Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 22. Januar 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 13:


Während ich auf Fee wartete, fiel mir ein, dass es vielleicht höflicher wäre, Rubin Bescheid zu geben, wann ich etwa bei ihm sein würde. Ehrlich gesagt hatte ich große Lust, es aus Trotz sein zu lassen und einfach irgendwann bei ihm aufzutauchen, aber sogar ich wusste, wie kindisch das Verhalten wäre. Und wenn ich ganz, ganz ehrlich war (etwas, das mir meist Kopfschmerzen bereitete), dann wusste ich, dass er an dem Streit mit Mum keine Schuld trug – noch nicht einmal indirekte, denn er konnte ja nicht wissen, was für ein Mensch sie war und wie sie auf die Idee mit der Nachhilfe und sein freundliches Getue reagieren würde. Bei Hera, noch nicht einmal ich hatte das vorausgesehen und ich war seit über siebzehn Jahren ihr Sohn, die Zeit in ihrem Bauch nicht mitgerechnet.
Also rechnete ich noch einmal kurz nach, wie lange das Kino dauern würde, dann die Busfahrt zu ihm, plus ein Abstecher in den nächsten Supermarkt, und schrieb ihm eine kurze Nachricht. Seine Antwort war ebenso kurz, aber irgendwie schaffte er es, sich dabei trotzdem auf die desinteressierteste Art, die mir je begegnet war, für die Benachrichtigung zu bedanken. Wenigstens konnte ich nun meine dicken Handschuhe wieder anziehen.
„Vyvyan!“ Fee kam auf mich zu und rannte die letzten paar Schritte. „Hast du lange gewartet?“
„Keine zehn Minuten“, erwiderte ich und zog sie an mich, küsste sie. Und wie immer, wenn ich sie küsste, richtig küsste, schmiegte sie sich sofort noch näher an mich und legte die Arme um meinen Hals. Und wie immer war Fee zu küssen – nun, wie immer eben. Es war angenehm, es gab mir ein warmes Gefühl im Magen, aber da war kein Feuerwerk und es war nichts, ohne dass ich nicht leben konnte. Aber was hieß das schon? Das waren doch sowieso nur Übertreibungen, die man uns in Büchern und Filmen vorsetzte, damit wir uns schön danach sehnen konnten und brav weiter neue Bücher/Filme darüber kauften, unser Leben lang, denn im richtigen Leben begegnete man so etwas eben nicht. Küssen war schön, keine Frage, aber nichts Weltbewegendes. Und daran würde ein anderer Kusspartner nichts ändern: Beim Küssen brauchte man schließlich nur Lippen und Zähne und Zunge und bei diesen Dingen unterschieden sich Männchen und Weibchen nicht, solange die Weibchen intelligent genug waren und sich nicht mit Lippenstift oder – noch schlimmer – Gloss einschmierten. Also sollte es mir, rein logisch betrachtet, bei beiden gleich viel Spaß machen.
… Natürlich würde ich die Theorie nicht auf die Probe stellen. Es wäre Fee gegenüber auch unfair, denn so wie Rubin Samstag rangegangen war, war er nie und nimmer unerfahren. Und Fee, nun … soweit ich wusste, hatte sie sich mit Beziehungen bisher zurückgehalten. Außer ihrem Exfreund hatte es da nur einen anderen gegeben, aber das war in einem Alter gewesen, in dem man Küssen noch mit Sex gleichgestellt hatte. Wenn mir bei ihren Küssen also etwas fehlte, dann gab es eine einfache und direkte Methode, dem Abhilfe zu schaffen: Mit ihr zu üben.
Vielleicht hatte ich beschlossen, bald mit ihr Schluss zu machen musste, aber noch war ich ihr Freund. Und sie hier. Es sprach also nichts gegen ein bisschen üben.
Ich intensivierte den Kuss, ließ ihn ein bisschen heftiger, ein wenig leidenschaftlicher werden, und Fee ging darauf ein, was ich als guten Anfang betrachtete. Doch, vielleicht würde das doch noch etwas werden, mit dem Küssen.
„Das habe ich vermisst“, flüsterte ich in ihr Ohr, als ich mich schließlich von ihr löste.
Sie lachte und flüsterte zurück: „Nur das?“
Ich grinste, sah sie einen Moment an und gab ihr dann einen Eskimokuss.
„Natürlich, was hast du denn gedacht? Wir sind schließlich nur zusammen, weil ich deine Lippen so unwiderstehlich finde – du hattest da auch kein Mitspracherecht, wenn ich dich erinnern darf.“
Sie boxte mich leicht in die Schulter und schürzte die Lippen. „Fieser Kerl!“
Fieser Kerl? An deinen Beleidigungen musst du echt noch arbeiten.“ Ich zwinkerte ihr zu, legte dann den Arm um sie und fragte: „Und, worauf hast du Lust?“
„Da du mich einlädst: Aufs Ritz.“

***

Eineinhalb Stunden später saßen wir mit den anderen in einem kleinen Café neben dem Kino. Fee und ich teilten uns einen breiten Sessel, genauso wie Theo und seine Freundin, da wir sonst nicht alle Platz gehabt hätten. Sie saß halb auf meinem Schoß, den Kopf an meine Schulter gelegt, während ich sie hielt, meinen Kopf an ihrem. Um ihren Hals blitzte die Silberkette, die ich ihr vor dem Dessert bei dem Chinesen, für den wir uns schließlich entschieden hatten, gegeben hatte. Die Kette war sehr fein, mit einem schlichten Herz als Anhänger, aber wenn ich ihre Reaktion richtig interpretiert hatte, dann gefiel sie ihr – alles andere hätte mich aber auch überrascht, ich hatte nämlich noch nie Probleme gehabt, die richtigen Geschenke für meine Freundinnen zu finden. Meine Familie war da schon die härtere Nuss.
