Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 8. Januar 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 11:


Am nächsten Morgen hatte ich so wenig Lust wie selten, aufzustehen. Irgendwann war ich doch eingeschlafen, aber von Tiefschlaf oder erholend konnte nicht die Rede gewesen sein, denn ich fühlte mich wie gerädert – nein, wie gerädert, zermantscht, mit dem Mörser bearbeitet, durchgekaut und wieder ausgespuckt. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass Rubin nicht im Zimmer war. Wenigstens etwas, wenigstens einen Moment für mich, um mich auf heute vorzubereiten. Der Tagesplan soweit: Frühstück mit Rubin, Nachhilfe mit Rubin. Ju. Hu. Aber immerhin würde ich morgen – mit Theo und Kompanie weg müssen. Doppel-Juhu. Und am Tag danach wieder Nachhilfe. Verdammt noch mal, war es denn wirklich zu viel verlangt, in den Weihnachtsferien einen Tag lang nur auf dem Sofa herumzulümmeln und kleine Schwester-Prinzessinnen vor bösen Drachen zu retten?
Aber jammern brachte bekanntlich wenig. Je schneller ich die Sache anging, desto schneller würde mein Lümmel-Tag kommen. Und das gestern Abend, das war ein guter Anfang gewesen; es hatte mich zwar eine halbe Nacht Schlaf und ein paar blaue Kronjuwelen gekostet, aber ich hatte es überlebt. Wenn ich brav so weitermachte, war der Moment geistiger Umnachtung von vorgestern bald weit entfernte, fast vergessene Vergangenheit. Ganz abgesehen davon, dass die Nachhilfe auch einfacher und stressfreier werden würde, wenn mein Körper endlich kapierte, dass er auf Rubin nicht zu reagieren hatte. Genau. Ich setzte mich auf, schlug die Decke zurück und streckte mich ausgiebig. Auf in den Kampf!
Die Tür wurde leise geöffnet und Rubin trat ein, in Jeans, ohne Socken und mit einem Handtuch um den Schultern anstatt des Hemdes. Nasse Haare. Nasse, verstrubbelte Haare.
Hera, Hades und Hephaistos, warum hatte mir niemand gesagt, wie Rubin mit nassen, verstrubbelten Haaren und vom heißen Wasser leicht geröteter Haut aussah?!
Das war nicht fair. So früh am Morgen – einfach nicht fair. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr so müde und gerädert. Und das gerade dann, wenn ich mich entschieden hatte … aber so etwas passierte ja oft, nicht wahr? Der Verstand entschied etwas und bis der Körper das mitbekam, verging eben einige Zeit. Das war wie in der Geisterbahn: Der Verstand wusste, dass es nur ein alter Säufer im Bettlaken war, die Beine rannten trotzdem los und der Mund rief nach Mama.
Genau dasselbe Phänomen. Absolut.
Einhundertprozentig.
Wirklich.

Steh nicht einfach so da, verdammt noch mal! Du bist schließlich keine Marmorstatue!
Obwohl, die Hautfarbe kam in etwa hin und ich hätte sowieso fast geglaubt, dass er das mit Absicht tat – wie, um mir zu zeigen, was ich verpasste. Zu was ich Nein gesagt hatte.
Wie gesagt, fast. Dann aber machte er dieses kleine o-Geräusch, fuhr sich durch die Haare – nicht, du machst alles futsch! – und fragte:
„Du bist wach?“
Und nein, das war eindeutig nicht die intelligenteste Frage des Jahres. Vielleicht lag es ja an der frühen Stunde und er war einfach ein Nachtmensch – Nacht … nein, daran wollte ich nicht denken.
Ich nickte.
„Gerade aufgewacht.“
Das war auch nicht die intelligenteste Antwort des Jahres, aber bei mir war es natürlich Absicht, schließlich konnte ich ihn nicht schon am Morgen dumm Aussehen lassen. 
… Ha, genau.
„Deine Schwester hat gesagt, ich könne duschen, und – ich habe vergessen die mitzunehmen.“ Er zeigte auf die frische Unterwäsche, die ich ihm gestern gegeben hatte. Und er wirkte entweder nervös oder peinlich berührt.
… Und das wiederum machte mich nervös.
War Unterwäsche vielleicht doch zu intim? Aber das war nicht das erste Mal, dass ich das tat und bisher hatte ich mir nie etwas dabei gedacht. Außerdem war sie  sauber – und viel intimer, als den wichtigsten Abend des Jahres mit jemandes Familie zu verbringen war es ja wohl nicht – konnte es ja gar nicht sein, denn das war das Intimste, was ich mir vorstellen konnte. Deswegen hatte mir das in Verbindung mit Rubin auch solche Bauchschmerzen bereitet.
„Sicher.“ Ich stand auf, versuchte unerwünschte Gedanken per imaginären Bulldozer zu verscheuchen und ging auf meinen Schrank zu.
„Willst du auch ein frisches Hemd?“, fragte ich mit der leisen Hoffnung, dass dadurch das ganze Unterwäsche-Dings ein wenig normaler wirkte – nur für den Fall, dass es doch nicht ganz so normal war, wie ich dachte, versteht sich.
Ich nahm mir selbst frische Kleider raus und drehte mich dann um.
„Ja“, erwiderte er, „gern. Danke,“
„Nicht dafür. Musst du noch mal ins Bad?“
„Meine Sachen holen.“
„Okay.“
Dann konnte ich jetzt duschen. Und ich schwor mir, mit dem Wasser auch die Erinnerung an vorgestern abzuwaschen – und gestern – und, wenn ich schon dabei war, auch an das Bild, das er eben abgegeben hatte. Besser für mich und – nun, nur für mich, aber das war ja auch das einzige, was wirklich zählte.

***

Es schien funktioniert zu haben. Eine Dreiviertelstunde später saß ich im Kreise meiner Lieben plus Rubin am Tisch und frühstückte, während die Normalität wieder eingekehrt war; wenn man es normal nennen konnte, dass Rubin sich so schrecklich nett verhielt, zumindest zu meiner Familie. Sehr wohl normal war, dass mir das schrecklich auf den Keks ging, egal, ob es nun mein Weihnachtsfest harmonisch über die Bühne gehen lassen hatte oder nicht. 
„Vyvy? Kommst du nachher mit nach draußen?“ Kitty sah mich mit ihren großen Schokoaugen an und versuchte sich ziemlich erfolgreich an einem Hundeblick. „Ich will in den Schnee!“
In die weiße Hölle?
Sicher, für meine Kitty-Maus doch immer. Nur lieber später als früher. 
„Erst nach Vyvyans Nachhilfe.“ Mum sah Kitty einige Sekunden lang mit diesem typischen Eltern-Blick an und wandte sich dann an mich. „Du hast doch heute Nachhilfe, nicht?“
Eigentlich war das der Plan gewesen. 
„Hast du überhaupt Zeit gehabt, etwas vorzubereiten?“, fragte ich Rubin und merkte selbst, wie sehr man mir anhörte, dass ich auf eine negative Antwort hoffte.
Aber Rubin wäre nicht Rubin gewesen, wenn er das nicht ignoriert und kühl lächelnd geantwortet hätte: „Natürlich, ich hatte vorgestern Abend mehr als genug Zeit.“
Toll. Wirklich. Da kam Freude auf.
Und ja, ich war mir bewusst, dass ich ihm eigentlich dankbar sein sollte. Immer noch. Trotzdem … ich war wohl gerade in meiner dritten rebellischen Phase oder so.
„Willst du nachher gleich mitkommen? Dann könntest du am Nachmittag immer noch mit Catherine in den Schnee.“ Rubin sah mich fragend an.
Ich nickte, auch wenn von wollen keine Rede sein konnte. Aber wie gesagt: Je früher wir anfingen, desto früher würden wir fertig sein, und ich wollte Zeit mit Kitty verbringen – vielleicht nicht unbedingt draußen, aber wenn sie sich die Nasenspitze abfrieren wollte, bitte.

***

Der Bus, in den wir eine halbe Stunde später eingestiegen waren, fuhr ruckelnd und ächzend aus meinem Viertel immer weiter hinaus, dem Stadtrand zu. Ich saß, mit Handschuhen, Winterjacke, Schal und Wollmütze dick eingemummelt, am Fenster und verfluchte die Kälte, die mir von der Scheibe entgegenkam. Vielleicht war ich ein bisschen kälteempfindlich, aber diesmal lag es nicht an mir; es war so kalt draußen, dass sogar der Schnee fror. Und ich überlegte mir jetzt bereits zig Ausreden, um am Nachmittag nicht da raus zu müssen.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Kitty, nachdem sie gemerkt hatte, dass es heute wirklich kalt war, auch nicht mehr unbedingt in den Schnee wollte, aber das Problem mit Kitty war, dass sie, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, das da so leicht nicht mehr herausbekam, sogar, wenn sie wollte. Sie würde mich nach draußen schleifen, außer, ich gab ihr eine gute Ausrede, es nicht zu tun.
Der Bus fuhr weiter und weiter und weiter aus unserer schönen Stadt hinaus – nun, nicht ganz hinaus, aber um ein Haar. Als wir gerade hierher gezogen waren, hatte ich gedacht, dass das Haus, das meine Eltern diesmal gemietet hatten am ‚Stadtrand‘ lag, aber gegen das hier lebten wir im Zentrum. Ich meine, die Häuser standen nicht einmal annähernd dichtgedrängt, sondern eher verstreut und etwas weiter hinten erhob sich ein bewaldeter Hügel. Wenn man nur in diese Richtung schaute und den Verkehrslärm (der auch beträchtlich geringer war als sonst wo, wo ich seit dem Sommer gewesen war) ausblendete, konnte man sich einreden, in einem größeren Dorf zu sein.
Und plötzlich konnte ich Rubin ein kleines bisschen besser verstehen. Dass er es die ‚Idylle einer Kleinstadt inmitten einer Großstadt‘ genannt hatte und dass er wegwollte – auch wenn ich immer noch der Meinung war, dass Amerika nicht die Lösung sein konnte.
Nein, Amerika war, wenn überhaupt, das Problem, nur im Großformat. In so vieler Hinsicht.
„Kommst du?“ Rubin stand auf dem untersten Tritt und sah mich an. Einen Moment lang war ich echt weggewesen. Wie konnte sich die Umgebung innerhalb weniger Minuten so verändern? Von mir zu ihm hatte es etwa vierzig Minuten gedauert – vierzig Minuten im städtischen Verkehr und nicht auf der Schnellstraße, versteht sich.
Ich stand auf und folgte ihm hinaus in die Kälte, die Straße ein Stück hinauf, in eine Seitenstraße, ein wenig runter, wieder rauf, geradeaus … wie weit denn noch? Wenn das die nächste Bushaltestelle war, dann lagen die hier wirklich weiter auseinander als bei uns.
Schließlich standen wir vor einem altmodischen Fachwerkhaus, mit Gartentor, Gartenzaun und – man höre und staune – einem Garten! Und nicht einfach ein Fleckchen Wiese rechts und links der Einfahrt, so wie bei uns – nein, ganz viel Grün mit einzelnen Bäumen, das dem Anschein nach das Haus umrundete. Genug Grün, um Kinder darauf herumtoben zu lassen. Wir waren in einem verdammten Dorf.
Ich hasste Dörfer.
Nicht nur, weil sie klein und einengend und langweilig waren, sondern auch, weil es dort immer viel schwieriger war, Anschluss zu finden. Jeder kannte jeden und jeder Neue würde die ersten zwanzig Jahre lang der Neue sein, egal, wie gut er sich anpasste. Scheiß Herdenverhalten. Außerdem, wenn man sich einen Freundeskreis aufgebaut hatte, waren die Leute meist so verdammt anhänglich. In einer Stadt gab es immer ein Kommen und Gehen und wenn man sich aus den Augen verlor, war das nicht so schlimm, aber in einem Dorf, da hatte man nur seine Nachbarn – und vielleicht noch die aus den Nachbardörfern. Die wollten einen behalten und alles über einen wissen und – argh!
Schlimm.
Stadtmenschen waren angenehmer, solange man eine gewisse Distanz wahrte.
Rubin öffnete das Gartentor, das in seiner Winzigkeit so unnütz wie rein dekorativ war und mich an die Gartentore in den amerikanischen Familienserien erinnerte, die Kitty manchmal schaute; ja, auch meine Miss Kitty war nicht ganz perfekt. Dann gingen wir über den Weg aus hellen Steinen zur Haustür, Rubin holte den Schlüssel aus seiner Jackentasche, steckte ihn ins Schloss, drehte, zog ihn heraus, drückte die Klinke und – endlich! – wir konnten hinein, ins warme, oh, so warme Haus.
Ich hatte keinen Bock. Nicht auf Englisch, nicht auf Rubin, nicht darauf, bald wieder da raus zu müssen. Heute war echt ein bescheidener Tag.
Trotzdem wickelte ich mich brav aus meinem Schal und streifte danach Mütze, Handschuhe und Jacke ab, die mir Rubin alle abnahm und, wieder ganz der Gentleman, der er nicht war, aufhängte.
„Willst du was zu trinken?“, fragte er, während er seine eigenen Sachen verstaute und ich mich mäßig interessiert umsah. Das Innere war … gemütlich. Altmodisch, aber ohne wirklich alt auszusehen. Viel Holz, dunkles Holz, aber cremefarbene Wände und sanftes Licht. Wahrscheinlich war es irgendwann renoviert worden.
„Habt ihr Cola da?“
Rubin grinste spöttisch. „Vyvyan, wir sind Amis. Was den meisten Menschen Wasser und den Engländern Tee ist, ist für uns bekanntlich Cola.“ Er ging den Flur entlang und rief, noch bevor ich einen Schritt machen konnte: „Schuhe ausziehen, please.“
Und ja, er war wieder bei etwa achtzig Prozent seiner Schulstimme angekommen. Was hatte ich jetzt schon wieder verbrochen? Und verbrochen hatte ich etwas, ansonsten wäre er nicht plötzlich wieder so gewesen, nicht wahr? Bis eben war er doch noch halbwegs erträglich – auch wenn das vielleicht hauptsächlich daran lag, dass wir die ganze Busfahrt über geschwiegen hatten. Trotzdem, bei mir zu Hause … aber gut, da war auch meine Familie dabei – nur, dass er in den Momenten, in denen wir alleine gewesen waren, auch halbwegs erträglich gewesen war. Hatte er sich etwa erst jetzt daran erinnert, dass ich ihm gestern einen Korb gegeben hatte? Konnte nicht sein. Außerdem hatte er sich gestern Nacht entschuldigt, schien also einzusehen, dass er und ich in meinem Bett keine gute Kombination waren. Noch außerdemer bezog sich der Kommentar ja wohl eindeutig auf das ‚Gespräch‘ bei der Nachhilfe gestern. Von wegen Amis hören sich wie rollige Katzen an. War er jetzt wirklich plötzlich deswegen wieder sauer?
Egal. Es konnte mir egal sein, welche Laus ihm gerade wieder über die Leber gelaufen war. Ich dachte sowieso zu viel über ihn nach – wobei natürlich jeder noch so kleine Gedanke, der mit ihm zu tun hatte, einer zu viel war. 
Ich folgte ihm in die Küche, wo er gerade zwei Gläser mit Cola füllte.
„Nur weil ich gesagt habe, dass sich Amerikanisch scheiße anhört, heißt das noch lange nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen Amerikaner habe“, begann ich, bevor ich mich zügeln konnte. Ich hatte kaum geschlafen, keinen Bock auf Englischnachhilfe und es war scheiße kalt. Fazit: Ich war gereizt. Ich hatte versucht mich zusammenzureißen, aber darauf, dass er schon wieder so verdammt arrogant dreinschaute und, noch schlimmer, sich so benahm, konnte ich echt verzichten. Was sollte das? „Sicher, ich verstehe nicht, wie ihr Bush Junior wählen konntet – zweimal! – und Obama hat mich auch nicht überzeugt, der hat zwar gute Intentionen, kriegt aber nichts auf die Reihe – sowieso, eure ganze Politik ist ziemlich für’n Arsch – und der übertriebene Patriotismus auch, ganz zu schweigen von dem Einheitsbrei, den Hollywood verbricht und der echt verboten gehört …“
„Vyvyan?“, unterbrach er mich, „Du schweifst ab und das hilft deiner Argumentation nicht.“
Ich schnaubte. Vielleicht hatte er Recht, aber es ärgerte mich, dass er so von oben herab sagen musste. Wie hielt Megan es nur mit ihm aus?!
„Was ich sagen wollte: Du brauchst nicht beleidigt sein, nur weil ich eure Aussprache nicht mag; das ist schließlich nur Geschmacksache und kein Angriff gegen dich.“
„Ach?“
„Ja. Mein Problem mit dir ist ja auch nicht, dass du Amerikaner bist, sondern, dass ich dich einfach nicht ausstehen kann.“
Einen Moment lang sah er mich überrascht an, dann lachte er trocken und schüttelte den Kopf.
„Sehr beruhigend, danke. Aber ich war gar nicht beleidigt.“ Er reichte mir eines der Gläser, nahm die Flasche und das andere Glas in die Hände und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, die Küche zu verlassen. „A lil’ disheartened, though. Now more than ever.“
Na toll. Konnte er nicht Deutsch sprechen? Die Stunde hatte schließlich noch nicht angefangen und wenn bei einem Gespräch zwischen zwei Personen einer plötzlich eine Sprache zu sprechen anfing, die der andere nicht verstand, war das Gespräch tot. Rubin hatte gerade unser Gespräch umgebracht.
„Jetzt mehr als zuvor was?“
Doch er antwortete nicht, oder besser, nicht darauf. Statt dessen sagte er:
„Da, die Treppe hoch, dann nach rechts drehen und geradeaus auf die Tür zu.“
Dann eben nicht. Begraben wir das Gespräch, ist eh besser; es war kein Meisterwerk. Trotzdem, es nur deswegen gleich unter die Erde zu schicken …

