneut mit den Schultern. Ich wollte nicht antworten, nicht
wirklich. Aber Rubins forschender Blick machte es schwierig, lange den Mund zu
halten. Schließlich grummelte ich leise und sagte dann:
„Ich treffe mich morgen mit Theo, okay?“
Er schmunzelte. „Und da ist dir jede Ausrede recht, um das Treffen zu verkürzen.
Ehrlich, Vyvyan, ich verstehe nicht, warum du dich überhaupt mit ihnen
abgibst, wenn es dich so sehr nervt.“
„Musst du auch nicht.“
Der Bus kam in Sicht und hielt kurz darauf vor uns an.
„Dann bis morgen, Vyvyan.“
Schon wieder.
***
Als ich nach Hause kam, war es nach vier Uhr und Kitty war, wie erwartet,
ganz und gar nicht begeistert. Ich war noch nicht einmal richtig zur Tür
herein, als ich sie sah; sie saß auf der Treppe und funkelte mich regelrecht
an.
„Du hast es versprochen!“
„Ich weiß, Miss Kitty, ich bin spät, aber – ich kann das
erklären. Und, wenn wir jetzt gleich gehen, dann haben wir noch eine gute
Stunde, bevor es richtig dunkel …“
„Eine Stunde ist nicht genug!“
Sie war wütend. Sehr. Gut, okay, das war vorhersehbar gewesen.
„Es tut mir leid, Kitty, wirklich.“ Ich wickelte mich aus meinem Schal und
legte auch die anderen Sachen ab.
„Ich hab gedacht, du magst Rubin nicht.“
„Tu ich auch nicht – ich bin nicht zu spät gekommen, weil ich
lieber bei Rubin sein wollte.“ Das sollte sie eigentlich
wissen – andererseits kam ich sonst nie zu spät, wenn es um Miss
Kitty ging. Sie war meine oberste Priorität und sie wusste es.
Sie legte den Kopf schief und sah mich an, immer noch wütend, immer noch
aufgebracht.
„Warum dann?“
„Ich …“
Jetzt hatte ich zwei Möglichkeiten: Die Wahrheit sagen – oder die
Wahrheit beschönigen. Normalerweise hätte ich ohne Skrupel Nummer zwei gewählt,
aber das war Kitty – Kitty log ich nicht an.
Ich seufzte. Sie würde das nicht gut aufnehmen und ich konnte es verstehen.
Aber da musste ich durch.
„Weißt du, Englisch war heute wirklich anstrengend und ich habe eine Pause
gebraucht. Darum haben wir etwas gegessen und danach sind wir ins Wohnzimmer
gegangen. Und, Kitty, Rubins Eltern haben einen Kachelofen. Der war
unglaublich warm und einfach so super, dass ich fast darauf eingeschlafen bin.“
„Du hast verschlafen? Am Nachmittag?“
Ich hob meine Hände. „Nicht wirklich verschlafen – eher verdöst.“
Ja, das machte die Sache nicht viel besser. Eigentlich gar nicht.
„Aber du hast es mir versprochen!“
Ja, hatte ich. Und genau das war das Problem: Ich war hier der Böse und
Kitty wusste es. Es war mein Fehler.
„Ich weiß und es tut mir wirklich, wirklich leid.“
„Das macht es nicht wieder gut!“
Meine Mutter trat aus dem Wohnzimmer und kam auf uns zu.
„Kate, Vyvyan hat sich doch schon entschuldigt. So etwas kann mal passieren
und außerdem wäre es sowieso zu kalt gewesen, um draußen zu spielen. Warum
spielt ihr heute nicht drinnen und geht einfach morgen raus?“
Ich verzog das Gesicht.
Mum, bitte, mach es nicht noch schlimmer.
„Morgen geht nicht – ich treffe mich mit Mitschülern und am
Nachmittag muss ich noch mal zu Rubin.“
Mum sah mich überrascht an. „Ich dachte, ihr lernt jeden zweiten Tag
zusammen?“
„Ja, aber wir sind heute nicht fertig geworden, weil ich … wegen des
Kachelofens.“
Sie schmunzelte und wuschelte mir kurz durch die Haare.
