„Hey Vyvyan!“ Theos Stimme dröhnte durch den Telefonhörer. „Ich hätte nicht
gedacht, dass du so früh anrufst.“
Ja, ich auch nicht. Aber wenn ich später noch zu Rubin musste, konnte ich
nicht bis zum Mittag warten, um mich mit Theo und den anderen zu verabreden.
„Ich konnt’s halt nicht erwarten.“
Theo lachte. „Ja, sicher. Erzähl das deiner Oma.“
„Die würde es mir auch nicht glauben – Nein, im Ernst: Ich rufe
so früh an, weil Rubin noch eine Nachhilfestunde reingedrückt hat.“
„Rubin? Was … Moment – Rubin gibt dir Nachhilfe?! Wer hat
das denn verbrochen?“
Oh, stimmt ja. Theo wusste davon noch nichts.
„Kirsten“, antwortete ich, „wer denn sonst?“
Einen Moment lang war es am anderen Ende still, dann sagte er:
„Das tut mir echt leid für dich. Deine Ferien sind gelaufen.“
„Wem sagst du das?“
Bei seinen nächsten Worten konnte ich das Grinsen heraushören.
„Und warum rufst du jetzt schon frühmorgens an? Um abzusagen oder um mich
darauf vorzubereiten, dass du vorhast, dir den Frust von der Leber zu saufen?“
„Keins von beidem. Ich würde mich nur gerne mit euch treffen, bevor
ich in die Nachhilfe muss; ansonsten zieht die sich noch in die Länge und dann
ist der Tag plötzlich vorbei. Von meiner Laune ganz zu schweigen.“
„So schlimm?“
„So lang.“
Er lachte wieder, aber das war nicht verwunderlich. Theo lachte oft, im
Gegensatz zu einem gewissen Jemand.
„Okay, was hältst du von eins? Ich habe gestern Abend mit Aaron gechattet
und er meinte, es liefe ein guter Film im Kino, jeweils um zwei, sechs und acht
Uhr.“
Dann wäre ich was, so gegen fünf bei Rubin? Warum nicht.
„Hört sich gut an. Sagst du Kim und so Bescheid? Ich muss noch Fee
anrufen.“
„Sicher. Schreib mir eine SMS, ob sie auch kommt, okay? Damit ich die
Karten bestellen kann.“
Ich bestätigte, verabschiedete mich und legte auf. Und um es hinter mich zu
bringen, wählte ich gleich darauf Fees Nummer. Als sie abnahm, konnte man die
Freude aus ihrer Stimme heraushören, so, wie bei Theo vorher das Grinsen.
„Vyvyan! Wie war deine Festtage?“
„Ganz angenehm dafür, dass Weihnachten mein Lieblingsfest ist“, antwortete
ich, „wir hatten Kekse, Glühwein und Geschenke – was gibt’s
Besseres?“
„Nun ja, ich kann nur für mich sprechen, aber ich glaube, den süßen Typen,
den man sich vor kurzem geangelt hat, zu küssen, kommt ziemlich nah ran.“
Da mochte sie Recht haben – da ich mir aber keinen süßen Typen
geangelt hatte, konnte ich leider nicht mitreden.
… Okay, das war unangebracht. Und, wenn ich ehrlich war, war wahrscheinlich
das leise, unangenehme Grummeln in meiner Magengegend dafür verantwortlich. So
zu tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl ich jetzt schon wusste, dass ich bald
Schluss machen würde, war sogar übers Telefon schwieriger als gedacht. Und das,
obwohl die Worte fast schon automatisch aus meinem Mund kamen.
„Ach? Ich glaube, ich muss mal ein Wörtchen mit dem Kerl reden, der
über die Feiertage einfach mein Mädchen küsst. War da wenigstens ein
Mistelzweig im Spiel?“
„Wie gemein, du weißt genau, dass du gemeint bist und dass ich dich lieber
heute als morgen küssen will.“ Fee lachte, aber ich seufzte innerlich bei dem
Wort ‚gemein‘; das hatte Kitty gestern zu mir gesagt und seit da kein Wort
mehr. Sie strafte mich mit Schweigen. Mit Schmollen hatte ich zwar gerechnet,
aber damit nicht. Ich würde mich nachher noch einmal bei ihr entschuldigen
müssen und darauf hoffen, dass sie mir diesmal zuhören würde.
„Na, dann hast vielleicht Glück; ich rufe nämlich an um zu fragen, ob du
heute ein wenig Zeit für mich hättest. Ich habe Theo vor den Ferien
versprochen, heute was mit ihm zu unternehmen und da ich am Abend Nachhilfe
habe, haben wir uns für Kino am Nachmittag entschieden. Ich dachte, wenn du
Zeit hast und mitkommen willst, könnten wir beide uns schon vorher treffen. Es
gäbe da ja auch noch das Weihnachtsgeschenk, das ich dir geben möchte und das
muss nicht unbedingt vor den anderen geschehen.“ Ich sah auf die Uhr, es war
halb zehn. „Ich würde dich gerne zum Mittagessen einladen.“
Fees Antwort kam sofort.
„Sicher. Ich würde mich sehr gerne von dir einladen lassen und ganz
zufälligerweise habe ich heute ein paar freie Minuten.“
„Ich Glückspilz, womit habe ich das nur verdient?“
„Wahrscheinlich gar nicht.“
„Stimmt. Wir wissen beide, dass du zu gut für mich bist.“
Sie kicherte.