Und, wie es der Zufall wollte, passte mein Geschenk sogar noch zu ihrem: Sie hatte mir auch Schmuck gegeben, ein Armband aus dunklem Leder und Silber. Eigentlich trug ich keinen Schmuck, auch keinen Männerschmuck, aber das Armband, das musste ich ihr lassen, war ziemlich schick.
„Aber jetzt sag schon, Vyv: Wie schlimm ist es? Hast du schon die ersten Selbstmordgedanken gehabt?“ Theo sah mich breit grinsend an und ich fragte mich unweigerlich, was er nun schon wieder geraucht hatte. Wieso sollte ich bitte Selbstmordgedanken haben? Mein Leben als relativ attraktiver, nicht zu dummer Spross einer Familie des Mittelstandes in diesem schönen europäischen Land war ganz angenehm, danke auch.
Glücklicherweise schien Kim da meiner Meinung zu sein, denn er stellte meine Frage, wenn auch einige Töne tiefer, als ich es hingebracht hätte.
„Warum sollte er?“
War das schon Bass? Es war auf jeden Fall … nicht unsexy. Aber es gab so einiges an Kim, das nicht unsexy war – seinen Rücken hatte ich ja schon längst bemerkt, auch wenn ich ihm das natürlich nie sagen würde. Und jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um über seine Vorzüge nachzudenken.
Theos Grinsen wurde noch breiter und ein ganz klitzekleines bisschen Schadenfreudig. „Na, weil er doch die ganzen Ferien über Nachhilfe hat – bei Rubin.“
Danke Theo, jetzt hatte ich die Aufmerksamkeit der gesamten Runde.
„Was? Wieso hast du bei dem Nachhilfe?“, fragte Aaron und verzog das Gesicht.
Ich zuckte mit den Schultern und löste mich zwangsläufig von Fees Haaren, als sie sich auch zu mir drehte. Schade, dabei rochen ihre Haare heute wirklich gut – nicht nach Zitronengras, aber auch nach Shampoo, dezent nach Kokos und Vanille.
„Weil Kirsten dachte, das sei eine gute Idee und Rubin dafür mit einer Empfehlung oder was weiß ich geködert hat.“ Ich seufzte und drückte Fee einen Kuss auf die Schläfe, den sie mir lächelnd auf die Wange zurückgab.
„Und warum hast du zugestimmt?“ Viktor sah mich an und im Gegensatz zu Aaron konnte ich bei ihm nur Neugierde erkennen. Aaron sah aus, als ob er gerade acht Jahre alte Milch getrunken hätte; das fand ich nun doch übertrieben, auch wenn er Rubin nicht ausstehen konnte. Manchmal, wenn ich Aaron ansah, konnte ich fast sehen, wie er kleinere, vor allem solche, die nicht in sein Weltbild passten, schikanierte – nicht, dass er das in dem halben Jahr, seit ich an ihrer Schule war, getan hätte, aber … ich weiß nicht, irgendwo unter den modisch mit Haarwachs frisierten hellbraunen Haaren und den Markenklamotten glaubte ich genug Unsicherheit zu sehen, dass es früher durchaus zu solchem Verhalten geführt haben könnte. Der Bauchansatz half da sicher auch nicht – und von Theo wusste ich, dass vor zwei Jahren noch das ein oder andere Kilo mehr da gewesen war.
„Weil es mich nichts kostet, meine Schwester keine Zeit hat und sonst nur noch mein Vater zur Verfügung stünde – und wenn es mit seiner Methode klappen würde, müsste ich gar nicht Nachhilfe bekommen.“
Viktor nickte und Aaron klopfte mir einmal mitfühlend auf die Schulter.
„Sag schon“, begann dann Theo wieder, „ist es so scheiße, wie wir es uns vorstellen?“
„Was soll es denn sonst sein?“, entgegnete Aaron, sah mich aber dennoch an und wollte offensichtlich Bestätigung. Das tat er wahrscheinlich schon sein ganzes Leben lang.
Dennoch, diesmal wollte ich sie ihm ausnahmsweise geben, immerhin ging es hier um Rubin; den mochte man nicht, den mochte ich nicht, Punkt. Doch als ich den Mund aufmachte, kam etwas ganz anderes heraus.
„Es geht. Wenn ich ehrlich bin, ist er ziemlich gut im Erklären und verdammt geduldig.“ Ich hielt inne. Was sollte das? Warum hatte ich nicht einfach etwas wie ‚Du hast ja keine Ahnung‘ oder ‚Nein, es ist schlimmer‘ gesagt? Eine Sekunde lang überlegte ich, ob es besser wäre, das Gesagte irgendwie in einen Scherz umzudrehen – vielleicht mit ausgeprägtem Sarkasmus am Ende? – doch dann entschied ich mich dagegen. „Im Gegensatz zu den seltenen Malen, die er in unserer Klasse den Mund aufmacht, gibt er einem in der Nachhilfe auch nicht das Gefühl, weniger Wert als der Dreck unter seinen Schuhen zu sein. Auch nicht unbedingt mehr, aber zumindest nicht weniger.“
„Wenn das kein Fortschritt ist.“ Theo grinste und trank einen Schluck Kaffee. „Aber bist du sicher, dass es nicht nur der Weihnachtszauber ist, der ihn sympathischer erscheinen lässt? Ich meine, es ist Rubin.“
„Von ‚sympathisch‘ habe ich nichts gesagt – aber er ist … erträglicher, ein bisschen zumindest.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, meinte da Theos Freundin plötzlich, die bisher ziemlich ruhig gewesen war. Was war noch mal ihr Name – Maria? Marie? Nein, das war eine von Kittys Freundinnen. Mathilde? Nein, nichts so Altbackenes – Mandy! Genau, Amanda, kurz Mandy. „In den Schülerratssitzungen ist er auch so. Etwas kurz angebunden, aber nicht übertrieben unhöflich und er behandelt alle gleich, egal, aus welchem Jahrgang.“
„Echt?“ Theo sah erst sie, dann mich an.