Rubins Zimmer war recht groß und ziemlich unordentlich – gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte – ich meine, hätte, wenn ich denn einen Gedanken daran verschwendet hätte. So, wie er auftrat, mit seiner unnahbaren Art und den immer perfekten glatten Haaren, hatte ich unbewusst angenommen, dass auch sein Zimmer dies widerspiegeln würde, aber die Kleider auf dem Boden und die Bücher und CD-Hüllen, die mit ihnen dort kuschelten, belehrten mich eines Besseren.
Sorry“, sagte er und beeilte sich, einiges davon aufzusammeln, „ich dachte, ich hätte heute noch Zeit aufzuräumen.“
„Wegen mir brauchst du dir keine Umstände zu machen.“
Rubin hielt inne, schnaubte spöttisch und erwiderte: „Stimmt. Aber es wird sowieso langsam Zeit.“ Er warf die Kleidungsstücke in seiner Hand aufs Bett und zeigte auf den Schreibtisch – auf einen der beiden, um genau zu sein. Wofür brauchte ein einzelner Kerl zwei Schreibtische? Zwei überfüllte Schreibtische.
Ich warf meinen Rucksack hin, zog den Stuhl ein wenig zurück und hob die Dinge, die darauf lagen, auf den Tisch. Während ich mich setzte und mein eigenes Zeug hervorholte, räumte Rubin einen Teil der Tischplatte provisorisch frei, so dass ich wenigstens genug Platz hatte, um meine Mappe und den Bleistift hinzulegen. Dann schaltete er seinen Computer an.
„Ich muss die Blätter für heute erst ausdrucken, aber ich dachte, wir üben das, was ich dir vorgestern erklärt habe noch ein bisschen und gehen dann zu ein paar etwas schwierigeren Beispielen über.“ Schulstimme, neunzig Prozent – auch wenn man in der Schule äußerst selten so lange Sätze zu hören bekam.
Ich seufzte. „Kann’s kaum erwarten.“
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich hatte keine Lust. Es war Weihnachten, Kitty wartete, ein tolles Buch wartete, meine Familie und die Weihnachtsplätzchen warteten; alles gute Gründe, um gerade nicht hier zu sein. Vor allem nicht, wenn er so war.
Gut, er war eigentlich nie anders und das Buch hatte ich ihm zu verdanken, aber … ach, keine Ahnung. Irgendwas lief heute falsch. Es … es fühlte sich an, wie ich mir Nachhilfe bei Rubin ursprünglich vorgestellt hatte, nicht so, wie sie bisher gewesen war.
Rubin ignorierte meinen Kommentar und druckte kurz darauf einen Stapel Blätter aus. Zum Glück war er ein wenig kleiner als der letzte.
Und dann? Dann machte ich mich an die Aufgaben, während Rubin entweder weiter aufräumte oder sich an den Schreibtisch lehnte und mir etwas erklärte. Seine Schulstimme behielt er bei, die Englischaufgaben schienen endlos, Kirschlutscher hatte ich natürlich keine mit und meine Laune rutschte immer weiter gen Hades. Und als er irgendwann mit dem Aufräumen fertig war und damit begann, sich nicht mehr so sehr an den Tisch als viel mehr zu mir rüberzulehnen – gerade so nahe, dass ich mein Shampoo an ihm riechen konnte – kein Zitronengras, heute, aber dennoch roch es nach ihm – oder einer Mischung aus ihm und mir – und das war wahrscheinlich das Schlimmste, denn, wie gesagt, als er anfing, sich zu mir herüberzulehnen, hatte ich kurze, scheiß verdammt zuckersüße Flashbacks vom morgendlichen Rubin mit Wuschelfrisur und mit meiner Konzentration war es nicht mehr weit. Und das, obwohl ich mir sagte, dass es Blödsinn war. Meine Konzentration hatte nicht wegen Rubin flöten zu gehen – wegen Kitty oder dem Buch oder dem verlorenen Festtag oder meinetwegen auch wegen meiner schlechten Laune, aber nicht wegen ihm. Schon gar nicht, da … also, da ich das Gefühl hatte, dass er sich nicht nur distanzierter gab, sondern auch mehr Abstand hielt. Mehr als sonst – nein, ‚sonst‘ hörte sich nach Regelmäßigkeit an; ‚mehr als vorher‘ war der treffende Ausdruck. ‚Sonst‘ hatte er schließlich kaum ein Wort mit mir gewechselt, denn ‚sonst‘ war in der Schule.
Und nein, das alles half meiner Laune nicht.