„Das ist so typisch. Aber es ist wirklich sehr nett von Rubin, dass er sich
deswegen morgen noch einmal Zeit nimmt. Ich hoffe doch, du hast dich
entschuldigt?“
Ich? Wieso?
„Vyvyan?“
O-oh, der Ton war gar nicht gut – konnte sie Gedanken lesen oder
was?
„Dir ist bewusst, dass du nicht der einzige bist, der hier seine Ferien
opfert, nicht wahr? Und dass er, auch wenn er zugesagt hat, dir zu helfen,
deswegen keinerlei Verpflichtungen hat, noch mehr Zeit zu investieren, nur,
weil du zu faul bist – nicht wahr?“
Ich schluckte. Ja, eigentlich wusste ich das.
„Und bis jetzt warst du nicht besonders nett zu ihm. Ich hoffe schwer, dass
du dich wenigstens anständig entschuldigst – morgen, gleich als
erstes. In Persona.“
Also, erstens hatte ich ihm gleich am ersten Tag einen
runtergeholt – wenn das nicht nett war, dann wusste ich auch
nicht; und zweitens … zweitens nickte ich.
Mum auch noch zu verärgern konnte ich mir wirklich sparen.
„Ja, schon gut. Morgen, sobald ich sein Haus betrete.“
Mum nickte streng aber zufrieden, ich seufzte innerlich und
Kitty – sprang plötzlich auf und stampfte mit dem Fuß.
„Du hast mir versprochen, dass wir ganz viel miteinander spielen in den
Ferien, aber du bist immer weg oder hast Besuch. Das ist so gemein!“
Ganz ehrlich, ich war völlig überrumpelt und starrte ihr sprachlos
hinterher, als sie die Treppe hinaufstampfte und kurz darauf ihre Zimmertür
zuschlug.
Heute morgen hatte sie doch noch fröhlich mit Rubin geredet – und
jetzt hatte ich plötzlich ‚dauernd‘ Besuch?
Mum neben mir seufzte und schüttelte den Kopf.
„Lass sie, sie muss sich erst wieder beruhigen. Ihr war heute einfach
schrecklich langweilig und sie hat sehnsüchtig auf dich
gewartet – aber es wird langsam Zeit, dass sie lernt, dass sie nicht
immer ihren Willen durchsetzen kann.“ Sie sah mich an. „Und, dass du lernst,
nicht immer nach ihrer Pfeife zu tanzen.“
Vielleicht hatte Mum Recht – aber Kitty war mir nun einmal
wichtig und normalerweise war sie so süß, dass es mir nichts ausmachte, nach
ihrer Pfeife zu tanzen. Und heute, heute hatte ich den Fehler begangen.
Ich konnte nur wiederholen: Was für ein scheiß Tag – mit Ausnahme
von Betsy, vielleicht.
*********
„Und das hat er dir ins Gesicht gesagt?“
„O-Ton. Er war übermüdet, das war ihm anzusehen, und ich hab es ja auch
gewusst, eigentlich, aber … trotzdem. Das hat … weh getan.
In dem Moment.“
„Welch Überraschung.“
„Shut up, Meg.“
Ich ließ mich gegen die Wand fallen. Dass sein Nein gestern und die Worte
heute so eine Wirkung auf mich hatten, war für mich sehr wohl überraschend
gewesen. Ja, ich fand ihn anziehend. Und sympathisch, wenn er mir nicht gerade
vor den Latz knallte, dass er mich und/oder meine Landsmänner und/oder meine
Muttersprache zum Kotzen fand. Und irgendwie war er auch faszinierend …
„Und jetzt?“, fragte Megan in
einem Ton, der klar machte, dass sie bereits wusste, was ich tun würde.
„Keine Ahnung. Aber … er ist
grad so zahm.“
„Er schläft ja auch.“
„Eben. Schlafende Kerle soll
man nicht wecken.“ Ich sah zur Wohnzimmertür zurück und seufzte. „Außerdem hat
er sich wieder entspannt und war seit der Pause wieder … netter.
Zugänglicher.“
„Und das reicht dir?“
„Für den Moment, ja.“
„Na, dann viel Glück. Und hon?“
„Ja?“
„Lass die Finger von ihm.“
Hatte ich doch schon. Den
ganzen langen Tag. In der Schule war das einfacher gewesen.
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