Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 27. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 05:


Der nächste Morgen war seltsam. Einerseits begann er wie jeder andere dreiundzwanzigste Dezember bei uns, und das hieß: Er startete um acht Uhr mit einer riesigen Portion Eierkuchen mit Schokostückchen, wahlweise mit Honig, Marmelade, Schokocreme, Rohzucker oder Ahornsirup bestrichen, und dazu literweise Kakao, Tee, O-Saft oder Cola, je nach Wunsch. Normalerweise mochte es Mum nicht, wenn wir uns mit Zucker vollstopften, deshalb war das ein seltenes Frühstücksvergnügen in meiner Familie. Damit Mum nicht die ganze Arbeit alleine machen musste, standen wir alle abwechselnd am Herd und nachdem die erste Ladung gegessen war, machte sich jeder selber neue, wenn er noch welche wollte. Das war die beste Lösung, denn wenn wir den ganzen Teig gleich zu Anfang verarbeitet hätten, wären die Dinger spätestens nach wenigen nur noch lauwarm gewesen – und mal ehrlich: Lauwarme oder gar kalte Eierkuchen schmeckten scheiße. Genau das wurde mir immer wieder bestätigt, wenn mir einer auf dem Teller kalt wurde, während ich zu sehr in unsere Unterhaltung vertieft war – Kitty amüsierte sich dann köstlich über mein Gesicht, wenn ich es doch noch hinunterwürgte, aber sie selber war nicht weniger wählerisch – sie konnte nur besser essen, zuhören und reden zur gleichen Zeit – Frauen und ihr Multitasking, eben.
Das Frühstück zog sich auf diese Weise bis zehn oder halb elf hin und dann teilten wir uns auf: Die eine Hälfte – normalerweise Pa und Sue – spülten das Geschirr und räumten die Küche auf, während Mum, Kitty und ich in den Keller gingen, den Weihnachtsschmuck heraussuchten und dann Kiste für Kiste nach oben trugen – und das ging mindestens ebenso lange wie das Geschirrspülen, denn wir hatten mehr als ein Weihnachtsschmuckset und jedes Jahr mussten alle ins Wohnzimmer, damit man am besten bestimmen konnte, wie und in welchen Farben dieses Jahr dekoriert werden sollte. Ich liebte es, in den Keller zu gehen, denn es war jedes Mal wie eine Entdeckungsreise, ein kleines Abenteuer, dessen versteckter Schatz aus unseren schönsten Familienerinnerungen bestand.
Wenn die Küche fertig und das Wohnzimmer überstellt war, rumorten wir meistens noch etwas in den Schachteln, suchten schon einmal unsere liebsten Kugeln und Figürchen heraus und vertrieben uns die Zeit mit reden und suchen und uns entspannen, bis es am Nachmittag auf den Weihnachtsmarkt ging und es Zuckerwatte und Pfefferkuchen und – für alle außer Kitty – auch Glühwein gab. Am Abend wurde dann der Baum ins Haus geholt und geschmückt, was meist in der einen oder anderen Auseinandersetzung endete, da unsere Geschmäcker doch recht verschieden waren. Trotzdem war der dreiundzwanzigste Dezember meine persönliche Vorstellung von Harmonie und mir sogar fast lieber als Weihnachten selbst – auch wenn ich natürlich nichts gegen Geschenke einzuwenden hatte.
Das war ‚einerseits‘. Andererseits aber wusste ich, dass dieser dreiundzwanzigste Dezember nicht wie die anderen werden würde, denn heute konnte ich mich nicht im Schoß meiner Familie verstecken, und es würde auch weder Zuckerwatte noch Glühwein für mich geben und der Pfefferkuchen, der würde höchstens aus der hauseigenen Keksdose kommen. Heute musste ich den mir liebsten Nachmittag im Jahr mit Rubin verbringen.
Und Englisch.
Mit Englisch und Rubin und seinem Amerikanisch.

Mittwoch, 20. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 04:


„Ich war überrascht dich hier zu sehen; ich dachte, du würdest direkt nach Hause gehen um Deutsch zu lernen. Wie bin ich nur auf diese Idee gekommen?“
Zwei Meter vor mir gingen Megan und Kitty Hand in Hand, etwa ein Meter neben mir ging Rubin – wir natürlich nicht Hand in Hand. Wir waren schon fast beim Rand des Parks angekommen, als er das sagte; ich hatte die Stille vorgezogen.
Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, da ich ganz genau wusste, auf was er anspielte: Fee. Und darauf, dass ich sie mit der Ausrede abgewimmelt hatte, dass ich lernen müsste. Musste ich ja auch und die Schneeballschlacht war nicht geplant gewesen, aber ich würde mich nicht rechtfertigen, nicht vor ihm.
„Ich war selbst überrascht, als ich mit Kitty am Sankt Katharina vorbeiging und sah, dass deine Freundin immer noch in der Kälte wartete, obwohl du mindestens eine viertel Stunde vor mir gegangen warst.“
Wir hatten beide geradeaus gesehen, doch nun wandte er den Kopf, sah mich an und verlangsamte sogar seine Schritte, was ich ihm aber nicht nachtat. Warum sollte ich?
„Und du hast gewusst, dass Megan auf mich wartet, weil …?“
„Ich habe euch letzte Woche zusammen gesehen, als ich Miss Kitty abgeholt habe.“
Ich spürte seinen Blick auf mir, als er wieder aufholte, dachte aber nicht daran, ihn anzusehen, sondern hielt meine Augen fest auf Kitty gerichtet. Sie und Megan traten gerade aus dem Park hinaus auf den Gehsteig und Megan zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich ein – zumindest von außen – altmodisches Café befand, über dessen Tür mit geschwungenen Lettern Orchid Garden stand. Wenigstens war es wirklich gleich um die Ecke.
„‚Miss Kitty‘, hm?“, fragte Rubin, „Sie ist süß, deine Schwester.“
Diesmal war ich es, der fast stehen blieb.
Ich mochte ihn nicht – wie ich vielleicht bereits erwähnt habe – und ich mochte es generell nicht, wenn meine Freunde oder Bekannten allzu freundlich zu Kitty waren. Und Rubin war für seine Verhältnisse unverhältnismäßig freundlich – man könnte fast schon sagen, lieb – zu Kitty gewesen.
Er betrachtete meine Reaktion und ich erkannte an seinem Blick, dass mir der Satz Hände weg! auf der Stirn geschrieben stand.
„Keine Angst, ich steh nicht auf Kinder, Vyvyan.“
„Das will ich hoffen. Du lässt sie trotzdem in Ruhe.“
Er grinste, ganz leicht nur, aber ich fand, dass er das diese Tage viel zu oft tat, vor allem heute hatte er es zu oft getan. Wenigstens war er danach ruhig.

Mittwoch, 13. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 03:


Es gab nur etwas, was mein Hirn noch stärker blockieren konnte, als wenn ein Lehrer mit Englisch ankam: wenn er mit einer Englischklausur ankam. Wenn ich normalerweise in Grammatik schlecht war, dann war ich in Klausuren und Tests einfach nur so unterirdisch, dass dagegen sogar der Hades wie ein luxuriöses Penthouse erschienen wäre.
Kein Wunder also, dass ich an diesem Montag nach der Klassenarbeit ziemlich mies gelaunt war. Alles, was Sue mir noch am Donnerstag erklärt hatte und was ich am Sonntag beim Wiederholen halbwegs hatte lösen können, war weg gewesen. Einfach schwupp und puff – wie gelöscht. Und dass Rubin neben mir schon nach zwanzig Minuten fertig gewesen war, den Stift weggelegt und den Rest der Stunde damit verbracht hatte, an mir vorbei aus dem Fenster zu schauen, hatte es nicht besser gemacht.
Ich konnte nicht anders, als mich über ihn aufzuregen. Wäre es nur Englisch gewesen, hätte ich ja nichts gesagt, aber er war einer der Menschen, die nur desinteressiert in ihrem Stuhl hingen, die man nie lernend sah und die dann doch immer locker super Noten kriegten. Jede Schule hatte einen oder zwei davon und mir war klar, dass vor allem Neid dafür verantwortlich war, dass ich mich so darüber ärgerte, aber für jemanden wie mich, dessen Noten zwar auch gut waren – Deutsch und Englisch mal außen vor gelassen – der sie sich aber hart erarbeiten musste, war es frustrierend. Sehr frustrierend.
Natürlich war er auch jetzt mit seinen Gedanken irgendwo anders – wo, wollte ich gar nicht wissen – und hatte den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Als er noch nicht neben mir gesessen hatte, war es mir nicht aufgefallen, aber er tat das wirklich oft, aus dem Fenster schauen. Und immer öfter, zumindest hatte ich das Gefühl. Ich folgte seinem Blick, aber außer ein paar Bäumen, Straßen und Häusern, alles mit einer dicken Schicht Neuschnee bedeckt, vor einem Himmel, bei dessen bloßem Anblick mir schon kalt wurde – das Wort eisblau bekam ganz neue Dimensionen – konnte ich nichts sehen. Es wehte kein Wind in den längst abgefallenen Blätter der Bäume, die Vögel waren auch alle schon in ihre Winterressorts geflüchtet und alles in allem konnte man sagen, dass der Anblick nicht an eine Szenerie hinter einem Fenster, sondern an ein Foto oder ein Gemälde erinnerte. Ein verdammtes Stillleben. Und trotzdem war es anscheinend interessanter als alles Lebendige hier im Zimmer. 
Ich schüttelte den Kopf und hörte wieder dem Lehrer zu, der gerade zum einhundertdritten Mal die Ursachen des ersten Weltkrieges wiederholte. Nicht sehr spannend, zugegeben. Trotzdem, konnte Rubin nicht wenigstens so tun, als ob er geistig anwesend wäre?

Mittwoch, 6. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 02:


Die nächsten Tage passte ich auf, ob er sich irgendwie anders verhielt, oder ob er Anstalten machte, etwas zu sagen, aber er tat nichts.
Natürlich tat er nichts. Was wollte, was konnte er schon tun? Allen sagen, dass ich nicht so war, wie ich mich gab?
Ah, große Überraschung! Wer war das schon.
Sogar wenn er ihnen sagen würde, dass ich ihnen nur vorspielte, sie zu mögen: Wer würde ihm glauben? Einem Außenseiter wie ihm? Beweise hatte er schließlich keine.
Und irgendwie konnte ich ihn mir nicht als Petze vorstellen – Petzen waren entweder feiger oder temperamentvoller und vor allem ambitionierter, denn irgendetwas wollten sie schließlich mit dem Petzen erreichen. Ehrgeiz aber war etwas, das man bei Rubin nie sah. Der Unterricht schien ihn nicht zu interessieren, die Mitschüler sowieso nicht, er war zwar Schulratspräsident, aber in keiner AG und er gehörte auch nicht zu den Leuten, die ein Buch oder Musik mitbrachten, um sich nicht mit den anderen unterhalten zu müssen; er tat es einfach so nicht.
Also begann ich mich zu entspannen und nach einer Woche war ich wieder in meinem üblichen Trott, Rubin hin oder her. Auch dass er neben mir saß veränderte nichts. Das Spiel war immer dasselbe: Ich fuhr morgens mit dem Rad zur Schule, unterhielt mich mit Theo und den anderen bis der Lehrer kam, Rubin setzte sich beim zweiten Läuten ohne ein Wort neben mich, in den kurzen Pausen unterhielt ich mich mit Theo & Co. und in der Mittagspause ging ich – ganz der Gentlemen – zu Fee, um mit ihr und ihren Freundinnen zu essen, da wir sonst so gar keine Zeit miteinander verbringen würden – das hätte mir nicht viel ausgemacht, aber ihr wisst ja, wie Mädchen sind. Und weil ich es auch wusste und jede Mittagspause wieder miterleben durfte, war ich froh, dass meine Freunde bald auch mitkamen, da ich und Fee ja sowieso nicht alleine waren. Danach war wieder Schule und wenn die überstanden war, ging ich mit Fee zum Fahrradständer, holte mein Rad, begleitete sie noch zur Bushaltestelle und war dann endlich erlöst.
Fee war, wenn ich das überhaupt erwähnen muss, natürlich meine Freundin – ansonsten hätte ich nicht so viel Zeit mit ihr verschwendet.
Mit Rubin sprach ich nur das Nötigste und das hieß im Klartext: Nur das, was während irgendwelchen Gruppenaufgaben im Unterricht unumgänglich war – zu meinem Glück aber bevorzugte er es auch, den Zusatz Arbeitet in Zweiergruppen mit eurem Nachbarn zu ignorieren und möglichst viel alleine zu lösen. Ein Hoch auf seine Asozialität!

Freitag, 1. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 01:


Blaue Augen, lange Wimpern, verschwitzte Locken. Sonnengeküsste Haut und kräftige Hände, die auf meinem Hintern lagen, über mein Kreuz fuhren, hoch zu den Schultern, und sich dann schließlich in meinen Haaren verkrallten. Mich hinunter zogen, zu ihm. Als sich unsere Lippen berührten, explodierte etwas in meinem Kopf …

Ich ließ mich neben Lukas fallen, keuchend, befriedigt, ausgelaugt.
„Wow. Das war … wow!“ Er drehte sich zu mir und grinste schelmisch. “Ich kann nicht glauben, dass es jedes Mal noch besser wird! Wie machst du das?”
„Es braucht zwei dazu, vergiss das nicht“, antwortete ich ohne das zufriedene Grinsen zu verstecken. Dass er Recht hatte und dass er seinen Teil dazu beitrug bedeutete nicht, dass mir sein Lob nicht gefiel. Oder unsere Treffen.
“Wir müssen damit aufhören”, sagte ich dennoch klar und deutlich und mit nicht wenig Bedauern in meiner Stimme. 
Lukas sah mich nur fragend an.
“Ich habe an jemand anderen gedacht, eben.”
“An wen?”
“Meinen verdammten Mitschüler.”

*********

Ich kann ihn nicht ausstehen.
Das, liebe Damen und Herren, war mein erster Gedanke als ich ihn traf, an meinem ersten Schultag: Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich kam gerade vom Sekretariat, wo mir eine Zicke von Sekretärin mit zu viel Lippenstift und Männerparfüm einen Zettel in die Hand gedrückt und mich mit den Worten “Der Klassenlehrer ist heute krank, frag den, wenn irgendwas ist” weggescheucht hatte. Auf dem Zettel standen drei hingekritzelte Dinge:
  2OG
  N213
  Rubin Alexander
Etwas verloren hatte ich vor der verschlossenen Tür gestanden und auf das Papier gestarrt, bevor ich die Schultern gezuckt, mein bestes Lächeln aufgesetzt und ein Mädchen, das gerade den Flur hinunterlief, gefragt hatte, wo sich das Zimmer N213 befand. Natürlich hatte sie mir gerne Auskunft gegeben und mich sogar hingebracht; etwas anderes hatte ich gar nicht erwartet, denn wer würde mir schon nicht gerne Auskunft geben? Ich war nun mal ein sympathischer Junge – zumindest machte ich den Eindruck, was ich zu einem nicht unwesentlichen Anteil meinem Lächeln zuschrieb – zusammen mit der Tatsache, dass ich gelernt hatte, mich so zu verhalten, dass die anderen dachten, ich würde sie mögen, und das war ein wesentlicher Faktor dafür, dass sie mich mochten. Ganz nach dem Motto:
Es ist einfacher zu lieben, wenn man weiß, dass man zurückgeliebt wird.
Und wenn wir ehrlich sind, dann wissen wir alle, dass das Leben um vieles einfacher ist, wenn man, wenn schon nicht geliebt, dann mindestens gemocht wird. Ich war noch nie jemand, der sich die Dinge unnötig kompliziert macht. 
Nun stand ich also erneut vor einer Tür, diesmal einer offenen, und überlegte gerade, welcher Teil von Rubin Alexander der Vorname war – ich hoffte für den Kerl auf Alexander, aber da kein Komma dazwischenstand zweifelte ich daran – als ein Junge in mein Blickfeld trat.
„Hi“, sagte er ganz originell und musterte mich kurz, „suchst du wen?“
Ich nickte, warf noch einen Blick auf den Zettel und antwortete mit einem schiefen Grinsen: „Ja, ich suche einen … Rubin? Ich bin neu hier und die Sekretärin hat mir gesagt, ich soll mich an ihn halten.“
„Edelsteine wirst du hier keine finden.“
Junge Nummer eins und ich drehten uns um und ich sah mich einem weiteren Jungen gegenüber, dessen desinteressierter Ausdruck und die angehobene Augenbraue die Arroganz der Stimme perfekt widerspiegelten.
„Falls du nach mir suchst, dann lerne erst einmal, meinen Namen richtig auszusprechen. Die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Rubin, nicht Rubihn.
Und als wären die Worte alleine nicht genug, sprach er seinen Namen in wundervoll grässlichem Amerikanisch aus – zumindest war ich mir fast sicher, dass es Amerikanisch gewesen war. Es musste Amerikanisch sein, denn es war die einzige Sprache, die ich so wenig leiden konnte, wie mir sein erster Eindruck sympathisch war. Und nein, Amerikanisch war für mich kein Englisch. Engländer sprachen Englisch, Iren und Schotten mitunter auch, wenn auch mit Akzent, und von mir aus auch Australier – verdammt, sogar Inder sprachen Englisch, aber das, was Amis von sich gaben, hatte kein Recht, sich Englisch zu schimpfen.