„Wie geht es deiner kleinen Schwester?“
„Nicht besonders gut – oder besser: ihr schon, nur mir wegen ihr
nicht. Sie ignoriert mich seit gestern Abend.“
„Oh, das tut mir leid.“ Und sie hörte sich auch so an. Entweder war Fee
eine verdammt gute Schauspielerin oder wirklich mitfühlend. „Was hast du denn
verbrochen?“
„Ich habe sie versetzt. Bin von der Nachhilfe spät nach Hause gekommen,
obwohl ich ihr versprochen hatte, dass wir am Nachmittag in den Schnee gehen.“
„Oh, das ist aber wirklich nicht nett. Da wäre Timmy früher auch beleidigt
gewesen – Jasmin natürlich jetzt noch.“
Das waren ihre kleineren Geschwister – dreizehn und
sieben – die wahrscheinlich einer der Hauptgründe waren, weshalb sie
mir mit Kitty so viel Verständnis entgegenbrachte.
„Ja, ich weiß, es war mein Fehler. Das gebe ich auch zu, nur leider
ignoriert sie all meine Entschuldigungen. Ich glaube, sie will eine
Wiedergutmachung, von der sie denkt, dass sie mir nicht gefallen wird.“
„Meinst du? Ist sie so berechnend?“
„Miss Kitty? Im Schlaf.“
Sie lachte wieder, dann hörte ich im Hintergrund eine Stimme. Fee
antwortete, vom Telefon abgewandt: „Ich komme gleich!“ Zu mir sagte sie:
„Ich muss meiner Mutter helfen gehen. Wo treffen wir uns?“
„Vor der Apotheke am Hauptbahnhof? Um halb zwölf?“
„Gut. Ich freu mich.“
„Ich mich auch.“
„Bis später also. Und viel Glück mit Catherine.“
Ich legte auf und brachte den Telefonhörer zurück in die Küche. Nun musste
ich mich den wichtigen Dingen zuwenden: Kitty und ihrer Vorstellung von einer
gelungenen – oder zumindest akzeptablen – Entschuldigung.
***
„Wir könnten übermorgen den ganzen Tag raus und im Schnee spielen.“
Ich saß auf der Bettkante von Kittys knallpinkfarbenen Himmelbett. Sie
sagte zwar, dass ihre ‚pinke Phase‘ vorbei war, aber dennoch hatte sie, als wir
hierher gekommen waren, das Angebot meiner Mutter ausgeschlagen, sich eine neue
Zimmereinrichtung zuzulegen.
Sie sah noch nicht einmal von ihrem Buch auf – dem, das ich ihr
geschenkt hatte, was an sich ein Zeichen dafür war, dass sie bereit war, mir zu
vergeben. Gestern hätte sie sich nie und nimmer mit meinem Buch blicken
lassen – und ihre Zimmertür hätte sie mir wohl auch nicht geöffnet.
Trotzdem, sie hatte mich ganz offensichtlich noch nicht da, wo sie wollte. Ich
beschloss es kurz zu machen.
„Okay, Kitty, sag schon: Was willst du?“
Sie sah mich kurz an und rümpfte die Nase.
„Ich will nicht mehr in den Schnee.“
„Gut, dann machen wir etwas anderes. Was du willst.“
„Was ich will?“
„Ja.“
„Ich will den Kachelofen.“
Äh, was? Ich hatte mit Eiscreme oder Waffeln oder Kino oder auch einer
Reise ins Disney Land Paris gerechnet, aber das?
„Aber der gehört Rubin.“
Der Blick, den ich darauf bekam, war eine Mischung aus Ich weiß, aber
das ist nicht mein Problem und Ich weiß, ich bin ja nicht blöd.
Das konnte nicht ihr Ernst sein.
„Kitty, ich kann dich nicht mit zu Rubin nehmen.“
„Warum nicht?“
Weil ich nicht will.
„Ich bin da zum Lernen, schon vergessen? Das dauert Stunden. Wir
hätten keine Zeit für dich.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Übermorgen musst du nicht lernen. Da hast du
ganz viel Zeit. Und du hast gesagt, wir machen, was ich will.“
Ein Punkt für Kitty. Aber ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich nicht
sonderlich scharf darauf war, meinen freien Tag schon wieder bei ihm zu
verbringen, oder?
„Ja, aber wir können uns nicht einfach bei Rubin einladen, Kitty. Es sind
auch seine Ferien und er hat sicher Dinge, die er gerne tun möchte. Und noch
mehr Zeit mit mir zu verbringen gehört sicher nicht dazu; Rubin und ich mögen
uns nicht besonders.“
„Warum hilft er dir dann?“
„Weil er dafür von unserem Lehrer eine ganz besonders gute Bemerkung im
Zeugnis bekommt.“
Sie nickte. Ja, mit neun Jahren war das allein noch Grund genug.
Sie verzog die Lippen und machte anschließend einen Schmollmund. „Aber
fragen kannst du doch, oder? ‚Fragen kostet nichts‘, sagt Pa.“
Ich hatte ja schon immer gewusst, dass Pas schlaue Sprüche nicht halfen
irgendetwas besser zu machen. Im Gegenteil.
„Kitty …“
„Bitte, Vyvy“, sagte sie, legte das Buch weg und krabbelte auf meinen
Schoß. Sie hielt sich an meinen Schultern fest und präsentierte mir ihren
besten Welpenblick. „Nur fragen, nur einmal. Bitte!“
Welpenblicke waren mir egal, Kitty aber nicht. Ein einzelnes Bitte reichte
normalerweise bereits aus, um mich weich zu kriegen. An diesem Tag hatte ich
gleich zwei bekommen, eines davon betont und mit Ausrufezeichen.
Muss ich überhaupt noch erwähnen, dass ich, wenn auch unwillig, zustimmte?
Kitty quietschte vergnügt und fiel mir um den Hals, was ich mit einem
lachenden und einem weinenden Auge über mich ergehen ließ. Das Problem: Sie war
felsenfest davon überzeugt, dass ich außer Englisch so gut wie alles
konnte – eine Einladung zu Rubin zu ergattern war in ihrer Welt
deshalb ein Klacks für mich und sie sah sich höchstwahrscheinlich schon auf dem
Kachelofen rumturnend.
