Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 15. Januar 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 12:


„Hey Vyvyan!“ Theos Stimme dröhnte durch den Telefonhörer. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so früh anrufst.“
Ja, ich auch nicht. Aber wenn ich später noch zu Rubin musste, konnte ich nicht bis zum Mittag warten, um mich mit Theo und den anderen zu verabreden.
„Ich konnt’s halt nicht erwarten.“
Theo lachte. „Ja, sicher. Erzähl das deiner Oma.“
„Die würde es mir auch nicht glauben – Nein, im Ernst: Ich rufe so früh an, weil Rubin noch eine Nachhilfestunde reingedrückt hat.“
„Rubin? Was … Moment – Rubin gibt dir Nachhilfe?! Wer hat das denn verbrochen?“
Oh, stimmt ja. Theo wusste davon noch nichts.
„Kirsten“, antwortete ich, „wer denn sonst?“
Einen Moment lang war es am anderen Ende still, dann sagte er:
„Das tut mir echt leid für dich. Deine Ferien sind gelaufen.“
„Wem sagst du das?“
Bei seinen nächsten Worten konnte ich das Grinsen heraushören.
„Und warum rufst du jetzt schon frühmorgens an? Um abzusagen oder um mich darauf vorzubereiten, dass du vorhast, dir den Frust von der Leber zu saufen?“
„Keins von beidem. Ich würde mich nur gerne mit euch treffen, bevor ich in die Nachhilfe muss; ansonsten zieht die sich noch in die Länge und dann ist der Tag plötzlich vorbei. Von meiner Laune ganz zu schweigen.“
„So schlimm?“
„So lang.“
Er lachte wieder, aber das war nicht verwunderlich. Theo lachte oft, im Gegensatz zu einem gewissen Jemand.
„Okay, was hältst du von eins? Ich habe gestern Abend mit Aaron gechattet und er meinte, es liefe ein guter Film im Kino, jeweils um zwei, sechs und acht Uhr.“
Dann wäre ich was, so gegen fünf bei Rubin? Warum nicht.
„Hört sich gut an. Sagst du Kim und so Bescheid? Ich muss noch Fee anrufen.“
„Sicher. Schreib mir eine SMS, ob sie auch kommt, okay? Damit ich die Karten bestellen kann.“
Ich bestätigte, verabschiedete mich und legte auf. Und um es hinter mich zu bringen, wählte ich gleich darauf Fees Nummer. Als sie abnahm, konnte man die Freude aus ihrer Stimme heraushören, so, wie bei Theo vorher das Grinsen.
„Vyvyan! Wie war deine Festtage?“
„Ganz angenehm dafür, dass Weihnachten mein Lieblingsfest ist“, antwortete ich, „wir hatten Kekse, Glühwein und Geschenke – was gibt’s Besseres?“
„Nun ja, ich kann nur für mich sprechen, aber ich glaube, den süßen Typen, den man sich vor kurzem geangelt hat, zu küssen, kommt ziemlich nah ran.“
Da mochte sie Recht haben – da ich mir aber keinen süßen Typen geangelt hatte, konnte ich leider nicht mitreden.
… Okay, das war unangebracht. Und, wenn ich ehrlich war, war wahrscheinlich das leise, unangenehme Grummeln in meiner Magengegend dafür verantwortlich. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl ich jetzt schon wusste, dass ich bald Schluss machen würde, war sogar übers Telefon schwieriger als gedacht. Und das, obwohl die Worte fast schon automatisch aus meinem Mund kamen.
„Ach? Ich glaube, ich muss mal ein Wörtchen mit dem Kerl reden, der über die Feiertage einfach mein Mädchen küsst. War da wenigstens ein Mistelzweig im Spiel?“
„Wie gemein, du weißt genau, dass du gemeint bist und dass ich dich lieber heute als morgen küssen will.“ Fee lachte, aber ich seufzte innerlich bei dem Wort ‚gemein‘; das hatte Kitty gestern zu mir gesagt und seit da kein Wort mehr. Sie strafte mich mit Schweigen. Mit Schmollen hatte ich zwar gerechnet, aber damit nicht. Ich würde mich nachher noch einmal bei ihr entschuldigen müssen und darauf hoffen, dass sie mir diesmal zuhören würde.
„Na, dann hast vielleicht Glück; ich rufe nämlich an um zu fragen, ob du heute ein wenig Zeit für mich hättest. Ich habe Theo vor den Ferien versprochen, heute was mit ihm zu unternehmen und da ich am Abend Nachhilfe habe, haben wir uns für Kino am Nachmittag entschieden. Ich dachte, wenn du Zeit hast und mitkommen willst, könnten wir beide uns schon vorher treffen. Es gäbe da ja auch noch das Weihnachtsgeschenk, das ich dir geben möchte und das muss nicht unbedingt vor den anderen geschehen.“ Ich sah auf die Uhr, es war halb zehn. „Ich würde dich gerne zum Mittagessen einladen.“
Fees Antwort kam sofort.
„Sicher. Ich würde mich sehr gerne von dir einladen lassen und ganz zufälligerweise habe ich heute ein paar freie Minuten.“
„Ich Glückspilz, womit habe ich das nur verdient?“
„Wahrscheinlich gar nicht.“
„Stimmt. Wir wissen beide, dass du zu gut für mich bist.“
Sie kicherte.
„Wie geht es deiner kleinen Schwester?“
„Nicht besonders gut – oder besser: ihr schon, nur mir wegen ihr nicht. Sie ignoriert mich seit gestern Abend.“
„Oh, das tut mir leid.“ Und sie hörte sich auch so an. Entweder war Fee eine verdammt gute Schauspielerin oder wirklich mitfühlend. „Was hast du denn verbrochen?“
„Ich habe sie versetzt. Bin von der Nachhilfe spät nach Hause gekommen, obwohl ich ihr versprochen hatte, dass wir am Nachmittag in den Schnee gehen.“
„Oh, das ist aber wirklich nicht nett. Da wäre Timmy früher auch beleidigt gewesen – Jasmin natürlich jetzt noch.“
Das waren ihre kleineren Geschwister – dreizehn und sieben – die wahrscheinlich einer der Hauptgründe waren, weshalb sie mir mit Kitty so viel Verständnis entgegenbrachte.
„Ja, ich weiß, es war mein Fehler. Das gebe ich auch zu, nur leider ignoriert sie all meine Entschuldigungen. Ich glaube, sie will eine Wiedergutmachung, von der sie denkt, dass sie mir nicht gefallen wird.“
„Meinst du? Ist sie so berechnend?“
„Miss Kitty? Im Schlaf.“
Sie lachte wieder, dann hörte ich im Hintergrund eine Stimme. Fee antwortete, vom Telefon abgewandt: „Ich komme gleich!“ Zu mir sagte sie:
„Ich muss meiner Mutter helfen gehen. Wo treffen wir uns?“
„Vor der Apotheke am Hauptbahnhof? Um halb zwölf?“
„Gut. Ich freu mich.“
„Ich mich auch.“
„Bis später also. Und viel Glück mit Catherine.“
Ich legte auf und brachte den Telefonhörer zurück in die Küche. Nun musste ich mich den wichtigen Dingen zuwenden: Kitty und ihrer Vorstellung von einer gelungenen – oder zumindest akzeptablen – Entschuldigung.