***

„Hier, es ist nicht ‚can’t‘, sondern ‚couldn’t‘.“ Rubin legte das Blatt mit den Aufgaben vor mich hin, stützte sich mit einer Hand auf der Stuhllehne ab und zeigte mit der anderen auf den Satz, den ich falsch hatte.
Nein, Moment, ich korrigiere: Er zeigte auf den Satz, den ich aus demselben beschissenen Grund wie mindestens zehn vor ihm falsch hatte. Scheiß Englisch.
„‚Couldn’t‘, natürlich.“ Ich hatte so was von genug hiervon. Wenn ich es nicht verstanden hätte, wäre es okay gewesen, daran war ich bei dieser Scheißsprache gewöhnt, aber wenn ich Fehler machte, einfach nur, weil ich mich nicht richtig konzentrieren konnte, dann regte mich das auf.
„Weißt du warum?“ Es war eine neutrale Frage; kein Hohn, Spott oder unausgesprochenes ‚Wann lernt er es endlich?‘. Und dennoch fuchste es mich – vielleicht fuchste es mich aber gerade weil er es so neutral sagte. Dachte er echt, dass ich dumm genug war, um es immer noch nicht kapiert zu haben?
Ich schmiss den Stift hin. „Weil der verdammte übergeordnete Satz in der scheiß Vergangenheit steht!“ Ja, das war mein gekränktes Ego, das da sprach … oder besser, fluchte. „Mir reicht’s! Ich dreh mich in einem verdammten Kreis und es bringt so einfach nichts!“ Und nein, ich würde ihm garantiert nicht sagen, dass es hilfreich sein könnte, wenn er einfach entweder einen halben Meter Sicherheitsabstand hielt oder – kein, kein Oder. Nur über meine verstümmelte, zerhackstückelte und geschändete Leiche.
Rubin nahm sein Handy hervor, warf einen Blick drauf und nickte.
„Was hältst du von einer Pause? Wir sind seit zweieinhalb Stunden dran.“
„Zweieinhalb Stunden?“ Ich zog seine Hand zu mir und sah selbst drauf. Ein Uhr drei. Dann hatte es sich also nicht nur wie eine Ewigkeit angefühlt, es war auch eine gewesen.
Sorry, ich habe wohl die Zeit vergessen.“
„Keine Angst, ich verstehe das.“ Ich ließ seine Hand los. „Es macht einfach zu viel Spaß, mich ein wenig zu quälen, nicht wahr?“
Er grinste. Der Bastard hatte echt den Nerv zu grinsen. Mit Grübchen.
„Hast du Hunger? Es ist Mittag.“
Ich nickte. „Irgendwie schon, ja.“

Wir gingen in die Küche. Rubin sah sich um ohne auch nur einen Schrank zu öffnen, warf dann erst einen Blick auf das Telefon an der Wand und danach auf mich.
„Auf was hast du Lust? Meine Kochkünste fangen bei Nudeln an und hören bei Spaghetti auf, aber ich habe die Nummer von ein paar guten Lieferdiensten; Mamas Art, dafür zu sorgen, dass sich ihr Sohn auch ja was halbwegs Richtiges zu essen besorgt, während sie weg ist.“
„Meine würde mir wahrscheinlich einen Kühlschrank voller Gemüse dalassen und mir alles Geld, mit dem ich Junkfood kaufen könnte, wegnehmen.“
Ein kleines Grinsen. „Deine Mutter scheint ziemlich hardcore zu sein, wenn es ums Essen geht.“
„So könnte man es auch sagen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber Spaghetti hört sich gut an; ich mag italienisch.“
„Gut.“
Er setzte Wasser auf, holte die Nudeln hervor und öffnete dann ein Küchenschränkchen, nur um innezuhalten. Er schob ein paar Dinge hin und her, stand auf, öffnete den – dem Anschein nach wohl gefüllten – Kühlschrank und suchte da noch ein paar Augenblicke lang, bevor er seufzte.
„Ich glaube, das wird nichts; wir haben keine Sauce mehr. Nur Ketchup, aber das Zeug esse ich nicht als Saucenersatz.“
„Ich auch nicht.“ Ich zögerte, dann fügte ich hinzu: „Aber du hast doch Tomaten? Wenn du willst, kann ich eine Sauce machen.“
Er drehte sich zu mir um und musterte mich einen Moment.
„Wenn es dir nichts ausmacht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wieso sollte es? Ist ja nur eine Tomatensauce – und ich habe Hunger.“ Ich zeigte auf den Kühlschrank. „Darf ich?“
Knock yourself out.
„Deutsch, bitte.“
„Tob dich aus, hau rein – so was in der Art.“
„Ich will keine Übersetzung, ich will, dass du von Anfang an deutsch sprichst. Ich habe Pause, schon vergessen?“ Ich holte die Tomaten heraus und sah, was sonst noch Brauchbares da war, bevor ich mich zu ihm umdrehte. „Wie wär’s mit einer Tomaten-Mozzarella-Sauce?“
„Ich habe Mozzarella?“
„Würde ich sonst fragen?“
Er grinste, schon wieder. „Keine Ahnung. Würdest du?“
Dieser Kerl würde mich noch ins Grab bringen; aber wenigstens sprach er wieder normal – oder, einfach nicht mit seiner Schulstimme – also eigentlich eher ‚abnormal‘, denn die Schulstimme war ja – ach, egal. Er war gerade halbwegs erträglich, das wollte ich sagen.

***

„Danke für die Hilfe, Vyvyan.“ Rubin lächelte leicht spöttisch, die Grübchen nur angedeutet. „Die Sauce war echt gut.“
Ich schnaubte und räumte aus Gewohnheit meinen Teller ab.
„Was willst du hören? Dass die Spaghetti auch sehr lecker waren?“ Ich drehte das Wasser auf, um den Teller abzuwaschen. „Ich habe nur Tomaten und Käse in eine Pfanne geworfen.“
„Schon wieder so gereizt? Bis eben war doch noch alles okay.“
Das musste er gerade sagen.
Er gab mir seinen Teller und ich schrubbte beide ab.
„Bis eben war ich am essen; jetzt muss ich gleich wieder der englischen Grammatik die Füße küssen.“
Rubin nahm mir die Teller aus der Hand, bevor sie richtig sauber waren und tat sie in die Spülmaschine. Bei Zeus, ich vermisste die Spülmaschine in unserem vorherigen Haus – das waren zauberhafte Monate ohne eingeschrumpelte Hände gewesen.
„Nun, wir haben eine Mittagspause gemacht und die geht normalerweise eine Stunde, nicht? Dann haben wir noch gute zwanzig Minuten.“
„Vielleicht“, erwiderte ich und entfernte das Gröbste vom Besteck, bevor ich es ihm gab, „aber je schneller wir weitermachen, desto schneller sind wir fertig und ich draußen, mit Kitty … in der Kälte.“ Was für ein scheiß Tag.
Er schloss die Spülmaschine, richtete sich auf und sah mich an, mit einem fast schon spitzbübischen Blitzen in den Augen.
„Trockne deine Hände, dann zeige ich dir etwas, das deine Laune heben wird.“
„Woher willst du wissen, was meine Laune hebt?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er und ließ seinen Blick dann einmal langsam an mir herunter- und wieder heraufgleiten, „aber bisher habe ich auch nicht so falsch gelegen.“
Ähm, bildete ich mir das nur ein oder wurde sein Blick jetzt, da er mir wieder in die Augen schaute, intensiver? Er meinte doch nicht …?
Ich schluckte. Wenn, dann hatte er sich verrechnet, denn ich hatte nicht vor, noch einmal mit ihm zu …
Rubin grinste und trat einen Schritt auf mich zu.
„Ich dachte an das Buch, aber du denkst gerade an etwas Versautes, stimmt’s?“
Ich? Nein. Nie. Vor allem nicht in Verbindung mit dir.
Absolut nicht.
Er kam noch einen Schritt näher und stand nun direkt vor mir. Und trotzdem nicht so nah wie … oder? Ach was, das bildete ich mir ein. Und wenn nicht, dann war es mir, wenn schon, recht, dass er Abstand hielt.
„Eigentlich hatte ich etwas anderes vor, aber wenn du deine Meinung geändert haben solltest …“
„Nein!“ Ich schob ihn weg, was er widerstandslos zuließ, und ging schnellen Schrittes zur Küchentür. „Habe ich nicht. Du wolltest mir etwas zeigen?“
„Komm mit.“
Er führte mich aus der Küche, nach rechts, vor eine Tür. Ich nahm an, dass es die zum Wohnzimmer war, aber wissen tat ich es nicht. Sie sah aus wie alle Türen in diesem Haus: dunkel, schwer, mit Rissen und Eisenbeschlägen und Klinken, die sicher ebenso alt wie das Holz waren. Wahrscheinlich waren sie ein Überbleibsel von vor der Restauration, aber ich mochte sie – ich mochte das Haus, neu und modern, aber mit alten Elementen wie diesen Türen. Wenn man von den Bewohnern und der Lage absah, war es ziemlich cool. Vielleicht konnte ich meine Eltern ja davon überzeugen, dass wir uns das nächste Mal auch so etwas suchten.
Rubin trat hinter mich und legte eine Hand vor meine Augen.
„Augen zu.“
„Warum?“
„Weil ich es dir sonst nicht zeige.“
Ich schnaubte verächtlich. „Muss ja was ganz Tolles sein, wenn du so einen Wirbel drum machst.“
Ich hörte das Türschloss aufgehen und spürte Wärme. Wenigstens war das Wohnzimmer anständig geheizt. Obwohl, darüber konnte ich mich nicht beschweren: Hier war es sogar wärmer als bei uns.
Er legte die freie Hand zwischen meine Schulterblätter – und nein, das provozierte keine Bilder oder Erinnerungen daran, wie wir keine zwei Tage zuvor vor meiner Tür gestanden hatten. Gar keine.
„Wie gesagt, ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird – aber wenn du nicht willst …“ 
„Vergiss es, jetzt hast du mich neugierig gemacht.“
Er lachte und ich konnte es an meinem Rücken spüren, einmal mehr. Wenn auch diesmal nur durch seine Hand.
„Gut“, sagte er und schob mich mit sanftem Druck einen Schritt nach vorn, danach einen weiteren und noch einen.
Und ja, ich kam mir ein bisschen blöd vor.

Zwei Schritte in den Raum hinein, dann ein kurzer Stopp. Rubin schloss die Tür, aber ohne die Hand vor meinen Augen wegzunehmen; eigentlich war das überflüssig, denn ich hatte – nur die Moiren wussten, warum – die Augen längst geschlossen. Danach trat er wieder an mich heran und legte die zweite Hand erneut auf meinen Rücken. Er drehte mich nach links, schob mich noch ein paar Schritte geradeaus und nahm dann meine Hand in seine. Er hob sie an und drückte sie auf Brusthöhe gegen eine glatte Oberflä…
Au!
Erschrocken stolperte ich einen Schritt zurück und stieß dabei hart gegen ihn, aber er schlang die Arme um meinen Bauch und behielt die Balance. Eigentlich war das etwas Gutes, denn ich hatte keine Lust, mit ihm auf dem Boden zu landen, aber als wir beide wieder sicher auf unseren Füßen standen, zögerte er vielleicht zwei Sekunden, bevor er los ließ und einen Schritt zurücktrat. Hastig zurücktrat. Das fand ich dann doch übertrieben; nur, weil ich nicht mit ihm hatte rummachen wollen – oder, weil ich Amerikanisch nicht mochte, so ganz sicher, was das Problem war, war ich mir nicht – musste er nicht so tun, als hätte ich die Krätze.
Aber egal. Im Moment gab es Wichtigeres – den riesigen, blauweißen Kachelofen vor mir, zum Beispiel.
Ich legte noch einmal meine Handfläche darauf und diesmal, da ich darauf vorbereitet war, fühlte sich das leichte Brennen einfach nur elysisch an. Wärme! Hitze! Ich trat ganz an den Ofen heran und lehnte mich nach vorne, mit der Wange an die Kacheln.
Es tat weh. Es war zu heiß. Es tat weh – aber das erste Mal in meinem Leben konnte ich erahnen, wie man Masochist sein konnte. Es war ein verdammt angenehmer Schmerz, so angenehm, dass sogar meine innere Memme die Klappe hielt – und das hieß was. Das Beste daran war natürlich, dass, sobald der Schmerz verging, die Wärme kommen würde, und an der war ja wohl gar nichts auszusetzen.
Plötzlich war Rubins Verhalten nur noch nebensächlich. Sollte er doch so launisch sein, wie er wollte, solange ich dafür seinen Ofen betatschen durfte. Es war so warm. So unglaublich wundervoll warm, dass mir ein Schauer den Rücken hinunter lief.
Ich seufzte zufrieden. „Er ist wunderschön.“
„Wie kommst du darauf, dass es ein Er ist?“
„Erstens heißt es ‚der Ofen‘ und zweitens ist er blau – das ist die Farbe für Jungs.“
Rubin lachte erneut. Echt jetzt, seit wann hatte er gute Laune?
… Seit wann wusste er, was gute Laune überhaupt war?
„Es heißt aber auch ‚der Mensch‘ und es gibt trotzdem ein oder zwei weibliche Exemplare“, erwiderte er, „Und das ist himmelblau; das tragen Jungs, wenn sie älter werden, eher selten. Außerdem hat mein Vater den bauen lassen und er schwört, dass es eine Sie ist. Er nennt sie Betsy.“
„Betsy.“ Ich wandte den Kopf, um die andere Wange gegen die Kacheln zu drücken. „Ich bin dein.“
„Ihr kennt euch noch keine fünf Minuten.“
„Noch nie was von Liebe auf den ersten Blick gehört?“
„Daran glaube ich nicht.“
Ich auch nicht, aber das musste ich ihm nicht unter die Nase binden.
„Na komm, Romeo, Betsy hat auch noch andere gute Seiten.“
Vergiss es. Du bringst mich hier nicht mehr weg.
... Aber fragen schadet bekanntlich nicht.
„Was für welche?“
„Nun, ihre geheizte Bank, auf der man sich wahlweise die ganze Vorder- oder Rückseite wärmen lassen kann, zum Beispiel.“
Okay, das klang gut. Gut genug, um mich so lange von Betsy zu lösen, wie es brauchte, um um sie herum zu sehen. Tatsächlich: An der Wand entlang war eine Bank mit denselben Kacheln, deren ‚Rücklehne‘ wiederum breit genug war, dass man sich auch darauf setzen konnte. Die elysischen Felder konnten nicht einladender wirken, zumindest nicht auf mich, nicht mitten im Winter.

