Es war acht Uhr fünfzehn am neunundzwanzigsten Dezember und ich saß im Bus,
ohne wirklich zu wissen, warum. Meine einzige, unzureichende Begründung war:
Rubin hatte gesagt, früher sei besser. Das entsprach zwar der Wahrheit, aber
wenn man bedachte, dass er garantiert noch im Bett lag und bei meinem Glück die
Klingel nicht hören und ich deshalb elendig draußen erfrieren würde, verpuffte
die Ausrede in tausend zerbrochene Schneeflocken. Ich würde mir sonst was
abfrieren, das wusste ich jetzt schon – ganz abgesehen davon, dass ich
auch keinen Plan hatte, was ich ihm als Begründung für das frühe
Auftauchen geben wollte; aber mittlerweile war das egal, denn umkehren und
wieder nach Hause konnte ich nicht – es würde seitens Mum nur zu
unangenehmen Fragen führen – und woanders hin auch nicht. Also was
blieb? In den sauren Eiszapfen beißen und ihn wenn nötig wachklingeln, mit
Handy und Türklingel im Kombipack. Wenn nötig sogar ganz fernsehreif mit
Kieselsteinchen gegens Fenster. Oder Backsteinen.
Blöder Morgenmuffel.
Und das alles nur, weil ich bereits um halb sechs aufgewacht war und ums
Verrecken nicht mehr hatte einschlafen können. Warum hatte ich auch so einen
Scheiß träumen müssen? Wenn es ein feuchter Traum gewesen wäre, hätte ich das
ja noch verstanden, aber da war nichts feucht dran gewesen – wenn man
meine Augen nicht mitzählte, denn mir war nach dem Aufwachen echt zum Heulen
zumute gewesen. Wäre ich nicht so geschockt gewesen und generell zu stolz zum
Heulen, hätte ich es vermutlich getan.
Ich. Rubin. Zusammen. In der Schule. Zusammen-zusammen. Offen.
Wer bitte dachte sich so eine Kacke aus, häh? Hera, Hades und Hephaistos,
ich hatte ihn im Klassenraum im Arm von hinten umarmt! Und er hatte sich halb
zu mir umgedreht und gelacht und irgendwas gesagt – gelacht, in der
Schule, als würde er das über sein verdammtes amerikanisches Ego bringen!
Er hatte mich Babe genannt.
Es war ein einziger Alptraum, sprich- und wortwörtlich. Aber im Endeffekt
bewies es lediglich, dass die Küsserei ein Fehler gewesen war. Ohne das hätte
ich doch nie so einen Schwachsinn zusammenphantasiert. Ich, geoutet, mit Rubin.
Also bitte.
Und da mir das auch klar gewesen war, hätte ich sogleich wieder einschlafen
können, aber da war irgendwas gewesen, das mich gestört hatte, irgend ein
Detail …
Babe.
Dieses blöde Wort. Der Kosename, der, wenn man’s genau nahm, echt abartig
war – ich meine, wer war bitte darauf gekommen, dass es eine gute
Idee sein könnte, seinen Partner in sexueller Hinsicht ‚Baby‘ zu nennen?
An Kleinkindern war nichts sexy! Da hätte ich es, rein aus
entwicklungstechnischer Hinsicht, noch eher verstanden, wenn man ‚Mommy‘
und ‚Daddy‘ genommen hätte, so kollektiv als
Gesellschaft – ich hatte irgendwo mal gelesen, dass alle Kinder eine
Phase durchliefen, in der sie sich zu ihrer Mutter, respektive ihrem Vater
hingezogen fühlten. Und das waren wenigstens Erwachsene, auch wenn mir bei dem
Gedanken, meinen Partner ‚Papi‘ zu nennen, übel wurde. Dennoch, besser als
‚Kindchen‘.