Ich nickte, aber innerlich fragte ich mich, ob ich ihn wirklich mit ‚kurz angebunden‘ beschreiben würde. Nicht in den letzten Tagen.
„Na, vielleicht sollte ich mich dann auch bei ihm zur Nachhilfe melden?“
Ich sah Theo ein wenig verwirrt an.
„Du hast doch gar keine Probleme in Englisch?“
„Aber dafür in Mathe und Rubin ist schließlich überall gut.“
Okay, Ersteres stimmte, ich hatte Theos Note gesehen; Letzteres wohl auch.
Und Fee, Engel, der sie war, sagte doch tatsächlich: „Aber in Mathematik kann dir doch auch Vyvyan helfen – mir hat er schließlich auch schon ein paar Mal ausgeholfen.“
Sicher, in der Pause, in der Mittagspause, in einer Freistunde – aber nicht während der Ferien. Und das hatte ich auch nicht vor, nein, nein, nein. Dann wäre ja endgültig alles im Eimer.
Glücklicherweise zeigte Theo, wahrscheinlich zum ersten Mal, seit wir uns kannten, dass er da keinen Hohlraum zwischen den Ohren hatte und antwortete grinsend:
„Danke, aber nein danke. Rubin macht das ja anscheinend für umme, aber Vyv? Ich hab Angst, was der als Gegenleistung verlangen würde. Als seine Freundin hast du da eindeutig einen Vorteil.“
Viktor grinste. „Was denn, Theo, möchtest du gerne mit Fee tauschen?“
Einen Moment lang sah Theo verdutzt drein und dann lachte er laut. „Natürlich, Vic, was denn sonst? Hast du meine schmachtenden Blicke auf seinen Arsch noch nicht bemerkt?“
Hey, keine Witze über meinen Arsch; der ist zum Anschmachten!
„Nein, sorry, die sind mir entgangen.“
„Leute, hört auf, ich brauch die Bilder echt nicht in meinem Kopf“, sagte Aaron, noch bevor Theo etwas erwidern konnte. Viktor grinste nur.
„Dann stell es dir eben nicht vor – außerdem: Wenn sie tauschen, dann kommen auch Fee und Mandy zusammen. Hast du da auch was dagegen?“
Es dauerte einen Moment, aber dann – Hera, Hades und Hephaistos, Aarons Grinsen war so dreckig, es sollte verboten werden.
„Absolut nicht.“
Mandy verdrehte die Augen und Fee schüttelte den Kopf und sagte leise zu ihr: „Jungs!“, aber ich wusste dennoch, dass es ihr unangenehm war. So nah, wie wir uns gerade waren, war es auch schwierig, ihre Körpersprache nicht zu bemerken.
„Aaron – aus!“ Ich sah ihn an, legte die Arme enger um Fee und beglückwünschte mich im Stillen für den Ton meiner Stimme – er hatte die perfekte Mischung aus Ernst und Spaß. „Das ist meine Freundin; wenn du dreckige Fantasien haben willst, such dir eine eigene.“
Da, bitte: Während die anderen lachten, drehte sich Fee richtig zu mir und gab mir als dank einen schönen, langen Kuss. Wer weiß, vielleicht dachte sie ja auch, dass ein wenig Übung nicht schaden könnte – auch wenn ich zugeben musste, dass es diesmal bereits etwas besser war.

***

„Oh, bevor ich’s vergesse: Ihr kommt Silvester auch ins Paddy’s, oder?“
Bitte was?
In das Pub, in das sie immer gingen? Wieso sollte ich?
Theo sagte das, als sei es schon beschlossene Sache, aber ich hörte es zum ersten Mal – und war ganz und gar nicht begeistert. Weihnachten war ein Familienfest, aber Silvester, da kam man normalerweise nicht drum herum, auszugehen. Ich hätte es wissen müssen, aber das hieß nicht, dass es mir gefiel. Immerhin hatte ich schon Weihnachten geopfert, wie ich mir immer wieder sagte.
Doch dann kam Fee mir zu Hilfe.
„Tut mir leid, ich kann nicht.“ Sie hob den Kopf und sah mich an. „Ich habe dir ja schon gesagt, meine Familie hat beschlossen, über Neujahr zu meiner Tante zu fahren. Und sie erwarten natürlich, dass ich mitgehe.“
Ja, sie hatte es mir gesagt, aber ich hatte es schon fast wieder vergessen. Dennoch, eins war klar: Fee punktete als Freundin immer weiter – so langsam stieg sie wirklich zur ‚Besten Freundin Aller Zeiten‘ auf. Musste ich wirklich mit ihr Schluss machen? Ein kleiner Ausrutscher, ein Moment geistiger Umnachtung war doch nicht weltbew… 
Doch, war er.
Ah, Scheiße! Alles Rubins Schuld!
„Ich finde es immer noch schade“, erwiderte ich und verzog den Mund, „aber wenn du nicht gehst, dann bleib ich auch zu Hause.“
„Was? Nein! Das kannst du nicht machen!“ Theo sah mich entrüstet an. „Es ist Silvester, Vyv, da bleibt man nicht zu Hause! Außerdem kann Kim auch schon nicht – du kannst mich doch nicht mit diesen beiden alleine lassen!“ Er zeigte auf Aaron und Viktor.
