Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 6. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 02:


Die nächsten Tage passte ich auf, ob er sich irgendwie anders verhielt, oder ob er Anstalten machte, etwas zu sagen, aber er tat nichts.
Natürlich tat er nichts. Was wollte, was konnte er schon tun? Allen sagen, dass ich nicht so war, wie ich mich gab?
Ah, große Überraschung! Wer war das schon.
Sogar wenn er ihnen sagen würde, dass ich ihnen nur vorspielte, sie zu mögen: Wer würde ihm glauben? Einem Außenseiter wie ihm? Beweise hatte er schließlich keine.
Und irgendwie konnte ich ihn mir nicht als Petze vorstellen – Petzen waren entweder feiger oder temperamentvoller und vor allem ambitionierter, denn irgendetwas wollten sie schließlich mit dem Petzen erreichen. Ehrgeiz aber war etwas, das man bei Rubin nie sah. Der Unterricht schien ihn nicht zu interessieren, die Mitschüler sowieso nicht, er war zwar Schulratspräsident, aber in keiner AG und er gehörte auch nicht zu den Leuten, die ein Buch oder Musik mitbrachten, um sich nicht mit den anderen unterhalten zu müssen; er tat es einfach so nicht.
Also begann ich mich zu entspannen und nach einer Woche war ich wieder in meinem üblichen Trott, Rubin hin oder her. Auch dass er neben mir saß veränderte nichts. Das Spiel war immer dasselbe: Ich fuhr morgens mit dem Rad zur Schule, unterhielt mich mit Theo und den anderen bis der Lehrer kam, Rubin setzte sich beim zweiten Läuten ohne ein Wort neben mich, in den kurzen Pausen unterhielt ich mich mit Theo & Co. und in der Mittagspause ging ich – ganz der Gentlemen – zu Fee, um mit ihr und ihren Freundinnen zu essen, da wir sonst so gar keine Zeit miteinander verbringen würden – das hätte mir nicht viel ausgemacht, aber ihr wisst ja, wie Mädchen sind. Und weil ich es auch wusste und jede Mittagspause wieder miterleben durfte, war ich froh, dass meine Freunde bald auch mitkamen, da ich und Fee ja sowieso nicht alleine waren. Danach war wieder Schule und wenn die überstanden war, ging ich mit Fee zum Fahrradständer, holte mein Rad, begleitete sie noch zur Bushaltestelle und war dann endlich erlöst.
Fee war, wenn ich das überhaupt erwähnen muss, natürlich meine Freundin – ansonsten hätte ich nicht so viel Zeit mit ihr verschwendet.
Mit Rubin sprach ich nur das Nötigste und das hieß im Klartext: Nur das, was während irgendwelchen Gruppenaufgaben im Unterricht unumgänglich war – zu meinem Glück aber bevorzugte er es auch, den Zusatz Arbeitet in Zweiergruppen mit eurem Nachbarn zu ignorieren und möglichst viel alleine zu lösen. Ein Hoch auf seine Asozialität!


