„Hier, das frische Bettzeug“, sagte Mum und warf einen Haufen
Baumwollbettwäsche vor meine Füße, „Schlaft gut, ihr beiden.“ Sie gab mir noch
einen Gute-Nacht-Kuss und watschelte dann in Richtung Elternschlafzimmer davon.
Ich seufzte. Was sollte ich auch sonst groß machen? Blieb mir ja nix andres
übrig.
Ich sah kurz zu Rubin, der auch etwas unschlüssig wirkte, und griff dann
nach der Daunendecke.
„Na dann, an die Arbeit, würde ich sagen. Je schneller wir das gemacht
haben, desto schneller können wir ins Bad.“
Ich übernahm das Aufpumpen, er Decke und Kopfkissen und beim Bettlaken half
ich ihm. So waren wir in kürzester Zeit fertig und ich verkrümelte mich ins
Badezimmer, um mir lange und ausgiebig die Zähne zu putzen. Zu leugnen, dass
ich nicht ein klitzekleines bisschen nervös war, hätte nicht viel gebracht,
denn ich war der einzige im Bad und ich glaubte mir definitiv nicht.
Scheiße.
Wirklich: Scheiße!
Nach guten fünf Minuten, in denen ich mein Zahnfleisch ruppiger als nötig
behandelt hatte, wusch ich mir schließlich den Mund aus. Ich wusste ja aus
Erfahrung, dass es nichts brachte, wenn man vor seinem eigenen Zimmer oder dem,
was darin auf einen wartete, davonlief. Außerdem würde eh nichts passieren. Wir
waren müde, das war nicht gelogen gewesen. Und sowieso, das gestern war
… vielleicht kein Ausrutscher, denn das hörte sich sogar in meinen Ohren nur
wie eine verdammt billige Ausrede an, aber ein Moment geistiger Umnachtung
gewesen. Ein langer Moment, zugegeben, aber Momente wurden zum Glück nicht in
Sekunden gemessen.
„Ich hab dir eine neue Zahnbürste rausgelegt“, sagte ich zu Rubin, der
einmal mehr vor meinem Bücherregal stand, als ich hereinkam.
Er nickte, murmelte ein Danke und dann war ich wieder alleine und fragte
mich, was er mit meinen Büchern hatte. Hatte ich irgendetwas so Peinliches da,
dass er nicht konnte, als es dauernd anzustarren? Oder bezweifelte er etwa die
Tatsache an sich, dass ich ab und zu las?
Da mir und meinem Ego die erste Variante besser gefiel, ging ich nun selbst
hin und inspizierte die einzelnen Fächer, ein Buchrücken nach dem anderen.
Vielleicht hatte sich ja eine von Sues Schnulzen oder von Kittys
Kinderabenteuerbüchern irgendwo eingeschlichen. Aber auch bei einem zweiten
Durchlauf fiel mir kein solcher illegaler Einwanderer auf. Also doch Unglaube
an meiner Bibliophilie für Arme?
Danke, du mich auch.
Plötzlich war meine Laune wieder erheblich gesunken und ich ärgerte mich
über mich selbst, denn eigentlich hätte es mir am Arsch vorbei gehen können.
Eigentlich.
Ich schnaubte, wandte mich mit einem Ruck von meinen Büchern ab, die
leichte Staubschicht darauf geflissentlich übersehend, und ging zu meinem
Schrank. Gerade, als ich mein Shirt ausziehen wollte, ging die Tür auf und
Rubin kam zurück. Ich sah kurz zu ihm rüber und machte dann da weiter, wo ich
unterbrochen worden war.
„Schläfst du mit oder ohne T-Shirt?“, fragte ich, als ich mein Shirt über
die Lehne meines Schreibtischstuhls warf.
„Warum?“
Blöde Frage. „Weil ich dir eins von meinen leihe, wenn du willst.“
„Dann mit.“
‚Dann‘ mit? Und wenn ich gesagt hätte, dass du dann heute eben eine Ausnahme machen
müsstest, hättest du gesagt, dass du eh nie was anhast, oder was?
Ich verkniff mir jeden Kommentar und wühlte kurz in meinem Schrank, um
eines zu finden, das weit genug war, um beim Schlafen nicht zu stören. Ich
selbst trug in der Nacht nur Unterhosen, alles andere war beengend. Außerdem
hielten Schlafklamotten nur die Wärme der Decke ab.
Als ich ein passendes Shirt gefunden hatte, öffnete ich nach kurzem Zögern
auch die Schublade im unteren Teil des Schranks und nahm frische Unterwäsche
und Socken heraus. Vielleicht mochte ich ihn nicht, aber deshalb würde ich ihn
nicht dazu zwingen, zwei Tage lang untenrum das gleiche zu tragen. War ja nicht
so, als ob ich ihn leiden sehen wollte – zumindest die meiste Zeit
über nicht.
Als ich aber den Blick sah, mit dem er die Retros beäugte, dachte ich
darüber nach, das eben Gedachte zu revidieren.
„Für morgen“, erklärte ich und versuchte gar nicht erst, nicht
genervt zu klingen.
Der Blick veränderte sich nicht, huschte nur kurz zu meinem
Gesicht – allerdings war er so schnell wieder auf den Stoff in Rubins
Händen gerichtet, dass ich wieder einmal das Gefühl hatte, mir etwas
eingebildet zu haben.
„Sie sind frisch gewaschen, keim- und bazillenfrei“, knurrte ich, „In einem
Wort: sauber.“
Keine Reaktion. Verdammte Scheiße, was sollte das denn?
„Sie werden dich nicht umbringen.“
Er sah noch einmal zu mir und hob dabei seine Augenbraue skeptisch an. Und
das war der Punkt, an dem ich die Schnauze voll hatte.
„Dann lauf morgen in dreckigen Klamotten rum, mir egal“, sagte ich und
wollte sie wieder an mich nehmen, als er plötzlich aus seiner Benommenheit
erwachte und alle drei Kleidungsstücke an sich drückte, bevor meine Hand sie
erreichte.
„Nein. Schon gut. Danke, das ist sehr nett von dir“, sagte er, irgendwie
ein wenig zu hastig, um ehrlich zu klingen, aber meinetwegen. War ja seine
Entscheidung.
Anscheinend sah er mir an, dass ich ihm nicht glaubte.
„Ehrlich, danke.“ Er sah kurz zum Fenster, dann zum Schrank und schließlich
wieder zu mir. „Ich war nur etwas … nein, sehr überrascht. Ich denke
nicht, dass ich jemals Unterwäsche getragen habe, die nicht mir gehört hat.“
„Willkommen in der Welt der sozialen Wesen“, sagte ich und drehte mich um,
um den Schrank zuzumachen und meine Socken und Hosen auszuziehen, damit ich
endlich ins Bett kam. Und das möglichst ohne unanständige und unangebrachte
Gedanken zu haben.
Die Socken schaffte ich, doch als ich gerade meine Hose öffnete, sprach
mich Rubin an. Ich drehte mich um. Dass seine Aufmerksamkeit ganz kurz mehr dem
halboffenen Reißverschluss meiner Jeans als mir galt, übersah ich großzügig.
Ich war mir bewusst, dass das wie ein billiger Anmachversuch aussehen musste,
aber hey – wer hatte denn gerade in dem Moment, in dem ich mich
ausziehen wollte, meinen Namen gerufen, hm?
Nicht meine Schuld, also.
„Hier“, sagte er und hielt mir eine glänzende, dunkelblaue Papiertüte hin,
„ich dachte, das würdest du vielleicht gerne lesen.“
Ich musterte ihn, aber ich konnte weder an seiner Körperhaltung noch an
seinem Gesicht etwas erkennen, das darauf hindeutete, dass er hierbei
irgendwelche Hintergedanken hatte, und so nahm ich die Tüte und griff nach
einem ersten Blick hinein.
Und als ich sah, was herauskam, war ich baff. So richtig.
Eliaseis.
Meine. Kleine. Obsession.
Das Buch, dem ich schon seit zwei Jahren nachjagte und dessen Auktion ich
mit Magenkrämpfen auf eBay verfolgt hatte – und dessen höchstes Gebot
für ein gebrauchtes Taschenbuch mit umgeknickten Ecken und Kaffeeflecken
eindeutig viel zu hoch gewesen war – und, zugegeben, mein Taschengeld
zu mickrig.
Und nun hielt ich ein Exemplar in den Händen – eines ohne
Kaffeeflecken und den Ecken ging es auf den ersten Blick auch noch gut.
War es ein Wunder, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte? Dass
ich plötzlich ziemlich überfordert war und nur von Rubin auf das Buch und
wieder zurückschauen konnte?
Eben.
„Woher …?“, fragte ich schließlich, nachdem ich mich versichert hatte, dass
der Inhalt auch das Gleiche war, was der Umschlag versprach.
Rubin, der mich die ganze Zeit über beobachtet hatte, antwortete ruhig:
„Ich habe die ersten zwei Teile in deinem Bücherregal gesehen. Sie sehen
aus, als ob du sie mehrmals gelesen hättest und ich dachte, du würdest
vielleicht gerne wissen, wie die Story zu Ende geht.“ Er zuckte mit den
Schultern, wie um zu unterstreichen, dass es ihm eigentlich am Arsch vorbei
ging. Aber das nahm ich ihm nicht ab, denn dafür war er etwas zu aufmerksam gewesen,
wenn ihm diese Idee wirklich nur wegen den beiden Bänden im Regal gekommen war.
Und ich glaubte ihm, dass es so war, denn ich sprach nicht über meine kleine
Obsession und mischte auch in den diversen Internetforen zur Trilogie nicht
mit. Ich wollte die Geschichte lesen, nicht meine Zeit mit weltfremden Idioten
verbringen.
Obwohl, Rubin hatte auch eins und er war vieles, aber nicht weltfremd … und
ich wollte ja auch eines und ich war garantiert kein Idiot.
Aber bevor meine Gedanken diesbezüglich noch weiter abschweifen konnten,
stoppte ich mich selbst. Ein paar Vorurteile durfte man ja wohl noch behalten,
oder?
Eben.
Ich sah ihn an. „Du leihst es mir aus? Echt?“
Hera, Hades und Hephaistos, seit wann war der Junge so nett? So zuvorkommend?
In diesem Moment hätte ich ihn knutschen können – und diesmal meinte
ich es wortwörtlich.
„Nein“, antwortete er und verpasste meiner Vorfreude damit einen gewaltigen
Dämpfer, „ich gebe es dir.“
Stille.
Keine aufgerissenen Augen, kein offener Mund, kein Buch, das aus meinen
Händen fiel. Nur Stille. Dann:
„Wiederhol das.“
Er zuckte erneut mit den Schultern und unterbrach den Blickkontakt.
„Du kannst es haben.“
Und in diesem Moment war mir scheißegal, dass der Unterton seiner Stimme
deutlich “Ich bin aus dem Alter raus, also was soll ich damit?“ sagte,
denn erstens wagte mein kleines Herz einen ersten, vorsichtigen, freudigen
Hüpfer und hoffte, nicht am Boden zu zerschellen, wenn er seine Worte gleich
zurücknahm, und zweitens nahm ich ihm die Gleichgültigkeit nicht ab, denn wenn
er es wirklich nicht mehr wollte, warum hatte er es dann nicht schon früher
verkauft? Wie gesagt, es gab Leute, die dafür eine ganze Stange Geld hinlegen
würden. Freakige Leute zwar, aber waschechtes Geld.
Kurz kam mir der Gedanke, dass seine Familie vielleicht ja genug auf dem
Konto hatte, so dass er sich um die paar Hunderter nicht scherte. Möglich
war’s, denn ich hatte keine Ahnung von seinen Lebensumständen und seine
so-gut-wie-verlobte Sandkastenfreundin ging immerhin aufs Sankt Katharina. Aber
auch das war mir in dem Moment scheißegal. So ziemlich alles war gerade
scheißegal.
„Echt jetzt?“ Ich musste einfach noch einmal fragen, ich musste sicher
sein, ansonsten … wie gesagt, kleine, in abertausend Stücke zerfallene und
anschließend pulverisierte Herzen und all das.
„Ja!“ Er klang genervt und als er mich wieder ansah, sah ich, dass auch
seine Augenbrauen sich irritiert zusammengezogen hatten; egal.
Ich wartete noch eine Millisekunde, dann legte ich das Buch sanft auf
meinem Schreibtisch ab. Und als ich mich wieder zu ihm drehte, fiel ich ihm um
den Hals. So richtig.
Meine verstorbene Oma hätte gesagt, das wäre nicht mehr umarmen, sondern herzen.
Sie wollte auch immer geherzt und nicht bloß umarmt werden, auch wenn ich lange
nicht verstanden hatte, wie sie das genau differenzierte. Nun wusste ich
einfach: Das hier, das war herzen.
Ich musste ihn ziemlich erschreckt haben, denn ich konnte seinen Herzschlag
deutlich spüren, aber auch das war mir in dem Moment so was von – ihr
werdet’s erraten haben – egal. Wer mir so geniale Geschenke
machte, musste schon mit einer Umarmung (oder eben einer … äh, Herzung?)
zurechtkommen. Unter Umständen auch mit einer etwas längeren, denn mir war
nicht danach, ihn gleich wieder loszulassen.
Absolut nicht.
Hm, Zitronengras. Er roch wirklich gut.
Erst, als er sich räusperte, eine Hand auf meine Schulter legte und leise „Vyvyan?“
fragte, löste ich mich von ihm und trat einen Schritt zurück – und
dann gleich noch einen, denn nun besaß ich doch wieder genug Anstand, damit mir
die Aktion eben peinlich war. Nur so ein kleines bisschen, natürlich, aber ein
kleines bisschen, dass mich fast wieder rot werden ließ. Das durfte echt nicht
zur Gewohnheit werden.
„Sorry“, sagte ich, als ich mich wieder gefasst hatte, „Ich war grad ein
bisschen überwältigt und in meiner Familie umarmt man Menschen, die einem etwas
schenken.“ Vom Herzen sagte ich jetzt wohl besser nichts.
… Ob er den Unterschied kannte?
„Schon klar“, erwiderte er und dann standen wir beide da und wussten nicht,
was wir mit der Situation anfangen sollten.
„Hm, vielleicht sollten wir … ins Bett.“
Rubin schrak auf und starrte mich an. „Wie?“
„Na, ich wollte sagen, dass wir langsam schlafen gehen sollten, denn Sue
weckt uns spätestens um neun Uhr.“
Er atmete (erleichtert?) aus und nickte. „Du hast Recht. Es ist spät.“
Ich nickte auch – nicht, ohne mir reichlich dämlich dabei
vorzukommen, denn schließlich reichte es, wenn einer von uns
nickte – und drehte mich dann um, um meine Jeans nun doch
auszuziehen. Und ja, ich drehte mich von ihm weg, weil ich mich genierte. Nach
meiner Aktion eben und seiner gestrigen war das ja auch berechtigt, oder?
Na also.
***
Kurz darauf lag ich unter meiner warmen, warmen Decke wartete darauf, dass
Rubin dasselbe tat. Gerade legte er seine Kleider – ordentlich
zusammengefaltet – auf meinen Schreibtischstuhl, auf dessen Lehne
schon mein Shirt und meine Hosen lagen und fuhr sich dann kurz durch die Haare,
bevor er sich umdrehte und auf die Matratze auf dem Boden neben meinem Bett
zuging. Und nein, ich hatte nicht gespannt – geguckt, vielleicht,
ganz kurz, während er langsam sein Hemd aufgeknöpft hatte, Knopf für Knopf
… ja. Wie auch immer.
Jedenfalls löschte ich das Licht, sobald er unter
der – seiner! – Decke verschwand und atmete dabei
erleichtert auf. Der Tag, so lang er auch gewesen war, war hiermit zu Ende und
alles, was mir noch zu tun blieb, war einzuschlafen. Kein Problem, so müde wie
ich war.
„Gute Nacht“, kam es von Rubin.
„Nacht“, erwiderte ich und kuschelte mich zufrieden seufzend in meine
Decke. Endlich.
Aber auch wenn dieses Weihnachtsfest anders als meine bisherigen gewesen
war, auch wenn meine Laune zwischen fast absoluten Tiefen und sehr wohl
absoluten Höhen so ziemlich alles durchgemacht hatte, war es nicht so schlimm
gewesen, wie ich befürchtet hatte. Nein, es hätte durchaus schlimmer werden
können – und in diesem Moment fiel mir auf, dass es das mit
Sicherheit geworden wäre, wenn Rubin sein übliches Schulselbst gewesen wäre.
Vielleicht gefiel es mir nicht, dass er in Gegenwart meiner Familie so
ungewohnt freundlich war, aber wenigstens hatte dies bewirkt, dass er einfacher
in die Gespräche einbezogen werden konnte, und damit, dass die Atmosphäre
angenehm entspannt blieb.
Gute Sache, eigentlich, denn ansonsten wäre es wahrscheinlich ziemlich
unbehaglich geworden und „unbehaglich“ war kein Wort, das man gerne mit
Weihnachten verband – zumindest ich nicht.
Ja, doch, es war gut, dass sich Rubin so manierlich benommen hatte.
Vielleicht hatte Sue doch Recht gehabt und er hatte sich Mühe gegeben?
Hm. Wenn sie einmal Recht gehabt hatte, hatte sie es dann auch damit, dass
er sich mit mir anfreunden wollte?
Nein, beschloss ich, das ist unwahrscheinlich. Ansonsten wäre er sicher
umgänglicher, wenn wir alleine waren.
Aber er hatte mir das Buch gegeben. Gegeben, ge… geschenkt?
Eigentlich… ja, geben ohne Gegenleistung oder Rückgabe zu erwarten,
das war schenken. Er hatte mir also etwas geschenkt – an Heiligabend.
Zählte das dann als Weihnachtsgeschenk?
Nee, oder?
…
Doch eigentlich, so objektiv gesehen, könnte man es schon als
Weihnachtsgeschenk betrachten. Das war ja auch nicht schlimm, ich hatte ihm ja
auch etwas geschenkt … wenn auch nicht ganz freiwillig und … und eigentlich nur
als Dank für die Nachhilfe. Er hingegen hatte nichts, wofür er mir danken
müsste.
Und befreundet waren wir auch nicht.
Aber einfach so gab man keine Weihnachtsgeschenke weg, vor allem nicht,
wenn man Rubin Alexander hieß – ich kannte ihn zwar nicht besonders
gut, aber darin war ich mir sicher.
… Also hatte Sue doch Recht?
Aber war das Buch nicht ein bisschen viel, nur, um sich anzufreunden? Von
dem möglichen Verkaufspreis mal abgesehen, war es doch sehr aufmerksam
von …
Ich drehte mich auf die andere Seite und zog meine Decke enger um mich.
Hatte ich nicht schlafen wollen? Doch. Und genau das sollte ich auch tun. Am
besten jetzt.
Also, unsinnige Gedanken ausschalten, einmal tief einatmen und dann ab ins
Traumland. Träume waren eh das Beste, was einem passieren konnte: Aus
schlechten konnte man immer wieder aufwachen und die guten boten mehr Erholung
als eine ganze Woche in einem Wellnesscenter. Genau deshalb würde ich wohl
immer ein Morgenmensch sein: Die Nacht war zum Träumen da, nicht, um sich mit
irgendwelchen Idioten volllaufen zu lassen. Und wer brav schlief, war am Morgen
auch wieder fit.
Morgen, da hatte ich ja meine nächste Nachhilfestunde. Ob Rubin überhaupt
Zeit gehabt hatte, etwas vorzubereiten? Immerhin hatte er nur gestern Abend und
heute Morgen gehabt, das war, meiner Meinung nach, schon reichlich knapp. Es
hörte sich stressig an. Musste ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben, weil er
wegen mir auch noch in den Ferien Stress hatte? Obwohl er nicht gestresst aussah,
aber so was sah man ja nicht jedem an. Und es war wichtig, dass man sich ab und
zu entspannte, ansonsten schlug es auf die Gesundheit – das sagte
zumindest Mum immer und ich hatte absolut nichts dagegen, in dem Punkt brav zu
tun, was sie von mir verlangte. Pa auch nicht, denn der war Weltmeister im
Entspannen.
Oh, verdammte Eumeniden, morgen war ja schon der fünfundzwanzigste. Das
hieß, dass ich übermorgen Theo anrufen musste.
Uh. Musste ich wirklich? Konnte ich nicht einfach krank sein, oder plötzlich
verschwinden – ich wäre auch damit einverstanden gewesen, wenn alle
Telefone in meiner Nähe einfach so den Geist aufgegeben hätten.
Okay, das war mal wieder die Memme, die aus mir sprach. Natürlich würde ich
ihn anrufen, genauso wie Fee, und natürlich würde ich mich mit ihnen
treffen – am besten gemeinsam, dann waren das zwei Ameisen mit einem
Finger – und selbstverständlich würde ich es
überleben – und zwar mit Schirm, Charme und Melone.
Zum Glück würden sie verstehen müssen, dass meine Zeit sehr spärlich
ausfiel, denn ich hatte ja nun nicht nur Nachhilfe, sondern auch jedes Mal noch
Hausaufgaben auf die nächste Stunde – also nichts mit tagelangem
Rumhängen und ermüdenden Einkaufstouren. Ha! Ich hatte doch gewusst, dass alles
eine gute Seite hatte.
Hallo Optimismus, schön, dass du mal wieder vorbeischneist – und
nein, es macht mir nichts aus, dass du mich vom Schlafen abhältst; warum sollte
es auch?
Genervt von mir selber drehte ich mich auf den Rücken, schlug die Decke weg
und knurrte leise auf. So schwierig war schlafen doch gar nicht, das wusste ich
aus Erfahrung. Und ich hatte den lebenden Beweis, denn Rubin neben mir atmete
schon fast gleichlange gleichmäßig, wie ich das Licht ausgeschaltet hatte. Er
hatte es schön, konnte einfach so, ohne Probleme, in fremden Zimmern …
„Vyvyan?“
Oder eben auch nicht.
„Was ist?“
„Warum schläfst du nicht?“
Gute Frage. Verdammt gute Frage. Die Antwort darauf würde mich auch
interessieren.
„Keine Ahnung. Du?“
„Ich kann nicht“, erwiderte er ruhig, „bin wieder wach, seit wir hier oben
sind.“
Oh ja, das kannte ich. Obwohl, war ich überhaupt richtig müde gewesen? Ich
wusste es nicht mehr.
„Geht mir genauso“, antwortete ich trotzdem.
„Wirklich?“
Warum hörte er sich so … zögernd an? Und: Musste ich darauf jetzt
antworten? Ich meine, so spektakulär und unglaublich war die Aussage, nicht
schlafen zu können nicht; man musste sie nicht hinterfragen.
Weshalb bekam ich gerade das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben?
Als ich das Rascheln von Rubins Laken hörte und aus den Augenwinkeln sah,
dass er sich aufgesetzt hatte, wurde das Gefühl nicht unbedingt besser. Im
Gegenteil, ich wusste plötzlich nicht mehr, was ich tun sollte – ich
dachte, dass gleich etwas passieren würde, dass etwas in der Luft lag und wurde
einerseits nervös, andererseits aber auch neugierig.
Rubin sah zu mir. Dank einer Außenlampe gleich neben meinem Fenster war es
in meinem Zimmer zwar nie völlig schwarz, aber selbst im Halbdunkel war die
Entfernung zu groß, als dass ich seinen Gesichtsausdruck hätte erkennen können.
Aber ich bildete mir, mal wieder, ein, dass seine Stimme belegt klang. Obwohl,
als ich es mir das letzte Mal ‚eingebildet‘ hatte, erlebte ich
wenig später meinen ersten Orgasmus mit einem anderen
Jungen – vielleicht lag ich ja doch nicht ganz so weit daneben.
„Ich glaube, ich weiß, woran es liegt“, sagte er und stand auf. Seine
Silhouette zeichnete sich gegen das helle Fenster ab, nicht schwarz, wie man es
aus Filmen kannte, sondern grau. Einzig auf seinen Haaren spiegelte sich ein
Bruchteil des Lichtes. Er kam zu mir, an mein Bett, und blieb einen Augenblick
lang stehen.
„Ich weiß auch, was man dagegen tun kann.“ Rubins Hand strich eine Strähne
aus meinem Gesicht, ohne dabei meine Haut zu berühren.
Ich spürte wieder das Prickeln im Nacken, fast so, als ob jemand Champagner
darüber gießen würde. Ein Teil von mir sagte, dass ich mich bewegen, antworten,
zumindest reagieren sollte, aber ein anderer und sehr viel mächtigerer
Teil befürchtete, dass das genau das Falsche wäre – und das, obwohl
ich nicht einmal wusste, ob meine Reaktion ihn zum Aufhören oder Fortfahren
bewegen würde. Da ich noch nie ein Verteidiger von Minderheiten gewesen
war – hey, es gab schließlich einen Grund, warum sie Minderheiten
waren! – blieb ich still liegen und wartete erst einmal ab, was er
tun würde.
Pf, als ob ich das nicht eigentlich schon
wusste – hoffte – was auch immer.
Nun berührten seine Finger mein Gesicht doch, fuhren langsam den Kiefer
entlang zu meinen Lippen, verharrten einen Moment am Mundwinkel und strichen
dann etwas fester über die Unterlippe. Ich spürte den Drang, meinen Mund zu
öffnen, aber er war nicht stark genug, um mich zu überzeugen, also ließ ich es.
Eigentlich war ich in diesen Dingen sonst nie auch nur annähernd so passiv
gewesen, aber ich wollte wissen,
wie weit er gehen würde, ohne von mir er- oder entmutigt zu werden.
Seine Augen suchten meine und fanden sie. Nun, da kein Meter mehr zwischen
uns war, konnten wir uns sehr wohl ansehen, auch wenn die Welt nur aus Grau
bestand; aber auch Grau, so fand ich kurz darauf heraus, konnte verdammt
farbenprächtig sein.
Den Blickkontakt haltend, lehnte er sich langsam über mich, stützte sich
mit einem Knie auf und platzierte das andere schließlich auf meiner anderen
Seite. Er zog das linke Bein noch etwas näher, drückte die Hände oberhalb
meiner Schultern auf mein Kopfkissen und sah auf mich herunter. Seine Haare fielen
ihm ins Gesicht. Er strich sie
hinter die Ohren, aber einzelne Strähnen widersetzten sich. Dann fuhr ein
Finger langsam meinen Hals entlang, über mein Schlüsselbein und weiter
hinunter.
„Ich denke, wir haben beide einfach noch zu viel Energie“, sagte er und
umrundete meine Brustwarze mit einer spiralenförmigen Bewegung, der Mitte immer
näher kommend.
Ich wusste nicht, ob mein Herz schneller schlug oder nicht, denn ich konnte
meinen Herzschlag nicht fühlen; dafür war gerade kein Platz in meiner Welt. Aber
ich merkte, wie mein Atem schneller wurde. Viel schneller – und
natürlich war da noch das Kribbeln.
Rubins Kopf näherte sich meinem. Ich schloss eine Sekunde lang die Augen
und atmete ein. Mittlerweile war ich mir sicher, dass es keinen besseren Geruch
auf dieser Welt gab, als den von Zitronengras. An diesem Abend war er gemischt
mit Bienenwachs und Weihnachten.
„Und ich weiß, wie wir die effizient verbrauchen können.“ Sein Finger war
am Ziel angekommen und ich spürte erst seinen Atem, dann seine Lippen auf
meiner Stirn, meiner Schläfe, meinem Wangenknochen, der Nase, dem anderen
Wangenknochen, der Wange, Mundwinkel, Kinn, Kiefer, noch mal dem Kiefer und
schließlich unterhalb meines Ohres. Mittlerweile hatten sich Mittelfinger und
Daumen zum Zeigefinger gesellt. „Soll ich es dir zeigen?“
Alles in mir schrie Ja! Schlimmer noch, mein Körper drückte sich ihm
fast ohne mein Zutun entgegen, wollte die Berührungen intensivieren, wollte ihn
spüren. Wollte eine Wiederholung von gestern. Es fühlte sich so verdammt gut
an, so viel besser als je zuvor und vor allem: nicht nur besser, sondern
komplett anders. Da, wo er mich berührte, hatten mich auch schon Mädchen
berührt, sogar so, wie er mich berührte und trotzdem waren Galaxien
zwischen meiner Reaktion und dem, was es in mir auslöste.
Meine Antwort war nicht mehr als ein Keuchen: „Nein.“
Rubin hielt abrupt inne, stemmte sich hoch. „Nein?“
Ich habe eine Freundin, wollte ich sagen. Ich stehe nicht auf Männer,
wollte ich lügen. Es fühlt sich zu gut an, wollte ich verheimlichen.
Ich schüttelte den Kopf.
Er setzte sich richtig auf und sah auf mich herunter. Ich versuchte zu
ignorieren, was sein Gewicht auf meinem Bauch in mir auslöste.
„Wieso nicht?“, fragte er, nachdem er mich schweigend gemustert
und – wie ich verspätet bemerkte – auf eine Erklärung
gewartet hatte. Ich konnte mich irren, aber seine Stimme
klang … nicht nur zögerlich, sondern auch angespannt. Fast, als hätte
er Angst vor meiner Antwort.
Aber ich schuldete ihm keine Erklärung. Wir waren nicht zusammen, hatten
noch nicht mal eine freundschaftliche Beziehung – eigentlich müsste
er mir viel eher erklären, warum er nachts einfach so in mein Bett kommen und
rummachen wollte.
Obwohl … nein, das wollte ich nicht wirklich wissen. Je weniger,
desto besser.
„Ich will das nicht.“
Mit ‚das‘ meinte ich alles: Hier, in meinem Bett, mit einem Jungen, an
Weihnachten; generell auf Jungs stehen; meine Freundin weiter betrügen; ihn
anziehend finden.
Vor allem ihn anziehend finden.
„Okay.“
Rubin fuhr sich durch die Haare, erhob sich, zögerte, näherte sein Gesicht
meinem Kopf, stoppte und zog sich mit einem frustrierten Seufzen auf seine
Matratze zurück. Oder war das Seufzen doch eher verzweifelt gewesen?
Nee. Da projizierte ich wahrscheinlich von mir auf ihn, während ich
versuchte zu ignorieren, dass mein Bauch die Wärme seines Körp… okay,
nein, seien wir ehrlich: Mein Bauch vermisste die Wärme seines Arsches. Und ich
generell das Gefühl von ihm auf mir. Ich hatte schon wieder auf ihn reagiert,
schon wieder in null Komma nichts – und genau deswegen war es
gut, die Fronten zu klären. Je mehr mir auffiel, wie viel besser sich diese
Dinge mit einem Kerl anfühlten, desto schwieriger würde es werden, sich
weiterhin mit Mädchen zufrieden zu geben. Und deshalb wollte ich lieber gar
nicht wissen, was ich verpasste.
Ich zog die Decke wieder über mich, aber sie war ein schlechter Ersatz. Ich
war nicht nur hellwach, sondern auch erregt und der Grund lag keinen Meter von
mir entfernt – und war willig. Nur ich war es nicht. Das war doch
beschissen. Niemand hätte davon erfahren – und es wäre wahrscheinlich
auch nichts passiert, was nicht gestern schon passiert war. Ich hätte nichts
Neues erfahren, nichts schlimmer gemacht. Und ob ich Fee einmal oder zweimal
untreu war, würde eigentlich auch nichts ändern. War ja nicht so, als ob ich
ihr die Wahrheit sagen würde, wenn ich mit ihr Schluss machte.
Rubins Finger und Lippen hatten sich eben wirklich gut angefühlt. Meine
Haut kribbelte immer noch unangenehm angenehm, an Brust, Hals, Ohr,
Kiefer … Mundwinkel. Das wäre beinahe –
Fuck! Alles kribbelte und nun begannen sich Bilder in meinem Kopf zu formen, die
vorher noch nicht da gewesen waren. Die gestern nicht geschehen waren. Die ich
nicht zulassen würde – die er auch nicht versucht hatte, zu erzeugen.
Trotzdem war da diese leise, fast unhörbare Stimme in mir, die fragte, wie sehr
sich wohl ein Kuss mit ihm von einem mit Fee unterscheiden würde, wenn die
bloße Berührung seiner Finger schon so komplett anders war. Aber, wie gesagt:
Die Stimme war leise und der Rest von mir entschied, sie zu ignorieren. Das
konnte nur die bessere Wahl sein.
Die Bilder verschwanden dennoch nicht, nein, sie wurden intensiver,
deutlicher, drängender – in diesem Zustand einzuschlafen stand außer
Frage, und ich konnte mir noch nicht einmal selbst Abhilfe verschaffen. Nicht
mit ihm daneben.
„Sorry“, kam es plötzlich leise von rechts.
Ich wartete, aber da kam nichts mehr. Sorry für das eben? Warum
entschuldigte er sich? Nach gestern konnte ich ihm ja kaum verdenken, dass er
es noch mal versucht hatte, schließlich hatte ich nicht sehr abgeneigt gewirkt.
Mal ehrlich: Wenn ein paar Küsse im Nacken mich dazu brachten, meine guten
Vorsätze über Bord zu werfen, war es doch ziemlich deutlich, was für eine
Wirkung er auf mich hatte. Oder gehabt hatte. Heute hatte ich ja nichts über
Bord geworfen.
… Und mittlerweile bereute ich das. Unbefriedigt war kein schöner
Seinszustand.
„Gute Nacht“, brummte ich schließlich, weil ich nicht wusste, was ich sonst
erwidern sollte und drehte mich mit dem Rücken zu ihm. Schlafen würde ich
garantiert nicht können und das war alles seine Schuld. Er mit seinem
verfluchten Zitronengrasgeruch.
Bastard.
*********
„Er will nicht. Das. Mit mir.“ Ich
tigerte zum anderen Ende des Badezimmers. „Dabei hat er mir was
geschenkt – keine Ahnung, woher er die DVD hat, aber er hat sie mir geschenkt.
Und er war nervös dabei, das konnte ich sehen. Und was sagt mir das?“ Bei der
Tür angekommen drehte ich mich wieder um und ging zurück. „Es war ihm nicht
egal!“ Ich ächzte. „Ich wär fast gestorben, als er plötzlich an meinem Hals
hing. Es war so … so … ah, dammit!“ Ich setzte mich
auf den Rand der Badewanne. „Das war eindeutig das richtige Geschenk. Er ist
echt zum Anbeißen, wenn er so strahlt.“
Megan schwieg. Sie wusste,
dass ich noch nicht fertig war und sie hatte nicht vor, mich zu unterbrechen.
Auch nicht, wenn ich wegen Schlafmangels nur inkohärentes Zeug von mir gab.
Auch nicht, wenn besagtes Zeug nicht nur wegen des Schlafmangels inkohärent
war.
„Aber er will nicht. Du hast
Recht gehabt, ich hätte es langsamer angehen sollen. Es wäre einfacher, wenn er
mich angeknurrt hätte. Das tut er schließlich oft genug, damit kann ich
umgehen. Er hat geseufzt und sich mir entgegengedrückt – und dann
sagt er mir, er will nicht. Er will mich nicht.“ Ich ließ den Kopf in den
Nacken fallen, gegen den Duschvorhang. „‚Nein‘ und ‚Ich will das nicht‘. Gibt’s
irgendwas Endgültigeres?“
Wieso hatte ich mich nicht
damit zufrieden geben können, bei ihm zu übernachten?
Dumme Frage. Einfache
Antwort: Er lag nur in Unterwäsche im Bett, schien zum ersten Mal zum Greifen
nah und ich war noch nie besonders geduldig gewesen. Schon gar nicht bei so
was. Noch weniger, wenn das letzte Mal mit Lukas eine gefühlte Ewigkeit her
war. Und das vorgestern, in seinem Zimmer, das war vielmehr appetitanregend
statt -stillend gewesen.
Ich hätte nicht gedacht, dass
mich ein Nein so aus der Bahn werfen würde.
„Er kann seine Meinung
ändern“, erwiderte Megan ruhig, „über ‚das’. Über dich.“
Ja, klar. Nur dummerweise
schien seine Meinung über mich schlechter zu werden statt besser. Die Aktion
gestern Nacht hatte da sicher nicht geholfen.
Ich seufzte und schüttelte
den Kopf. Ich musste auflegen und duschen. Lange würde er bestimmt nicht mehr
schlafen.
„Kannst du Betsy einfeuern?“,
fragte ich und zog schon mal den Duschvorhang zurück. Ich wollte, dass es warm
war, wenn wir bei mir ankamen. So richtig kuschelig, damit er gar nicht anders
konnte, als sich wohl zu fühlen.
Megan seufzte. „Ach, honey …“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen