Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 23:


Es war acht Uhr fünfzehn am neunundzwanzigsten Dezember und ich saß im Bus, ohne wirklich zu wissen, warum. Meine einzige, unzureichende Begründung war: Rubin hatte gesagt, früher sei besser. Das entsprach zwar der Wahrheit, aber wenn man bedachte, dass er garantiert noch im Bett lag und bei meinem Glück die Klingel nicht hören und ich deshalb elendig draußen erfrieren würde, verpuffte die Ausrede in tausend zerbrochene Schneeflocken. Ich würde mir sonst was abfrieren, das wusste ich jetzt schon – ganz abgesehen davon, dass ich auch keinen Plan hatte, was ich ihm als Begründung für das frühe Auftauchen geben wollte; aber mittlerweile war das egal, denn umkehren und wieder nach Hause konnte ich nicht – es würde seitens Mum nur zu unangenehmen Fragen führen – und woanders hin auch nicht. Also was blieb? In den sauren Eiszapfen beißen und ihn wenn nötig wachklingeln, mit Handy und Türklingel im Kombipack. Wenn nötig sogar ganz fernsehreif mit Kieselsteinchen gegens Fenster. Oder Backsteinen.
Blöder Morgenmuffel.

Und das alles nur, weil ich bereits um halb sechs aufgewacht war und ums Verrecken nicht mehr hatte einschlafen können. Warum hatte ich auch so einen Scheiß träumen müssen? Wenn es ein feuchter Traum gewesen wäre, hätte ich das ja noch verstanden, aber da war nichts feucht dran gewesen – wenn man meine Augen nicht mitzählte, denn mir war nach dem Aufwachen echt zum Heulen zumute gewesen. Wäre ich nicht so geschockt gewesen und generell zu stolz zum Heulen, hätte ich es vermutlich getan.
Ich. Rubin. Zusammen. In der Schule. Zusammen-zusammen. Offen.
Wer bitte dachte sich so eine Kacke aus, häh? Hera, Hades und Hephaistos, ich hatte ihn im Klassenraum im Arm von hinten umarmt! Und er hatte sich halb zu mir umgedreht und gelacht und irgendwas gesagt – gelacht, in der Schule, als würde er das über sein verdammtes amerikanisches Ego bringen!
Er hatte mich Babe genannt.
Es war ein einziger Alptraum, sprich- und wortwörtlich. Aber im Endeffekt bewies es lediglich, dass die Küsserei ein Fehler gewesen war. Ohne das hätte ich doch nie so einen Schwachsinn zusammenphantasiert. Ich, geoutet, mit Rubin. Also bitte.
Und da mir das auch klar gewesen war, hätte ich sogleich wieder einschlafen können, aber da war irgendwas gewesen, das mich gestört hatte, irgend ein Detail …
Babe.
Dieses blöde Wort. Der Kosename, der, wenn man’s genau nahm, echt abartig war – ich meine, wer war bitte darauf gekommen, dass es eine gute Idee sein könnte, seinen Partner in sexueller Hinsicht ‚Baby‘ zu nennen? An Kleinkindern war nichts sexy! Da hätte ich es, rein aus entwicklungstechnischer Hinsicht, noch eher verstanden, wenn man ‚Mommy‘ und ‚Daddy‘ genommen hätte, so kollektiv als Gesellschaft – ich hatte irgendwo mal gelesen, dass alle Kinder eine Phase durchliefen, in der sie sich zu ihrer Mutter, respektive ihrem Vater hingezogen fühlten. Und das waren wenigstens Erwachsene, auch wenn mir bei dem Gedanken, meinen Partner ‚Papi‘ zu nennen, übel wurde. Dennoch, besser als ‚Kindchen‘.
Ich lenkte schon wieder ab. Dass die Amis nicht ganz knusper waren, war ja nichts Neues, also musste ich auch nicht hier im Bus sitzen und über die Wahl ihrer Kosenamen philosophieren; vor allem, da mir wohl bewusst war, dass Wörter mehrere Bedeutungen annehmen konnten und das ‚Babe‘ in dem Falle nichts (mehr) mit dem Säugling zu tun hatte. Das Problem war nicht die Wahl des Kosenamens, sondern der Kosename an sich. Wir führten nicht die Art Beziehung, in der man sich mit irgendwelchen Spitznamen ansprach, schon gar nicht mit solchen. Er war ‚Rubin‘, ich ‚Vyvyan‘, das reichte.
Und dann kam noch die Art hinzu, wie er es gesagt hatte. So … warm. Fast schon zärtlich, wenn auch leicht spöttisch – aber eben auf eine fast schon liebevolle Art. Und damit waren wir auf Grundwasser gestoßen, meine Damen und Herren: ‚zärtlich‘ und ‚liebevoll‘ waren keine Wörter, die ich mit Rubin in Bezug auf mich in Verbindung bringen wollte. Weil, zärtlich war man nur zu jemanden, den man, also … ‚liebevoll‘ sagte eigentlich alles.
Aber Rubin hatte keine Gefühle für mich, das wusste ich. Dessen war ich mir sicher. Oder?
Natürlich! Er konnte mich ja noch nicht einmal ausste… 
Moment, doch, konnte er. Das hatte er zumindest gesagt. Er fand mich ‚sympathisch‘.
‚Ich mag dich nicht nicht.‘
Ganz genau. Er mochte mich nicht nicht. Also er … mochte mich?
Mit diesem Gedanken, mit dieser Erinnerung, kamen mehr.
Auf Betsy:  Ich will doch nicht meine Ruhe – nicht vor dir.‘
Und: ‚Ich mag es, wenn du hier bist, und du darfst gerne so lange bleiben, wie du möchtest.‘
Im Bett: ‚Bis du noch wach?‘ –  Für dich doch immer.‘
Und am Morgen, völlig zufrieden im Halbschlaf: ‚Morning, gorgeous.’
In der Küche: ‚Keine Angst, Vyvyan, ich hab nichts gegen was Komplizierteres. Und langsam nehme ich auch auf mich.‘
Über die Kuschelstunden: ‚Solange du mich lässt, werde ich die verlängern.‘
‚Willst du jetzt kuscheln oder nicht?‘ – ‚Ich? Ja, immer.‘
Zu Kitty: ‚Vyvy ist eben einfach toll! Nicht wahr?‘ – ‚Doch, das ist er.‘
Klar, da hatte er eigentlich gar keine andere Wahl gehabt und noch dazu konnte ich den Schalk, der in seinen Augen geblitzt hatte, jetzt noch überdeutlich sehen, aber …
Davon gab es mehrere, nicht wahr? Momente, in denen er Dinge gesagt hatte, die in einem anderen Tonfall und einer anderen Situation eine ganz andere Bedeutung bekommen würden. Bei der ersten Kuschelverhandlung, zum Beispiel: ‚Sonst noch Wünsche?’ – ‚Du könntest mich ‚Schatz‘ nennen.‘
Oder gestern, bei unserem … Streit (?): ‚Wenn du derart kuschelgeil bist, solltest du vielleicht über eine feste Beziehung nachdenken.’ – ‚Bietest du dich etwa an?‘
Aber dann gab es auch Dinge, die ich damit nicht herausreden konnte, dass er sie zynisch oder sarkastisch gemeint hatte. Die Enttäuschung in seinem Gesicht, als mir herausgerutscht war, dass ich ihn nicht hatte Küssen wollen, und das gestammelte: ‚Das … I didn’t know – you didn’t say anything …‘ zum Beispiel waren echt gewesen.
Oder auch: ‚Ich nehme dich ernst, Vyvyan. Mehr als du dir vorstellen kannst.’
‚Bitte, bleib.‘
‚I wanna have you all to myself.’
So betrachtet, war das relativ viel. Aber gleichzeitig hatte er ja auch gesagt: ‚Ob ich an Felizitas’ Stelle bin oder nicht ist scheißegal!‘ Okay, vielleicht war da ein: ‚Wenn du mich noch einmal als ‚nebensächlich‘ bezeichnest, bist du deine Eier ebenfalls los‘ drauf gefolgt, aber das änderte nichts daran, dass er da doch ganz klar gesagt hatte, dass er nicht an Fees Stelle sein – ergo, nichts Festes mit mir haben – wollte. Er fand mich ja auch nur ‚sympathisch‘ und wollte eben bisschen Spaß beim Kuscheln haben, am liebsten regelmäßig  und lange, und da ich die Person war, die diese Ferien wohl am meisten Zeit mit ihm verbringen würde – und da er mich auch nicht loswerden konnte, wegen der Nachhilfe – bot es sich doch an, mit mir Spaß zu haben. Vielleicht gab es ihm sogar einen besonderen Kick, weil wir uns in der Schule nicht verstanden und ich eine Freundin hatte – man hörte doch ab und zu von Schwulen, die sich einen Spaß daraus machten, Heten ‚umzudrehen‘ – er hatte ja nicht wissen können, dass es bei mir Mutter Natur schon längst alles gedreht hatte, was es zu drehen gab.   
‚I wanna have you all to myself.’
Ja, er wollte sein Spielzeug ungern teilen; typisches Einzelkind eben. Außerdem hatte er nicht gesagt, dass ich nichts mit wem anders anfangen sollte, sondern nur, dass er keinen Bock auf Dreier hatte. Genau. Kein Grund, da groß was hineinzulesen und mir Dinge einzubilden, die es nie gegeben hatte und nie geben würde. Nicht wahr?
Doch.
Doch. Genau. Absolut kein Grund.
In diesem Moment hätte ich ausnahmsweise gerne jemanden gehabt, mit dem ich darüber reden konnte – allerdings wollte ich weniger die ehrliche Meinung einer anderen Person hören, als vielmehr die simple Bestätigung, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte. Dass Rubin keine Gefühle für mich hatte und auch nicht im Begriff war, welche zu entwickeln. Dass alles in bester Ordnung war im Lände Dänemark. 
Bei Zeus, so ein bisschen Bestätigung hätte jetzt echt gut getan – das hätte sie schon heute Morgen, als ich in den frühen Tagesstunden wach im Bett lag und mich vor Schock über den Traum und all die missverständlichen Dinge, die er gesagt hatte, nicht zu rühren wagte, aber jetzt, jetzt würde sie noch besser tun, denn mittlerweile war hatte ich genug Zeit gehabt, um ein paar Mal unvorsichtig genug zu sein und die Gedanken nicht gleich abzublocken, wenn sie in den Vordergrund hüpften. Mittlerweile wusste ich nicht mehr, wie ich ihm gegenübertreten sollte, solange ich nicht sicher war, dass er wirklich nur ein bisschen Rummachen und dabei die eigene Langeweile vertreiben wollte. Aber ich konnte ihn ja auch schlecht einfach so fragen – ich meine, wie scheiße käme das denn, egal, wie die Antwort lautete? Am Ende bildete er sich dann, weil ich so einen Scheiß gefragt hatte, noch ein, ich würde auf ihn stehen. Nein danke.
Aber … eben. Gewissheit, dass ich mir unnötig Sorgen machte, wäre schön. Nein, streicht ‚schön‘: Sie wäre enorm geil und absolut fan-fucking-tastisch!
Ich wollte nicht, dass er was für mich empfand. Echt nicht. Käme mir gerade mehr als ungelegen. Ich meine – verdammt, ich hatte mich erst so halbwegs daran gewöhnt, mit ihm zu kuscheln, und – es war gut, okay? Es machte Spaß, was ja auch Sinn der Sache war. Und, keine Ahnung, vielleicht tat es ja ganz gut, die schwule Seite ein bisschen rauszulassen. Vielleicht würde ihr das vorerst reichen und sie sich dann ein paar Jahre lang zurückziehen. Man durfte ja noch hoffen.
Aber noch würde sie sich nicht kampflos wieder in ihr dunkles Loch verkriechen, das war mir mehr als klar. Nein, sie hatte gerade erst Blut geleckt und wollte mehr – was erklärte, warum ich meinen ‚Ich wollte dich nicht küssen‘-Ausrutscher bereute. Ich wollte ihn nicht bereuen und ich hatte nicht vor, an der Kussverbots-Situation was zu ändern, aber ich bereute es, zumindest ein Teil von mir tat dies. Ein lauter und erschreckend großer Teil.
Wie gesagt, ich hatte mich erst gerade an das verdammte Kuscheln gewöhnt und war irgendwie sogar irgendwann in den letzten sechsunddreißig Stunden zu dem Schluss gekommen, dass Intensivkuscheln auch so schlecht nicht war und durchaus noch eine Chance verdient hatte – allerdings nur mit Rubin. Denn mit Rubin war es safe, um mal sein geliebtes beschissenes Englisch zu benützen. Mit Rubin war es unkompliziert und ohne Bedingungen und Erwartungen und es war geheim und hatte mit dem Ferienende ein natürliches Ablaufdatum – und wenn nicht damit, dann spätestens mit dem Abschluss. Punkt, aus, Friede, Freude, Eierkuchen.
Und ich hatte heute morgen in den schlaflosen Stunden bemerkt, dass ich das nicht vorzeitig abbrechen wollte. Es machte Spaß und war safe – und wann würde ich schon noch einmal eine so bequeme Chance bekommen, hm?
Nein, ich hatte absolut keinen Bock darauf, es jetzt schon zu beenden, aber das würde ich tun müssen, wenn Rubin mehr als nur Sympathie für mich empfand. Bei Hera, ich hoffte wirklich, er tat es nicht! Ich konnte nicht mit ihm rummachen, wenn er mehr wollte, ich wollte ihm keine Hoffnungen auf mehr machen! Das wäre keinen Deut besser, als die Beziehung zu Fee fortzuführen. Es wäre genauso egoistisch und rücksichtslos und verlogen – nein, es wäre sogar schlimmer: Fee war wenigstens glücklich und ich war zwar zu meinem Vorteil mit ihr zusammen, aber ich nutzte sie nicht körperlich aus. Bei Rubin … ich wollte das nicht. Ich wollte ihn nicht irgendwann vor mir sehen, wenn er einsah, dass die Hoffnung vergebens war – ich wollte mir noch nicht einmal vorstellen, wie er aussehen würde. Ja, Fee würde sich auch beschissen fühlen, wenn ich mit ihr Schluss machte, aber irgendwie … war das mit Rubin schlimmer.
Natürlich war es das, alleine schon aus dem Grund, weil es noch verhindert werden konnte. Für Fee konnte ich nichts mehr tun, als es ihr möglichst schonend beizubringen, aber Rubin, sollte er denn tatsächlich im Begriff sein, sich in was hineinzusteigern – da konnte ich noch rechtzeitig die Bremse ziehen, bevor es ihm wehtat und ich ein schlechtes Gewissen haben musste. Auch, wenn ich die Bremse nicht ziehen wollte. Auch, wenn die Bremse zu ziehen bedeuten würde, dass ich mich nicht nur von Betsy verabschieden müsste. Auch, wenn es mir eigentlich egal sein konnte, ob Rubin ein bisschen Herzschmerz haben würde oder nicht; sterben würde er daran ja nicht und was einen nicht umbringt – nur, dass es mir eben nicht egal war. Und, dass ich nichts abbrechen wollte. Schöne Scheiße.
Rubin durfte einfach keine Gefühle für mich haben. Ich konnte und wollte ihm nicht mehr geben, als ich es bereits tat, aber weniger war auch scheiße. Am Ende würde ich noch unter Kuschelentzug leiden!
Aber eben, diese ganzen Sorgen und Gedanken waren müßig, weil er ja nichts für mich empfand außer vielleicht Neugierde, Geilheit und lockere Sympathie. Genau.
Genau.

***

Als ich vor Rubins Haus stand, zögerte ich nur einen Herzschlag lang, bevor ich auf die Klingel drückte. Und dann tat ich es gleich noch mal, in der Hoffnung, dass das erste Klingeln ihn geweckt hatte und das zweite nun dafür sogen würde, dass er seinen Arsch aus dem Bett schwang.
Kurz vor halb neun. Viel, viel zu früh. Aber jetzt hatte ich schon geklingelt und es brachte nichts, umzukehren, das hatte ich ja schon längst eingesehen. Vor dem Klingeln bereits, obwohl ich da eigentlich noch nach einem Café oder Ähnlichem hätte suchen können – irgendwo musste es auch hier am Steißbein der Welt so etwas geben; zumindest einen Bäcker mit einem oder zwei Tischen. Irgend…
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und ein sehr zerzauster (lecker!), nur mit einer weinroten Hipster bekleideter (noch leckerer!), aber leider auch überaus mies gelaunter (weniger lecker …) Rubin funkelte mich an und fauchte: „What the fuc…“ Dann stoppte er abrupt und fing an, immer noch ein wenig verschlafen, von einem Ohr zum anderen zu grinsen.
Vyvyan“, sprach’s, griff in meinen Nacken und zog mich energisch an sich heran und somit ins Innere des Hauses, um die Tür hinter mir zuzuschlagen. Einen Moment lang stand er ganz dich vor mir, lächelte mich an und beugte sich sogar noch etwas vor, so dass ich dachte, hoffte – aber dann hob er die andere Hand und zog mir meine Mütze vom Kopf.
Your clothes are so freakin’ cold“, murmelte er, „Let’s get you outta them.
Zitronengras und Grübchen und warme Finger in meinem Nacken und – oh verflucht, wie konnte man nur so perfekte Proportionen haben? Das Verhältnis von Schultern zu Hüfte, von Torso zu Beinen, von Nippeln zu Bauchnabel – da hatten die Götter garantiert versucht ihn dafür zu entschädigen, dass er als Ami geboren worden war.
Rubin wickelte mich mit schnellen, fast schon hastigen Handgriffen aus dem Schal und zog mir die Handschuhe von den Fingern, bevor ich auch nur reagieren konnte.
„Guten Morgen“, brachte ich leicht verwirrt hervor, als er nach dem Kragen meiner Jacke griff.
Er hielt inne, grinste mich an und schnurrte regelrecht: „It really is, isn’t it?
Äh … Hilfe?
Der Reißverschluss war schneller offen als ich blinzeln konnte und dann trat er auch schon hinter mich, um mir aus der Jacke zu helfen – und warf sie achtlos Richtung Heizung! Rubin, der bisher die Jacken immer penibel aufgehängt und die Stricksachen zum Trocknen ordentlich auf die Heizung gelegt hatte. Was zum Hades …?!
Ich wollte mich nach ihr bücken, aber Rubin hielt mich davon ab.
Your shoes“, sagte er und zeigte darauf, als würde ich noch nicht mal das verstehen. Bastard. Aber es war gerade schwierig, auf ihn wütend zu werden; ob es an seiner seltsamen Stimmung oder an seinem Frisch-aus-dem-Bett-Look lag, konnte ich nicht sagen. Sobald ich die Schuhe abgestreift hatte, legte er mir auch schon eine Hand in den Rücken und schob mich auf die Treppe zu.
Okay, ich gebe es zu: Ich war überfordert. Ich hatte mir die ganze Busfahrt über Gedanken gemacht, mich zwischendurch immer wieder gefragt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, mich seiner Nicht-Gefühle zu versichern, und, damit verbunden, darüber nachgedacht, wie ich mich am besten verhielt, sobald ich bei ihm war – und nun ließ er mir gar keine Zeit, mich irgendwie zu verhalten; nein, vielmehr dirigierte er mich geradewegs in sein Zimmer, kickte die Tür ohne innezuhalten ins Schloss und –
Hey!
Warme Finger auf meinem Bauch, unter Pulli und T-Shirt; einen kurzen Moment lang strichen sie meine Haut entlang, dann packten sie den Stoff und schoben ihn energisch nach oben.
„Was wird das?!“ Ich wusste nicht, ob ich bloß überrascht oder auch empört sein sollte, aber das ging mir jetzt doch ein bisschen zu schnell.
Hands up!“, befahl er plötzlich so scharf, dass ich automatisch tat wie geheißen. Im nächsten Augenblick stand ich mit nacktem Oberkörper da.
Was ging hier ab, verdammt noch mal?! Wieso war er so drauf und wieso tat ich auch noch, was er sagte?
„Rubin, jetzt warte doch mal!“
Und Rubin, der gerade vor mir auf die Knie gegangen war und die Hände an meinem Hosenbund hatte, stoppte tatsächlich und sah hoch. Lächelnd. Vor mir kniend.
Äh … ich … ha.
Nette Aussicht.
Dunkle Augen hatten wirklich etwas Faszinierendes an sich. Waren so … unergründlich. Und irgendwie schafften seine es, warm und beruhigend und verschmitzt und frech und verschlafen in einem auszusehen.
Ich … was war noch mal? Hatte ich irgendetwas tun sollen? Sagen wollen?
Das Lächeln wurde breiter, tiefer, irgendwie. Er hielt den Blickkontakt aufrecht, beugte sich vor und drückte einen Kuss auf meinen Schritt.
Relax, babe“, raunte er dicht am Stoff, „Betsy’s still asleep – and a minute ago, so was I. That means my bed is the warmest place in the entire house; so that’s where you want to be.“ Er öffnete die Hose und sah noch einmal hoch. Mein Blut hatte längst meinen Kopf verlassen und sich per Schnellzug auf den Weg in meine Körpermitte gemacht, aber das Blitzen in seinen Augen feuerte es noch einmal extra an. „Coincidentally, it’s also where I want you to be. Perfect win-win.“ Und dann zog er mir, wortwörtlich, die Hose runter.
Während mein überfordertes Gehirn versuchte aus dem Kauderwelsch Sinn zu machen, hob er meine Füße aus dem Jeansknäuel und entledigte mich bei der Gelegenheit gleich meiner Socken. Er kam, immer noch lächelnd, hoch, zupfte zwei meiner Strähnen zurecht und ließ die Hand dann von meiner Schulter langsam den Arm hinunterwandern, bis …
Rubin runzelte die Stirn, sah auf mein Handgelenk und verzog den Mund.
Was war denn jetzt los? Da war doch nichts, außer dem Lederarmband, dass mir Fee geschenkt hatte. Okay, vielleicht sollte ich es nicht mehr tragen, da ich ja schon beschlossen hatte, die Beziehung zu beenden, aber es war wirklich cool. Ich mochte es. Und wenn ich es für den Rest des Schuljahres dann zu Hause lassen musste – denn mal ehrlich, man lief nicht mit Weihnachtsgeschenken seiner Ex am Körper herum, nachdem man sich getrennt hatte, zumindest nicht, wenn man unter Leuten war, die besagte Ex kannten – konnte ich es doch wenigstens jetzt noch umhaben.
Rubin aber schien da anderer Meinung zu sein, denn er zog meine Hand nach oben, öffnete den Verschluss und sah mir dann direkt und eindringlich in die Augen.
It doesn’t suit you.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, schmiss er es weg von uns auf den Boden.
Was war denn verdammt noch mal los mit ihm heute? Das war doch nicht mehr normal – kein ordentlicher Kerl hatte solche Stimmungsschwankungen, verflucht! Da konnte wirklich niemand von mir erwarten, dass ich wusste, wie ich reagieren sollte.
Er mochte Lederschmuck nicht, okay – oder fand zumindest, er stand mir nicht. War noch lange kein Grund, ihn auf den Boden zu pfeffern, vor allem, da es immer noch meine Entscheidung war, was ich an meinem Körper trug und was nicht.
Ganz genau das war es. Was erlaubte er sich eigentlich? Er war weder mein Stilberater noch meine Mutter und ich war weder jemand, der einen Stilberater brauchte noch fünf Jahre alt.
Dieser blöde, egomanische …
Rubin schubste mich aufs Bett, kletterte nach und zog in Windeseile die Decke über mich.
Oh.
Oh!
Er hatte nicht gelogen, es war warm hier drunter! So schön. So angenehm. Jetzt wurde mir erst richtig bewusst, wie scheiße kalt es draußen und auch im Bus gewesen war – klar, die Sonne war gerade erst im Begriff aufzugehen. Wer machte sich bitte im Dunkeln auf den Weg zur Nachhilfe? Ich hatte sie doch nicht mehr alle!
Rubin löschte das Licht, schlüpfte ebenfalls unter die Decke, kuschelte sich an mich und schob ein Knie über meine Beine.
There. Way better.
„Kannst du bitte Deutsch sprechen?“
Er brummte. „Wenn’s sein muss.“
„Danke.“
Und dann lagen wir so da, und … na ja. Wir lagen eben. Nach gefühlten Stunden, die sicher keine fünf Minuten lang waren, fragte ich:
„Und jetzt?“
„Genießen wir die Wärme.“
„Wie lange?“
Er seufzte. „So was von keine Kuschelausdauer, das ist echt traurig.“
„Ich bin auch nicht zum Kuscheln hier“, motzte ich und hatte gute Lust, die Arme zu verschränken.
Wieso wurde ich so defensiv? Dann war ich eben kein besonders ausdauernder Kuschler, na und? Bisher hatte auch noch niemand so intensiv kuscheln wollen wie Rubin – war ja fast schon krankhaft. Ziemlich sicher lag der Fehler nicht an mir, sondern an ihm. Genau. Und trotzdem gab er mir das Gefühl, etwas falsch zu machen. Bastard.
„Ach nein?“, fragte Rubin ruhig, „Vyvyan, du kannst nicht erwartet haben, dass wir jetzt mit der Nachhilfe anfangen – du weißt, dass ich kein Morgenmensch bin. Außerdem macht es doch eh keinen Unterschied, da wir kuscheltechnisch noch was nachzuholen haben.“
„Ja, aber …“
„Ich steh garantiert nicht um halb neun auf, und du willst doch gar nicht unter der warmen Decke hervor.“ Obwohl die Worte bestimmt und irgendwie endgültig klangen, war er immer noch entspannt und seine Stimme weich und zufrieden. „Oder irre ich mich?“
Tat er natürlich nicht, aber das würde ich ihm nicht sagen. Der hielt doch so oder so schon …
„Dachte ich mir.“
Bastard.
Moment mal – hatte er mich eben, zwischen Tür und Treppe und Bett schon wieder ‚Babe‘ genannt?
Nee, oder? Würde er nicht. Bildete ich mir ein. Garantiert.
Und sogar wenn, dann meinte er das sicher sarkastisch. Genauso wie er sein ‚Süßer‘ gemeint hatte. Ja. Hundertpro.
Noch einmal vergingen gefühlte Stunden, die noch kürzer waren als die vorherigen. Dann:
„Willst du denn gar nicht wissen, warum ich schon hier bin?“
„Nein.“
… 
„Nein?“
Wie jetzt, interessierte es ihn nicht? Kein bisschen?
Da, bitte. Der Kerl war nicht verliebt. Kein Stück.
„Egal, was der wirkliche Grund ist, der, den ich mir ausmale, ist besser“, erklärte er und rieb seine Wange zweimal an meiner Schulter.
Äh … okay …?
Musste er unbedingt dann so anhänglich sein, wenn ich entschieden hatte, dass da nichts war von seiner Seite aus? Obwohl – anhänglich war er eigentlich immer. Hatte wahrscheinlich nichts mit seiner Gefühlslage zu tun, sondern war einfach seine Art.
… Dass ich ausgerechnet Rubin mal als von Grund auf anhänglich beschreiben würde, hätte ich mir vor einem Monat auch noch nicht denken können. ‚Damals‘ war sowieso alles einfacher gewesen. Nur … ‚damals‘ kannte ich auch Betsy noch nicht. Und vor allem … nichts und.
„Will ich wissen, was du dir ausmalst?“, fragte ich misstrauisch und Rubin hob den Kopf, um mich schelmisch anzugrinsen.
„Dass du es vor Sehnsucht nicht mehr ausgehalten hast.“
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. Der hatte sie doch nicht mehr alle. Ich und Sehnsucht.
„Wenn du es nicht abstreitest, bestätigt mich das nur.“
Ich – gar nicht wahr! Nichts bestätigte seine egozentrischen Fantastereien!
„Es abzustreiten hätte auch nichts gebracht. Du denkst doch eh, was du willst.“
„Hm“, machte er und rückte noch ein bisschen näher – ich hatte nicht gedacht, dass das möglich war, aber er schaffte es, „trotzdem hast du mich bestätigt.“
„Genau das meine ich: Du denkst, was du willst.“
„Und du hast es immer noch nicht abgestritten.“
Ach, leck mich doch.


*********


Perfect. Fucking. Morning.


3 Kommentare:

  1. Es ist ja schon ziemlich beeindruckend, wie er sich das in seinem Kopf alles so hindreht. Selbstverarsche scheint bei ihm echt super zu funktionieren.
    Das wird sicher noch ne ganz schön schwere Geburt werden, wenn dann irgendwann mal der Realität ins Auge blicken muss.
    Aber warum sich das Leben leicht machen, wenn man es auch kompliziert haben kann.
    Kann gar nicht erwarten zu lesen wie es weiter geht. ^^
    Wünsch dir ein schönes Halloween und bis nächste Woche dann vielleicht.

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    1. Ja, ne? Das kann er echt meisterhaft. Er hat aber auch schon lange Übung drin. ;) Und ich glaube, bei seiner starren Weltansicht ist so ziemlich jede Veränderung eine schwere Geburt, von daher wird er es entweder schon gewöhnt sein oder sich bald mal dran gewöhnen müssen, denn es kommen ein paar Veränderungen auf ihn zu. ;)
      Danke. Ich hoffe, du konntest dich schön gruseln! Halloween ist ja auch echt ne tolle Erfindung. :)
      Vielen lieben Dank für dein Review!

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