***

Kurz darauf lag ich bäuchlings auf der Lehne, die Fußsohlen gegen Betsy gestemmt, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet und im festen Glauben, dass Betsys und meine Begegnung Schicksal war. Warum sonst hätte die Bank genau die richtige Länge, so dass ich mich auf ihr ausstrecken konnte?
Und ja, die Tatsache dass Rubin etwa gleich groß war wie ich, ignorierte ich komplett. Betsy war nicht sein Schicksal, sondern meines, Punkt.
Es war warm, heiß, perfekt. Meine Brust, mein Bauch, meine Oberschenkel, meine Arme, alles war so herrlich warm, dass ich gar nicht anders konnte, als zufrieden zu seufzen. Und hätte Rubin nicht in diesem Moment auf dem unteren Teil der Bank gesessen, mit dem Rücken an Betsy gelehnt, dann hätte ich sehr wahrscheinlich mein Shirt ein wenig nach oben geschoben, um die Kacheln direkt auf meinem Bauch spüren zu können. Den Pulli hatte ich längst ausgezogen und mir auf den Rücken gelegt, denn der fühlte sich jetzt verhältnismäßig kühl an.
„Na, habe ich zu viel versprochen?“, fragte Rubin nach ein paar Minuten. Eigentlich wollte ich nicht mit ihm reden, ich wollte nur genießen, aber einerseits schien seine Schulstimme gerade im Urlaub zu sein und andererseits war mir zu wohl, um mich künstlich aufzuregen.
„Ich glaub, ich will Betsy heiraten.“
Er lachte, schon wieder. Aber egal, generell war es mir lieber, er war gut gelaunt als … nun, als wie sonst. War angenehmer für uns alle.
„Ich glaube nicht, dass mein Vater das zulassen würde – sie ist noch minderjährig und du gehst auch noch zur Schule.“
„Dann adoptiere ich sie eben.“
„Das lässt er noch weniger zu, immerhin ist sie so was wie sein Tochterersatz.“
„Wie meinst du das?“
Träge öffnete ich ein Auge und sah zu Rubin, der den Blick erwiderte.
„Er sagt immer, er hätte sich damals entscheiden müssen: Betsy oder ein zweites Kind, beides habe finanziell einfach nicht drin gelegen. Das Ergebnis siehst du ja.“
„Dein Vater ist ein weiser Mann.“
Grübchen.
An die könnte ich mich wirklich gewöhnen.
„Das dachte ich gerade auch.“
Ich erwiderte nichts, etwa zwei Minuten lang, doch dann, gerade, als ich dachte, dass ich wohl auch dieses Gespräch als begraben – ich meine natürlich, beendet – betrachten durfte, sagte ich ohne nachzudenken:
„Dann werde ich ihr Patenonkel. Der hat schließlich auch Besuchsrecht, oder?“
Erst dachte ich, er würde nicht antworten – was mich nicht überrascht hätte, schließlich war es ziemlich kindisch, unreif oder wie man das auch immer nennen wollte; ich meine, wir unterhielten uns darüber, wie ich mich an einen Kachelofen binden konnte. Solche Gespräche führte ich mit Kitty, Sue oder Pa, aber nicht mit Leuten aus meiner Klasse – und wenn die es unter sich taten, nervte es mich.
„Sicher“, erwiderte er dann doch noch, „aber Patenonkel zu sein ist eine Aufgabe, die mit einigen Pflichten daherkommt: regelmäßige Besuche, Geschenke zu Geburtstag, Namenstag und Weihnachten, das gemeinsame Ostereiersuchen an Ostern … bist du sicher, dass du bereit dafür bist?“
„Ostern? Hält sie da nicht schon Sommerschlaf?“
„Nicht immer, manchmal ist es an Ostern noch sehr kalt.“
Auch wieder wahr.
„Hm. Aber die Besuche, die in die Zeit des Sommerschlafs fallen, die werde ich wohl in den Winter verschieben – bringt ja nichts, wenn sie sowieso schläft.“ Ich ruckelte mich ein bisschen zurecht. „Und da ich ein guter Patenonkel bin, wären das so viele, dass es sich fast nicht mehr lohnt, wenn ich dazwischen nach Hause gehe. Am besten quartiere ich mich also im Winter einfach hier ein und verbringe meine ganze Zeit mit Betsy.“
Da, Grübchen. Tiefe Grübchen.
„Und ich soll dich durchfüttern, oder was?“
„Ach, ich brauch nicht viel, wenn es warm genug ist. Außerdem würdest du nur einkaufen gehen – füttern würde ich, du kannst ja nicht kochen.“
„Und du schon?“
„Natürlich – ich weiß nicht, ob’s dir aufgefallen ist, aber meine Mutter hält verdammt viel von Haushaltspflichten-Verteilung. Und kochen ist immer noch besser als abwaschen.“
Rubin streckte die Beine aus und grinste noch ein bissen breiter.
„Ich glaub, wir haben einen Deal. Solange du mich bekochst, darfst du so viel mit Betsy kuscheln, wie du willst.“
Sehr schön. Wirklich, das gefiel mir – und es bestätigte, dass alles seinen Preis hatte, sogar hypothetische Patenonkelschaften.
„Irgendwelche speziellen Vorlieben?“
Ich wusste nicht, warum ich das Spiel weiterspielte. Eigentlich hatten wir mehr als genug geredet, wenn man bedachte, dass ich gar nicht zum reden hergekommen war. Und ich mochte ihn ja nicht einmal – mit Leuten, die man nicht mochte, führte man eigentlich auch keinen Small Talk. Obwohl, so, wie er jetzt gerade war, entspannt und zur Abwechslung mal nicht arrogant, mit Grübchen …
Nein, stopp. Ich mochte ihn nicht und dabei blieb es. Das war einfacher, denn solange ich ihn offiziell nicht mochte, musste ich nicht so tun, als würde ich ihn mögen. … Ähm, ihr wisst, was ich meine.
Ich bemerkte das dreckige Grinsen etwas spät und verstand im ersten Augenblick nicht, was es verursacht hatte, aber dann wurde mir klar, dass es meine Formulierung gewesen sein musste und ich brummte: „Was das Essen betrifft, du Ferkel.“
Das Grinsen blieb, aber er antwortete mir. „Italienisch, indisch und natürlich amerikanisch – asiatisch mag ich dagegen nicht so.“
Ich nickte und schloss die Augen. Beim Olymp, Betsy war einfach nur genial!
„Das trifft sich gut, asiatisch kann ich nämlich nicht. Indisch aber auch nur Curry.“
„Keine Angst, ich bin nicht besonders anspruchsvoll, wenn’s ums Essen geht.“
Und sonst schon?
Obwohl, die Frage erübrigte sich wohl, immerhin ging es hier um einen Kerl, der anscheinend in unserer ganzen Schule niemanden fand, der gut genug war, damit er sich mit ihm abgab.

***

Vyvyan?
Ich brummte. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber es war mir auch egal. Es war warm, es war wohlig, es war wunderbar.
„Es ist zwanzig nach zwei.“
Schön für dich.
Einige Momente vergingen, dann:
„Wir sollten langsam weitermachen, meinst du nicht auch?“
Sollen? Vielleicht. Wollen? Garantiert nicht.
„Will lieber hier bleiben.“
Ein kurzer Moment der Stille.
„Wenn wir nicht bald anfangen, werden wir nicht fertig, bevor du nach Hause musst.“
War das mein Problem? Nein.
Vyvyan, wenn wir heute nicht damit fertig werden, werde ich darauf bestehen, dass du morgen kommst und wir es nachholen.“
„Will nicht aufstehen.“
Nicht jetzt. Es war gerade so … warm.
Ich öffnete meine Augen, um meiner Aussage mehr Gewicht zu verleihen. Meine Lider hatten, zugegeben, auch ein wenig mehr Gewicht als sonst – ich war nicht eingeschlafen, hatte aber gedöst – und dabei herausgefunden, dass dösen auf einem Kachelofen genial war. Mein Sichtfeld stellte sich als ein wenig unscharf heraus, aber eines erkannte ich dennoch: die Grübchen.
Ja, doch. Die waren schon irgendwie gut.
„Wie du willst.“

***

Vyvyan?
Nicht schon wieder!
Vyvyan, es ist fast halb vier – wenn du dich nicht langsam von Betsy trennst, ist es dunkel, bis du zu Hause bist.“
„Hab keine Angst vorm Dunkeln.“
Also lass mich in Ruhe.
„Aber du wolltest doch noch mit Catherine in den Schnee, oder?“
Hm, Miss Kitty. Sie würde Betsy lieben, garantiert.
… Moment. Kitty, Schnee – halb vier Uhr? Nachmittags?!
Scheiße.
Ich schoss auf, drehte mich um und griff nach meinem Pulli, um ihn anzuziehen.
„Wann fährt der nächste Bus? Wie lange braucht der noch mal zu mir? Dreißig …“
„Vierzig Minuten.“
„Scheiße! Kitty bringt mich um, wenn ich zu spät nach Hause komme.“
„Wenn du dich beeilst, schaffst du’s noch auf den sechsunddreißiger.“
Mehr musste er nicht sagen. Ich rannte nach oben, packte mein Zeug zusammen, rannte wieder runter und zog mich in Windeseile an.
Ohne Betsy war mit kalt. Scheiß Winter.
„Wo ist die Bushaltestelle noch mal?“, fragte ich, während ich mir den Schal um den Hals schlang.
„Ich bring dich hin.“ Rubin, bereits in Jacke, Schuhen und Handschuhen, nahm die Hausschlüssel und kam mit mir nach draußen. Und ja, ich gebe es zu: Ich war ein klein wenig ungeduldig.
Vyvyan, ich habe zwar gesagt, du sollst dich beeilen, aber rennen müssen wir nicht.“
„Ich will jetzt aber rennen, okay? Es beruhigt mein schlechtes Gewissen und verbraucht das scheiß Adrenalin.“ Oder so. Ich hatte keine Ahnung, ob rennen wirklich dabei half, aber ich wollte jetzt wirklich rennen. Der Bürgersteig war ja schneefrei gehalten.
„So schlimm wird’s doch nicht werden, auch wenn du zu spät kommst, oder?“, fragte er und kam mir entgegen, „Erklär ihr einfach, warum du es nicht geschafft hast. Immerhin bist du ihr Lieblingsbruder, wenn ich das richtig mitgekriegt habe.“
Ja, und ihr einziger, aber das tat hier nichts zur Sache.
„Rubin, Kitty ist neun. Da hilft keine Logik – ganz abgesehen davon, dass ‚Ich hab den Kachelofen dir vorgezogen‘ ja wohl bei keinem weiblichen Wesen punkten würde.“
Er seufzte, aber dann bekam ich ein Nicken – und wir rannten zur Bushaltestelle.

***

Als wir ankamen, war vom Bus noch nichts zu sehen. Natürlich, Rubin hatte ja gesagt, dass wir nicht zu rennen bräuchten, und wann hatte Rubin schon Unrecht?
Trotzdem, ich hatte auch Recht gehabt: Es fühlte sich gut an, ein bisschen aus der Puste zu sein. So, als hätte ich es wenigstens versucht.
Rubin allerdings sah gar nicht glücklich aus.
„Sportmuffel?“
Uh, der Blick, den ich dafür kriegte, sah echt angepisst aus. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er so dreinschauen konnte.
„Nicht direkt. Ich kann nur sinnloses Rennen nicht ausstehen. Basketball ist okay, Marathonläufe dagegen nicht.“
Ich grinste. „Das war nie und nimmer ein Marathonlauf.“
„Aber genauso unnötig.“
„Na komm, jetzt hast du’s ja hinter dir.“ Ja, ich war ein klein wenig schadenfreudig – obwohl ein Teil von mir daran zweifelte, dass das wirklich das passende Wort war. Aber es gefiel mir, ihn ‚angepisst‘ zu sehen. Erstens, weil er dann, nun, eben angepisst war; zweitens, weil es ihn menschlicher machte; und drittens, weil man das in der Schule nie zu Gesicht bekam.
Rubin musterte mich und grinste dann schief. „Das wirst du morgen bereuen.“
„Morgen?“
Er hob eine Augenbraue, dann vertiefte sich das Grinsen. „Du hast zugestimmt, morgen das nachzuholen, was du heute wegen Betsy vor dir hergeschoben hast. Schon vergessen?“
Oh, Mist! Das meinte er doch nicht ernst, oder? Immerhin war ich da nicht zurechnungsfähig gewesen. Und morgen, morgen war – der sechsundzwanzigste. Das angedrohte Treffen mit Theo & Co.
Und plötzlich konnte ich fühlen, wie sich meine Gesichtszüge entspannten. Der morgige Tag war eh schon verloren – aber wenn ich die Wahl hatte, dann verbrachte ich meine Zeit lieber damit, mein Englisch aufzubessern, als mit Theo und den anderen in irgendeiner Spelunke. Das lag nicht an meiner Liebe für Englisch oder Sympathie für Rubin, sondern einfach daran, dass Lernen wenigstens sinnvoll war.
„Oh.“
„‚Oh‘? Das ist alles?“ Rubin musterte mich erneut, diesmal skeptisch. „Ich hätte mehr Widerstand erwartet.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt Schlimmeres.“
„Wow … Betsy muss ja wirklich Eindruck hinterlassen haben.“
„Glaub mir, das hat sie.
„… Aber?“
 „Aber mein ‚fehlender Widerstand‘ hat andere Gründe.“
„Die da wären?“
Ich zuckte erneut mit den Schultern. Ich wollte nicht antworten, nicht wirklich. Aber Rubins forschender Blick machte es schwierig, lange den Mund zu halten. Schließlich grummelte ich leise und sagte dann:
„Ich treffe mich morgen mit Theo, okay?“
Er schmunzelte. „Und da ist dir jede Ausrede recht, um das Treffen zu verkürzen. Ehrlich, Vyvyan, ich verstehe nicht, warum du dich überhaupt mit ihnen abgibst, wenn es dich so sehr nervt.“
„Musst du auch nicht.“
Der Bus kam in Sicht und hielt kurz darauf vor uns an.
„Dann bis morgen, Vyvyan.“
Schon wieder.

***

Als ich nach Hause kam, war es nach vier Uhr und Kitty war, wie erwartet, ganz und gar nicht begeistert. Ich war noch nicht einmal richtig zur Tür herein, als ich sie sah; sie saß auf der Treppe und funkelte mich regelrecht an.
„Du hast es versprochen!“
„Ich weiß, Miss Kitty, ich bin spät, aber – ich kann das erklären. Und, wenn wir jetzt gleich gehen, dann haben wir noch eine gute Stunde, bevor es richtig dunkel …“
„Eine Stunde ist nicht genug!“
Sie war wütend. Sehr. Gut, okay, das war vorhersehbar gewesen.
„Es tut mir leid, Kitty, wirklich.“ Ich wickelte mich aus meinem Schal und legte auch die anderen Sachen ab.
„Ich hab gedacht, du magst Rubin nicht.“
„Tu ich auch nicht – ich bin nicht zu spät gekommen, weil ich lieber bei Rubin sein wollte.“ Das sollte sie eigentlich wissen – andererseits kam ich sonst nie zu spät, wenn es um Miss Kitty ging. Sie war meine oberste Priorität und sie wusste es.
Sie legte den Kopf schief und sah mich an, immer noch wütend, immer noch aufgebracht.
„Warum dann?“
„Ich …“
Jetzt hatte ich zwei Möglichkeiten: Die Wahrheit sagen – oder die Wahrheit beschönigen. Normalerweise hätte ich ohne Skrupel Nummer zwei gewählt, aber das war Kitty – Kitty log ich nicht an.
Ich seufzte. Sie würde das nicht gut aufnehmen und ich konnte es verstehen. Aber da musste ich durch.
„Weißt du, Englisch war heute wirklich anstrengend und ich habe eine Pause gebraucht. Darum haben wir etwas gegessen und danach sind wir ins Wohnzimmer gegangen. Und, Kitty, Rubins Eltern haben einen Kachelofen. Der war unglaublich warm und einfach so super, dass ich fast darauf eingeschlafen bin.“
„Du hast verschlafen? Am Nachmittag?“
Ich hob meine Hände. „Nicht wirklich verschlafen – eher verdöst.“
Ja, das machte die Sache nicht viel besser. Eigentlich gar nicht.
„Aber du hast es mir versprochen!“
Ja, hatte ich. Und genau das war das Problem: Ich war hier der Böse und Kitty wusste es. Es war mein Fehler.
„Ich weiß und es tut mir wirklich, wirklich leid.“
„Das macht es nicht wieder gut!“
Meine Mutter trat aus dem Wohnzimmer und kam auf uns zu.
„Kate, Vyvyan hat sich doch schon entschuldigt. So etwas kann mal passieren und außerdem wäre es sowieso zu kalt gewesen, um draußen zu spielen. Warum spielt ihr heute nicht drinnen und geht einfach morgen raus?“
Ich verzog das Gesicht.
Mum, bitte, mach es nicht noch schlimmer.
„Morgen geht nicht – ich treffe mich mit Mitschülern und am Nachmittag muss ich noch mal zu Rubin.“
Mum sah mich überrascht an. „Ich dachte, ihr lernt jeden zweiten Tag zusammen?“
„Ja, aber wir sind heute nicht fertig geworden, weil ich … wegen des Kachelofens.“
Sie schmunzelte und wuschelte mir kurz durch die Haare.
„Das ist so typisch. Aber es ist wirklich sehr nett von Rubin, dass er sich deswegen morgen noch einmal Zeit nimmt. Ich hoffe doch, du hast dich entschuldigt?“
Ich? Wieso?
„Vyvyan?“
O-oh, der Ton war gar nicht gut – konnte sie Gedanken lesen oder was?
„Dir ist bewusst, dass du nicht der einzige bist, der hier seine Ferien opfert, nicht wahr? Und dass er, auch wenn er zugesagt hat, dir zu helfen, deswegen keinerlei Verpflichtungen hat, noch mehr Zeit zu investieren, nur, weil du zu faul bist – nicht wahr?
Ich schluckte. Ja, eigentlich wusste ich das.
„Und bis jetzt warst du nicht besonders nett zu ihm. Ich hoffe schwer, dass du dich wenigstens anständig entschuldigst – morgen, gleich als erstes. In Persona.
Also, erstens hatte ich ihm gleich am ersten Tag einen runtergeholt – wenn das nicht nett war, dann wusste ich auch nicht; und zweitens … zweitens nickte ich.
Mum auch noch zu verärgern konnte ich mir wirklich sparen.
„Ja, schon gut. Morgen, sobald ich sein Haus betrete.“
Mum nickte streng aber zufrieden, ich seufzte innerlich und Kitty – sprang plötzlich auf und stampfte mit dem Fuß.
„Du hast mir versprochen, dass wir ganz viel miteinander spielen in den Ferien, aber du bist immer weg oder hast Besuch. Das ist so gemein!“
Ganz ehrlich, ich war völlig überrumpelt und starrte ihr sprachlos hinterher, als sie die Treppe hinaufstampfte und kurz darauf ihre Zimmertür zuschlug.
Heute morgen hatte sie doch noch fröhlich mit Rubin geredet – und jetzt hatte ich plötzlich ‚dauernd‘ Besuch?
Mum neben mir seufzte und schüttelte den Kopf.
„Lass sie, sie muss sich erst wieder beruhigen. Ihr war heute einfach schrecklich langweilig und sie hat sehnsüchtig auf dich gewartet – aber es wird langsam Zeit, dass sie lernt, dass sie nicht immer ihren Willen durchsetzen kann.“ Sie sah mich an. „Und, dass du lernst, nicht immer nach ihrer Pfeife zu tanzen.“
Vielleicht hatte Mum Recht – aber Kitty war mir nun einmal wichtig und normalerweise war sie so süß, dass es mir nichts ausmachte, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Und heute, heute hatte ich den Fehler begangen.
Ich konnte nur wiederholen: Was für ein scheiß Tag – mit Ausnahme von Betsy, vielleicht.

*********

„Und das hat er dir ins Gesicht gesagt?“
„O-Ton. Er war übermüdet, das war ihm anzusehen, und ich hab es ja auch gewusst, eigentlich, aber … trotzdem. Das hat … weh getan. In dem Moment.“
„Welch Überraschung.“
Shut up, Meg.
Ich ließ mich gegen die Wand fallen. Dass sein Nein gestern und die Worte heute so eine Wirkung auf mich hatten, war für mich sehr wohl überraschend gewesen. Ja, ich fand ihn anziehend. Und sympathisch, wenn er mir nicht gerade vor den Latz knallte, dass er mich und/oder meine Landsmänner und/oder meine Muttersprache zum Kotzen fand. Und irgendwie war er auch faszinierend …
„Und jetzt?“, fragte Megan in einem Ton, der klar machte, dass sie bereits wusste, was ich tun würde.
„Keine Ahnung. Aber … er ist grad so zahm.“
„Er schläft ja auch.“
„Eben. Schlafende Kerle soll man nicht wecken.“ Ich sah zur Wohnzimmertür zurück und seufzte. „Außerdem hat er sich wieder entspannt und war seit der Pause wieder … netter. Zugänglicher.“
„Und das reicht dir?“
„Für den Moment, ja.“
„Na, dann viel Glück. Und hon?“
„Ja?“
„Lass die Finger von ihm.“
Hatte ich doch schon. Den ganzen langen Tag. In der Schule war das einfacher gewesen.

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