„Na danke auch“, erwiderte Aaron gespielt beleidigt, worauf Theo nur wieder grinste. Hörte er auch irgendwann damit auf? Nur kurz? Bitte?
„Du musst wirklich nicht zu Hause bleiben, nicht wegen mir.“ Fee lächelte.
Nein nein, schon gut, du hast deinen Part erledigt und die Punkte dafür bekommen – nun versuch nicht, sie auf Hades komm raus wieder zu verlieren!
„Erstens, Theo, hast du Mandy und bist somit garantiert nicht mit den beiden alleine, und zweitens“, sagte ich und sah dann wieder Fee an, „bestehe ich an Silvester auf meinen Neujahrskuss – und wenn ich den nicht von dir bekomme, dann tausendmal lieber von Kitty als von irgendeinem Mädel im Paddy’s. Ich dachte eigentlich, du würdest mir da zustimmen.“
„Wenn du das so sagst … dann stimme ich dir wirklich zu. Es ist besser, du bleibst zu Hause.“
Ich lachte und legte meinen Kopf wieder an ihren. Sie hatte sich eben die Punkte dauerhaft gesichert – und egal, was Theo sagte, ich hatte eine gute Ausrede – oder zumindest ließ sich daraus mit ein bisschen Fantasie eine genügend gute Ausrede machen.

***

Um zwanzig nach fünf stand ich schließlich vor Rubins Tür. Etwas später als abgemacht, aber dafür mit zwei Einkaufstüten. Mein Finger hatte die Klingel gerade erst losgelassen, als die Tür auch schon aufging.
„Hey, Vyvyan. Du bist zu spät.“
Oh, schön, wir hatten heute wieder einmal ganz wunderbare Laune. Vielleicht sollte ich besser wieder nach Hause? Ich konnte ja auch einfach morgen früher kommen, immerhin war der Tag dank der Nachhilfe eh im Arsch.
„Ja, sorry. Hab den Supermarkt nicht gleich gefunden.“
Er sah von meinem Gesicht zu den beiden Einkaufstüten in meinen Händen, runzelte die Stirn und trat dann einen Schritt zurück.
„Komm rein.“ Er hielt mir die Tür auf, weit, und ein Schwall warmer Luft aus dem Inneren traf meine Entscheidung für mich. Ich trat ein, stellte die Einkaufstaschen ab und begann mich aus den unzähligen Schichten Stoff zu schälen, die mich vor der Winterkälte schützen sollten. Rubin schloss die Tür, nahm mir dann meine Jacke aus den Händen und hängte sie zusammen mit meinem Schal auf. Irgendwie fühlte ich mich … keine Ahnung. Komisch. Befangen wäre vielleicht das richtige Wort dafür, aber ich hatte keinen Grund zu Befangenheit, also war das natürlich Quatsch. 
„Und, hast du es überlebt?“
Ich brauchte nicht zu fragen, ich wusste, dass er auf Theo und Co anspielte.
„Knapp.“
Er grinste, spöttisch zwar, aber auch irgendwie – nun, wenn es nicht so unpassend wäre, hätte ich es fast ‚warm‘ genannt. Der Spott fühlte sich jedenfalls nicht herablassend an – im Gegenteil, meine Befangenheit ließ etwas nach. Nur Hades wusste, wieso. Aber der Augenblick ging vorüber und die Pseudo-Wärme verschwand. Er legte meine Handschuhe auf ein Regalbrett und warf dabei einen Blick auf, oder besser, in die Tüten.
„Deine Mutter weiß, dass du heute nicht besonders früh nach Hause kommen wirst?“
Häh?
„Ja, wieso?“
„Wegen den Einkäufen.“
„Die sind für hier.“
Er drehte sich zu mir um und musterte mich.
Vyvyan, wieso bringst du Kartoffeln mit zu mir? Ist das eine englische Tradition, von der ich wissen sollte?“ 
Haha. Ich dich auch.
„Nein, das …“ Ich brach ab. Gut, dann kam jetzt wohl der unangenehmste Teil des ganzen Tages. Hera, Hades und Hephaistos, ging mir das gegen den Strich! Warum musste ich auch so ein verdammtes Muttersöhnchen sein, das brav tat, was Mama sagte und es nicht einmal wagte, die Wahrheit ein bisschen zu beschönigen?
Ganz genau: Weil sie trotz allem bei uns zu Hause das Zepter in der Hand hielt und wenn sie herausfand, dass ich sie angelogen hatte, dann war mein Leben für die nächsten paar Jahre schlimmer als eine Ewigkeit im Tartaros. Diese Mama konnte nämlich verdammt fies sein.
Deshalb blieb nur noch eines zu tun: Glubscherchen zu – im übertragenen Sinne, denn alles andere wäre peinlich gewesen – Mund auf und durch!
… Was einfacher gewesen wäre, wenn es sich um jemand anderen gehandelt hätte. Rubin war einfach zu sehr Rubin – ich konnte den Spott schon vor mir sehen und ich wusste, es würde nicht der halbwegs erträgliche von eben sein. Mich ausgerechnet bei ihm zu entschuldigen war einfach – blärgh.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich auffordernd an. Musste mir wirklich genau in diesem Moment auffallen, dass das helle, langärmelige Shirt, das er heute trug, seinen Oberkörper wirklich gut zur Geltung brachte?
Scheiß Hormone. Hätten die nicht mindestens noch ein paar Wochen ruhig bleiben können? Und dann bei jemand anderem anschlagen?