***

„Wir könnten übermorgen den ganzen Tag raus und im Schnee spielen.“
Ich saß auf der Bettkante von Kittys knallpinkfarbenen Himmelbett. Sie sagte zwar, dass ihre ‚pinke Phase‘ vorbei war, aber dennoch hatte sie, als wir hierher gekommen waren, das Angebot meiner Mutter ausgeschlagen, sich eine neue Zimmereinrichtung zuzulegen.
Sie sah noch nicht einmal von ihrem Buch auf – dem, das ich ihr geschenkt hatte, was an sich ein Zeichen dafür war, dass sie bereit war, mir zu vergeben. Gestern hätte sie sich nie und nimmer mit meinem Buch blicken lassen – und ihre Zimmertür hätte sie mir wohl auch nicht geöffnet. Trotzdem, sie hatte mich ganz offensichtlich noch nicht da, wo sie wollte. Ich beschloss es kurz zu machen.
„Okay, Kitty, sag schon: Was willst du?“
Sie sah mich kurz an und rümpfte die Nase.
„Ich will nicht mehr in den Schnee.“
„Gut, dann machen wir etwas anderes. Was du willst.“
„Was ich will?“
„Ja.“
„Ich will den Kachelofen.“
Äh, was? Ich hatte mit Eiscreme oder Waffeln oder Kino oder auch einer Reise ins Disney Land Paris gerechnet, aber das?
„Aber der gehört Rubin.“
Der Blick, den ich darauf bekam, war eine Mischung aus Ich weiß, aber das ist nicht mein Problem und Ich weiß, ich bin ja nicht blöd.
Das konnte nicht ihr Ernst sein.
„Kitty, ich kann dich nicht mit zu Rubin nehmen.“
„Warum nicht?“
Weil ich nicht will.
„Ich bin da zum Lernen, schon vergessen? Das dauert Stunden. Wir hätten keine Zeit für dich.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Übermorgen musst du nicht lernen. Da hast du ganz viel Zeit. Und du hast gesagt, wir machen, was ich will.“
Ein Punkt für Kitty. Aber ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich nicht sonderlich scharf darauf war, meinen freien Tag schon wieder bei ihm zu verbringen, oder?
„Ja, aber wir können uns nicht einfach bei Rubin einladen, Kitty. Es sind auch seine Ferien und er hat sicher Dinge, die er gerne tun möchte. Und noch mehr Zeit mit mir zu verbringen gehört sicher nicht dazu; Rubin und ich mögen uns nicht besonders.“
„Warum hilft er dir dann?“
„Weil er dafür von unserem Lehrer eine ganz besonders gute Bemerkung im Zeugnis bekommt.“
Sie nickte. Ja, mit neun Jahren war das allein noch Grund genug.
Sie verzog die Lippen und machte anschließend einen Schmollmund. „Aber fragen kannst du doch, oder? ‚Fragen kostet nichts‘, sagt Pa.“
Ich hatte ja schon immer gewusst, dass Pas schlaue Sprüche nicht halfen irgendetwas besser zu machen. Im Gegenteil.
„Kitty …“
„Bitte, Vyvy“, sagte sie, legte das Buch weg und krabbelte auf meinen Schoß. Sie hielt sich an meinen Schultern fest und präsentierte mir ihren besten Welpenblick. „Nur fragen, nur einmal. Bitte!
Welpenblicke waren mir egal, Kitty aber nicht. Ein einzelnes Bitte reichte normalerweise bereits aus, um mich weich zu kriegen. An diesem Tag hatte ich gleich zwei bekommen, eines davon betont und mit Ausrufezeichen.
Muss ich überhaupt noch erwähnen, dass ich, wenn auch unwillig, zustimmte?

Kitty quietschte vergnügt und fiel mir um den Hals, was ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge über mich ergehen ließ. Das Problem: Sie war felsenfest davon überzeugt, dass ich außer Englisch so gut wie alles konnte – eine Einladung zu Rubin zu ergattern war in ihrer Welt deshalb ein Klacks für mich und sie sah sich höchstwahrscheinlich schon auf dem Kachelofen rumturnend.
Das ließ mir genau zwei Möglichkeiten: A: Rubin irgendwie zu überreden und einen weiteren Tag an ihn zu verschwenden – oder B: Kitty zu enttäuschen.
Wunderbar.

***

Nachdem ich Theo geschrieben und kurz darauf von ihm eine Nachricht mit Uhrzeit und Ort, wo wir uns treffen wollten, bekommen hatte, ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen. Bei Hades, der Tag hatte erst begonnen und ich hätte mich am liebsten gleich wieder unter die Decke verkrümelt. Erst Fee, danach zusätzlich zu Fee noch Theo und Freundin, Kim, Aaron und Viktor. Das waren sechs zuviel. Und wenn ich das überstanden hatte, musste ich zu Rubin. Zugegeben, wenn es nur Rubin wäre – so wie gestern Nachmittag, Rubin in erträglicher Stimmung und mit Betsy in Reichweite, versteht sich – dann hätte ich den zweiten Teil des Tages wohl dem ersten vorgezogen. Allerdings musste ich mich erst bei ihm entschuldigen und ihn dann auch noch fragen, ob meine Schwester kurz vorbeischauen und Betsy streicheln durfte. Letzteres war aus diversen Gründen unangenehm und ersteres ging mir aus Prinzip gegen den Strich – mischte man nun diese beiden Zutaten mit mindestens zwei Stunden Englisch, was bekam man dann? Genau: Einen ganzen Topf voll Da Habe Ich Keinen Bock Drauf, kurz DHIKBH.
… Okay, ich musste mir eine bessere Abkürzung dafür überlegen.
Das einzige – außer Betsy – was mich ein bisschen beruhigte, war die Vorstellung, dass er alle Tage, an denen ich und er und deshalb wir beide voneinander frei hatten, schon verplant hatte. Aber wie wahrscheinlich war das schon bei jemandem mit der sozialen Kompetenz eines Schneeballs?
Eben.
Ich hatte auch keine Ahnung, wie er auf die Frage reagieren würde – und ein kleiner, unwichtiger Teil von mir fragte sich, was er darüber denken würde. Immerhin waren wir wirklich alles andere als Freunde; wir schwankten irgendwo zwischen Mitschülern, die sich nicht mochten und … Mitschülern, die sich was zu Weihnachten geschenkt und einmal kurz für ein paar Minuten zu ‚Mitschülern mit Extras‘ mutiert waren. Gab es die Kategorie überhaupt?
Mal ehrlich: Rubin war doch irgendwie seltsam. In der Schule hatte es immer so gewirkt, als ob er strikt sein eigenes Ding durchzöge – und was man von Mitgliedern des Schülerrates so hörte, bestätigte das. Doch erst hatte er sich dazu überreden lassen, mir Nachhilfe zu geben, dann hatte er brav vor meiner Mutter gekuscht, die ihn an Heiligabend zu uns beordert hatte und gestern schien er auch nicht wirklich ein Problem damit zu haben, dass ich nicht mehr weiterlernen wollte und ihm deshalb noch einen halben Ferientag rauben würde. Das passte doch genauso wenig zusammen, wie die Tatsache, dass er für Megan hier geblieben war und dennoch nicht vorgehabt hatte, mit ihr zu feiern. Sicher, ich hätte auch niemals mit Fee Weihnachten gefeiert, aber das war ja wohl etwas anderes.
Aber gut, das war nicht mein Problem. Nein, ganz und gar nicht. Ich musste nur mein Englisch wieder auf eine akzeptable Stufe von schlecht hochbringen.
Ich beschloss, Rubin Rubin sein zu lassen und nahm das Buch von meinem Nachttischchen. Ich hatte gestern Abend damit begonnen und es hatte mich sofort wieder in seinen Bann gezogen. Wirklich, ich konnte nicht verstehen, warum diese Reihe nicht beliebter gewesen war.

***

Um viertel vor elf ging ich umgezogen und ausgehfertig in die Küche. Pa wuselte gerade mit einem Lappen und Reinigungsmittel umher. Er war nicht sonderlich systematisch beim Putzen, aber auf seine Art gewissenhaft. Trotzdem, Gartenarbeit lag ihm mehr.
„Deine Mutter ist im Wohnzimmer“, sagte er, nachdem ich mir ein Glas Cola eingeschenkt hatte.
„Wirfst du mich gerade aus der Küche?“
Er hielt inne und grinste mich an. „Nur solange, bis ich hier fertig bin.“
„Na toll, bis dahin bin ich längst weg. Und das, wo ich doch eigentlich wieder einmal ein wenig Zeit mit meinem alten Herrn verbringen wollte – ein fünfzehn Minuten langer Männer-Vormittag, sozusagen.“
„Wenn du wieder zurückkommst, habe ich so viel Zeit für Männermomente, wie du willst.“
„Dann ist es zu spät. Ich muss von gestern was wieder gutmachen und ich glaube, Kitty wird mich zur Strafe zur Prinzessin verdonnern.“
Pa lachte, schüttelte den Kopf und begann dann, die Theke abzuwischen.
„Tut mir leid, aber Prinzessinnen sind zu Männermomenten nicht zugelassen. Das wird dich disqualifizieren.“
Ich lehnte mich an den Tisch und sah ihm dabei zu. Anderen bei der Arbeit zuzusehen war wirklich um einiges besser als selbst zu arbeiten. Vielleicht machten die zusätzlichen Nachhilfestunden Rubin ja deswegen so wenig aus? Aus purer Schadenfreude? Ja, das traute ich ihm zu.
Und immerhin war ja geklärt, dass es keine Wiederholung von der Szene an der Tür geben würde, also konnte es das nicht sein.
„Du weißt aber schon, dass das sexistisch und diskriminierend ist, oder? Ich bin eine verdammt männliche Prinzessin!“
„Ja, eine, die regelmäßig vom Drachen einen ordentlichen Tritt in den Hintern kriegt.“
Ich lachte. „Kitty ist aber auch ein echt fieser Drache. Da hätte ich nicht einmal als Prinz oder strahlender Held in weißer Rüstung eine Chance.“
„Auch wieder wahr.“
Ich sah ihm noch einen Augenblick weiter zu, dann ging ich ins Wohnzimmer. Wenn Pa mich indirekt zu Mum schickte, dann hieß das meist, dass sie mit mir sprechen wollte.

Mum lag auf dem Sofa, mit einer Zeitschrift in den Händen; ihr rechter Fuß wippte im Takt von Musik, die wohl nur sie hören konnte. Als ich ihre Füße aus dem Weg schob und mich zu ihr setzte, sah sie hoch und musterte mich kurz.
„Du gehst weg?“
Ich nickte. „Ich lade meine Freundin zum Mittagessen ein und danach treffen wir uns mit ein paar Leuten aus meiner Klasse.“
Sie musterte mich weiter, schweigend. Wunderbar, sie wollte also ein ernstes Gespräch. Einfach bombastisch.
Ich trank einen großen Schluck Cola, einfach nur, um etwas zu tun zu haben, bis sie sich dazu bequemte, das Thema, das sie beschäftigte, anzuschneiden. Ich lehnte mich ein wenig nach vorne und nahm die Zeitschrift von ihr entgegen, um mein Glas darauf abzustellen. Ohne Untersetzer lief in diesem Haus nichts – nicht, wenn Mum zu Hause war, zumindest.
„Und danach gehst du zu Rubin?“
Ich nickte erneut. „Genau.“
Und was genau wollte sie jetzt? Dass ich zuerst zu Rubin ging, nach dem Motto ‚Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘?
… Sehr wahrscheinlich nicht; sie schnitt ernste Themen nie so direkt an.
Mum seufzte. Aufgepasst, liebe Damen und Herren, das war ihr Startsignal; gleich würde –
„Wenn du ‚Ich gehe zu meinen Freunden‘ auf die gleiche un-enthusiastische Art sagst, wie ‚Ich gehe zu dem Jungen, den ich anscheinend nicht mag und der mir Nachhilfe in meinem persönlichen Hassfach gibt‘, dann läuft etwas falsch.“
Oh, bei Ares! Nicht schon wieder das Thema, oder? Das ist doch schon so durchgekaut, dass es sich in seine Atome zersetzt hat!
„Tut mir leid, dass mein ‚genau‘ zu positiv rübergekommen ist. Ich werde von nun darauf achten, immer die nötige Portion Sarkasmus reinzulegen – zumindest solange, bis du wieder von mir verlangst, gefälligst etwas netter zu ihm zu sein und meinen ‚Unmut‘ nicht ganz so deutlich zu zeigen.“
„Vyvyan, du weißt, was ich damit gemeint habe.“
„Ja, dass du nicht glücklich darüber bist, dass ich meine Freunde nicht für die besten und interessantesten Leute auf der Welt halte und dass ich lieber zu Hause im Warmen bleiben würde, als mich draußen in der Kälte mit ihnen zu treffen.“ Ich drehte mich noch ein bisschen mehr zu ihr, so dass ich sie besser ansehen konnte. „Was soll ich denn tun, Mum? Mich wie Rubin verhalten und als Einzelgänger durch die Schulflure schlurfen?“
„Natürlich nicht“, antwortete sie und zog die Beine an, um sich aufzusetzen. „Aber könntest du ihnen nicht eine Chance geben? Einem oder zwei von ihnen, wenigstens?“
„Das tue ich doch – jedes Mal, wenn ich meine kostbare Zeit für sie verschwende. Es ist ja nicht so, als ob es mir nicht auch lieber wäre, wenn ich mich dabei amüsieren könnte.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Vyvyan, das tust du nicht. Du hast doch schon bevor du diese Leute das erste Mal getroffen hast, entschieden, dass sie nichts weiter als gesichtslose Statisten in deinem Leben sein werden – ganz genau so lange, bis wir wieder umziehen.“
„Na und? Wenn sie wirklich solch faszinierende Persönlichkeiten wären, wie du anscheinend glaubst, dann würde ich das sicher irgendwann merken, meinst du nicht auch? Ich bin schließlich weder blöd noch blind.“
„Das nicht, aber du setzt jeden Tag aufs Neue Scheuklappen auf und hältst außer uns alle gerade so weit von dir entfernt, dass sie gar keine Chance haben, dir ihre verschiedenen Seiten zu zeigen.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und atmete einmal tief durch.
„Hör zu, Schatz“, begann sie dann von neuem, etwas ruhiger, „ich weiß, dass wir, dein Vater und ich, auch mitschuldig sind. Wären wir nicht so oft umgezogen, bräuchtest du nicht so viel Angst zu haben, deine Freunde zu verlieren, kaum, dass du sie lieb gewonnen hast.“
„Ich habe keine Angst.“
Sie lächelte, aber es sah müde aus.
„Wir überlegen, ob wir diesmal nicht hierbleiben wollen. Deinem Vater gefällt die Firma, sie haben ihm auch bereits angeboten, ihn danach unbefristet einzustellen – und deinen Schwestern und mir, uns gefällt es auch. Susanna sagt, die Universität hier sei um einiges besser als ihre frühere und Catherine hat sogar schon entschieden, auf welche Schule sie später gehen will.“
Ja, aufs Sankt Katharina – Megans Schule. Die Schule von Rubins Freundin. Ich konnte immer noch nicht verstehen, warum es ausgerechnet die sein musste, aber das war wahrscheinlich so ein Mädchen-Ding. Keine Ahnung, vielleicht waren die Tische alle pink.
Ich nahm einen Schluck Cola, bevor ich meiner Mutter antwortete.
„Sue und Kitty gefällt es überall. Und Pa – ehrlich, das ist nicht das erste Mal, dass ihm das angeboten wird und dass er darüber nachdenkt, das Angebot anzunehmen – aber sobald die Firma über das Schlimmste hinaus ist und spätestens, wenn er die Anfrage bekommt, ob er nicht ein anderes Unternehmen aus den roten Zahlen holen kann, packt ihn die Abenteuerlust und wir unsere Koffer.“
Wenigstens hatte sie den Anstand, ein wenig zerknirscht auszusehen.
„Sogar wenn – falls das passieren sollte: Bis dahin bist du längst an der Uni und kannst hierbleiben, wenn du willst. Wir würden dich dabei unterstützen, das weißt du doch?“
„Genauso gut, wie du weißt, dass ich das nicht tun werde.“

Ich hasste diese Gespräche. Egal, ob Mum oder Sue – oder, um einiges seltener, Pa – sie mit mir führten, sie hatten immer dasselbe Ergebnis: gar keins. Niemand konnte mich zwingen, die Leute aus meiner Klasse zu mögen, noch nicht einmal ich selbst. Dafür sahen meine Gesprächspartner danach regelmäßig um einiges älter aus, als sie waren. So auch Mum, in diesem Moment. Da waren Falten, die nicht in ihr Gesicht gehörten, ihre Lippen waren schmaler und ihr Gesicht kantiger. Ich wusste, sie machten sich Sorgen, aber warum konnten sie nicht verstehen, dass ich so am glücklichsten war? Ich hatte keine größeren Probleme, genügend Sozialkontakte, gute Noten, eine liebevolle Familie – warum sollte das denn nicht genug sein? Andere Eltern würden sich freuen, wenn ihre Kinder so schnell Freundschaften schlossen wie ich.
„Irgendwann wirst du dich abnabeln müssen; wir lieben dich, aber Kinder müssen selbstständig werden.“
„Damit du und Pa euren Lebensabend in Ruhe genießen könnt?“ Ich grinste. „Keine Angst, ich habe nicht vor, mit dreißig noch bei meinen Eltern zu wohnen. Nur eben in der Nähe – außerdem bin ich siebzehn, also werde ich wohl noch ein paar Jahre Schonfrist haben.“
„Natürlich hast du das.“ Sie strich durch meine Locken, die ich mal wieder zu Wellen minimiert hatte. „Du weißt, dass ich dich nicht von hier vertreiben will – im Gegenteil. Im Moment würde ich dich nicht einmal ausziehen lassen, wenn du das wolltest. Aber …“ Sie machte eine Pause und verzog den Mund.
Den Blick kannte ich. Sie dachte, dass sie gleich etwas sagen würde, das mir nicht gefiel.
Na toll, nur her damit. Ich kann’s kaum erwarten.
„Könntest du nicht … einfach noch mal von vorne Anfangen? Die Besetzung der Schubladen einmal ignorieren und zur Abwechslung einmal wirklich versuchen, jemanden kennenzulernen?“
Wie oft hatte ich das jetzt schon gehört? Mehr als genug – es war eigentlich eine abgewandelte Version der Ansprache, die ich beim Einzug in unser neues Heim jedes Mal in der einen oder anderen Ausführung aufgetischt bekam.
„Vielleicht überrascht er dich ja.“
Klar, das hoffte sie jedes – 
Moment!
„‚Er‘?“
Mum schwieg.
Er? Meinst du damit jemand bestimm…“
Oh nein. Den Blick kannte ich auch.
„Das ist nicht dein Ernst! Du gibst mir die x-te Wiederholung dieses ‚Gesprächs‘ wegen Rubin?!“
„Vyvyan …“
„Verdammte Scheiße, noch mal!“, rief ich und sprang auf, „Warum hast du eigentlich so einen Narren an ihm gefressen? Er ist nicht der erste Idiot, der durch unsere Türe gekommen ist!“
„Vyvyan, nicht in diesem Ton!“ Mum blieb sitzen, aber ihre Stimme klang schneidend. Nur, das interessierte mich in diesem Moment ganz und gar nicht.
„Doch, genau in diesem Ton – ich hab nämlich so was von genug davon, dass ihr ihn alle ganz toll findet und denkt, dass ich das deshalb auch tun muss!“ Ich lief ein paar Schritte vom Sofa weg und drehte mich dann wieder zu ihr um. „Noch mal zum Mitschreiben: Ich – kann – ihn – nicht – ausstehen!“
Mum betrachtete mich schweigend. Sie saß immer noch auf dem Sofa, die Hände nun im Schoß zusammengefaltet und wenn sie nicht gerader als gerade gesessen hätte, dann hätte ich denken können, dass sie ruhig war. Aber ich kannte sie besser – sie hasste es, wenn man schrie, wenn man fluchte, wenn man unverschämt wurde und wurde dadurch sehr schnell provoziert. Diesmal allerdings schien sie sich darum zu bemühen, die Nerven zu behalten.
Mir sollte es recht sein, aber das würde mich nicht davon abhalten, Dampf abzulassen. Die letzte Woche war einfach viel zu falsch gelaufen. Und alles hatte irgendwie mit Rubin zu tun. Der Kerl hatte sich so plötzlich so stark in mein Leben gedrängt, dass es eigentlich nicht verwunderlich war, dass ich so reagierte. Ich hatte nichts gegen Veränderungen, solange sie planmäßig verliefen, aber mit Rubin verlief einfach gar nichts planmäßig.

„Vyvyan, setz dich hin.“
„Nein.“
Mum wartete noch einen Moment, dann nickte sie.
„Er hat sich von Anfang an wie ein Arschloch benommen – warum sollte ich das einfach so vergessen? Würdest du das etwa?“
„Mittlerweile benimmt er sich aber nicht mehr wie ein Arschloch, oder?“, fragte sie, immer noch ruhig, aber die Art, wie sie das Schimpfwort betont hatte, war eine klare Warnung. Und die zweite Frage ignorierte sie natürlich gekonnt.
„Nur weil ein Dieb für kurze Zeit aufgehört hat zu stehlen, vergibt man ihm seine Verbrechen nicht.“
„Aber sie verjähren.“
„Ja, nach Jahren.“
„Vyvyan …“
„Heidrun.“
Sie hielt inne und sah mich überrascht an.
Ich wusste, dass sie es nicht mochte, so angesprochen zu werden, aber es erzielte  seine Wirkung: Sie merkte, dass ich wirklich die Nase voll hatte.
„Ich kapier’s einfach nicht; erst Sue, jetzt du – zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Tagen – was hat der Kerl an sich, dass ihr ihn unbedingt zu meinem neuen BFF erklären wollt?“, fragte ich, auch wieder ein bisschen ruhiger und ging einen Schritt auf sie zu.
„Was ist ein BFF?“
Best friend forever – der beste Freund, Kumpel numero uno, mein – egal, was ich wissen will, ist warum.“
„Er scheint dich zu mögen.“
„Ja, er scheint, aber er …“
„Vyvyan, du weißt, wie ich das meine“, unterbrach Mum mich und entspannte sich ein bisschen – im Gegensatz zu mir, ich fing an, hin und her zu gehen. „Er scheint dich zu mögen und das, obwohl du dich dieses Wochenende wirklich nicht von deiner besten Seite gezeigt hast.“
Ich schnaubte. „Stell dir vor, meine Freunde mögen mich auch; sogar meine Freundin mag mich – ist das nicht außergewöhnlich?“
Fahr den Sarkasmus gefälligst drei Gänge runter, mein Lieber!‘, ich war mir sicher, dass sie gerade ganz genau das dachte; es stand nicht nur auf ihrer Stirn, sondern in gleich ihrer verdammten Aura geschrieben – oder zumindest war ich sicher, dass es das tat, ich konnte die Dinger ja nicht sehen.
„Ja, aber der Vyvyan, den sie kennen ist – und ich zitiere Kate – ‚gar nicht toll‘. Und wenn er sich im letzten halben Jahr nicht allzu sehr verändert hat, dann ist er so … schwammig, dass es schwer ist, ihn nicht zu mögen.“
‚Schwammig‘?
„Rubin gegenüber aber lässt du deinen Launen freien Lauf – wenn auch nur den negativen – und er mag dich trotzdem. Sei ehrlich, Vyvyan: Objektiv gesehen, wer hört sich nach einem besseren Kandidaten für den Platz deines ‚BFF‘ an?“
Ich blieb vor dem Sessel stehen und ließ mich hineinfallen. Dieser Tag wurde echt nur besser und besser; fast wünschte ich mir, wieder Schule zu haben. Das würde wenigstens etwas bringen, ganz im Gegensatz zu Ferien, in denen ich meine Familie entweder nicht sah, mit Rubin teilen musste oder mich mit ihr stritt. Bei Zeus, ich hoffte, das neue Jahr würde besser beginnen als dieses endete!
„Mum, sogar wenn Rubin irgendwann aufgewacht ist und plötzlich die Erkenntnis hatte, dass ich der tollste Typ der Welt bin und er unbedingt mein neuer bester Freund werden will, heißt das nicht, dass ich ihn deshalb zurückmögen muss.“
„Tust du das denn nicht?“
Was? Ich hatte ihr doch eben erst gesagt, dass …
„Weißt du, Schatz, du sagst zwar, dass du ihn nicht magst und du warst die Zeit über, die er bei uns war, bockig genug, um die meisten davon zu überzeugen, aber ich bin deine Mutter.“
Ich wartete einen Moment lang, aber sie beobachtete mich nur. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen, denn ich mochte die Richtung, die das Gespräch gerade nahm, absolut nicht – und das hieß etwas, bei diesem Gespräch – aber ich konnte nicht; das hätte sie nur bestätigt, worin auch immer. Also blieb ich ruhig.
„Und?“
„Und ich bin mir sicher, dass du schon am dreiundzwanzigsten, als ich ihn zum Abendessen eingeladen habe, die Hölle in Brand gesteckt hättest, wenn du ihn wirklich so wenig mögen würdest, wie du vorgibst.“ Sie hielt inne und fügte nach einer kurzen Pause etwas leiser hinzu: „Und spätestens, als ich ihn für Weihnachten eingeladen habe, hättest du eigentlich total ausflippen müssen – ich kenne dich, ich weiß, wie wichtig dir Weihnachten ist und ich bin sicher, dass du bei jedem deiner ‚Freunde‘ einen fürchterlichen Wutanfall gekriegt hättest, spätestens, als wir wieder alleine waren. Aber bei Rubin? Da hast du dich zwar ein wenig aufgeregt, aber es fast schon angsteinflößend schnell akzeptiert.“

Wow, das …
…wollte ich nicht hören.
Rubins Anwesenheit hatte mir alles andere als Freude bereitet und dennoch hatte ich mich zusammengerissen – und nun wurde genau das gegen mich verwendet? Das konnte nicht Mums Ernst sein!
„Andere Eltern würden das als Zeichen sehen, dass ihr Kind langsam erwachsen wird.“
„Andere Eltern kennen ihre Kinder nicht so gut wie ich meine.“
Manchmal konnte ich Mum nicht leiden. Meistens hielt das Gefühl nur kurz an, aber in diesem Moment war es nicht abzustreiten. Warum musste sie auch immer glauben, dass sie Recht hatte? Sicher, sie war ein paar Jährchen älter als ich, aber das hieß nicht, dass sie mich deshalb vollkommen durchschaute.
Und wenn ich sagte, dass ich Rubin nicht mochte, dann mochte ich Rubin nicht, Punkt. Warum konnte sie das nicht einfach akzeptieren? Und wie zum Hades hatte Goldlöckchen Eisblock meine Familie so verhext?!
„Und was bitte hätte mir ein Wutanfall gebracht? Du hattest es doch sowieso bereits entschieden.“
„Stimmt, aber das hätte dich normalerweise nicht davon abgehalten.“
Okay, das reichte. Ich hatte genug von diesem Thema, für Jahre, und außerdem würde ich zu spät zu Fees und meiner Verabredung kommen, wenn ich nicht bald ging.
„Schön, dass du dir da so sicher bist; ich frage mich nur, warum du dann überhaupt noch mit mir darüber reden musst – warte doch einfach ab, bis sich herausstellt, dass du die ganze Zeit Recht gehabt hast.“
„Vyvyan …“
„Was?! Ist doch wahr – du hast deine Meinung schließlich felsenfest gebildet und willst gar nicht hören, was ich dazu zu sagen habe. Dann kann ich ja jetzt auch gehen.“ Ich stand auf und ging auf sie zu, um mein Colaglas nehmen zu können, doch natürlich war unser Gespräch so lange nicht beendet, bis sie es dazu erklärte.
„Vyvyan, das ist nicht fair. Natürlich will ich hören, was du denkst, aber ich möchte auch, dass du wenigstens ein Mal versucht, von deinen üblichen eingefahrenen Verhaltensweisen abzuweichen. Ich …“ Sie zögerte und fuhr leiser fort: "Wir machen uns alle Sorgen um dich."
Oh, der war fies. Unterste Schublade.
Und trotzdem bekam augenblicklich ich ein schlechtes Gewissen.
Ich blieb vor ihr stehen, das Glas noch auf dem Tisch.
„Ich kann niemanden auf Knopfdruck mögen.“
Sie lächelte und der Anblick ließ meine Laune in den Hades sinken. Das war das Lächeln, das man sah, wenn sie glaubte, kurz vor ihrem Ziel zu sein – für mich bedeutete das, dass sie kurz davor war, irgend etwas von mir zu verlangen, das ich garantiert nicht tun wollte, das wohl aber für den Hausfrieden unabdingbar war. Scheiße.
„Das weiß ich doch. Ich möchte ja auch nur, dass du ihm eine Chance gibst, ihn nicht immer unnötig unfreundlich behandelst.“ 
„Ich behandle ihn so, wie er mich behandelt.“ Offensichtlich war das nicht die Antwort, auf die sie wartete. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Wenn ich den nächsten Bus verpasste, würde ich wirklich zu spät kommen. Und ich musste mich heute schon bei Rubin entschuldigen; ich konnte also darauf verzichten, es auch noch bei Fee zu tun. Außerdem kam ich grundsätzlich nicht gerne zu spät. „Was willst du, Mum? Konkret, meine ich.“
Da, das Lächeln wurde breiter. Verdammte Scheiße, sie hatte mich genau dort, wo sie mich haben wollte.
„Nur etwas, das du bei jedem anderen auch tun würdest: Ich möchte, dass du dich für die Nachhilfestunden revanchierst – und die DVD zu Weihnachten zählt nicht. Wir wissen beide, dass das Susannas Idee war.“
Ich sah sie an ohne einen Mucks zu machen, aber ich konnte fühlen, wie meine Augenbrauen sich ganz ohne mein Zutun zusammenzogen.
„Soll heißen?“
„Oh, ich weiß auch nicht – lad ihn doch ins Kino ein oder zum Essen oder so. Du weißt sicher besser, was ihm gefällt.“

Oh ja, natürlich wusste ich das – schließlich war ich ja Experte, was Rubin anging, nicht wahr? Schließlich waren wir Sandkastenfreunde und all das.
Ha. Ha.
„Ich werde ganz sicher nicht mit ihm ins Kino oder in ein Restaurant gehen; wenn mich jemand von der Schule dabei sieht, denken die noch, wir wären echt befreundet.“
Noch viel wichtiger: Zwei Personen, die nicht befreundet waren, obwohl sie in eine Klasse gingen, die sich auch nicht besonders gut kannten und dennoch plötzlich zusammen ins Kino gingen? Entschuldigung, aber das hörte sich in meinem Ohren zu sehr nach einem Date an. Und ich und Rubin in Verbindung mit einem Date, das wollte ich nun wirklich nicht in meinem Kopf. Nein danke, vor allem nicht nachdem er seine Finger in meiner Unterwäsche gehabt hatte.
Mum sah aus, als ob sie widersprechen wollte, doch ich kam ihr zuvor. Betont seufzend betont widerwillig, aber dennoch.
„Wärst du zufrieden, wenn ich heute Abend für ihn koche, falls er noch nichts vor hat? Dann müsste ich mich nicht mit ihm zeigen, würde Geld sparen und er würde dennoch etwas anderes als Lieferzeugs zwischen die Zähne bekommen.“
In dem Moment, in dem ihr Kopf hochschoss und sie „Lieferzeugs?“ fragte, wurde mir bewusst, dass ich gerade einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte. Mindestens so schwerwiegend, wie die Englischprüfung so glorreich zu verhauen.
Warum hatte ich das sagen müssen? Ich wusste doch, dass man in solchen Situationen nie zu viele Informationen herausgeben durfte. Doch jetzt, jetzt war es zu spät; Mum hatte Blut geleckt.
„Was meinst du damit?“
Ich öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Normalerweise würde ich jetzt irgendeine halbwegs plausible Ausrede hervorzaubern, aber meine Mutter konnte ich nicht anlügen – jedes Mal, wenn ich es versuchte, fehlten mir die Worte.
„Ich kann auch Rubin fragen, seine Nummer steht auf deiner Klassenliste“, sagte sie und meinte eigentlich: ‚Wag es ja nicht, etwas Wichtiges auszulassen, denn ich habe keine Skrupel, nachzufragen, wenn mir deine Antwort löchrig erscheint.‘
Wundervoll.
Was jetzt? Ich wusste, dass ich ihr das nicht sagen wollte – es würde garantiert Konsequenzen nach sich ziehen, die mir nicht gefielen. Dennoch: Wahrscheinlich war die Wahrheit am besten, denn falls sie später etwas anderes herausfinden würde, wäre ihre Strafe noch viel schlimmer. Wenn es ums gesundes Essen ging, verstand meine Mutter einfach keinen Spaß.
„Seine Familie ist im Urlaub und Rubin kann nicht kochen, deshalb bestellt er sich anscheinend öfter was nach Hause“, erwiderte ich pflichtgemäß, konnte aber nicht anders, als anzufügen: „Aber das ist nicht so schlimm, wie du jetzt denkst – Lieferdienste sind heutzutage auch nicht viel schlechter als Restaurants – manche sind ja auch Teil eines normalen, respektablen Restaurants, also …“
Mum schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge, aber das Lächeln war breiter denn je.
„Papperlapapp, du weißt genau, was ich von so was halte – aber ausnahmsweise trifft sich das doch wunderbar! Ich wusste, dass es sich irgendwann einmal auszahlen würde, dass ich früher die Eierschalen in den Omeletts und die zerbrochenen Schüsseln auf mich nehmen musste.“
Sie stand auf, völlig mit sich selbst zufrieden.
„Er gibt dir Nachhilfe und dafür machst du ihm dann Abendessen – das passt doch perfekt und wir profitieren alle davon.“
Natürlich – sie bekam ihren Willen und Rubin was zu futtern, aber was lag da für mich drin?
Genau: Nichts.
Und vor allem: ‚Du machst ihm dann Abendessen‘?!
„Ich habe gesagt, ich würde heute für ihn kochen – nicht jedes Mal!“
Ich war schließlich nicht sein persönlicher Koch, verdammt!
Doch meine Mutter hatte es bereits entschieden und war entschlossen, das auch so durchzuführen. Deshalb sah sie mich auch einfach nur süffisant lächelnd an und sagte mit engelsgleicher Stimme:
„Oh, wenn du nicht willst, kann ich ihn natürlich für die betreffenden Abende auch zu uns einladen – dann müsstest du aber erstens immer mit ihm Bus fahren und zweitens könnte es durchaus sein, dass er dann das ein oder andere Mal hier übernachten müsste – du weißt doch, wenn man sich angeregt unterhält, vergisst man schon mal die Zeit.“
Genau Mum, so erzieht man seine Kinder richtig: Man droht ihnen, wenn sie nicht so wollen wie man selbst. Das ist gesunder Menschenverstand und ein gutes Vorbild ist man gleich auch noch.
Doch was nutzte es, wenn ich mich still beschwerte?
Genau: Wieder nichts.
Lautes Beschweren würde allerdings genauso wenig bringen.
Super, dann würde ich also doch die halben Ferien lang Rubins persönlichen Koch spielen. Wunderbar. Ganz genau, was ich mir noch zu Weihnachten gewünscht hatte – natürlich zusätzlich zu dem Streit mit Kitty.
Warum musste sich Mum einmischen? Ich hatte doch vorher schon mehr Zeit als nötig mit ihm verbringen müssen.
Warum konnte sie mich nicht so akzeptieren, wie ich war? Ich versuchte ja auch nicht, ihre übertriebene Abneigung gegen Junkfood, ihre Kontrollsucht oder andere von ihren Macken zu ‚berichtigen‘.
Und plötzlich wollte ich einfach nur noch raus – so sehr, dass ich auf dem Absatz kehrt machte und ohne ein weiteres Wort mein Zeug schnappte und das Haus verließ.

*********

„Mir ist langweilig.“
„Und deshalb musst du mir auf den Wecker gehen?“
„… Müsstest du nicht mehr Verständnis haben?“
Megan seufzte. „Hast du aufgeräumt?“
„Schon längst.“
„Geduscht?“
„Natürlich.“
„Die Stunde vorbereitet?“
„Ja.“ Ich sah auf die Uhr. „Wann ist es denn endlich Abend?“

2 Kommentare:

  1. hallöchen.
    Das war ein super gailes Kapitel und ichhab ständig mit gefiebert deine Geschichten sind einfach zu interessant ich liebe sie ich freue mich auf weiter so supter tolle Kapitel ;D

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  2. Freut mich, dass dir das Kapitel gefallen hat! :) Und noch ein bisschen mehr darüber, dass du meine Geschichten auch sonst magst. :D Hoffe, es wird dir auch weiterhin gefallen.
    Vielen lieben Dank für deinen Kommentar!

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