Das ließ mir genau zwei Möglichkeiten: A: Rubin irgendwie zu überreden und
einen weiteren Tag an ihn zu verschwenden – oder B: Kitty zu
enttäuschen.
Wunderbar.
***
Nachdem ich Theo geschrieben und kurz darauf von ihm eine Nachricht mit
Uhrzeit und Ort, wo wir uns treffen wollten, bekommen hatte, ließ ich mich
erschöpft auf mein Bett fallen. Bei Hades, der Tag hatte erst begonnen und ich
hätte mich am liebsten gleich wieder unter die Decke verkrümelt. Erst Fee,
danach zusätzlich zu Fee noch Theo und Freundin, Kim, Aaron und Viktor. Das
waren sechs zuviel. Und wenn ich das überstanden hatte, musste ich zu Rubin.
Zugegeben, wenn es nur Rubin wäre – so wie gestern Nachmittag,
Rubin in erträglicher Stimmung und mit Betsy in Reichweite, versteht
sich – dann hätte ich den zweiten Teil des Tages wohl dem ersten
vorgezogen. Allerdings musste ich mich erst bei ihm entschuldigen und ihn dann
auch noch fragen, ob meine Schwester kurz vorbeischauen und Betsy streicheln
durfte. Letzteres war aus diversen Gründen unangenehm und ersteres ging mir aus
Prinzip gegen den Strich – mischte man nun diese beiden Zutaten mit
mindestens zwei Stunden Englisch, was bekam man dann? Genau: Einen ganzen Topf
voll Da Habe Ich Keinen Bock Drauf, kurz DHIKBH.
… Okay, ich musste mir eine bessere Abkürzung dafür überlegen.
Das einzige – außer Betsy – was mich ein bisschen
beruhigte, war die Vorstellung, dass er alle Tage, an denen ich und er und
deshalb wir beide voneinander frei hatten, schon verplant hatte. Aber wie
wahrscheinlich war das schon bei jemandem mit der sozialen Kompetenz eines
Schneeballs?
Eben.
Ich hatte auch keine Ahnung, wie er auf die Frage reagieren
würde – und ein kleiner, unwichtiger Teil von mir fragte sich, was er
darüber denken würde. Immerhin waren wir wirklich alles andere als Freunde; wir
schwankten irgendwo zwischen Mitschülern, die sich nicht mochten und …
Mitschülern, die sich was zu Weihnachten geschenkt und einmal kurz für ein paar
Minuten zu ‚Mitschülern mit Extras‘ mutiert waren. Gab es die Kategorie
überhaupt?
Mal ehrlich: Rubin war doch irgendwie seltsam. In der Schule hatte es immer
so gewirkt, als ob er strikt sein eigenes Ding durchzöge – und was
man von Mitgliedern des Schülerrates so hörte, bestätigte das. Doch erst hatte
er sich dazu überreden lassen, mir Nachhilfe zu geben, dann hatte er brav vor
meiner Mutter gekuscht, die ihn an Heiligabend zu uns beordert hatte und
gestern schien er auch nicht wirklich ein Problem damit zu haben, dass ich
nicht mehr weiterlernen wollte und ihm deshalb noch einen halben Ferientag
rauben würde. Das passte doch genauso wenig zusammen, wie die Tatsache, dass er
für Megan hier geblieben war und dennoch nicht vorgehabt hatte, mit ihr zu
feiern. Sicher, ich hätte auch niemals mit Fee Weihnachten gefeiert, aber das
war ja wohl etwas anderes.
Aber gut, das war nicht mein Problem. Nein, ganz und gar nicht. Ich musste
nur mein Englisch wieder auf eine akzeptable Stufe von schlecht hochbringen.
Ich beschloss, Rubin Rubin sein zu lassen und nahm das Buch von meinem
Nachttischchen. Ich hatte gestern Abend damit begonnen und es hatte mich sofort
wieder in seinen Bann gezogen. Wirklich, ich konnte nicht verstehen, warum
diese Reihe nicht beliebter gewesen war.
***
Um viertel vor elf ging ich umgezogen und ausgehfertig in die Küche. Pa
wuselte gerade mit einem Lappen und Reinigungsmittel umher. Er war nicht
sonderlich systematisch beim Putzen, aber auf seine Art gewissenhaft. Trotzdem,
Gartenarbeit lag ihm mehr.
„Deine Mutter ist im Wohnzimmer“, sagte er, nachdem ich mir ein Glas Cola
eingeschenkt hatte.
„Wirfst du mich gerade aus der Küche?“
Er hielt inne und grinste mich an. „Nur solange, bis ich hier fertig bin.“
„Na toll, bis dahin bin ich längst weg. Und das, wo ich doch eigentlich
wieder einmal ein wenig Zeit mit meinem alten Herrn verbringen
wollte – ein fünfzehn Minuten langer Männer-Vormittag, sozusagen.“
„Wenn du wieder zurückkommst, habe ich so viel Zeit für Männermomente, wie
du willst.“
„Dann ist es zu spät. Ich muss von gestern was wieder gutmachen und ich
glaube, Kitty wird mich zur Strafe zur Prinzessin verdonnern.“
Pa lachte, schüttelte den Kopf und begann dann, die Theke abzuwischen.
„Tut mir leid, aber Prinzessinnen sind zu Männermomenten nicht zugelassen.
Das wird dich disqualifizieren.“
Ich lehnte mich an den Tisch und sah ihm dabei zu. Anderen bei der Arbeit
zuzusehen war wirklich um einiges besser als selbst zu arbeiten. Vielleicht
machten die zusätzlichen Nachhilfestunden Rubin ja deswegen so wenig aus? Aus
purer Schadenfreude? Ja, das traute ich ihm zu.
Und immerhin war ja geklärt, dass es keine Wiederholung von der Szene an
der Tür geben würde, also konnte es das nicht sein.
„Du weißt aber schon, dass das sexistisch und diskriminierend ist,
oder? Ich bin eine verdammt männliche Prinzessin!“
„Ja, eine, die regelmäßig vom Drachen einen ordentlichen Tritt in den
Hintern kriegt.“
Ich lachte. „Kitty ist aber auch ein echt fieser Drache. Da hätte ich nicht
einmal als Prinz oder strahlender Held in weißer Rüstung eine Chance.“
„Auch wieder wahr.“
Ich sah ihm noch einen Augenblick weiter zu, dann ging ich ins Wohnzimmer.
Wenn Pa mich indirekt zu Mum schickte, dann hieß das meist, dass sie mit mir
sprechen wollte.
Mum lag auf dem Sofa, mit einer Zeitschrift in den Händen; ihr rechter Fuß
wippte im Takt von Musik, die wohl nur sie hören konnte. Als ich ihre Füße aus
dem Weg schob und mich zu ihr setzte, sah sie hoch und musterte mich kurz.
„Du gehst weg?“
Ich nickte. „Ich lade meine Freundin zum Mittagessen ein und danach treffen
wir uns mit ein paar Leuten aus meiner Klasse.“
Sie musterte mich weiter, schweigend. Wunderbar, sie wollte also ein
ernstes Gespräch. Einfach bombastisch.
Ich trank einen großen Schluck Cola, einfach nur, um etwas zu tun zu haben,
bis sie sich dazu bequemte, das Thema, das sie beschäftigte, anzuschneiden. Ich
lehnte mich ein wenig nach vorne und nahm die Zeitschrift von ihr entgegen, um
mein Glas darauf abzustellen. Ohne Untersetzer lief in diesem Haus
nichts – nicht, wenn Mum zu Hause war, zumindest.
„Und danach gehst du zu Rubin?“
Ich nickte erneut. „Genau.“
Und was genau wollte sie jetzt? Dass ich zuerst zu Rubin ging, nach dem
Motto ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘?
… Sehr wahrscheinlich nicht; sie schnitt ernste Themen nie so direkt an.
Mum seufzte. Aufgepasst, liebe Damen und Herren, das war ihr Startsignal;
gleich würde –
„Wenn du ‚Ich gehe zu meinen Freunden‘ auf die gleiche
un-enthusiastische Art sagst, wie ‚Ich gehe zu dem Jungen, den ich
anscheinend nicht mag und der mir Nachhilfe in meinem persönlichen Hassfach
gibt‘, dann läuft etwas falsch.“
Oh, bei Ares! Nicht schon wieder das Thema, oder? Das ist doch schon so
durchgekaut, dass es sich in seine Atome zersetzt hat!
„Tut mir leid, dass mein ‚genau‘ zu positiv rübergekommen ist. Ich werde von nun
darauf achten, immer die nötige Portion Sarkasmus
reinzulegen – zumindest solange, bis du wieder von mir verlangst,
gefälligst etwas netter zu ihm zu sein und meinen ‚Unmut‘ nicht ganz so deutlich
zu zeigen.“
„Vyvyan, du weißt, was ich damit gemeint habe.“
„Ja, dass du nicht glücklich darüber bist, dass ich meine Freunde nicht für
die besten und interessantesten Leute auf der Welt halte und dass ich lieber zu
Hause im Warmen bleiben würde, als mich draußen in der Kälte mit ihnen zu
treffen.“ Ich drehte mich noch ein bisschen mehr zu ihr, so dass ich sie besser
ansehen konnte. „Was soll ich denn tun, Mum? Mich wie Rubin verhalten und als
Einzelgänger durch die Schulflure schlurfen?“
„Natürlich nicht“, antwortete sie und zog die Beine an, um sich
aufzusetzen. „Aber könntest du ihnen nicht eine Chance geben? Einem oder zwei von
ihnen, wenigstens?“
„Das tue ich doch – jedes Mal, wenn ich meine kostbare Zeit für
sie verschwende. Es ist ja nicht so, als ob es mir nicht auch lieber wäre, wenn
ich mich dabei amüsieren könnte.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Vyvyan, das tust du nicht. Du hast doch
schon bevor du diese Leute das erste Mal getroffen hast, entschieden, dass sie
nichts weiter als gesichtslose Statisten in deinem Leben sein
werden – ganz genau so lange, bis wir wieder umziehen.“
„Na und? Wenn sie wirklich solch faszinierende Persönlichkeiten wären, wie
du anscheinend glaubst, dann würde ich das sicher irgendwann merken, meinst du
nicht auch? Ich bin schließlich weder blöd noch blind.“
„Das nicht, aber du setzt jeden Tag aufs Neue Scheuklappen auf und hältst
außer uns alle gerade so weit von dir entfernt, dass sie gar keine Chance
haben, dir ihre verschiedenen Seiten zu zeigen.“ Sie fuhr sich mit der Hand
über die Stirn und atmete einmal tief durch.
„Hör zu, Schatz“, begann sie dann von neuem, etwas ruhiger, „ich weiß, dass
wir, dein Vater und ich, auch mitschuldig sind. Wären wir nicht so oft
umgezogen, bräuchtest du nicht so viel Angst zu haben, deine Freunde zu
verlieren, kaum, dass du sie lieb gewonnen hast.“
„Ich habe keine Angst.“
Sie lächelte, aber es sah müde aus.
„Wir überlegen, ob wir diesmal nicht hierbleiben wollen. Deinem Vater
gefällt die Firma, sie haben ihm auch bereits angeboten, ihn danach unbefristet
einzustellen – und deinen Schwestern und mir, uns gefällt es auch.