Ich lenkte schon wieder ab. Dass die Amis nicht ganz knusper waren, war ja
nichts Neues, also musste ich auch nicht hier im Bus sitzen und über die Wahl
ihrer Kosenamen philosophieren; vor allem, da mir wohl bewusst war, dass Wörter
mehrere Bedeutungen annehmen konnten und das ‚Babe‘ in dem Falle nichts
(mehr) mit dem Säugling zu tun hatte. Das Problem war nicht die Wahl des
Kosenamens, sondern der Kosename an sich. Wir führten nicht die Art Beziehung,
in der man sich mit irgendwelchen Spitznamen ansprach, schon gar nicht mit
solchen. Er war ‚Rubin‘, ich ‚Vyvyan‘, das reichte.
Und dann kam noch die Art hinzu, wie er es gesagt hatte.
So … warm. Fast schon zärtlich, wenn auch leicht
spöttisch – aber eben auf eine fast schon liebevolle Art. Und damit
waren wir auf Grundwasser gestoßen, meine Damen und Herren: ‚zärtlich‘ und
‚liebevoll‘ waren keine Wörter, die ich mit Rubin in Bezug auf mich in
Verbindung bringen wollte. Weil, zärtlich war man nur zu jemanden, den man,
also … ‚liebevoll‘ sagte eigentlich alles.
Aber Rubin hatte keine Gefühle für mich, das wusste ich. Dessen war ich mir
sicher. Oder?
Natürlich! Er konnte mich ja noch nicht einmal ausste…
Moment, doch, konnte er. Das hatte er zumindest gesagt. Er fand mich
‚sympathisch‘.
‚Ich mag dich nicht nicht.‘
Ganz genau. Er mochte mich nicht nicht. Also er … mochte mich?
Mit diesem Gedanken, mit dieser Erinnerung, kamen mehr.
Auf Betsy: ‚Ich will doch
nicht meine Ruhe – nicht vor dir.‘
Und: ‚Ich mag es, wenn du hier bist, und du darfst gerne so lange
bleiben, wie du möchtest.‘
Im Bett: ‚Bis du noch wach?‘ – ‚Für dich doch immer.‘
Und am Morgen, völlig zufrieden im Halbschlaf: ‚Morning, gorgeous.’
In der Küche: ‚Keine Angst, Vyvyan, ich hab nichts gegen was
Komplizierteres. Und langsam nehme ich auch auf mich.‘
Über die Kuschelstunden: ‚Solange du mich lässt, werde ich die
verlängern.‘
‚Willst du jetzt kuscheln oder nicht?‘ – ‚Ich? Ja, immer.‘
Zu Kitty: ‚Vyvy ist eben einfach toll! Nicht wahr?‘ – ‚Doch,
das ist er.‘
Klar, da hatte er eigentlich gar keine andere Wahl gehabt und noch dazu
konnte ich den Schalk, der in seinen Augen geblitzt hatte, jetzt noch
überdeutlich sehen, aber …
Davon gab es mehrere, nicht wahr? Momente, in denen er Dinge gesagt hatte,
die in einem anderen Tonfall und einer anderen Situation eine ganz andere
Bedeutung bekommen würden. Bei der ersten Kuschelverhandlung, zum Beispiel:
‚Sonst noch Wünsche?’ – ‚Du könntest mich ‚Schatz‘ nennen.‘
Oder gestern, bei unserem … Streit (?): ‚Wenn du derart
kuschelgeil bist, solltest du vielleicht über eine feste Beziehung nachdenken.’ – ‚Bietest
du dich etwa an?‘
Aber dann gab es auch Dinge, die ich damit nicht herausreden konnte, dass
er sie zynisch oder sarkastisch gemeint hatte. Die Enttäuschung in seinem
Gesicht, als mir herausgerutscht war, dass ich ihn nicht hatte Küssen wollen,
und das gestammelte: ‚Das … I didn’t know – you didn’t
say anything …‘ zum Beispiel waren echt gewesen.
Oder auch: ‚Ich nehme dich ernst, Vyvyan. Mehr als du dir
vorstellen kannst.’
‚Bitte, bleib.‘
‚I wanna have you all to myself.’
…
So betrachtet, war das relativ viel. Aber gleichzeitig hatte er ja auch
gesagt: ‚Ob ich an Felizitas’ Stelle bin oder nicht ist scheißegal!‘ Okay,
vielleicht war da ein: ‚Wenn du mich noch einmal als ‚nebensächlich‘
bezeichnest, bist du deine Eier ebenfalls los‘ drauf gefolgt, aber das
änderte nichts daran, dass er da doch ganz klar gesagt hatte, dass er nicht an
Fees Stelle sein – ergo, nichts Festes mit mir
haben – wollte. Er fand mich ja auch nur ‚sympathisch‘ und wollte
eben bisschen Spaß beim Kuscheln haben, am liebsten regelmäßig und lange, und da ich die Person war,
die diese Ferien wohl am meisten Zeit mit ihm verbringen würde – und
da er mich auch nicht loswerden konnte, wegen der Nachhilfe – bot es
sich doch an, mit mir Spaß zu haben. Vielleicht gab es ihm sogar einen
besonderen Kick, weil wir uns in der Schule nicht verstanden und ich eine
Freundin hatte – man hörte doch ab und zu von Schwulen, die sich
einen Spaß daraus machten, Heten ‚umzudrehen‘ – er hatte ja nicht
wissen können, dass es bei mir Mutter Natur schon längst alles gedreht hatte,
was es zu drehen gab.
‚I wanna have you all to myself.’
Ja, er wollte sein Spielzeug ungern teilen; typisches Einzelkind eben.
Außerdem hatte er nicht gesagt, dass ich nichts mit wem anders anfangen sollte,
sondern nur, dass er keinen Bock auf Dreier hatte. Genau. Kein Grund, da groß
was hineinzulesen und mir Dinge einzubilden, die es nie gegeben hatte und nie
geben würde. Nicht wahr?
Doch.
Doch. Genau. Absolut kein Grund.
In diesem Moment hätte ich ausnahmsweise gerne jemanden gehabt, mit dem ich
darüber reden konnte – allerdings wollte ich weniger die ehrliche Meinung
einer anderen Person hören, als vielmehr die simple Bestätigung, dass ich mir
keine Sorgen machen brauchte. Dass Rubin keine Gefühle für mich hatte und auch
nicht im Begriff war, welche zu entwickeln. Dass alles in bester Ordnung war im
Lände Dänemark.
Bei Zeus, so ein bisschen Bestätigung hätte jetzt echt gut
getan – das hätte sie schon heute Morgen, als ich in den frühen
Tagesstunden wach im Bett lag und mich vor Schock über den Traum und all die
missverständlichen Dinge, die er gesagt hatte, nicht zu rühren wagte, aber
jetzt, jetzt würde sie noch besser tun, denn mittlerweile war hatte ich genug
Zeit gehabt, um ein paar Mal unvorsichtig genug zu sein und die Gedanken nicht
gleich abzublocken, wenn sie in den Vordergrund hüpften. Mittlerweile wusste
ich nicht mehr, wie ich ihm gegenübertreten sollte, solange ich nicht sicher
war, dass er wirklich nur ein bisschen Rummachen und dabei die eigene
Langeweile vertreiben wollte. Aber ich konnte ihn ja auch schlecht einfach so
fragen – ich meine, wie scheiße käme das denn, egal, wie die Antwort
lautete? Am Ende bildete er sich dann, weil ich so einen Scheiß gefragt
hatte, noch ein, ich würde auf ihn stehen. Nein danke.
Aber … eben. Gewissheit, dass ich mir unnötig Sorgen machte, wäre
schön. Nein, streicht ‚schön‘: Sie wäre enorm geil und absolut
fan-fucking-tastisch!