Ich sah wieder nach oben und zwang mich, den Augenkontakt nicht mehr zu unterbrechen.
„Zuallererst möchte – nein, muss – ich mich entschuldigen.“
Da! Es war raus – die erste Hürde war genommen.
Noch kein Spott, dafür Verwirrung.
„Und wofür?“, fragte er nach einem Moment. Seine Stimme war wieder deutlich kühler. Famos.
Aber egal. Das war jetzt nicht mehr so schlimm – immerhin musste ich das E-Wort nicht mehr sagen.
„Dafür, dass du heute noch eine Extrastunde einschieben musst, nur, weil ich gestern zu faul war.“
Er sah mich ungläubig an und grinste dann.
„Dafür musst du dich nicht entschuldigen.“ Funkelten seine Augen gerade amüsiert? Nein, unmöglich; Rubins Augen wussten gar nicht, was amüsiertes Funkeln war. „Hätte es mir etwas ausgemacht, hätte ich dich gestern schon rechtzeitig von Betsy runtergezogen.“ 
Da, siehst du, Mum? Ich hätte das E-Wort nicht sagen müssen, es macht ihm nämlich nichts aus, mich noch ein wenig länger zu quälen. Warum überrascht mich das nicht?
„Und was hat das jetzt mit den Kartoffeln zu tun?“
Nett, noch nicht einmal eine Pause zwischen Peinlichkeit 1 und Peinlichkeit 2 gönnte er mir.
Bastard.
„Nichts“, erwiderte ich, „nicht direkt. Nur der Grund ist derselbe.“
Eine angehobene Augenbraue, aber das Grinsen schwächte den Effekt ab. „Der Grund, warum du Kartoffeln mitbringst und dich für gestern entschuldigst ist derselbe?“
„Ja.“
„Und der wäre?“
„Meine Mutter, was denn sonst?“
Es dauerte einen Moment, doch dann lachte er. Lachte! So richtig laut und …offen.
Scheiße, das … hm. Sollte er öfter tun.
Ode auch nicht. Mir egal.
„Dachte ich mir doch, dass das nicht ganz freiwillig kam.“
Den Mund halten sollte er auch öfter.
Ich zeigte auf die Taschen. „Könnten wir das vielleicht in die Küche bringen? Einiges davon sollte in den Kühlschrank.“
„Sicher“, antwortete er und nahm eine der Taschen, „wenn ich erfahre, was es damit auf sich hat?“ Er hielt in der Küchentür an und drehte sich zu mir um. „Komm schon, so schlimm kann es nicht sein.“
Für ihn vielleicht nicht, nein, aber er hatte ja auch die Möglichkeit Nein zu sagen.
Ich schnaubte und drückte mich an ihm vorbei.
„Du hast es doch sowieso schon erraten, also warum muss ich es noch aussprechen?“
„Gar nichts habe ich erraten; so gut kenne ich deine Mutter nicht.“ Er trat neben mich und stellte seine Tüte auf den Tisch neben meine. „Ich könnte vermuten, dass sie dich damit hergeschickt hat, damit ich auch ja etwas Gesundes esse, aber wir beide wissen, dass da nichts draus wird, da ich mit Pfannen auf Kriegsfuß stehe – und ich bin sicher, dass du das ihr gesagt hättest, um nicht meinen persönlichen Lieferjungen spielen zu müssen.“
„Es ist zwar nicht genau so passiert, aber beide Szenarien laufen auf dasselbe hinaus: Da du nicht kochen kannst und deine Mutter nicht da ist, findet meine Mutter nun, dass ich für dich kochen soll. Heute, morgen, jeden verdammten Abend nach der Nachhilfe, als direkte Gegenleistung.“ Ich drehte mich zu ihm um und sein überraschter Gesichtsausdruck half meiner Laune nicht. Warum hatte ich nicht einfach meine Klappe halten und Mum danach sagen können, dass er dankend abgelehnt hatte? Aber gut, das hatten wir ja schon. „Und deshalb habe die Kartoffeln mitgebracht – zusammen mit Sahne, Vanille und Erdbeeren.“
„Wo hast du mitten im Winter frische Erdbeeren her?“
Was hatte das mit irgendwas zu tun?
„Die Frage ist nicht ‚woher‘, die Frage ist ‚wie viel‘.“
„Hm.“
Es dauerte einen Moment, aber dann war das Grinsen zurück, mit doppelter – dreifacher? – Kraft. Und Grübchen. Immer und immer wieder Grübchen. „Ich weiß zwar nicht, was du aus Kartoffeln, Sahne und Erdbeeren zaubern willst, aber …“
„Hör zu, wenn du nicht willst – was ich durchaus verstehen kann, glaub mir – dann wäre jetzt der Zeitpunkt, das zu sagen.“ Da, meine letzte Chance. Wenn er jetzt ablehnte, war ich aus dem Schneider. „Wenn du erst einmal zugestimmt hast und meine Mutter das mitkriegt, gibt es kein Zurück mehr – gar keines, verstehst du?“
„Absolut. Aber Vyvyan, so leid es mir für dich auch tut – there’s no way in hell, dass ich die Chance vertun würde, mich von dir bekochen zu lassen.“
Toll, ganz toll. War ja irgendwie klar gewesen. 
„Kein Grund, mir gleich mit Englisch zu kommen“, brummte ich und nahm die Eier aus ‚meiner‘ Einkaufstüte.
Wunderbar, jetzt war ich also offiziell zu Rubin Alexanders Privatkoch degradiert worden. Na, vielen dank auch, Heidrun.
Ich packte die Erdbeeren neben den Kühlschrank. Wenigstens etwas – Erdbeeren!
„Du hast es doch verstanden, oder?“, fragte Rubin, der neben mich trat, an mir vorbei langte und das Gemüsefach öffnete.
„Das ist nicht der Punkt.“
Zurück zum Tisch, Zucker ausgepackt und – genau, die kleine Vanillemühle war noch in meiner Jackentasche. Fünf Euro hatte das Ding gekostet, aber es war ja nicht mein Geld.
Als ich sie geholt hatte, räumte Rubin gerade die Kartoffeln ein. Er musste Platz dafür machen, da sein Kühlschrankinhalt seit gestern Abend natürlich nicht allzu viel abgenommen hatte.
„Und, was kochst du jetzt heute Abend?“, fragte er ohne sich umzudrehen.
War das nicht offensichtlich, bei den Zutaten?
Offensichtlich nicht, wenn man Rubin hieß.
„Gnocchi und Panna Cotta. Wenn das genau die beiden italienischen Gerichte sind, die du nicht magst, hast du eben Pech gehabt.“
Und wenn Mum dachte, ich würde die Hälfte des Geldes, das sie mir hierfür per SMS zugesagt hatte, in Gemüse statt einen Nachtisch investieren, dann hatte sie Pech gehabt. Irgendetwas Gutes musste hierbei doch rauskommen, und wenn es nur ein erhöhter Blutzuckerspiegel und ein paar Erdbeeren waren.
Nun drehte Rubin sich doch um und sah mich skeptisch an.
„Ich will ja nicht meckern, aber ich glaube, du hast die Gnocchi vergessen.“
Oh, ha-ha, verdammt!
„Was glaubst du, wozu die Kartoffeln und das Mehl sind? Ich mache Gnocchi. Bei uns zu Hause gibt’s kein Fertigessen, schon gar nicht so was Einfaches.“
Er ließ die Kartoffel Kartoffel sein und kam einen Schritt auf mich zu.
„Deine Mutter ist genial.“
Die Grübchen war tief genug, um reinzufallen. Und obwohl er eine gute Armlänge entfernt war, fühlte es sich an, als würde er zu dicht bei mir stehen. Meinem Magen gefiel das nicht; meinem Magen gefiel sein Blick – so … zufrieden – in Kombination mit den Grübchen nicht. Generell gefiel weder meinem Magen noch meinem Kopf, dass er plötzlich so verdammt gute Laune hatte. Was, wenn das ansteckend war? Aber einen Schritt Abstand nehmen, das hätte sich wie flüchten angefühlt – außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass ich weniger als einen Schritt von der Tischplatte entfernt stand, es hätte also sehr wahrscheinlich nur peinlich ausgesehen – ein misslungener Fluchtversuch, zu dem es keinen wirklichen Grund gab.
Genau.
„Schön, dass wenigstens einer von uns so denkt.“
Er hielt den Blickkontakt noch einen Herzschlag ohne etwas zu erwidern, dann wandte er sich wieder meinen Einkäufen zu und nahm dann als Letztes die Tomaten aus der Tüte.
Vyvyan, du hast doch gestern gesehen, dass ich noch Tomaten habe.“
Themenwechsel, danke!
„Ja, aber erstens nicht genug und zweitens ist der Sinn der Sache nicht, dass ich deine Vorratskammer plündere.“ Ich faltete die Tüten zusammen, schob die Vanillemühle ein paar Zentimeter über die Tischplatte.
„Willst du die Panna Cotta heute noch essen?“, fragte ich mit einem Kopfnicken auf die Erdbeeren.
„War das nicht der Sinn der Sache?“
„Eigentlich schon, aber dann muss ich das jetzt gleich machen – sie muss danach ein paar Stunden in den Kühlschrank.“
Er nickte, langsam. „Ich möchte sie gerne heute essen. Morgen krieg ich ja was anderes, nicht wahr?“
Ja, reit nur drauf rum, so viel du willst. Bastard.
Ich griff nach der Vanille und schnappte mir auch gleich die Erdbeeren. Immerhin, Panna Cotta zu machen war besser, als Englisch zu büffeln.
„Hast du Förmchen? Relativ kleine, so Muffingröße?“
„Sicher – irgendwo.“ Er überlegte einen Moment und öffnete dann eins, zwei, drei Schränke, bis er schließlich eine kleine Form hervorholte. „So was hier?“
Wirklich auskennen schien er sich in der Küche wirklich nicht. Musste schön sein, wenn die Mama einen immer von vorne bis hinten bekochte. 
„Genau – davon drei oder vier.“
Er reichte sie mir und ich stellte sie auf die Anrichte, während ich die anderen Zutaten zusammensuchte. Die hätten wir auch nicht verstauen müssen.
„Gibst du mir noch ‘ne Pfanne?“
„Sicher“, wiederholte er, „ich schalte sogar die Herdplatte für dich ein.“
Da schon wieder Spott, aber … immer noch vertretbarer, irgendwie. Also nickte ich nur und wusch mir die Hände. Solange ich ihn so herumkommandieren konnte, war es gar nicht so schlimm, denn Koch zu spielen. Dann krempelte ich mir die Ärmel hoch und überlegte, was ich noch brauchte.
„Ist das neu?“
Rubin zeigte auf mein Armband. Das hatte ich völlig vergessen.
„Weihnachtsgeschenk von Fee“, erwiderte ich und machte mich dann daran, es zu öffnen. Nach viereinhalb Versuchen hatte ich es geschafft und ließ es in meiner Hosentasche verschwinden, bevor ich ihn wieder ansah. „Ich brauch auch noch eine Schüssel oder sonst einen Behälter, in dem ich die Gelatine einweichen kann. Und die Küchenwaage …“
Diesmal ging es schneller, zumindest das fand er auf Anhieb. Ich schüttete die Sahne in die Pfanne und wog den Zucker. Rubin sah mir dabei zu. Ich gab den Zucker zur Sahne hinzu. Rubin sah zu. Ich schnitt die Vanilleschote auf und schmiss sie in die Pfanne. War er näher gekommen? Er stand rechts von mir, unsere Schultern berührten sich nicht und er war somit nicht direkt im Weg, aber dennoch …
„Willst du dich nicht setzen?“
„Nein danke.“
Gut, den Wink mit dem Zaunpfahl übersah er; also musste ich wohl direkter werden.
„Warum kontrollierst du dann nicht Betsys Innenleben? Oder liest ein wenig? Was du nicht tun musst, ist jede meiner Bewegungen zu überprüfen – ich weiß nämlich, was ich tue.“
Seine Augenbrauen hoben sich, er musterte mich gefühlte zehn Minuten lang und dann, dann grinste er.
„Bringe ich dich etwa durcheinander, wenn ich dir zuschaue?“
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte ich und widmete mich wieder meiner Pfanne. Ich rührte drei-, viermal um, und schüttelte meinen Kopf. Ich würde das hier von meinen Haushaltspflichten abziehen. Das Einkaufen, Kochen und Spülen, auch wenn ich nicht spülen musste – aber das wusste Mum ja nicht. Mir egal.
Was mischte sie sich auch wieder ein? Ich musste ja so schon mehr als genug Zeit hier mit ihm verbringen, aber wenn auch noch kochen dazukam, dann bedeutete das jedes Mal noch eine Stunde mehr. Ich war nämlich nicht blöd genug, anzunehmen, dass ‚kochen‘ nur kochen bedeutete. Mitessen war nicht optional. Und – es wäre zugegeben auch ein wenig scheiße, was zu kochen und dann abzuhauen. Scheiße im Sinn von ‚unhöflich‘ sowie scheiße im Sinn von ‚scheiße für mich‘, denn das hörte sich noch viel mehr danach an, Rubins Privatchef zu spielen. Als nächstes würde ich dann für ihn und Megan kochen und danach brav den Tisch abräumen. Pf.
Ich konnte auch irgendwo verstehen, dass sie wollte, dass ich mich für die Nachhilfe revanchierte – auch wenn er den Deal mit Kirsten ohne mein Einverständnis ausgehandelt hatte und ich nicht darum gebeten hatte. Aber musste sie mich deshalb zur Küchenmagd degradieren?
Und dann wollte sie auch noch, dass ich ihn schubladenmäßig neu einsortierte. Was sollte das denn bitte bringen? Sogar, wenn ich ihn aus der Schublade ‚Bastarde, die die Welt nicht braucht‘ rausholen würde, würde er doch nach spätestens fünf Minuten von selbst wieder reinspringen!
„Kriege ich eigentlich jedes Mal ein Dessert?“, fragte er plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken.
Ich hielt inne. „Willst du lieber Gemüse?“
Bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Lass mir wenigstens meinen Zucker.
Er schmunzelte. „Du siehst nicht aus, als würdest du ein Ja gut aufnehmen.“
Welcher normale Mensch würde das schon?
Ich warf ihm einen, zugegeben, mürrischen Blick zu und zuckte mit den Schultern.
„Gemüse wäre einfacher und schneller“, erwiderte ich schließlich. Ja, das wäre es. Ich würde auch schneller nach Hause kommen, wenn ich nicht nach dem Essen noch einen Nachtisch mitessen musste – aber trotzdem wollte ich lieber Zucker als Ballaststoffe. Von denen kriegte ich zu Hause schon genug. Und Rubin sicher auch, wenn seine Eltern wieder da waren.
„Keine Angst, Vyvyan, ich hab nichts gegen was Komplizierteres.“
Da war garantiert ein Unterton in seiner Stimme, der mir sagte, dass wir gerade nicht mehr nur vom Essen sprachen. Das bildete ich mir nicht ein. 
Aber was wollte er mir damit denn bitte schön sagen? Ich war nicht kompliziert – es war auch nicht kompliziert gewesen, mich zu kriegen, am ersten Tag – und ja, das fuchste mich, verdammt noch mal! Mittlerweile wieder mehr als gleich danach.
Aber da ich nicht kompliziert war und mir auch sonst nichts Kompliziertes in seinem Leben einfiel, von dem ich wissen sollte: Wovon sprach er?
„Und langsam nehme ich auch auf mich, wenn ich dafür am Ende was Leckeres kriege.“
Das … war ein eindeutig dreckiges Grinsen. Und der Blick machte auch deutlich, dass seine Leckerei nicht jugendfrei war. So blöd, die Anspielung nicht zu kapieren, war ich dann doch nicht. Dumm nur, dass ich nicht ‚langsam‘ war; ich war einfach nur nicht gewillt. Endgültig.
… Noch ein bisschen dümmer, wenn auch diesmal für mich, dass mein Nacken trotzdem zu kribbeln anfing. Verdammt noch mal, wann kapierte mein Körper endlich, dass er bei Rubin nicht zu reagieren brauchte?! Wenn er mich unbedingt daran erinnern wollte, dass ich in der Lotterie der sexuellen Orientierung die Niete gezogen hatte – sogar mit den Trostpreisen bi- oder asexuell hätte ich mehr anfangen können – dann sollte er das verflucht noch mal bei jemand anderem tun. Von mir aus auch bei Kim. Der würde wenigstens keine anzüglichen Kommentare von sich geben – mir vielleicht eine reinhauen und nicht mehr mit mir reden, wenn er es mitbekäme, aber das erschien mir bei Weitem weniger schlimm als die Aussetzer, die mein Hirn bei Rubin fast schon regelmäßig hatte.
Dass ich gezwungen war, von nun an für ihn zu kochen, machte das Ganze nicht besser!
Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu und wandte mich wieder zu meiner Sahnecreme, die mittlerweile leise vor sich hinköchelte.
„Und das ist der Grund, warum ein Neuanfang nichts bringen würde“, grummelte ich und rührte mit mehr Kraft als nötig.
„Neuanfang?“
Ich schwieg.
Rubin ließ mich nicht.
„Was für ein Neuanfang?“
„Kein Neuanfang“, erwiderte ich ohne aufzuschauen, „war nur eine Schnapsidee von meiner Mutter.“
Nun schwieg er. Gut.
Weniger gut war, dass ich seinen Blick auf mir spüren konnte. Nicht anzüglich wie vorher, aber dafür irgendwie intensiver. Forschend. Irritierend, für mich.
Schließlich wurde es mir zu bunt, ich ließ die Creme Creme sein und drehte mich zu ihm um.
„Was?!“
Er blieb trotz meines Tons ruhig; schien ihn noch nicht einmal zu bemerken.
„Das wäre vielleicht keine schlechte Idee.“
„Was?“
„Einen Neuanfang versuchen. Die Schule und die letzten Monate vergessen.“
Ich starrte ihn an. Was sollte das denn jetzt?
Er seufzte. Wenigstens war damit das scheiß Grinsen endgültig weg und ich musste nicht befürchten, von den Grübchen eingewickelt zu werden.
„Denk mal darüber nach: Wenn ich dir Nachhilfe gebe und du für mich kochst, beides alle zwei Tage, dann ergibt das ganz schön viele Stunden, die wir bis zum Schulanfang zusammen verbringen werden.“ Er machte eine kurze Pause. „Wäre es da nicht angenehmer, wenn du deine Abneigung vergessen könntest? Wenigstens während der Ferien?“
„Du meinst nicht zufällig die Abneigung, die du damit provoziert hast, indem du dich gleich am ersten Tag wie ein absolutes Arschloch verhalten hast, oder?“
Ja, ich ritt darauf herum. Es war aber auch verdammt scheiße von ihm gewesen.
„Ich war unfreundlich, das stimmt – aber mal ehrlich, Vyvyan, du hättest mich ziemlich sicher auch sonst nicht gemocht. Spätestens dann nicht mehr, wenn du herausgefunden hättest, dass deine Freunde mich nicht mögen.“
Ich schnaubte. Hätte, wäre, wenn – was brachte uns das? Genau, gar nichts.
„Vielleicht, aber Fakt ist: Ich mag dich nicht, du magst mich nicht. Das kann man nicht so einfach ‚vergessen‘.“ Ich wandte mich ab und wollte nach der Schüssel greifen, aber Rubin hielt meine Hand fest und zog sie weg, so dass ich mich wieder zu ihm drehen musste.
„Ich mag dich nicht nicht.“

*********


Fünfzehn Minuten.
Vyvyan war noch nie zu spät gekommen – zumindest nicht in die Schule. Ansonsten … wusste ich es ja nicht. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er ein unpünktlicher Mensch war. Und nun fünfzehn Minuten.
Mom sagte immer, wenn man zu spät komme, lasse man den anderen indirekt wissen, dass man etwas anderes ihm vorzog. Sie war zwar selbst nicht die Pünktlichste, aber sie rief immer an, und wenn es nur fünf Minuten später wurde.
Gestern hatte es noch so gewirkt, als ob er froh gewesen sei, die Nachhilfe als Ausrede zu benutzen, um früher von seinen Freunden wegzukommen. Ich war zwar nicht naiv genug, das auf mich zurückzuführen, aber dennoch … hatte er jetzt doch mehr Spaß als erwartet?
Ich schüttelte den Kopf. Ich würde nicht auf unsere Klassenkameraden eifersüchtig sein – das wäre lächerlich. Sie möchten mehr sich im letzten halben Jahr mehr mit ihm unterhalten haben, aber eigentlich kannten sie ihn noch weniger als ich. Sie wussten ja noch nicht einmal, dass seine Sympathie für sie nur vorgetäuscht war. Mich mochte er vielleicht nicht, aber wenigstens war er ehrlich zu mir und sagte es geradeheraus. Und die wenigen Male, die er mich angelächelt hatte, waren es echte Lächeln gewesen.
Eigentlich musste ich also in erster Linie nur dafür sorgen, dass er bei mir mehr zu lächeln und weniger nicht zu mögen hatte. Kinderspiel, vor allem, da wir neunzig Prozent der Zeit mit Englischaufgaben beschäftigt sein würden … wer hätte da keine gute Laune?
So ein Mist. Aber vielleicht würde er ja ab und an ein bisschen länger bleiben, wegen Betsy? Das war schließlich ein Treffer ins Schwarze gewesen. Heute wahrscheinlich nicht, aber morgen, wenn wir früh genug mit Englisch anfingen …? 
… Ob Felizitas heute auch dabei war?
Nein. Ich würde keine Zeit mit solchen Gedanken verschwenden. Seine kleine Alibi-Freundin konnte mir wirklich egal sein. Sogar wenn er bi sein sollte, war klar, dass er keine Gefühle für sie hatte – er hatte ja nicht mal abgestritten, dass sie nur ein Accessoire war!
Und selbst wenn nicht – 
Trotzdem wollte ich mir nicht vorstellen, dass er nun zu spät kam, weil er ihr noch einen besonders langen Abschiedskuss geben musste.
Zwanzig Minuten. Was, wenn er gar nicht kam?


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