„Vyv?“
Kim, ein Bestandteil meines engeren Freundeskreises – neben Theo mein ‚engster‘ Freund und lange nicht so kindisch und nervig wie dieser – holte mich aus meinen Gedanken.
„Was gibt’s?“, fragte ich und ließ mein Mathebuch im Rucksack verschwinden, bevor ich mich zu ihm umdrehte. Es hatte geläutet, die letzte Stunde war vorüber und Rubin stand gerade auf und ging.
„Hast du heute schon was vor?“
Kims tiefe Stimme überraschte mich immer wieder, denn so hörte sich ein Teenager nicht an, egal wie viel Testosteron durch seinen Körper jagte. Andererseits, sagte ich mir immer wieder, wäre eine hellere Stimme wahrscheinlich noch gewöhnungsbedürftiger, denn Kim war groß, ging vier bis sechs Mal die Woche ins Fitnessstudio und hatte einen dementsprechenden Körper. Dazu kam, dass er manchmal eine fast stoische Ruhe besaß; eine Piepsstimme hätte einen sehr krassen Stilbruch bedeutet. Nicht, dass mir der etwas ausgemacht hätte; im Gegenteil, es hatte etwas Befriedigendes, sich Kim piepsend vorzustellen – oder kreischend wie ein Weib. Nichts gegen ihn, aber Tatsache war, dass auch ich nicht gerne tagtäglich mit einem Typen konfrontiert wurde, der es vom Körperbau her in ein paar Jahren mit Batman aufnehmen können würde. Ich war zwar selbstsicher und ein bisschen narzisstisch, aber mir durchaus bewusst, dass meine Muskelmasse niemals an Kims rankam.
Andererseits hatte ich auch nichts dagegen, ihm dabei zuzuschauen, wie er sich in der Umkleide das Shirt über den Kopf zog. Sein Rücken war ziemlich – nun, perfekt.
„Ich dachte, wir könnten noch was unternehmen, bevor am Wochenende alle mit büffeln anfangen.“ Er grinste. „Nichts Wildes, nur ein paar Bier im Pub um die Ecke – du kannst Fee mitbringen, wenn du willst.“ 
Welch verlockendes Angebot. Lass mich kurz überlegen …
Drei, zwei, eins.
Ich sah ihn an und verzog das Gesicht, als würde es mir Leid tun.
„Ich hab versprochen, meine kleine Schwester von der Schule abzuholen. Meine Mutter hat heute Spätschicht und meine ältere Schwester arbeitet auch.“
„Oh.“ Er stockte kurz, doch dann lächelte er. „Schade, aber da kann man wohl nichts machen.“
Ein bisschen enttäuscht sah er schon aus und fast hätte es mir Leid getan, denn Kim war ein angenehmer Mensch. Deshalb nickte ich und fügte dann, kurz bevor er sich umdrehen wollte, noch hinzu: „Vielleicht kann ich später noch kommen, wenn Sue früh genug nach Hause kommt – kommt natürlich drauf an, wie lange ihr bleibt.“
Sein Grinsen kam zurück. „Also, bis sieben oder acht sicher. Gib einfach Bescheid, wenn du doch noch kommst. Nicht, dass wir uns verpassen.“
„Geht klar.“
Ich nahm den Rucksack, verabschiedete mich von Kim, Theo und dem Rest und machte mich auf den Weg zu Fees Klassenzimmer.
Natürlich hatte ich nicht vor, mich zu melden, egal, wann meine Schwester nach Hause kommen würde. Ich hatte Besseres zu tun, als Zeit und Geld an einem Donnerstagnachmittag in einer stinkigen Kneipe zu verschwenden.

***

Der Wind peitschte mir ins Gesicht und ich ließ den rechten Lenker los, um meinen Schal bis über den Mund zu ziehen. Scheiße, war es kalt!
Ich hätte daran denken sollen, ein paar andere Handschuhe fürs Radfahren mitzunehmen, sagte ich mir und wusste dennoch, dass ich am nächsten Tag wahrscheinlich wieder nicht daran denken würde, denn genau das gleiche wiederholte ich seit Wochen jeden Morgen in meinen Gedanken. Nur war es bisher mittags bereits wieder warm genug gewesen, dass meine Wollhandschuhe ausgereicht hatten. Heute nicht.
Aber das lag auch daran, dass ich mit doppelter Geschwindigkeit durch die Straßen preschte, um Kitty nicht zu verpassen. Ich hatte beschlossen, sie wirklich abholen zu gehen, obwohl sie ganz gut selbst nach Hause gehen konnte. Von ihrer Schule aus waren es zu Fuß nur knapp fünfzehn Minuten.
Ich trat in die Pedale, wich einem Fußgänger aus und schlitterte mehr schlecht als recht um die letzte Kurve, bevor ich noch einmal beschleunigte. Dann bremste ich vor dem Schulhof scharf ab, was fast in einem kleineren Unfall endete, weil ein Stück der Straße gefroren war. Welcher Idiot auch immer darauf gekommen war, im Winter Wasser auf die Straße zu schütten, gehörte in einen See geworfen. 
Etwas außer Atem stieg ich schließlich ab und rieb meine Hände aneinander, um sie zu wärmen – leider vergebens. Damit aufhören wollte ich aber trotzdem nicht, vielleicht zeigte die Wirkung sich ja mit Verzögerung – soll alles schon mal vorgekommen sein.
Der Schulhof lag verlassen vor mir und sah genauso trostlos aus, wie das Knistern in den letzten paar braunen, steif gefrorenen Blätter der Bäume sich anhörte. Mit dem Winter war es so eine Sache, man wusste nie, ob man ihn lieben oder verwünschen sollte – aber genau das machte seinen Charme aus.
Da ich aber keine Lust hatte, mir einige essentielle Körperteile abzufrieren, zog ich den Rand meiner Handschuhe aus meiner Jacke hervor und linste auf meine Uhr. Also, eigentlich müsste – 
Rrrrrrrrriiiiiiiiiiiiiiiiiiiinginginggggg
Mit dem schrillsten Glockenläuten aller Zeiten kündigte die Schulverwaltung das Ende der Stunde an und ich war froh, dass Kitty nur Schlagzeug spielte – und sie so Krach gewöhnt war – und nicht Cello oder Geige oder Ähnliches; ansonsten hätte ich mir jetzt ernsthaft überlegt, sie aus dieser Schule zu nehmen, um ihr Gehör nicht unnötigen Gefahren auszusetzen. Für Schlagzeug würde es wohl auch so reichen.
Ein leises, aber rasch lauter werdendes Grollen kündigte mir die Schüler an und ich seufzte zufrieden. Allzu lang konnte es nicht mehr dauern.
Tatsächlich: Nur wenige Minuten später entdeckte ich einen dunkelbraunen, lockigen Haarschopf, der im Takt mit ausschweifenden Handbewegungen hin und her hüpfte. Sie hatte meine Haare.
Okay, eigentlich hatten wir beide Nans Haare, aber die wohnte seit Jahren wieder in England und wir sahen sie nur sehr, sehr selten, so dass der Satz ‚Ihr habt Großmutters was-auch-immer‘ nicht besonders aussagekräftig war.
In dem Moment, als Kitty mich sah, weiteten sich ihre Augen und das schönste Lächeln der Welt erhellte ihr Gesicht.
„Vyvy!“, rief sie, rannte auf mich zu und fiel mir stürmisch um den Hals.
Ich lachte, hob sie auf und drehte mich mit ihr zwei Mal im Kreis, ihr vergnügtes Quietschen ein einziger Sonnenstrahl.
„Was machst du hier?“, fragte sie, als ich sie wieder auf ihre zwei Beine stellte und sie ihre dünnen Ärmchen von mir löste.
„Nach was sieht’s denn aus? Da Mum heute arbeiten muss, hole ich dich von der Schule ab.“ Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, als sie eine Schnute zog.
„Ich kann auch alleine nach Hause. Ich kenn den Weg, wir wohnen ja schon fast vier Monate hier!“
„Das muss du mir nicht sagen. Tut mir leid, wenn ich fälschlicherweise angenommen habe, du würdest dich darüber freuen, wenn ich dich abholen komme. Ich kann auch alleine nach Hause fahren.“
Sie sah mich an, stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich einmal langsam von oben bis unten.
„Schon gut“, meinte sie dann in einem Ton, der einer Königin gerecht gewesen wäre, „du darfst mich fahren.“ Die ganze Zeit über hatte sie ihr Kinn erhoben und versuchte den Eindruck zu erwecken, als würde sie weit über mir stehen. Das Resultat konnte sich sehen lassen, auch wenn ich sah, dass Lachen ihre Mundwinkel kitzelte. Bei wem sie dieses selbstverliebte Getue abgeschaut hatte, war mir natürlich schleierhaft …
„Habt tausend Dank! Ich bin mir durchaus bewusst, welch große Ehre Ihr jemandem wie mir damit erweist“, erwiderte ich, eine tiefe Verbeugung machend, „Miss Kitty.“
Noch bevor ich mich wieder aufgerichtet hatte, boxte sie mich in die Seite.
„Catherine!“ Sie lachte und boxte mich gleich noch einmal. „Du sollst Catherine  sagen!“
„Darauf kannst du lange warten – nicht mal, wenn du die nächste Königin von England wirst!“ Ich zog sie kurz zu mir und als ich aufsah, bemerkte ich, dass ihre Freundinnen etwa zwei Meter von uns entfernt standen und uns mit einer Mischung aus Verblüffung und Belustigung zusahen. „Willst du uns nicht vorstellen?“
Man konnte an Kittys Gesichtsausdruck sehen, dass sie die vier Mädchen eben kurz aber dafür völlig vergessen hatte.
„Klar!“ Sie stellte sich vor mich, deute erst mit einer übertriebenen Bewegung auf die Schlümpfe und sagte: „Vyvyan, das sind Lena, Claudia, Marie und Angie.“ Dann drehte sie sich wieder zu den vieren.
„Und das“, verkündete sie, „ist mein Bruder, Vyvyan.“
Ich wurde von oben bis unten begutachtet und eines der Mädchen, ich glaubte, es war Angie, platzte heraus: „Er ist cool!“
Ich grinste und deutete die Verbeugung diesmal nur an, behielt dafür Augenkontakt mit der Kleinen. „Ihr seid zu gütig, junge Miss.“
Kichern, wie es nur eine Gruppe neunjähriger Mädchen hervorbringen konnte, ertönte und ich sah, wie in Kittys Gesicht eindeutig ‚Natürlich ist er cool, er ist immerhin mein Bruder‘ stand. Allein dafür hatte ich sie am liebsten noch einmal durch die Luft gewirbelt.
Aber dann zupfte ein Windstoß an meiner Jacke und ich sah, dass Kittys Nase schon ganz rot war. Außerdem trug sie keine Handschuhe.
„Ich glaube, wir sollten langsam nach Hause. Nicht, dass du so kurz vor den Ferien noch krank wirst.“
Sie rollte demonstrativ die Augen, nickte dann aber.
„Wie du meinst.“ Sie hüpfte zu den anderen, verabschiedete sich liebevoll von ihnen und kam dann wieder zu mir zurück, um mich an der Hand zu nehmen.
Ich saß auf mein Fahrrad auf und drehte mich noch einmal um, bevor Kitty sich hinten auf den Gepäckträger setzen konnte.
„Wo sind deine Handschuhe?“, fragte ich mit einem betonten Blick auf ihre Hände, „Zieh sie an, sonst hast du nachher Eiszapfen anstatt Fingern.“
Sie schulterte den Rucksack. „Ich hab sie heute morgen nicht gefunden und wollte nicht zu spät kommen.“
Ich schloss kurz die Augen und seufzte. Dann zog ich meine Wollhandschuhe aus und gab sie ihr.