Ich wollte nicht, dass er was für mich empfand. Echt nicht. Käme mir gerade
mehr als ungelegen. Ich meine – verdammt, ich hatte mich erst so
halbwegs daran gewöhnt, mit ihm zu kuscheln, und – es war gut, okay?
Es machte Spaß, was ja auch Sinn der Sache war. Und, keine Ahnung, vielleicht
tat es ja ganz gut, die schwule Seite ein bisschen rauszulassen. Vielleicht
würde ihr das vorerst reichen und sie sich dann ein paar Jahre lang
zurückziehen. Man durfte ja noch hoffen.
Aber noch würde sie sich nicht kampflos wieder in ihr dunkles Loch
verkriechen, das war mir mehr als klar. Nein, sie hatte gerade erst Blut
geleckt und wollte mehr – was erklärte, warum ich meinen ‚Ich wollte
dich nicht küssen‘-Ausrutscher bereute. Ich wollte ihn nicht bereuen und ich
hatte nicht vor, an der Kussverbots-Situation was zu ändern, aber ich
bereute es, zumindest ein Teil von mir tat dies. Ein lauter und erschreckend
großer Teil.
Wie gesagt, ich hatte mich erst gerade an das verdammte Kuscheln gewöhnt
und war irgendwie sogar irgendwann in den letzten sechsunddreißig Stunden zu
dem Schluss gekommen, dass Intensivkuscheln auch so schlecht nicht war und
durchaus noch eine Chance verdient hatte – allerdings nur mit Rubin.
Denn mit Rubin war es safe, um mal sein geliebtes beschissenes Englisch
zu benützen. Mit Rubin war es unkompliziert und ohne Bedingungen und Erwartungen
und es war geheim und hatte mit dem Ferienende ein natürliches
Ablaufdatum – und wenn nicht damit, dann spätestens mit dem
Abschluss. Punkt, aus, Friede, Freude, Eierkuchen.
Und ich hatte heute morgen in den schlaflosen Stunden bemerkt, dass ich das
nicht vorzeitig abbrechen wollte. Es machte Spaß und war
safe – und wann würde ich schon noch einmal eine so bequeme Chance
bekommen, hm?
Nein, ich hatte absolut keinen Bock darauf, es jetzt schon zu beenden, aber
das würde ich tun müssen, wenn Rubin mehr als nur Sympathie für mich empfand.
Bei Hera, ich hoffte wirklich, er tat es nicht! Ich konnte nicht mit ihm
rummachen, wenn er mehr wollte, ich wollte ihm keine Hoffnungen auf mehr
machen! Das wäre keinen Deut besser, als die Beziehung zu Fee fortzuführen. Es
wäre genauso egoistisch und rücksichtslos und verlogen – nein, es
wäre sogar schlimmer: Fee war wenigstens glücklich und ich war zwar zu meinem
Vorteil mit ihr zusammen, aber ich nutzte sie nicht körperlich aus. Bei
Rubin … ich wollte das nicht. Ich wollte ihn nicht irgendwann vor mir
sehen, wenn er einsah, dass die Hoffnung vergebens war – ich wollte
mir noch nicht einmal vorstellen, wie er aussehen würde. Ja, Fee würde sich
auch beschissen fühlen, wenn ich mit ihr Schluss machte, aber irgendwie … war
das mit Rubin schlimmer.
Natürlich war es das, alleine schon aus dem Grund, weil es noch verhindert
werden konnte. Für Fee konnte ich nichts mehr tun, als es ihr möglichst
schonend beizubringen, aber Rubin, sollte er denn tatsächlich im Begriff sein, sich
in was hineinzusteigern – da konnte ich noch rechtzeitig die Bremse
ziehen, bevor es ihm wehtat und ich ein schlechtes Gewissen haben musste. Auch,
wenn ich die Bremse nicht ziehen wollte. Auch, wenn die Bremse zu ziehen
bedeuten würde, dass ich mich nicht nur von Betsy verabschieden müsste. Auch,
wenn es mir eigentlich egal sein konnte, ob Rubin ein bisschen Herzschmerz
haben würde oder nicht; sterben würde er daran ja nicht und was einen nicht
umbringt – nur, dass es mir eben nicht egal war. Und, dass ich nichts
abbrechen wollte. Schöne Scheiße.
Rubin durfte einfach keine Gefühle für mich haben. Ich konnte und
wollte ihm nicht mehr geben, als ich es bereits tat, aber weniger war auch
scheiße. Am Ende würde ich noch unter Kuschelentzug leiden!
Aber eben, diese ganzen Sorgen und Gedanken waren müßig, weil er ja nichts
für mich empfand außer vielleicht Neugierde, Geilheit und lockere Sympathie.
Genau.
Genau.
***
Als ich vor Rubins Haus stand, zögerte ich nur einen Herzschlag lang, bevor
ich auf die Klingel drückte. Und dann tat ich es gleich noch mal, in der
Hoffnung, dass das erste Klingeln ihn geweckt hatte und das zweite nun dafür
sogen würde, dass er seinen Arsch aus dem Bett schwang.
Kurz vor halb neun. Viel, viel zu früh. Aber jetzt hatte ich schon
geklingelt und es brachte nichts, umzukehren, das hatte ich ja schon längst
eingesehen. Vor dem Klingeln bereits, obwohl ich da eigentlich noch nach einem
Café oder Ähnlichem hätte suchen können – irgendwo musste es auch
hier am Steißbein der Welt so etwas geben; zumindest einen Bäcker mit einem
oder zwei Tischen. Irgend…
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und ein sehr zerzauster (lecker!),
nur mit einer weinroten Hipster bekleideter (noch leckerer!), aber leider auch
überaus mies gelaunter (weniger lecker …) Rubin funkelte mich an und
fauchte: „What the fuc…“ Dann stoppte er abrupt und fing an, immer noch
ein wenig verschlafen, von einem Ohr zum anderen zu grinsen.
„Vyvyan“, sprach’s, griff in meinen Nacken und zog mich energisch an
sich heran und somit ins Innere des Hauses, um die Tür hinter mir zuzuschlagen.
Einen Moment lang stand er ganz dich vor mir, lächelte mich an und beugte sich
sogar noch etwas vor, so dass ich dachte, hoffte – aber dann hob er
die andere Hand und zog mir meine Mütze vom Kopf.
„Your clothes are so freakin’ cold“, murmelte er, „Let’s get you
outta them.“
Zitronengras und Grübchen und warme Finger in meinem Nacken
und – oh verflucht, wie konnte man nur so perfekte Proportionen
haben? Das Verhältnis von Schultern zu Hüfte, von Torso zu Beinen, von Nippeln
zu Bauchnabel – da hatten die Götter garantiert versucht ihn dafür zu
entschädigen, dass er als Ami geboren worden war.
Rubin wickelte mich mit schnellen, fast schon hastigen Handgriffen aus dem
Schal und zog mir die Handschuhe von den Fingern, bevor ich auch nur reagieren
konnte.
„Guten Morgen“, brachte ich leicht verwirrt hervor, als er nach dem Kragen
meiner Jacke griff.
Er hielt inne, grinste mich an und schnurrte regelrecht: „It
really is, isn’t it?“
Äh … Hilfe?
Der Reißverschluss war schneller offen als ich blinzeln konnte und dann
trat er auch schon hinter mich, um mir aus der Jacke zu helfen – und
warf sie achtlos Richtung Heizung! Rubin, der bisher die Jacken immer penibel
aufgehängt und die Stricksachen zum Trocknen ordentlich auf die Heizung gelegt
hatte. Was zum Hades …?!
Ich wollte mich nach ihr bücken, aber Rubin hielt mich davon ab.
„Your shoes“, sagte er und zeigte darauf, als würde ich noch nicht
mal das verstehen. Bastard. Aber es war gerade schwierig, auf ihn wütend zu
werden; ob es an seiner seltsamen Stimmung oder an seinem
Frisch-aus-dem-Bett-Look lag, konnte ich nicht sagen. Sobald ich die Schuhe
abgestreift hatte, legte er mir auch schon eine Hand in den Rücken und schob
mich auf die Treppe zu.
Okay, ich gebe es zu: Ich war überfordert. Ich hatte mir die ganze Busfahrt
über Gedanken gemacht, mich zwischendurch immer wieder gefragt, ob es nicht
doch eine Möglichkeit gäbe, mich seiner Nicht-Gefühle zu versichern, und, damit
verbunden, darüber nachgedacht, wie ich mich am besten verhielt, sobald ich bei
ihm war – und nun ließ er mir gar keine Zeit, mich irgendwie zu
verhalten; nein, vielmehr dirigierte er mich geradewegs in sein Zimmer, kickte
die Tür ohne innezuhalten ins Schloss und –
Hey!
Warme Finger auf meinem Bauch, unter Pulli und T-Shirt; einen kurzen Moment
lang strichen sie meine Haut entlang, dann packten sie den Stoff und schoben
ihn energisch nach oben.
„Was wird das?!“ Ich wusste nicht, ob ich bloß überrascht oder auch
empört sein sollte, aber das ging mir jetzt doch ein bisschen zu schnell.
„Hands up!“, befahl er plötzlich so scharf, dass ich automatisch tat
wie geheißen. Im nächsten Augenblick stand ich mit nacktem Oberkörper da.
Was ging hier ab, verdammt noch mal?! Wieso war er so drauf und wieso tat
ich auch noch, was er sagte?
„Rubin, jetzt warte doch mal!“
Und Rubin, der gerade vor mir auf die Knie gegangen war und die Hände an
meinem Hosenbund hatte, stoppte tatsächlich und sah hoch. Lächelnd. Vor mir
kniend.
Äh … ich … ha.
Nette Aussicht.
Dunkle Augen hatten wirklich etwas Faszinierendes an sich. Waren
so … unergründlich. Und irgendwie schafften seine es, warm und
beruhigend und verschmitzt und frech und verschlafen in einem auszusehen.
Ich … was war noch mal? Hatte ich irgendetwas tun sollen? Sagen
wollen?
Das Lächeln wurde breiter, tiefer, irgendwie. Er hielt den
Blickkontakt aufrecht, beugte sich vor und drückte einen Kuss auf meinen
Schritt.
„Relax, babe“, raunte er dicht am Stoff, „Betsy’s still
asleep – and a minute ago, so was I. That means my bed is the warmest
place in the entire house; so that’s where you want to be.“ Er
öffnete die Hose und sah noch einmal hoch. Mein Blut hatte längst meinen Kopf
verlassen und sich per Schnellzug auf den Weg in meine Körpermitte gemacht,
aber das Blitzen in seinen Augen feuerte es noch einmal extra an. „Coincidentally,
it’s also where I want you to be. Perfect win-win.“ Und dann zog er
mir, wortwörtlich, die Hose runter.
Während mein überfordertes Gehirn versuchte aus dem Kauderwelsch Sinn zu
machen, hob er meine Füße aus dem Jeansknäuel und entledigte mich bei der
Gelegenheit gleich meiner Socken. Er kam, immer noch lächelnd, hoch, zupfte
zwei meiner Strähnen zurecht und ließ die Hand dann von meiner Schulter langsam
den Arm hinunterwandern, bis …
Rubin runzelte die Stirn, sah auf mein Handgelenk und verzog den Mund.
Was war denn jetzt los? Da war doch nichts, außer dem Lederarmband, dass
mir Fee geschenkt hatte. Okay, vielleicht sollte ich es nicht mehr tragen, da
ich ja schon beschlossen hatte, die Beziehung zu beenden, aber es war wirklich
cool. Ich mochte es. Und wenn ich es für den Rest des Schuljahres dann zu Hause
lassen musste – denn mal ehrlich, man lief nicht mit
Weihnachtsgeschenken seiner Ex am Körper herum, nachdem man sich getrennt
hatte, zumindest nicht, wenn man unter Leuten war, die besagte Ex
kannten – konnte ich es doch wenigstens jetzt noch umhaben.
Rubin aber schien da anderer Meinung zu sein, denn er zog meine Hand nach
oben, öffnete den Verschluss und sah mir dann direkt und eindringlich in die
Augen.
„It doesn’t suit you.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, schmiss
er es weg von uns auf den Boden.
Was war denn verdammt noch mal los mit ihm heute? Das war doch nicht mehr
normal – kein ordentlicher Kerl hatte solche Stimmungsschwankungen,
verflucht! Da konnte wirklich niemand von mir erwarten, dass ich wusste, wie
ich reagieren sollte.
Er mochte Lederschmuck nicht, okay – oder fand zumindest, er
stand mir nicht. War noch lange kein Grund, ihn auf den Boden zu pfeffern, vor
allem, da es immer noch meine Entscheidung war, was ich an meinem Körper trug
und was nicht.
Ganz genau das war es. Was erlaubte er sich eigentlich? Er war weder mein
Stilberater noch meine Mutter und ich war weder jemand, der einen Stilberater
brauchte noch fünf Jahre alt.
Dieser blöde, egomanische …
Rubin schubste mich aufs Bett, kletterte nach und zog in Windeseile die
Decke über mich.
Oh.
Oh!
Er hatte nicht gelogen, es war warm hier drunter! So schön. So angenehm.
Jetzt wurde mir erst richtig bewusst, wie scheiße kalt es draußen und auch im
Bus gewesen war – klar, die Sonne war gerade erst im Begriff
aufzugehen. Wer machte sich bitte im Dunkeln auf den Weg zur Nachhilfe? Ich
hatte sie doch nicht mehr alle!
Rubin löschte das Licht, schlüpfte ebenfalls unter die Decke, kuschelte
sich an mich und schob ein Knie über meine Beine.
„There. Way better.“
„Kannst du bitte Deutsch sprechen?“
Er brummte. „Wenn’s sein muss.“
„Danke.“
Und dann lagen wir so da, und … na ja. Wir lagen eben. Nach
gefühlten Stunden, die sicher keine fünf Minuten lang waren, fragte ich:
„Und jetzt?“
„Genießen wir die Wärme.“
„Wie lange?“
Er seufzte. „So was von keine Kuschelausdauer, das ist echt traurig.“
„Ich bin auch nicht zum Kuscheln hier“, motzte ich und hatte gute Lust, die
Arme zu verschränken.
Wieso wurde ich so defensiv? Dann war ich eben kein besonders ausdauernder
Kuschler, na und? Bisher hatte auch noch niemand so intensiv kuscheln wollen
wie Rubin – war ja fast schon krankhaft. Ziemlich sicher lag der
Fehler nicht an mir, sondern an ihm. Genau. Und trotzdem gab er mir das Gefühl,
etwas falsch zu machen. Bastard.
„Ach nein?“, fragte Rubin ruhig, „Vyvyan, du kannst nicht erwartet
haben, dass wir jetzt mit der Nachhilfe anfangen – du weißt,
dass ich kein Morgenmensch bin. Außerdem macht es doch eh keinen Unterschied,
da wir kuscheltechnisch noch was nachzuholen haben.“
„Ja, aber …“
„Ich steh garantiert nicht um halb neun auf, und du willst doch gar nicht
unter der warmen Decke hervor.“ Obwohl die Worte bestimmt und irgendwie
endgültig klangen, war er immer noch entspannt und seine Stimme weich und
zufrieden. „Oder irre ich mich?“
Tat er natürlich nicht, aber das würde ich ihm nicht sagen. Der hielt doch
so oder so schon …
„Dachte ich mir.“
Bastard.
Moment mal – hatte er mich eben, zwischen Tür und Treppe und Bett
schon wieder ‚Babe‘ genannt?
Nee, oder? Würde er nicht. Bildete ich mir ein. Garantiert.
Und sogar wenn, dann meinte er das sicher sarkastisch. Genauso wie er sein
‚Süßer‘ gemeint hatte. Ja. Hundertpro.
Noch einmal vergingen gefühlte Stunden, die noch kürzer waren als die
vorherigen. Dann:
„Willst du denn gar nicht wissen, warum ich schon hier bin?“
„Nein.“
…
„Nein?“
Wie jetzt, interessierte es ihn nicht? Kein bisschen?
Da, bitte. Der Kerl war nicht verliebt. Kein Stück.
„Egal, was der wirkliche Grund ist, der, den ich mir ausmale, ist besser“,
erklärte er und rieb seine Wange zweimal an meiner Schulter.
Äh … okay …?
Musste er unbedingt dann so anhänglich sein, wenn ich entschieden hatte,
dass da nichts war von seiner Seite aus? Obwohl – anhänglich war er
eigentlich immer. Hatte wahrscheinlich nichts mit seiner Gefühlslage zu tun,
sondern war einfach seine Art.
… Dass ich ausgerechnet Rubin mal als von Grund auf anhänglich
beschreiben würde, hätte ich mir vor einem Monat auch noch nicht denken können.
‚Damals‘ war sowieso alles einfacher gewesen. Nur … ‚damals‘ kannte
ich auch Betsy noch nicht. Und vor allem … nichts und.
„Will ich wissen, was du dir ausmalst?“, fragte ich misstrauisch und Rubin
hob den Kopf, um mich schelmisch anzugrinsen.
„Dass du es vor Sehnsucht nicht mehr ausgehalten hast.“
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. Der hatte sie doch nicht mehr alle.
Ich und Sehnsucht.
„Wenn du es nicht abstreitest, bestätigt mich das nur.“
Ich – gar nicht wahr! Nichts bestätigte seine egozentrischen
Fantastereien!
„Es abzustreiten hätte auch nichts gebracht. Du denkst doch eh, was du
willst.“
„Hm“, machte er und rückte noch ein bisschen näher – ich hatte
nicht gedacht, dass das möglich war, aber er schaffte es, „trotzdem hast du
mich bestätigt.“
„Genau das meine ich: Du denkst, was du willst.“
„Und du hast es immer noch nicht abgestritten.“
Ach, leck mich doch.
*********
Perfect. Fucking. Morning.
Es ist ja schon ziemlich beeindruckend, wie er sich das in seinem Kopf alles so hindreht. Selbstverarsche scheint bei ihm echt super zu funktionieren.
AntwortenLöschenDas wird sicher noch ne ganz schön schwere Geburt werden, wenn dann irgendwann mal der Realität ins Auge blicken muss.
Aber warum sich das Leben leicht machen, wenn man es auch kompliziert haben kann.
Kann gar nicht erwarten zu lesen wie es weiter geht. ^^
Wünsch dir ein schönes Halloween und bis nächste Woche dann vielleicht.
Ja, ne? Das kann er echt meisterhaft. Er hat aber auch schon lange Übung drin. ;) Und ich glaube, bei seiner starren Weltansicht ist so ziemlich jede Veränderung eine schwere Geburt, von daher wird er es entweder schon gewöhnt sein oder sich bald mal dran gewöhnen müssen, denn es kommen ein paar Veränderungen auf ihn zu. ;)
LöschenDanke. Ich hoffe, du konntest dich schön gruseln! Halloween ist ja auch echt ne tolle Erfindung. :)
Vielen lieben Dank für dein Review!
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