Susanna sagt, die Universität hier sei um einiges besser als ihre frühere und
Catherine hat sogar schon entschieden, auf welche Schule sie später gehen
will.“
Ja, aufs Sankt Katharina – Megans Schule. Die Schule von Rubins
Freundin. Ich konnte immer noch nicht verstehen, warum es ausgerechnet die sein
musste, aber das war wahrscheinlich so ein Mädchen-Ding. Keine Ahnung,
vielleicht waren die Tische alle pink.
Ich nahm einen Schluck Cola, bevor ich meiner Mutter antwortete.
„Sue und Kitty gefällt es überall. Und Pa – ehrlich, das ist
nicht das erste Mal, dass ihm das angeboten wird und dass er darüber nachdenkt,
das Angebot anzunehmen – aber sobald die Firma über das Schlimmste
hinaus ist und spätestens, wenn er die Anfrage bekommt, ob er nicht ein anderes
Unternehmen aus den roten Zahlen holen kann, packt ihn die Abenteuerlust und
wir unsere Koffer.“
Wenigstens hatte sie den Anstand, ein wenig zerknirscht auszusehen.
„Sogar wenn – falls das passieren sollte: Bis dahin bist
du längst an der Uni und kannst hierbleiben, wenn du willst. Wir würden dich
dabei unterstützen, das weißt du doch?“
„Genauso gut, wie du weißt, dass ich das nicht tun werde.“
Ich hasste diese Gespräche. Egal, ob Mum oder Sue – oder, um
einiges seltener, Pa – sie mit mir führten, sie hatten immer dasselbe
Ergebnis: gar keins. Niemand konnte mich zwingen, die Leute aus meiner Klasse
zu mögen, noch nicht einmal ich selbst. Dafür sahen meine Gesprächspartner
danach regelmäßig um einiges älter aus, als sie waren. So auch Mum, in diesem
Moment. Da waren Falten, die nicht in ihr Gesicht gehörten, ihre Lippen waren
schmaler und ihr Gesicht kantiger. Ich wusste, sie machten sich Sorgen, aber
warum konnten sie nicht verstehen, dass ich so am glücklichsten war? Ich hatte
keine größeren Probleme, genügend Sozialkontakte, gute Noten, eine liebevolle
Familie – warum sollte das denn nicht genug sein? Andere
Eltern würden sich freuen, wenn ihre Kinder so schnell Freundschaften schlossen
wie ich.
„Irgendwann wirst du dich abnabeln müssen; wir lieben dich, aber Kinder
müssen selbstständig werden.“
„Damit du und Pa euren Lebensabend in Ruhe genießen könnt?“ Ich grinste.
„Keine Angst, ich habe nicht vor, mit dreißig noch bei meinen Eltern zu wohnen.
Nur eben in der Nähe – außerdem bin ich siebzehn, also werde ich wohl
noch ein paar Jahre Schonfrist haben.“
„Natürlich hast du das.“ Sie strich durch meine Locken, die ich mal wieder
zu Wellen minimiert hatte. „Du weißt, dass ich dich nicht von hier vertreiben
will – im Gegenteil. Im Moment würde ich dich nicht einmal ausziehen
lassen, wenn du das wolltest. Aber …“ Sie machte eine Pause und verzog den
Mund.
Den Blick kannte ich. Sie dachte, dass sie gleich etwas sagen würde, das
mir nicht gefiel.
Na toll, nur her damit. Ich kann’s kaum erwarten.
„Könntest du nicht … einfach noch mal von vorne Anfangen? Die Besetzung der
Schubladen einmal ignorieren und zur Abwechslung einmal wirklich versuchen,
jemanden kennenzulernen?“
Wie oft hatte ich das jetzt schon gehört? Mehr als genug – es war
eigentlich eine abgewandelte Version der Ansprache, die ich beim Einzug in
unser neues Heim jedes Mal in der einen oder anderen Ausführung aufgetischt
bekam.
„Vielleicht überrascht er dich ja.“
Klar, das hoffte sie jedes –
Moment!
„‚Er‘?“
Mum schwieg.
„Er? Meinst du damit jemand bestimm…“
Oh nein. Den Blick kannte ich auch.
„Das ist nicht dein Ernst! Du gibst mir die x-te Wiederholung dieses
‚Gesprächs‘ wegen Rubin?!“
„Vyvyan …“
„Verdammte Scheiße, noch mal!“, rief ich und sprang auf, „Warum hast
du eigentlich so einen Narren an ihm gefressen? Er ist nicht der erste Idiot,
der durch unsere Türe gekommen ist!“
„Vyvyan, nicht in diesem Ton!“ Mum blieb sitzen, aber ihre Stimme klang
schneidend. Nur, das interessierte mich in diesem Moment ganz und gar nicht.
„Doch, genau in diesem Ton – ich hab nämlich so was von genug
davon, dass ihr ihn alle ganz toll findet und denkt, dass ich das
deshalb auch tun muss!“ Ich lief ein paar Schritte vom Sofa weg und drehte mich
dann wieder zu ihr um. „Noch mal zum Mitschreiben:
Ich – kann – ihn – nicht – ausstehen!“
Mum betrachtete mich schweigend. Sie saß immer noch auf dem Sofa, die Hände
nun im Schoß zusammengefaltet und wenn sie nicht gerader als gerade gesessen
hätte, dann hätte ich denken können, dass sie ruhig war. Aber ich kannte sie
besser – sie hasste es, wenn man schrie, wenn man fluchte, wenn man
unverschämt wurde und wurde dadurch sehr schnell provoziert. Diesmal allerdings
schien sie sich darum zu bemühen, die Nerven zu behalten.
Mir sollte es recht sein, aber das würde mich nicht davon abhalten, Dampf
abzulassen. Die letzte Woche war einfach viel zu falsch gelaufen. Und alles
hatte irgendwie mit Rubin zu tun. Der Kerl hatte sich so plötzlich so stark in
mein Leben gedrängt, dass es eigentlich nicht verwunderlich war, dass ich so
reagierte. Ich hatte nichts gegen Veränderungen, solange sie planmäßig
verliefen, aber mit Rubin verlief einfach gar nichts planmäßig.
„Vyvyan, setz dich hin.“
„Nein.“
Mum wartete noch einen Moment, dann nickte sie.
„Er hat sich von Anfang an wie ein Arschloch benommen – warum
sollte ich das einfach so vergessen? Würdest du das etwa?“
„Mittlerweile benimmt er sich aber nicht mehr wie ein Arschloch,
oder?“, fragte sie, immer noch ruhig, aber die Art, wie sie das Schimpfwort
betont hatte, war eine klare Warnung. Und die zweite Frage ignorierte sie
natürlich gekonnt.
„Nur weil ein Dieb für kurze Zeit aufgehört hat zu stehlen, vergibt man ihm
seine Verbrechen nicht.“
„Aber sie verjähren.“
„Ja, nach Jahren.“
„Vyvyan …“
„Heidrun.“
Sie hielt inne und sah mich überrascht an.
Ich wusste, dass sie es nicht mochte, so angesprochen zu werden, aber es
erzielte seine Wirkung: Sie
merkte, dass ich wirklich die Nase voll hatte.
„Ich kapier’s einfach nicht; erst Sue, jetzt du – zum zweiten
Mal innerhalb von wenigen Tagen – was hat der Kerl an
sich, dass ihr ihn unbedingt zu meinem neuen BFF erklären wollt?“, fragte ich,
auch wieder ein bisschen ruhiger und ging einen Schritt auf sie zu.
„Was ist ein BFF?“
„Best friend forever – der beste Freund, Kumpel numero
uno, mein – egal, was ich wissen will, ist warum.“
„Er scheint dich zu mögen.“
„Ja, er scheint, aber er …“
„Vyvyan, du weißt, wie ich das meine“, unterbrach Mum mich und entspannte
sich ein bisschen – im Gegensatz zu mir, ich fing an, hin und her zu
gehen. „Er scheint dich zu mögen und das, obwohl du dich dieses Wochenende
wirklich nicht von deiner besten Seite gezeigt hast.“
Ich schnaubte. „Stell dir vor, meine Freunde mögen mich auch; sogar meine
Freundin mag mich – ist das nicht außergewöhnlich?“
‚Fahr den Sarkasmus gefälligst drei Gänge runter, mein Lieber!‘, ich
war mir sicher, dass sie gerade ganz genau das dachte; es stand nicht nur auf
ihrer Stirn, sondern in gleich ihrer verdammten Aura
geschrieben – oder zumindest war ich sicher, dass es das tat, ich
konnte die Dinger ja nicht sehen.
„Ja, aber der Vyvyan, den sie kennen ist – und ich zitiere
Kate – ‚gar nicht toll‘. Und wenn er sich im letzten halben Jahr nicht
allzu sehr verändert hat, dann ist er so … schwammig, dass es schwer
ist, ihn nicht zu mögen.“
‚Schwammig‘?
„Rubin gegenüber aber lässt du deinen Launen freien Lauf – wenn
auch nur den negativen – und er mag dich trotzdem. Sei ehrlich,
Vyvyan: Objektiv gesehen, wer hört sich nach einem besseren Kandidaten für den
Platz deines ‚BFF‘ an?“
Ich blieb vor dem Sessel stehen und ließ mich hineinfallen. Dieser Tag
wurde echt nur besser und besser; fast wünschte ich mir, wieder Schule zu
haben. Das würde wenigstens etwas bringen, ganz im Gegensatz zu Ferien, in
denen ich meine Familie entweder nicht sah, mit Rubin teilen musste oder mich
mit ihr stritt. Bei Zeus, ich hoffte, das neue Jahr würde besser beginnen als
dieses endete!
„Mum, sogar wenn Rubin irgendwann aufgewacht ist und plötzlich die
Erkenntnis hatte, dass ich der tollste Typ der Welt bin und er unbedingt
mein neuer bester Freund werden will, heißt das nicht, dass ich ihn deshalb
zurückmögen muss.“
„Tust du das denn nicht?“
Was? Ich hatte ihr doch eben erst gesagt, dass …
„Weißt du, Schatz, du sagst zwar, dass du ihn nicht magst und du warst die
Zeit über, die er bei uns war, bockig genug, um die meisten davon zu
überzeugen, aber ich bin deine Mutter.“
Ich wartete einen Moment lang, aber sie beobachtete mich nur. Am liebsten
wäre ich aufgestanden und gegangen, denn ich mochte die Richtung, die das
Gespräch gerade nahm, absolut nicht – und das hieß etwas, bei diesem
Gespräch – aber ich konnte nicht; das hätte sie nur bestätigt, worin
auch immer. Also blieb ich ruhig.
„Und?“
„Und ich bin mir sicher, dass du schon am dreiundzwanzigsten, als ich ihn
zum Abendessen eingeladen habe, die Hölle in Brand gesteckt hättest, wenn du
ihn wirklich so wenig mögen würdest, wie du vorgibst.“ Sie hielt inne und fügte
nach einer kurzen Pause etwas leiser hinzu: „Und spätestens, als ich ihn für
Weihnachten eingeladen habe, hättest du eigentlich total ausflippen
müssen – ich kenne dich, ich weiß, wie wichtig dir Weihnachten ist
und ich bin sicher, dass du bei jedem deiner ‚Freunde‘ einen fürchterlichen
Wutanfall gekriegt hättest, spätestens, als wir wieder alleine waren. Aber bei
Rubin? Da hast du dich zwar ein wenig aufgeregt, aber es fast schon
angsteinflößend schnell akzeptiert.“
Wow, das …
…wollte ich nicht hören.
Rubins Anwesenheit hatte mir alles andere als Freude bereitet und dennoch
hatte ich mich zusammengerissen – und nun wurde genau das gegen mich
verwendet? Das konnte nicht Mums Ernst sein!
„Andere Eltern würden das als Zeichen sehen, dass ihr Kind langsam
erwachsen wird.“
„Andere Eltern kennen ihre Kinder nicht so gut wie ich meine.“
Manchmal konnte ich Mum nicht leiden. Meistens hielt das Gefühl nur kurz
an, aber in diesem Moment war es nicht abzustreiten. Warum musste sie auch
immer glauben, dass sie Recht hatte? Sicher, sie war ein paar Jährchen älter
als ich, aber das hieß nicht, dass sie mich deshalb vollkommen durchschaute.
Und wenn ich sagte, dass ich Rubin nicht mochte, dann mochte ich Rubin
nicht, Punkt. Warum konnte sie das nicht einfach akzeptieren? Und wie zum Hades
hatte Goldlöckchen Eisblock meine Familie so verhext?!
„Und was bitte hätte mir ein Wutanfall gebracht? Du hattest es doch sowieso
bereits entschieden.“
„Stimmt, aber das hätte dich normalerweise nicht davon abgehalten.“
Okay, das reichte. Ich hatte genug von diesem Thema, für Jahre, und
außerdem würde ich zu spät zu Fees und meiner Verabredung kommen, wenn ich
nicht bald ging.
„Schön, dass du dir da so sicher bist; ich frage mich nur, warum du dann
überhaupt noch mit mir darüber reden musst – warte doch einfach ab,
bis sich herausstellt, dass du die ganze Zeit Recht gehabt hast.“
„Vyvyan …“
„Was?! Ist doch wahr – du hast deine Meinung schließlich
felsenfest gebildet und willst gar nicht hören, was ich dazu zu sagen habe.
Dann kann ich ja jetzt auch gehen.“ Ich stand auf und ging auf sie zu, um mein
Colaglas nehmen zu können, doch natürlich war unser Gespräch so lange nicht
beendet, bis sie es dazu erklärte.
„Vyvyan, das ist nicht fair. Natürlich will ich hören, was du denkst, aber
ich möchte auch, dass du wenigstens ein Mal versucht, von deinen üblichen
eingefahrenen Verhaltensweisen abzuweichen. Ich …“ Sie zögerte und fuhr leiser fort: "Wir machen uns alle Sorgen um dich."
Oh, der war fies. Unterste Schublade.
Und trotzdem bekam augenblicklich ich ein schlechtes Gewissen.
Ich blieb vor ihr stehen, das Glas noch auf dem Tisch.
„Ich kann niemanden auf Knopfdruck mögen.“
Sie lächelte und der Anblick ließ meine Laune in den Hades sinken. Das war
das Lächeln, das man sah, wenn sie glaubte, kurz vor ihrem Ziel zu
sein – für mich bedeutete das, dass sie kurz davor war, irgend etwas
von mir zu verlangen, das ich garantiert nicht tun wollte, das wohl aber für
den Hausfrieden unabdingbar war. Scheiße.
„Das weiß ich doch. Ich möchte ja auch nur, dass du ihm eine Chance gibst,
ihn nicht immer unnötig unfreundlich behandelst.“
„Ich behandle ihn so, wie er mich behandelt.“ Offensichtlich war das nicht
die Antwort, auf die sie wartete. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Wenn
ich den nächsten Bus verpasste, würde ich wirklich zu spät kommen. Und ich
musste mich heute schon bei Rubin entschuldigen; ich konnte also darauf
verzichten, es auch noch bei Fee zu tun. Außerdem kam ich grundsätzlich nicht
gerne zu spät. „Was willst du, Mum? Konkret, meine ich.“
Da, das Lächeln wurde breiter. Verdammte Scheiße, sie hatte mich genau
dort, wo sie mich haben wollte.
„Nur etwas, das du bei jedem anderen auch tun würdest: Ich möchte, dass du
dich für die Nachhilfestunden revanchierst – und die DVD zu
Weihnachten zählt nicht. Wir wissen beide, dass das Susannas Idee war.“
Ich sah sie an ohne einen Mucks zu machen, aber ich konnte fühlen, wie
meine Augenbrauen sich ganz ohne mein Zutun zusammenzogen.
„Soll heißen?“
„Oh, ich weiß auch nicht – lad ihn doch ins Kino ein oder zum
Essen oder so. Du weißt sicher besser, was ihm gefällt.“
Oh ja, natürlich wusste ich das – schließlich war ich ja
Experte, was Rubin anging, nicht wahr? Schließlich waren wir Sandkastenfreunde
und all das.
Ha. Ha.
„Ich werde ganz sicher nicht mit ihm ins Kino oder in ein Restaurant
gehen; wenn mich jemand von der Schule dabei sieht, denken die noch, wir wären
echt befreundet.“
Noch viel wichtiger: Zwei Personen, die nicht befreundet waren, obwohl sie
in eine Klasse gingen, die sich auch nicht besonders gut kannten und dennoch
plötzlich zusammen ins Kino gingen? Entschuldigung, aber das hörte sich in
meinem Ohren zu sehr nach einem Date an. Und ich und Rubin in Verbindung mit
einem Date, das wollte ich nun wirklich nicht in meinem Kopf. Nein danke, vor
allem nicht nachdem er seine Finger in meiner Unterwäsche gehabt hatte.
Mum sah aus, als ob sie widersprechen wollte, doch ich kam ihr zuvor.
Betont seufzend betont widerwillig, aber dennoch.
„Wärst du zufrieden, wenn ich heute Abend für ihn koche, falls er noch
nichts vor hat? Dann müsste ich mich nicht mit ihm zeigen, würde Geld sparen
und er würde dennoch etwas anderes als Lieferzeugs zwischen die Zähne
bekommen.“
In dem Moment, in dem ihr Kopf hochschoss und sie „Lieferzeugs?“ fragte,
wurde mir bewusst, dass ich gerade einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte.
Mindestens so schwerwiegend, wie die Englischprüfung so glorreich zu verhauen.
Warum hatte ich das sagen müssen? Ich wusste doch, dass man in solchen
Situationen nie zu viele Informationen herausgeben durfte. Doch jetzt, jetzt
war es zu spät; Mum hatte Blut geleckt.
„Was meinst du damit?“
Ich öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Normalerweise würde ich
jetzt irgendeine halbwegs plausible Ausrede hervorzaubern, aber meine Mutter
konnte ich nicht anlügen – jedes Mal, wenn ich es versuchte, fehlten
mir die Worte.
„Ich kann auch Rubin fragen, seine Nummer steht auf deiner Klassenliste“,
sagte sie und meinte eigentlich: ‚Wag es ja nicht, etwas Wichtiges auszulassen,
denn ich habe keine Skrupel, nachzufragen, wenn mir deine Antwort löchrig
erscheint.‘
Wundervoll.
Was jetzt? Ich wusste, dass ich ihr das nicht sagen wollte – es
würde garantiert Konsequenzen nach sich ziehen, die mir nicht gefielen.
Dennoch: Wahrscheinlich war die Wahrheit am besten, denn falls sie später etwas
anderes herausfinden würde, wäre ihre Strafe noch viel schlimmer. Wenn es ums
gesundes Essen ging, verstand meine Mutter einfach keinen Spaß.
„Seine Familie ist im Urlaub und Rubin kann nicht kochen, deshalb bestellt
er sich anscheinend öfter was nach Hause“, erwiderte ich pflichtgemäß, konnte
aber nicht anders, als anzufügen: „Aber das ist nicht so schlimm, wie du jetzt
denkst – Lieferdienste sind heutzutage auch nicht viel schlechter als
Restaurants – manche sind ja auch Teil eines normalen, respektablen
Restaurants, also …“
Mum schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge, aber das Lächeln war
breiter denn je.
„Papperlapapp, du weißt genau, was ich von so was halte – aber
ausnahmsweise trifft sich das doch wunderbar! Ich wusste, dass es sich
irgendwann einmal auszahlen würde, dass ich früher die Eierschalen in den
Omeletts und die zerbrochenen Schüsseln auf mich nehmen musste.“
Sie stand auf, völlig mit sich selbst zufrieden.
„Er gibt dir Nachhilfe und dafür machst du ihm dann
Abendessen – das passt doch perfekt und wir profitieren alle davon.“
Natürlich – sie bekam ihren Willen und Rubin was zu futtern, aber
was lag da für mich drin?
Genau: Nichts.
Und vor allem: ‚Du machst ihm dann Abendessen‘?!
„Ich habe gesagt, ich würde heute für ihn kochen – nicht
jedes Mal!“
Ich war schließlich nicht sein persönlicher Koch, verdammt!
Doch meine Mutter hatte es bereits entschieden und war entschlossen, das
auch so durchzuführen. Deshalb sah sie mich auch einfach nur süffisant lächelnd
an und sagte mit engelsgleicher Stimme:
„Oh, wenn du nicht willst, kann ich ihn natürlich für die betreffenden
Abende auch zu uns einladen – dann müsstest du aber erstens immer mit
ihm Bus fahren und zweitens könnte es durchaus sein, dass er dann das ein oder
andere Mal hier übernachten müsste – du weißt doch, wenn man sich
angeregt unterhält, vergisst man schon mal die Zeit.“
Genau Mum, so erzieht man seine Kinder richtig: Man droht ihnen, wenn sie
nicht so wollen wie man selbst. Das ist gesunder Menschenverstand und ein gutes
Vorbild ist man gleich auch noch.
Doch was nutzte es, wenn ich mich still beschwerte?
Genau: Wieder nichts.
Lautes Beschweren würde allerdings genauso wenig bringen.
Super, dann würde ich also doch die halben Ferien lang Rubins persönlichen
Koch spielen. Wunderbar. Ganz genau, was ich mir noch zu Weihnachten gewünscht
hatte – natürlich zusätzlich zu dem Streit mit Kitty.
Warum musste sich Mum einmischen? Ich hatte doch vorher schon mehr Zeit als
nötig mit ihm verbringen müssen.
Warum konnte sie mich nicht so akzeptieren, wie ich war? Ich versuchte ja
auch nicht, ihre übertriebene Abneigung gegen Junkfood, ihre Kontrollsucht oder
andere von ihren Macken zu ‚berichtigen‘.
Und plötzlich wollte ich einfach nur noch raus – so sehr, dass
ich auf dem Absatz kehrt machte und ohne ein weiteres Wort mein Zeug schnappte
und das Haus verließ.
*********
„Mir ist langweilig.“
„Und deshalb musst du mir auf
den Wecker gehen?“
„… Müsstest du nicht mehr
Verständnis haben?“
Megan seufzte. „Hast du
aufgeräumt?“
„Schon längst.“
„Geduscht?“
„Natürlich.“
„Die Stunde vorbereitet?“
„Ja.“ Ich sah auf die Uhr. „Wann ist es denn endlich Abend?“
hallöchen.
AntwortenLöschenDas war ein super gailes Kapitel und ichhab ständig mit gefiebert deine Geschichten sind einfach zu interessant ich liebe sie ich freue mich auf weiter so supter tolle Kapitel ;D
Freut mich, dass dir das Kapitel gefallen hat! :) Und noch ein bisschen mehr darüber, dass du meine Geschichten auch sonst magst. :D Hoffe, es wird dir auch weiterhin gefallen.
AntwortenLöschenVielen lieben Dank für deinen Kommentar!