Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Freitag, 1. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 01:


Blaue Augen, lange Wimpern, verschwitzte Locken. Sonnengeküsste Haut und kräftige Hände, die auf meinem Hintern lagen, über mein Kreuz fuhren, hoch zu den Schultern, und sich dann schließlich in meinen Haaren verkrallten. Mich hinunter zogen, zu ihm. Als sich unsere Lippen berührten, explodierte etwas in meinem Kopf …

Ich ließ mich neben Lukas fallen, keuchend, befriedigt, ausgelaugt.
„Wow. Das war … wow!“ Er drehte sich zu mir und grinste schelmisch. “Ich kann nicht glauben, dass es jedes Mal noch besser wird! Wie machst du das?”
„Es braucht zwei dazu, vergiss das nicht“, antwortete ich ohne das zufriedene Grinsen zu verstecken. Dass er Recht hatte und dass er seinen Teil dazu beitrug bedeutete nicht, dass mir sein Lob nicht gefiel. Oder unsere Treffen.
“Wir müssen damit aufhören”, sagte ich dennoch klar und deutlich und mit nicht wenig Bedauern in meiner Stimme. 
Lukas sah mich nur fragend an.
“Ich habe an jemand anderen gedacht, eben.”
“An wen?”
“Meinen verdammten Mitschüler.”

*********

Ich kann ihn nicht ausstehen.
Das, liebe Damen und Herren, war mein erster Gedanke als ich ihn traf, an meinem ersten Schultag: Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich kam gerade vom Sekretariat, wo mir eine Zicke von Sekretärin mit zu viel Lippenstift und Männerparfüm einen Zettel in die Hand gedrückt und mich mit den Worten “Der Klassenlehrer ist heute krank, frag den, wenn irgendwas ist” weggescheucht hatte. Auf dem Zettel standen drei hingekritzelte Dinge:
  2OG
  N213
  Rubin Alexander
Etwas verloren hatte ich vor der verschlossenen Tür gestanden und auf das Papier gestarrt, bevor ich die Schultern gezuckt, mein bestes Lächeln aufgesetzt und ein Mädchen, das gerade den Flur hinunterlief, gefragt hatte, wo sich das Zimmer N213 befand. Natürlich hatte sie mir gerne Auskunft gegeben und mich sogar hingebracht; etwas anderes hatte ich gar nicht erwartet, denn wer würde mir schon nicht gerne Auskunft geben? Ich war nun mal ein sympathischer Junge – zumindest machte ich den Eindruck, was ich zu einem nicht unwesentlichen Anteil meinem Lächeln zuschrieb – zusammen mit der Tatsache, dass ich gelernt hatte, mich so zu verhalten, dass die anderen dachten, ich würde sie mögen, und das war ein wesentlicher Faktor dafür, dass sie mich mochten. Ganz nach dem Motto:
Es ist einfacher zu lieben, wenn man weiß, dass man zurückgeliebt wird.
Und wenn wir ehrlich sind, dann wissen wir alle, dass das Leben um vieles einfacher ist, wenn man, wenn schon nicht geliebt, dann mindestens gemocht wird. Ich war noch nie jemand, der sich die Dinge unnötig kompliziert macht. 
Nun stand ich also erneut vor einer Tür, diesmal einer offenen, und überlegte gerade, welcher Teil von Rubin Alexander der Vorname war – ich hoffte für den Kerl auf Alexander, aber da kein Komma dazwischenstand zweifelte ich daran – als ein Junge in mein Blickfeld trat.
„Hi“, sagte er ganz originell und musterte mich kurz, „suchst du wen?“
Ich nickte, warf noch einen Blick auf den Zettel und antwortete mit einem schiefen Grinsen: „Ja, ich suche einen … Rubin? Ich bin neu hier und die Sekretärin hat mir gesagt, ich soll mich an ihn halten.“
„Edelsteine wirst du hier keine finden.“
Junge Nummer eins und ich drehten uns um und ich sah mich einem weiteren Jungen gegenüber, dessen desinteressierter Ausdruck und die angehobene Augenbraue die Arroganz der Stimme perfekt widerspiegelten.
„Falls du nach mir suchst, dann lerne erst einmal, meinen Namen richtig auszusprechen. Die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Rubin, nicht Rubihn.
Und als wären die Worte alleine nicht genug, sprach er seinen Namen in wundervoll grässlichem Amerikanisch aus – zumindest war ich mir fast sicher, dass es Amerikanisch gewesen war. Es musste Amerikanisch sein, denn es war die einzige Sprache, die ich so wenig leiden konnte, wie mir sein erster Eindruck sympathisch war. Und nein, Amerikanisch war für mich kein Englisch. Engländer sprachen Englisch, Iren und Schotten mitunter auch, wenn auch mit Akzent, und von mir aus auch Australier – verdammt, sogar Inder sprachen Englisch, aber das, was Amis von sich gaben, hatte kein Recht, sich Englisch zu schimpfen.