Schon nach wenigen Metern verfluchten meine Hände mich dafür, meine kleine Schwester abgeholt zu haben. Vorhin hatte ich mich noch gefragt, ob ich den Winter mochte oder nicht, nun wusste ich die Antwort: Was ich dachte, war völlig irrelevant, wenn meine Fingerspitzen im Begriff waren abzufallen.
Ich gab zu, dass ich eine verdammte Memme war, wenn es um Kälte ging, zumindest, wenn sie eine gewisse Grenze überschritten hatte – und an diesem Tag lag die Grenze bereits ein paar Kilometer hinter mir. Eins war sicher: Sobald wir zu Hause ankamen, gab es erst einmal eine heiße Tasse Kakao und dann ein Schaumbad für Miss Kitty und eine schöne Dusche für mich. Etwas anderes kam gar nicht in Frage.
„Schau, Vyvy, da ist das Sankt Katharina Gymnasium! Da will ich später hin!“ Kitty hatte ihre rechte Hand aus meiner Tasche genommen und zeigte mit dem Finger auf das gepflegte Gebäude, dessen Hof von einer Mauer aus hellem Stein eingerahmt wurde.
„Wirklich?“, fragte ich skeptisch, bremste ab und warf einen Blick durch das offen stehende Tor auf die perfekt getrimmten Zierhecken des Hofes, „Dahin?“
Da hätten mich keine zwanzig Kampftrolle hineingebracht – sogar, wenn es keine reine Mädchenschule gewesen wäre. Und dass es das war, nahm ich an, denn ich konnte keinen einzigen Jungen unter den Schülern sehen.
Ich spürte Kitty an meinem Rücken heftig nicken und seufzte.
„Wenn wir dann noch hier wohnen, haben Mum und Pa sicher nichts dagegen.“ Ich öffnete meine Fäuste einmal und streckte unter Schmerzen meine Finger, dann wollte ich wieder in die Pedale treten – als mir etwas weiter vorne ein Pärchen auffiel. Das Mädchen in Uniform war eindeutig eine Schülerin von Sankt Katharina und mir völlig unbekannt, aber der Junge … ich kam nicht drauf, wo, aber ich war mir sicher, dass ich ihn schon gesehen hatte. In Gedanken durch die Liste meiner Freunde und Bekannten gehend nahm ich meinen Blick nicht von ihm, als ich auf der anderen Straßenseite langsam aufholte. Und kurz bevor ich sie überholte, machte es klick.
Das war Rubin.
Es war ein seltsamer Anblick, denn die beiden unterhielten sich – in der Schule redete Rubin nie genug, dass die Wortwechsel mit ihm als Gespräch gelten konnten. Und das Mädchen lächelte und hatte sich bei ihm eingehakt – wer tat so was freiwillig bei jemandem wie ihm?
Rubin hatte eine Freundin. Nun, das warf ein anderes Licht darauf, dass er immer gleich nach dem Unterricht sein Zeug packte und ging, auch wenn keine Schulratssitzungen anstanden.
„Vyvy, schlaf nicht ein, schneller, schneller!“, rief Kitty von hinten. Ich blickte wieder nach vorne und tat wie mir geheißen, obwohl meine Fingerknöchel protestierend aufschrien. Rubin war vergessen. Ich wusste ja, dass Kitty eine Vorliebe für Geschwindigkeit hatte, und wenn ich schon mit ihr durch die Straßen flitzte, dann nur, wenn ich auch ganz bei der Sache war.

***

Ein paar Straßen, einen Kakao und eine Dusche später rubbelte ich mit einem Handtuch meine halblangen Haare so trocken wie möglich und beschloss, dass es Zeit war, einen Friseur aufzusuchen – eigentlich gefielen mir meine Haare und ich fand, dass mir diese Länge stand, aber sie waren einfach zu lang um sie im Winter an der Luft trocknen zu lassen. Und Föhnen hatte den Effekt, dass sie danach in alle Richtungen abstanden und nur mit Gel zu bändigen waren – bäh, wie Kitty es einmal treffend ausgedrückt hatte.
Ich ging in mein Zimmer und warf einen Blick auf den Kalender, der über meinem Schreibtisch hing und beschloss mit einem leisen Stöhnen, mir erst noch Verpflegung zu besorgen. Ansonsten würde ich das, was mir bevorstand, nicht überleben. Also noch einmal ab in die Küche und Cola und ein Sandwich geholt. Das Dumme an Sandwichs war nur, dass sie ziemlich schnell zubereitet waren und ich so nach fünf Minuten wieder vor meiner Zimmertür stand. Aus dem Bad daneben Drang leise Rockmusik, begleitet von Kittys hoher Stimme. Ich seufzte. Kitty konnte vieles, aber singen konnte sie leider nicht und das wurde auch nicht besser, wenn sie meine CDs stibitzte und dann mit ihrem Piepsstimmchen gegen ausgewachsene Männer anzukommen versuchte. Aber gut, Badezimmer waren schließlich dafür da, damit man in ihnen meilenweit an den richtigen Tönen vorbeischoss.
Die Pendeluhr im Erdgeschoss schlug zur vollen Stunde und ich wusste, dass ich langsam in die Gänge kommen musste. Jeden Donnerstag und Montag war es das gleiche, jedes Mal brauchte es Überwindung in mein Zimmer zu gehen.
Vielleicht half es ja, wenn ich mir versprach, dass ich danach einen kurzen Abstecher ins WWW machen und den Status meiner kleinen Obsession überprüfen durfte – obwohl, eigentlich war das eher deprimierend als etwas anderes. Da hatte ich endlich – endlich! – eine Ausgabe von Eliaseis im Internet gefunden und dann lag das Anfangsgebot bei zweihundert. Nicht deutsche Mark, nicht japanische Yen, nicht polnische Zloty; nein, natürlich Euro. Zweihundert Euro – für ein verdammtes Buch!
Und wisst ihr, was das Schönste daran war? Mit jedem Tag, der verging, stiegen die Gebote. Hoch. Höher, als ich es mir leisten könnte. Mittlerweile bereute ich, mir vor eineinhalb Jahren nicht einfach die gescannte Version heruntergeladen zu haben, als ich über sie gestolpert war. Die war nämlich seither auch unauffindbar.
… Vielleicht sollte ich mich mit einem Computerfreak anfreunden. Mit einem, der einfach alles im Internet fand. Solange es keine allzu enge Freundschaft wurde – und dafür konnte man sorgen – musste ich mir um meinen Ruf keine Gedanken machen.
Gute Idee.
Und das nur für das dritte Buch einer kommerziell erfolglosen Trilogie von einem unbekannten deutschen Fantasyautor. So weit nichts Besonderes und vor allem nichts, was es wert wäre, meine ‚kleine Obsessiongenannt zu werden. Noch nicht einmal der Titel war originell, nein, der war fast noch durchschnittlicher als das Cover und das hieß etwas, schließlich wusste jeder, der schon mal in der Fantasyabteilung eines Bücherladens gewesen war, dass jedes götterverdammte Buch auf seinem Deckel das gleiche zeigte: Eine Figur mit wehenden Haaren im Vordergrund und eine mittelalterliche Landschaft im Hintergrund. Diese Trilogie bildete keine Ausnahme.
Aber – und das war ein großes Aber, glaubt mir, immerhin suchte ich mit Unterbrüchen schon fast zwei Jahre lang nach diesem scheiß Buch – das Problem war Folgendes: Die ersten beiden bekam man ohne große Mühe, zum Beispiel so wie ich, funkelnagelneu in einem Bücherramschverkauf, den man eh nur der Freundin zuliebe besucht hatte. Dann beschloss man in einer freien Minute, man könne ja einen Blick in die billig erstandenen Bücher hineinwerfen – und spätestens, wenn man auf Seite drei war, war es um einen geschehen. Zumindest war das bei mir so gewesen und ich wusste, dass ich nicht der einzige war, denn ansonsten hätte ich ja keine Probleme mit dem dritten Buch gehabt. Der Verlag war nämlich pleite gegangen, bevor der letzte Band erschienen war und der Autor hatte eigenhändig einige Exemplare drucken lassen um sie zu verkaufen – nur leider wenige, weil teuer – bevor er kein halbes Jahr darauf an einer Überdosis gestorben war. Einer von vielen Gründen für mich, die Finger von Drogen zu lassen: Sie brachten mir eindeutig zu viele Menschen viel zu früh um die berühmt berüchtigte Ecke.
Jetzt könnte man also denken, dass es vielleicht ein wenig schwierig, aber sicher nicht unmöglich war, an das abschließende dritte Buch zu kommen, denn es war ja im Umlauf und die Trilogie eh nicht beliebt. Richtig? Falsch. Knackpunkt war die kleine aber eingeschworene Fangemeinde, die sich seit der Herausgabe der Serie gebildet und die nach dem Tod des Autors einen Boom erlebt hatte. Man mochte es kaum glauben, aber es gab tatsächlich mehr Fans als Ausgaben von Eliaseis und nur die wenigsten der Idioten, die sich einmal eine sichern konnten, kamen auf die Idee, sie irgendwann einmal zu verkaufen – aber Geeks und Freaks und all das Gesocks waren ja dafür bekannt, niemals erwachsen zu werden. Bastarde, allesamt.

„Vyvyan“, rief Kitty, die Musik ohne Probleme übertönend.
„Ja?“
Ich hörte sie kichern und das Wasser platschen, bevor sie antwortete: „Du stehst schon wieder vor deiner Tür rum!“
Ja, das wusste ich selbst.
„Wenn du brav bist, darfst du nachher mein Prinz sein.“
Ich hob die Augenbrauen und sah zur Badezimmertür, als ob ich Kitty dadurch besser sehen konnte. „Und wenn nicht?“
„Dann bis du die Prinzessin!“ Sie kicherte erneut und ich grinste. Kittys Art von Motivation war immer erfolgreich – wenn sie nicht die Prinzessin sein konnte, wollte sie nämlich der Drache sein. Jemals von einer Prinzessin gehört, die ohne Prinz den Drachen besiegt hätte?
Eben.
„Ich werd mein Bestes geben“, rief ich ihr zu und drückte dann mit dem Ellenbogen die Klinke meiner Zimmertür hinunter. Cola und Teller mit Sandwich auf die linke Schreibtischecke, Bücher und Hefte in die Mitte, mit einem Haargummi die Stirnfransen aus dem Weg geschafft und dann waren es nur noch ich und … meine Englischaufgaben.


Warum musste ich auch ein Engländer sein, der kein Englisch konnte? Ich war zwar generell eine absolute Niete in sprachlichen Fächern und kam auch in Deutsch nur mit viel Mühe auf eine Note, die meinen Schnitt nicht allzu sehr Richtung Tiefgarage zog, aber Englisch und ich, wir schlossen uns gegenseitig aus. Und da half auch der Pass nichts, denn meine Eltern hatten sich dazu entschieden, zu Hause nur Deutsch zu sprechen. Das machte auch Sinn, da Pa auch schon hier aufgewachsen war und Englisch nur mit seinen Eltern sprach und Mum zwar viel verstand und englische Bücher verschlang, aber nicht gut darin war, wenn es darum ging, frei zu sprechen. Die Sache war nur, dass ich außer den wenigen Besuchen von oder bei Nan Englisch auch nicht öfters ausgesetzt gewesen war als andere Kinder und dementsprechend darin auch nicht besser war als andere. Eher schlechter, wenn ich mich so umsah. Da aber Name und Pass von der Insel kamen, setzte anfangs jeder voraus, dass ich zumindest halbwegs sprechen konnte. Vor allem die Lehrer waren jedes Mal von Neuem negativ überrascht. War zwar nicht meine Schuld, aber trotzdem ungeil.
Scheiß Englisch, wer brauchte das schon.
Ich.
Das war die traurige Wahrheit, schließlich wollte ich einmal etwas werden und in Zeiten der Globalisierung kam man ohne Englisch nun mal nicht weit. Deshalb kämpfte ich auch jeden Montag und Donnerstag mit meinen Büchern.
Das wirklich Seltsame war, dass ich Englisch als Sprache eigentlich mochte; soll heißen, ich mochte die Klangmelodie, vor allem von britischem Englisch. Die Sprache hatte etwas, das musste ich ihr lassen – aber sobald meine Lehrer damit kamen, blockierte etwas in meinem Kopf. Die Sprache mochte schön sein, das Fach war einfach nur unterirdisch.

***

Irgendwann klopfte es an meiner Tür und meine Schwester – die ältere diesmal, Susanna – betrat mein Zimmer.
„Kommst du voran?“
Ich drehte mich mit meinem Stuhl, schob den Kirschlutscher in den anderen Mundwinkel und warf ihr einen übel gelaunten Blick zu, obwohl ich wusste, dass sie nichts dafür konnte.
„Sehe ich so aus?“
Sue grinste und schüttelte den Kopf, nicht ohne Seitenblick auf den Lolli.
„Hunger? Ich habe Essen gemacht.“
Ich unterdrückte nur knapp ein Knurren. Wir wussten beide, dass der Lolli nichts mit Hunger oder Sattsein zu tun hatte, noch nicht einmal nach Lust auf Süßigkeiten. Wann es angefangen hat, wusste ich nicht mehr, aber ich konnte nicht ohne Lutscher im Mund lernen – Mum meinte, ich würde daran meine Aggressionen abreagieren, weil ich ihn anscheinend pausenlos im Mund hin und her drehte, aber da ich das selbst nicht bemerkte, wusste ich nicht, ob es stimmte. Sicher war, dass es ohne Lolli nicht vorwärts ging – da half auch kein Bonbon oder Kaugummi oder sonstige Ersatzdinge, das hatte ich alles schon probiert. Eine zeitlang hatte ich davon loskommen wollen, aber mittlerweile akzeptierte ich es. Es gab schlimmere Ticks, als beim Lernen Lollipops zu lutschen.
„Nachher gerne, aber ich will erst noch das hier fertig machen. Wir schreiben Montag eine Klausur“, antwortete ich und drehte mich wieder zu meinen Kopien.
Ein leises Seufzen. „Vielleicht würde dir eine Pause gut tun? Pa kann dir doch nachher helfen.“
Wann lernte sie endlich, dass dieser Satz genau das war, was ich in solchen Situationen nicht hören wollte?
„Aber ja, natürlich“, erwiderte ich, „warum habe ich nicht vorher schon daran gedacht?! Ach, warte – weil Pas Erklärungen für die Tonne sind.“
Ich liebte meinen Vater, aber wenn man ihn fragte, warum etwas falsch war, bekam man immer dieselbe Antwort: Weil es nicht richtig ist. Sein Englisch mochte gut sein, aber das hatte nicht viel damit zu tun, dass er die Grammatik verstand; er verließ sich einfach auf sein Sprachgefühl und genau dieses fehlte mir. Mit ‚weil es nicht richtig ist‘ konnte ich nichts anfangen.
Sue schloss die Tür hinter sich und trat zu mir an den Schreibtisch. Als sie über meine Schulter lehnte, fiel eine rote Strähne in mein Blickfeld und ich drehte mich um, um sie ihr hinters Ohr zu streichen.
Amüsiert sah Sue mich an. „Ja, jetzt mutierst du zum Schmusekater, weil du weißt, dass ich dir helfen werde. Schön, dass deine Liebe so uneigennützig ist.“ Doch schon im nächsten Moment lächelte sie. „Komm, sag mir, wo der Schuh drückt. Ich bin zwar nur eine faule Studentin, aber das bedeutet ja auch, dass ich irgendwann einmal meinen Abschluss geschafft habe und das theoretisch wissen müsste.“
Ich atmete auf. Sue hatte mit Studium und Praktikum ziemlich viel zu tun und meist keine Zeit, um mir ausführlich beim Lernen zu helfen, aber wenn sie konnte, half sie immer aus und bei ihr verstand ich wenigstens ab und zu etwas.
„Und das Essen?“, fragte ich mehr der Form halber und suchte schon einmal all die Kopien heraus, bei denen ich Probleme hatte, die ich alleine nicht bewältigen konnte.
„Zum Glück haben wir ja eine Mikrowelle, nicht wahr? Und Kate holt uns schon, bevor sie verhungert.“
Mit Kate meinte sie Miss Kitty, denn Kitty durfte nur ich sie nennen.
Und ja, darauf war ich stolz.

***

Eineinhalb Stunden später hatte ich die Grundzüge der indirekten Rede und Zeitenfolge halbwegs kapiert und atmete erschöpft aus.
„Sue, du bist die Beste!“
Sie lachte. „Ja und zwar so lange, bis Kate dich das nächste Mal umarmt – dann bin ich wieder vergessen.“ Sie zog mit einer raschen Bewegung das Haargummi aus meinen Haaren – natürlich nicht, ohne dabei ein paar Haare, die eigentlich noch ganz gut in meiner Kopfhaut verankert gewesen waren, mitgehen zu lassen.
„Au!“, rief ich überrascht und rieb mir die schmerzende Stelle, „Kein Wunder, bei der Art, wie du mit mir umgehst!“
Doch sie lachte nur wieder. „Komm, räum dein Zeug weg, dann decken wir den Tisch. Pa müsste auch bald kommen.“
Ich nickte und tat wie geheißen. Als ich die Kopien gerade im Plastikmäppchen verstaut hatte und dieses in die Schublade legte, fragte sie:
„Hast du schon Freunde gefunden in der neuen Schule?“ Ihre Stimme klang tiefer als zuvor, schwerer, und ich wusste, dass ich, auch wenn ich mich umgedreht hätte, kein Lächeln mehr hätte sehen können, weder auf den Lippen noch in den Augen.
„Natürlich“, antwortete ich, „wann hatte ich das letzte Mal Probleme damit?“
Kein Seufzen, kein Kopfschütteln, aber Stille, die dies und mehr in sich trug.
Nach einer Weile, in der ich die letzten Bücher verstaut hatte, sagte sie: „Mum hat doch gesagt, dass sie diesmal länger hier bleiben will. Wahrscheinlich einige Jahre.“
Ich drehte mich mit leichtem Schwung zu ihr um und sah sie an. War sie wirklich erst zwanzig? In solchen Momenten sah sie viel älter aus.
Es tat mir leid. Und für eine Millisekunde fragte ich mich, ob sie Recht hatte und ich nicht so … nun, mich nicht so verhalten sollte, wie ich es eben tat. Aber die Millisekunde verging ebenso schnell wie alle anderen Millisekunden und ich erinnerte mich daran, dass ich einfach nur die logische Verhaltensweise gewählt hatte. Denn immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, das war eine weit verbreitete Definition von Wahnsinn. Also zuckte ich mit den Schultern und erwiderte:
„Das sagen sie jedes Mal.“
„Ich weiß, aber du wirst bald achtzehn und könntest auch hier bleiben, wenn sie doch wieder wegziehen.“
„Und warum sollte ich alleine hier bleiben wollen?“
Also wirklich. Im Gegensatz zu meiner Familie waren die anderen Menschen ersetzbar, jeder einzelne von ihnen, sogar wenn man sich wirklich mit ihnen anfreundete.  Außerdem hatte ich keine Lust auf das Thema.
Ich lächelte wieder, als ich aufstand und den Stuhl an den Tisch schob. „Komm, sonst verhungert Kitty wirklich noch.“
Sie erwiderte das Lächeln, aber nur mit dem Mund. Ich hasste es, wenn sie sich Sorgen machte, aber es gab Dinge, die ich nicht ändern konnte.

*********

„Wie ist er denn?“
„Anders als die anderen.“
„Sehr aufschlussreich.” Sie rollte mit den Augen, strich mir aber schon im nächsten Augenblick über den Oberarm. „Ist es besser geworden?“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Schlimmer.“
„Reden soll helfen – vielleicht solltest du es mal versuchen.“ Megans Arme schlangen sich um meinen Hals und sie küsste mich auf den Mund. „Armer Junge. Ich freu mich für dich!“

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