Ich konnte ihn nicht ausstehen, weder den Hochmut noch die Aussprache, seine ganze Art nicht. Was hatte ich ihm denn getan?
Dem Jungen, der mich zuerst angesprochen hatte, ging es offenbar ähnlich, denn er rollte genervt die Augen und schwang den Rucksack über die Schulter.
Trotzdem grinste ich Rubin entschuldigend an. „Sorry, ich hör den Namen zum ersten Mal; ich werd’s mir merken. Frau Sörensen hat mir gesagt, ich soll mich an dich halten, da der Klassenlehrer krank ist.“
Er musterte mich und ich fragte mich unwillkürlich, ob er Kontaktlinsen trug, denn der Kontrast zwischen seinen dunklen Augen und den hellblonden Haaren erschien mir zu krass, als dass er natürlich sein konnte. Keine Ahnung, warum ich nicht an der Echtheit der Haarfarbe gezweifelt habe. Obwohl, doch: Seine Haare sahen im Gegensatz zu seinen Augen fast warm und angenehm aus.
„Du bist neu?“
Ich nickte. „Vor drei Tagen mit meiner Familie hierher gezogen.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die ganz klar sagte: Wen interessiert’s?
Arschloch.
Meine Laune sank im Millisekundentakt.
„Dein Name lautet …?“
„Vyvyan Oakley.“
„Vyvyan?“, fragte der Junge neben mir und musterte mich, „Das ist doch ein Mädchenname.“
Ah, daran war ich gewöhnt. Die Frage kam so oft, dass ich mich darüber mittlerweile amüsieren konnte.
„Jein, man kann ihn für beide Geschlechter benutzen. Oscar Wildes Sohn hieß auch so.“
Und schon hätten wir den Übeltäter: Hätte Wilde seinem Jungen einen anständigen Namen gegeben, würde ich heute niemandem erklären müssen, dass, erstens, meine Eltern sich nicht vertan hatten, und zweitens, ich mit zwei Ypsilons anstelle von Is geschrieben wurde. Danke, Mum, damit hast du dir ein lauschiges Plätzchen irgendwo im Tartaros gesichert.
Zumindest wusste ich seit gerade eben, dass es auch hätte schlimmer kommen können: Sie hätte meinen Vater dazu überreden können, mich Rubin zu taufen.
„Oscar Wilde? Der hatte Kinder?“ Der Junge mir gegenüber rieb sich über die Stupsnase und sah alles andere als überzeugt aus. „Ich dachte, der sei schwul gewesen?“
Ich starrte ihn an und blinzelte, um etwas Zeit zu schinden. Was sollte ich darauf bitte antworten?
‚Ja, aber Homosexualität macht nicht zwangsläufig impotent‘?
Rubin schien ähnliche Gedanken gehabt zu haben, denn er schnalzte ungeduldig mit der Zunge und überging die Frage.
„’Oakley‘? Woher bist du?“
„England, aber nur auf dem Papier. Ich bin hier aufgewachsen“, antwortete ich, das Lächeln wieder perfekt. Und siehe da, diesmal ließ er sich sogar dazu herab, darauf einzugehen – nicht auf das Lächeln, versteht sich, sondern auf das Gesagte.
Same here. Nur nicht England, sondern Amerika.“
Wusste ich’s doch.
Meine Annahme zu bestätigen war ja ganz nett, aber trotzdem wäre ich ihm wirklich unglaublich dankbar gewesen, wenn er mich mit diesem Kauderwelsch verschont hätte.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich hatte nichts gegen Amis. Echt nicht. Ich war mir sicher, dass sich unter dem Deckmantel der Massenverblödung irgendwo ein paar ganz angenehme Individuen versteckten, die garantiert auch unglaublich sympathisch waren – solange sie die Klappe hielten. Ich war davon überzeugt, dass niemand gerne einem Amerikaner beim Reden zuhörte; nicht, weil er nur Blödsinn redete (obwohl das oft genug zusätzliche Minuspunkte verursachte, aber das war nicht nur bei Amerikanern so), sondern einfach, weil es in den Ohren wehtat. Sie hörten sich für mich immer an, als hätten sie eine große, halbgare und ungeschnittene Kartoffel im Mund – und dazu etwa drei Stück Kaugummi. Und mit vollem Mund zu sprechen war nun mal – wie allgemein bekannt war – nicht die feine englische Art, da musste man sich nicht wundern, wenn es sogar einem Papier-Engländer wie mir sauer aufstieß.
Nun, wie auch immer. Ich hatte mich dazu entschieden, zu schweigen und mein Lächeln etwas zu vertiefen – meine übliche Art, Antworten zu umgehen, bei denen ich sicher war, dass sie nicht glaubhaft genug herausgekommen wären.
Was hätte ich schon sagen sollen? ‚Hey, cool, dann haben wir ja – fast – etwas gemeinsam!‘? Oder: ‚Ist das toll, ich wäre auch lieber Amerikaner!‘?
Nein danke, ich war zwar gut darin, anderen Leuten etwas vorzuspielen, aber ich hatte meine Grenzen. Und zum Glück war ich mir ihrer bewusst.
„Ich soll dir also den Einstieg hier erleichtern, ja?“, fragte mich Rubin und machte eine Pause, als es klingelte. Dann sah er mich wieder an. „Das war die erste Glocke, das bedeutet, die Schüler haben noch fünf Minuten, sich auf ihre Plätze zu setzen. Das hier“, er deutete auf den Raum hinter ihm, „ist das Klassenzimmer, dort drüben sind die Spinde, die Jungentoiletten sind den Gang runter, die Kantine ist im Erdgeschoss und sollte es sonst noch Unklarheiten geben, sind dir deine neuen, anderen Mitschüler sicherlich gerne behilflich.“ Er machte noch eine kurze Handbewegung in Richtung des Zimmers und fügte hinzu: „Die findest du da drinnen.“
Damit ließ er mich stehen.
Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich dem Kerl danach nicht gerade wohl gesonnen war, oder? Es stand jedenfalls fest, dass er meinem Bild von Amerikanern nicht gut tat. Überhaupt nicht.
„Mach dir nichts draus“, sagte der Junge, der immer noch neben mir stand, „der ist zu allen so.“
Ich wandte mich wieder zu ihm und musterte ihn kurz. Er war groß, hatte ein wenig Gel in den dunkelblonden Haaren, trug moderne aber nicht zu auffällig trendige Kleidung und sowie das Grinsen als auch der Blick aus den karamellfarbenen Augen wirkten offen. Sehr schön, damit ließ sich ziemlich sicher etwas anfangen, auch wenn er bis jetzt nicht unbedingt den hellsten Eindruck gemacht hatte – andererseits war das nicht per se etwas Schlechtes. Also lächelte ich schief.
„Und warum wurde ich dann zu ihm geschickt?“
„Weil er der Präsident des Schülerrates und Lehrerliebling ist.“
„Ihr habt einen Schülerrat?“
Er nickte.
„Wozu?“
„Das“, antwortete er und grinste erneut, „wissen wahrscheinlich nicht einmal die Mitglieder.“
Ich sah noch einmal Rubin nach, der gerade in einer Tür verschwand, die ich dem Aussehen nach als Tür zu den Toiletten zuordnete. Dann wandte ich mich wieder ganz dem anderen Jungen zu.
„Irgendwie fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass er genügend Freunde hat, die ihn zum Präsidenten wählen – oder sind die in eurem Schülerrat etwa alle so?“
„Keine Angst.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Rubin wurde nur gewählt, weil er die richtigen Noten hat und effizient arbeitet – kein Wunder, schließlich will er jegliche Arbeit möglichst schnell hinter sich haben, um sich nicht weiter mit uns abgegeben zu müssen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist ja auch egal. Ich bin Theo, einer deiner anderen neuen Mitschüler und helf dir gerne, wenn du Hilfe brauchst.“ Er hielt mir seine Hand hin und ich schlug grinsend ein.
„Danke.“ Ich zerknüllte den Zettel in meiner Hand und nahm mir vor, ihn im nächsten Mülleimer zu beerdigen, während Theo mich mit einer Kopfbewegung dazu aufforderte, das Zimmer zu betreten.
„Ist Theo der ganze Name oder eine Abkürzung?“, fragte ich um das Gespräch nicht einfrieren zu lassen, aber ohne wirklich an der Antwort interessiert zu sein.
Doch dann sah ich, wie sich seine Schultern strafften und grinste innerlich. Noch so jemand, der mit seinem Namen unzufrieden war.
„Abkürzung. Komm, du kannst neben mir sitzen, wenn du willst.“
„Gerne. Und wovon ist er die Abkürzung?“, fragte ich unschuldig und ließ meine Tasche auf das Pult fallen.
Theo sah mich einen Moment lang an, zog dann eine Schnute und sagte:
„Hör zu, ich glaube dir, dass Vyvyan auch für Jungs verwendet werden kann, und du vergisst, dass mein Name eigentlich noch ein bisschen länger ist. Deal?“
Ich lachte. „Deal.“
Im nächsten Moment kamen Theos Freunde und ich wurde erst einmal allen vorgestellt – was natürlich als Ausrede benutzt wurde, um noch zwei oder drei oder zehn Minuten der ersten Stunde dafür zu verschwenden, da die eineinhalb Minuten, die noch bis zum Unterricht blieben, niemals ausreichten, um mich zu begutachten. Der Lehrer schien die Idee auch in Ordnung zu finden und machte ein enttäuschtes Gesicht, als er schließlich mit seiner Arbeit anfangen musste – das konnte man ihm aber nicht verübeln, er unterrichtete Deutsch.
Und Rubin? Der kam genau mit dem letzten Glockenschlag und beachtete für den Rest des Tages weder mich noch einen der anderen Schüler und sprach nur, wenn er direkt angesprochen wurde – was meist in Form der Frage einer Lehrperson geschah. Diese Fragen beantwortete er ausnahmslos kurz und korrekt, aber in einem Ton, der sich anhörte, als ob er den Lehrer dafür verabscheute, dass er ihm so einfache Fragen stellte.
Und ich sah meinen ersten Eindruck bestätigt: Ich konnte ihn nicht ausstehen.

***

Daran änderte sich auch in den nächsten dreieinhalb Monaten nichts, und das, obwohl es dreieinhalb Monate waren, in denen ich erst die Leute aus meiner Klasse und dann auch welche aus den Parallelklassen kennenlernte; in denen ich mir nicht unbedingt langsam, aber stetig einen Freundes- und Bekanntenkreis aufbaute, der, zumindest von meiner Seite, nicht viel mit Sympathie, sondern viel mehr mit Vorteil zu tun hatte. Das Prinzip war einfach, hatte sich aber in der Vergangenheit bewährt: Je besser man den Freundeskreis wählte, desto leichter, angenehmer und eventuell sogar kurzweiliger wurde die Schulzeit und desto einfacher war es, den Bekanntenkreis zu erweitern. Und je größer der Bekanntenkreis, desto mehr Ressourcen hatte man im Notfall – vor allem dann, wenn die anderen nicht wussten, dass es ein Notfall war.
Theo hatte sich, wie erwartet, als ziemlich gute erste Bekanntschaft erwiesen: Er war offen und freundlich, in der Klasse fanden ihn die Jungs witzig, die Mädchen süß und seine Freundin war hübsch und ihrerseits nicht unbeliebt. Theos Freundeskreis war dementsprechend gut, besaß einen vernünftigen, flexiblen Gruppenzusammenhalt, bestand aus Leuten mit einem Minimalmaß an gesundem Menschenverstand und war vor allem schön normal: Die Jungs waren weder Freaks noch Schulidole und genau so wollte ich es haben. Das Beste war, dass sie Verständnis dafür hatten, dass ich nicht dauernd mit ihnen nach der Schule oder am Wochenende herumhängen konnte, weil ich ja auf meine kleine Schwester aufpassen musste. Meine kleine Schwester, Kitty, die gerade neun geworden war und für ihr Alter ganz gut auf sich selbst aufpassen konnte – aber hey, das wussten die ja nicht. Und ich, ich würde es ihnen garantiert nicht auf die Nase binden.
Das Allerbeste war aber, dass sie nicht die einzigen waren, die nachsichtig waren, wenn ich Kitty als Vorwand benutzte; nein, meine neue Freundin, die ich seit drei Wochen hatte, war ebenfalls so verständnisvoll.
Kurzum: Ich hatte es geschafft, mir mein Leben wieder so einzurichten, dass es sich äußerlich nicht von dem vor unserem letzten Umzug unterschied. Wenn man die Namen ausgetauscht und die Umgebung ein wenig verändert hätte, hätte man beide nicht voneinander unterscheiden können. Okay, ich konnte es nicht, meine Schwestern wahrscheinlich schon, aber deren Lebensauffassung unterschied sich eh grundsätzlich von meiner.

Nun war es Anfang Dezember und ich fühlte mich pudelwohl. Wer hatte je behauptet, Umzüge seien für Teenager schwierig zu bewältigen? Wer auch immer es gewesen war, er hat sich offensichtlich die falschen Teenager angeschaut. Aber gut, nicht jeder war so anpassungsfähig wie ich, denn nicht jeder hatte so viel Übung darin wie ich; meine Eltern waren nicht gerade ein Beispiel für Sesshaftigkeit.
Ich hatte also die letzten vierzehn Wochen damit verbracht, mich mit den Leuten, die mir wichtig genug erschienen, anzufreunden, und mich mit dem Großteil des Restes gut zu stellen, während Rubin, fast so, als lebte er in einer dauernden Wiederholung meines ersten Tages an dieser Schule, sich allen und jedem gegenüber verhielt, als ob er ein Staubkörnchen auf Rubins nicht vorhandener Brille wäre.
Normalerweise war mir das ja egal – sollte er doch machen, was er wollte! – aber an diesem Tag, an diesem jungen Dezembermorgen nach der Mittagspause, ja, in diesem einen Moment ging gerade der letzte Rest meiner nicht existierenden Sympathie für ihn den Bach runter.
In welchem Moment? Ganz einfach:
In dem, als er sich bei der Neuverteilung der Sitzordnung neben mich setzte.
Ich drehte mich um, sah ihn an und versuchte gar nicht erst, meinen Missmut ihm gegenüber zu überspielen. Das hatte ich ziemlich schnell aufgegeben, als ich merkte, dass man mir es nicht übel nehmen würde, denn Rubin hatte – oh Wunder, bei dem Verhalten! – keine Freunde, und Außenseiter nicht zu mögen war bekanntlich kein Verbrechen. Im Gegenteil: Es wäre auffällig gewesen, wenn ich so getan hätte, als ob er mir sympathisch war, sogar falls ich es überzeugend hätte spielen können. Zu versuchen, sich ausnahmslos mit allen gut zu stellen war eine schlechte Idee, denn sogar der dümmste Jugendliche wusste, dass niemand auf dieser Welt jeden mochte. Zumindest nicht, wenn er ehrlich war.
Normalerweise ignorierte ich ihn einfach so gut es ging, dann ließ es sich auch mit ihm leben, da er ja grundsätzlich alle ignorierte. Nur leider funktionierte das nicht, wenn er sich neben mich setzte.
„Was soll das?“
Er wandte sich mir zu und ich war mir sicher, eine Sekunde lang Erheiterung in seinen Augen zu sehen, bevor er langsam und betont eine helle – garantiert gezupfte! – Augenbraue anhob. Er tat das oft, wahrscheinlich, weil es den Eindruck verstärkte, dass er auf einen herabsah.
„Ich setze mich auf meinen neuen Platz.“
Ja, verdammte Scheiße, das sah ich auch.
„Das ist nicht dein Platz.“
„Nein?“ Er musterte mich und erwiderte dann ruhig: „Falls du es noch nicht mitbekommen hast, hier bei uns halten wir uns an die Devise: Wer’s zuerst beansprucht, dem gehört’s.“
„Danke für die Aufklärung. Und nun wähl einen anderen Platz, der dir gehören soll.“
„Das hatte ich ja getan, aber auf den hast du dich gesetzt. Also könnte ich entweder versuchen, dich zu überzeugen, dich wegzusetzen, oder aber mich mit dem Platz neben dir zufrieden zu geben. Rate, was mir lieber wäre.“
Oh, wie gerne hätte ich ihn vom Stuhl geschubst! Er saß keine dreißig Sekunden neben mir und dennoch hatte ich eindeutig genug davon.
„Was dir lieber ist, interessiert mich nicht.“ Ich wandte mich ab und begann demonstrativ damit, meine Sachen auszupacken. Als ob ich ihm die Genugtuung gönnen würde und das Feld räumte!
„Nein, aber dein Ruf schon. Und der könnte Schaden nehmen, wenn du hier sitzen bleibst.“
„Mein Ruf wird deine Anwesenheit überstehen, dafür sorge ich schon“, erwiderte ich ohne mich umzudrehen. Ich glaubte, dass er, sobald offensichtlich wurde, dass ich mich nicht wegsetzen würde, sich ein anderes, noch freies Zweierpult suchen würde. Bisher hatte Rubin in allen Kursen alleine gesessen.
„Das meine ich nicht.“ Ich fühlte, wie er sich zu mir herüberlehnte, und hielt inne, als ich seine nächsten, leisen Worte hörte. „Sich gleich bei der ersten Gelegenheit einen Platz ganz hinten am Fenster zu suchen, obwohl deine Spielkameraden immer auf der anderen Seite des Raumes sitzen, könnte den Eindruck erwecken, dass du deine Ruhe haben willst. Und das wiederum ließe darauf schließen, dass du die Meute gar nicht so sehr magst, wie du sie glauben lässt.“

Mit einem Ruck drehte ich mich um und registrierte nur am Rande, dass unsere Nasen keinen Zentimeter mehr voneinander entfernt waren. Kennt ihr den Spruch ‚Wenn Blicke töten könnten‘? Tja, wenn, dann hätte ich von diesem Augenblick an ein Problem weniger gehabt.
„Sag nicht Meute zu meinen Freunden!“
Ich weiß nicht, ob ich wirklich gehofft hatte, dass ihn das irgendwie einschüchtern würde, aber ich hätte sicher nie gedacht, dass er so reagieren würde, wie er es tat: Er sagte nichts, sah mich nur weiter an und langsam, ganz langsam veränderte sich seine Mimik. Ich wich ein wenig zurück, um mich zu versichern, dass das, was ich aus den Augenwinkeln zu sehen glaubte, Wirklichkeit war. Tatsächlich:
Rubin grinste.
Mit Grübchen.
Grübchen, verdammt noch mal! Es passte nicht zu ihm. Das ganze Konzept von allem, was auch nur entfernt mit Lächeln zu tun hatte, passte nicht zu ihm, schließlich konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er in den dreieinhalb Monaten auch nur einmal gelächelt oder gelacht, gekichert, gegluckst oder gegrinst hätte. Und dann kam er mit Grübchen.
Ich beschloss, es zu ignorieren und sah wieder hoch. Er sollte ja nicht denken, sein Grinsen hätte mich eingeschüchtert.
Auch seine Augen funkelten amüsiert. Kennt ihr das, wenn vereister Schnee in der Sonne glitzert? Genau so sah es für mich aus, auch wenn das natürlich Blödsinn war, schließlich waren seine Augen schwarzbraun – von weiß keine Spur.
Aber mit all dem wäre ich fertig geworden. Ehrlich. Schließlich wusste ich, dass jeder gesunde Mensch körperlich dazu in der Lage war, zu grinsen oder die Augen funkeln zu lassen, auch solche, die es normalerweise vorzogen, ein Gesicht wie ein Hochelb mit Schnupfen zu machen. Das Problem war aber, dass der ganze Gesichtsausdruck, so alles in allem, nicht nur amüsiert, sondern vor allem auch wissend aussah. Wissend, wie in:
Wem versuchst du eigentlich etwas vorzumachen, hm?
Oder wie in:
Du kannst ja sagen was du willst, aber ich weiß, dass dir deine so genannten ‚Freunde‘ scheißegal sind.
Vielleicht sogar:
Na, was denkst du, wäre es nicht interessant, wenn ich den anderen sagen würde, was du wirklich denkst? Was meinst du, wie sie darauf reagieren würden?

„Vyv?“ Theo legte seinen Rucksack auf den Platz vor Rubin, während das Mädchen, das eigentlich dort hatte sitzen wollen, ihr Zeug einpackte, und sah zwischen uns beiden hin und her. „Alles in Ordnung?“
„Klar.“ Ich merkte, dass meine Antwort eher einem Knurren als etwas anderem geglichen hatte und rückte mit meinem Stuhl weg, um Abstand zwischen uns zu bringen. Auch Rubin setzte sich wieder gerade hin. Das war besser, viel besser.
„Wenn du echt vorhast, hier sitzen zu bleiben, dann lass mich wenigstens in Ruhe.“ Ich warf Rubin, dessen Gesicht längst wieder den üblichen ihr seid alle unter meiner Würde-Ausdruck angenommen hatte, noch einen warnenden Blick zu, konzentrierte mich dann wieder auf Theo und fuhr fort, Rubin genau so zu behandeln, wie in den letzten Monaten; als befände er sich zufälligerweise immer im blinden Fleck meines Sichtfeldes. 
„Sag mal, warum hast du dich denn hierhin gesetzt?“, fragte Theo und warf einen Blick zum Rest der Jungs, die zu seinem – ich korrigiere: nun unserem – ‚engeren Freundeskreis‘ gehörten. „Vorhin hätte es drüben genug Platz für alle gehabt, aber jetzt sitzen wir auseinander.“
Tja, dann hättest du dich eben nicht zu mir setzen sollen.
„Hm, ja, daran habe ich irgendwie nicht gedacht“, erwiderte ich mit einem entschuldigenden Lächeln und zog die Schultern ein wenig an, „aber ich wollte unbedingt in die Nähe der Heizung, die Schulzimmer hier sind einfach viel zu schlecht geheizt.“ Ich nahm meine Wollhandschuhe kurz in die Hand und wedelte mit ihnen rum. „Du weißt ja, wie ich auf Kälte reagiere.“
„Ja. Du zitterst wie ein Mädchen; muss am Namen liegen.“ Er grinste und streckte mir die Zunge raus.
Wie kindisch. Theo war oft kindisch und es nervte tierisch.
Ich hob meinen Zeigefinger und imitierte die Stimme unseres Klassenlehrers, Herr Kirsten. „Pass auf, junger Mann, oder soll ich dich für den Rest des Tages bei deinem vollen Namen rufen, damit ihn auch alle mitbekommen?“
Theo verzog das Gesicht. „Nein! Ich meine, dein Name ist natürlich überhaupt nicht weibisch – dein Zittern übrigens auch nicht, es ist sehr männlich – Testosteron pur! Überhaupt bist du ein Bild von einem Mann; ein ganzer Kerl eben!“
Na, wenigstens damit hatte er Recht: Ich war ein Bild von einem Mann und darüber hinaus der Meinung, dass eine gesunde Portion Narzissmus nicht schaden konnte.
Ich grinste selbstzufrieden, während ich Theo ansah, dass er sich gerade zum hundertsten Mal dafür schimpfte, sich bei mir im Suff verplappert zu haben. Anders als mir war ihm sein Name nämlich wirklich peinlich, so sehr, dass er seine Eltern dazu gebracht hatte, ihn überall, wo es möglich war, unter Theo zu führen. Er hatte auch vor, gleich nach seinem Achtzehnten den Namen ändern zu lassen.
„Schon besser“, erwiderte ich und stöhnte leise, als Herr Kirsten das Zimmer betrat. Ich hatte fast erfolgreich verdrängt, dass als nächstes eine Doppelstunde Englisch auf dem Plan war. Ich hasste Englisch und Rubin mit seinem liebreizenden Akzent genau neben mir zu haben, machte die Sache auch nicht besser.

*

Und das wiederum ließe darauf schließen, dass du die Meute gar nicht so sehr magst, wie du sie glauben lässt.
Ich musste zugeben, dass mich Rubins Kommentar ein wenig aus der Bahn geworfen hatte – was nicht hieß, dass ich mir das anmerken ließ. Und sogar wenn, war es mehr als unwahrscheinlich, dass Theo und die anderen etwas bemerkten, von dem sie nicht einmal ahnten, dass es existierte. So scharfsinnig waren sie nicht.
Natürlich war ich nicht aufgebracht darüber, dass er meine Freunde als Meute bezeichnet hatte; was mich störte, war, dass er viel zu nahe an der Wahrheit lag, als gut für mich war. Und er wusste es; der Bastard wusste es.

*********

Hon, glaubst du wirklich, dass dich das weiter bringt?“ Megan sah mich zweifelnd an, aber ich wich ihrem Blick aus.
„Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich weiterkommen will.“





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen