Es gab nur etwas, was mein Hirn noch stärker blockieren konnte, als wenn
ein Lehrer mit Englisch ankam: wenn er mit einer Englischklausur ankam.
Wenn ich normalerweise in Grammatik schlecht war, dann war ich in Klausuren und
Tests einfach nur so unterirdisch, dass dagegen sogar der Hades wie ein
luxuriöses Penthouse erschienen wäre.
Kein Wunder also, dass ich an diesem Montag nach der Klassenarbeit ziemlich
mies gelaunt war. Alles, was Sue mir noch am Donnerstag erklärt hatte und was
ich am Sonntag beim Wiederholen halbwegs hatte lösen können, war weg gewesen.
Einfach schwupp und puff – wie gelöscht. Und dass Rubin
neben mir schon nach zwanzig Minuten fertig gewesen war, den Stift weggelegt
und den Rest der Stunde damit verbracht hatte, an mir vorbei aus dem Fenster zu
schauen, hatte es nicht besser gemacht.
Ich konnte nicht anders, als mich über ihn aufzuregen. Wäre es nur Englisch
gewesen, hätte ich ja nichts gesagt, aber er war einer der Menschen, die nur
desinteressiert in ihrem Stuhl hingen, die man nie lernend sah und die dann
doch immer locker super Noten kriegten. Jede Schule hatte einen oder zwei davon
und mir war klar, dass vor allem Neid dafür verantwortlich war, dass ich mich
so darüber ärgerte, aber für jemanden wie mich, dessen Noten zwar auch gut
waren – Deutsch und Englisch mal außen vor gelassen – der
sie sich aber hart erarbeiten musste, war es frustrierend. Sehr
frustrierend.
Natürlich war er auch jetzt mit seinen Gedanken irgendwo
anders – wo, wollte ich gar nicht wissen – und hatte den
Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Als er noch nicht neben mir gesessen
hatte, war es mir nicht aufgefallen, aber er tat das wirklich oft, aus dem
Fenster schauen. Und immer öfter, zumindest hatte ich das Gefühl. Ich folgte
seinem Blick, aber außer ein paar Bäumen, Straßen und Häusern, alles mit einer
dicken Schicht Neuschnee bedeckt, vor einem Himmel, bei dessen bloßem Anblick
mir schon kalt wurde – das Wort eisblau bekam ganz neue
Dimensionen – konnte ich nichts sehen. Es wehte kein Wind in den
längst abgefallenen Blätter der Bäume, die Vögel waren auch alle schon in ihre
Winterressorts geflüchtet und alles in allem konnte man sagen, dass der Anblick
nicht an eine Szenerie hinter einem Fenster, sondern an ein Foto oder ein
Gemälde erinnerte. Ein verdammtes Stillleben. Und trotzdem war es anscheinend
interessanter als alles Lebendige hier im Zimmer.
Ich schüttelte den Kopf und hörte wieder dem Lehrer zu, der gerade zum
einhundertdritten Mal die Ursachen des ersten Weltkrieges wiederholte. Nicht
sehr spannend, zugegeben. Trotzdem, konnte Rubin nicht wenigstens so tun, als
ob er geistig anwesend wäre?
Ich hatte die Schnauze voll davon und sah ihn auffordernd an, in der
Hoffnung, er würde es bemerken und den Blick wieder nach vorne richten. Es war
unangenehm, wenn er die ganze Zeit fast regungslos nur wenige Zentimeter an mir
vorbei sah. Vielleicht kratzte es auf eine mir unverständliche Art an meinem
Ego, konnte sein – auf jeden Fall mochte ich es nicht. Er hätte ja
genauso gut über die Köpfe der Leute vor uns hinaus schauen können; aber nein,
das tat er natürlich nicht und in meiner Laune sah ich das schon fast als
persönlichen Angriff.
Also fixierte ich ihn mit meinem Blick. Mit dem angepisstesten Blick, der
in meinem Repertoire vorhanden war, versteht sich. Und Rubin? Der reagierte
nicht. Nicht in den ersten, langen zehn Sekunden, nicht in den nächsten, noch
längeren zehn. Am Anfang war ich mir sicher, dass er mich bewusst ignorierte,
was mich nur noch mehr provozierte, aber nachdem sicher eine Minute vergangen
war, begann ich daran zu zweifeln.
War er so in Gedanken versunken, dass er mich wirklich nicht
bemerkte? Ging das überhaupt? Ich saß zwar nicht direkt in seinem Blickfeld,
aber aus den Augenwinkeln sollte er meine Bewegungen dennoch bemerken. Wie
konnte man während der Stunde so abdriften?
Ich wartete, aber nichts änderte sich. Und während ich ihn auf diese Weise
fixierte, änderte sich meine Stimmung langsam von wütend zu verwirrt, bis ich
ihn irgendwann nur noch
betrachtete. Erst nur die Augen, dunkel und – nicht leer, nicht kühl,
sondern abgeschirmt, als ob alle Emotionen sicher hinter dem
undurchlässigen Schwarzbraun mit Graustich versteckt wären. Und dann wurde mir
klar, warum ich manchmal an Winter denken musste, wenn ich sie ansah: Seine
Wimpern waren lang und so hell, dass sie fast weiß erschienen – als
wären winzige Schneeflocken in ihnen gefangen.
Was für ein Blödsinn. Schneeflocken in Wimpern, drinnen, eineinhalb Meter
von der Heizung entfernt, ja, genau. Was kam als nächstes? Liebe in einem
Faustschlag?
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und wandte den Blick von seinen
Augen zu seinen Brauen. Das erschien mir irgendwie sicherer. Sie waren ein
wenig dunkler als die Wimpern und auch bei näherer Betrachtung hielt ich an der
Überzeugung fest, dass sie gezupft waren. Schließlich hatte ich miterlebt, wie
Sues Aussehen sich verändert hatte, als sie sich das erste mal die Brauen
zupfte – ich war live dabei im Badezimmer und kontrollierte, dass sie
auch symmetrisch wurden – und seit damals war mir klar, dass all
diese perfekten, geschwungenen Augenbrauen, bei denen nicht ein Haar am
falschen Platz wuchs, gezupft waren. Es war ein kleiner Schock gewesen, damals,
aber bei Weitem nicht so schlimm, wie, als ich herausfand, was alles mit
Photoshop und moderner Filmtechnik möglich war. Gruselig.
Trotzdem, ich musste ihm lassen, dass die gezupften Brauen zu ihm passten,
denn an seinem Gesicht war alles fein: die Nase schmal, mit einem
kleinen Höcker, die Wangenknochen ausgeprägt und die Lippen … die waren weder
voll noch sonst was, das dem gängigen Schönheitsideal entsprach, sondern blass
und die Oberlippe sehr schmal, aber nichtsdestoweniger …
Als ich merkte, was ich da gerade dachte, gab ich mir selbst eine
Kopfnuss – nur in Gedanken, versteht sich, denn alles andere wäre
etwas peinlich gewesen, aber sie erzielte dennoch ihre Wirkung: Ich erinnerte
mich wieder an das, was ich eigentlich vorgehabt hatte, nämlich ihn davon
abzubringen, knapp an mir vorbei aus dem Fenster zu schauen, so dass ich das
Gefühl hatte, er schaue mich an, auch wenn ich wusste, dass er es nicht tat.
Ich hob meinen Blick wieder und bereitete mich vor, ihn wieder so ärgerlich wie
zuvor zu fixieren – dass meine Gereiztheit inzwischen aus mir
unerfindlichen Gründen verraucht war, musste ich ja nicht zeigen. Als ich aber
hochsah, verpuffte das Vorhaben augenblicklich – denn Rubin sah nicht
mehr aus dem Fenster. Er sah auch nicht nach vorne an die Tafel.
Ich gebe es zu, es war mir peinlich, dass er mich dabei erwischt hatte wie
ich ihn … sagen wir, intensiv gemustert hatte, aber ich hatte
nicht vor, deshalb wie ein errötendes Mädchen die Augen niederzuschlagen und
seinem Blick auszuweichen. Stattdessen erwiderte den Blick und wartete darauf,
dass er die rechte Augenbraue hochzog und den Mund, von dem ich ja jetzt ohne
zu schauen wusste, dass die Unterlippe voller war als die Oberlippe, höhnend
verzog. Ich erwartete, dass er so reagierte, denn es war fast die einzige und
sicher häufigste Art von Reaktion, die er uns Normalbürgern und Mitschülern
zukommen ließ. Aber anscheinend hatte ich
diesmal keine Reaktion verdient, denn Brauen und Mundwinkel blieben wo sie
waren, während er mir in die Augen sah.
Als einige Momente vergingen und ich zu dem Schluss kam, dass keine
Reaktion mehr kommen würde, wurde es immer schwieriger, den Blickkontakt nicht
zu unterbrechen. Und diesmal nicht, weil er mich ansah, sondern wegen
der Art, wie er es tat. Weder fragend noch spöttisch, forschend oder musternd;
nichts von alledem. Er sah mich einfach nur an. Das war alles.
Und es war verdammt verstörend, weil ich nicht wusste, wie ich dieses
Verhalten einzuordnen hatte.
Trotzdem sah ich nicht weg. Ich sagte mir, dass ich ihm diese Genugtuung
nicht gönnen wollte, aber die Wahrheit war, dass es mit jeder Sekunde, die
verstrich, leichter wurde, den Blick zu erwidern. Ich hörte auf, nach
Reaktionen oder Gründen oder ähnlichem zu suchen und nach einer
Weile – wie lange es für den Rest der Welt gedauert hatte, wusste ich
nicht, aber sicher nicht so lange, wie für mich – hatte ich den
leisen Verdacht, dass es schwieriger wurde, den Blickkontakt nicht zu
halten.
Blödsinn, oder?, fragte eine leicht panische Stimme in mir.
Ja, Blödsinn, antwortete ich. Absoluter Blödsinn, es ging hier immer noch um meine
Ehre, meinen Stolz. Wer zuerst wegsah, verlor.
„Rubin, wenn Sie bitte den nächsten Abschnitt lesen würden?“
Es hatte die kratzige, gelangweilte Stimme meines Geschichtslehrers
gebraucht, damit ich – wir beide – den Blick abwandten. Auf
der einen Seite war ich dem alten Kauz dankbar und auf der anderen … hätte ich
gerne gewusst, was das eben gewesen war. Aber ich wusste, dass ich es sicher
nicht ansprechen würde. Weder jetzt noch später.
„Das war der, der anfängt mit …?“
In Rubins gelassener Stimme schwang die gleiche Arroganz mit wie immer. Und
der Lehrer, der jeden anderen Schüler für dieses Verhalten, allein schon die
Frage, zurechtgewiesen hätte, antwortete ebenso freundlich wie immer:
„Seite einhundertzweiunddreißig, rechte Spalte, zweiter Absatz.“
Genau, sagte ich mir, es war alles normal. Wie immer.
Dennoch sah ich unauffällig zu den anderen Schüler um uns herum, aber alle
starrten entweder vor sich hin, schrieben Nachrichten auf Zettelchen oder
warfen – in einem wirklich einzigartigen Beweis von reifem
Verhalten – kleine Papierkügelchen auf die Hinterköpfe der Leute vor
ihnen. Niemand schien etwas bemerkt zu haben und ich beglückwünschte mich
selbst zu der Entscheidung, mich in die hinterste Reihe zu setzen.
***
„Sag mal, Vyv, was war denn heute in Geschichte los?“
Theos Frage traf mich aus dem Hinterhalt. Wir saßen in der Kantine und aßen
zu Mittag, mit Fee und ihren Freundinnen. Der ganze Raum roch nach Curry, wie
immer, wenn es das Hauptgericht des Tages war, und fadem
Gemüse – darauf musste man nie warten, das gab es jeden einzelnen
Tag. Nun, es hätte schlimmer sein können: In einer meiner vorherigen Schulen
hatte es in der Kantine immer sehr unsauber gerochen, als wäre ständig etwas
daran zu verfaulen. Appetitanregend, hm?
„In Geschichte?“, fragte ich, um Zeit zu schinden. Hatte Theo es bemerkt?
Wenn ja: Was glaubte er, bemerkt zu haben?
Er nickte und ich sah aus den Augenwinkeln, wie der Rest sich uns zuwandte,
Fee, die neben mir saß, natürlich eingeschlossen.
„Ja. Ich hab mich zu dir umgedreht und wollte dich darauf aufmerksam
machen, dass Klaus eingeschlafen ist, aber du hast Rubin angesehen, als ob du
nicht verstehen würdest, warum er plötzlich neben dir sitzt.“
„Warum sitzt er eigentlich neben dir?“, mischte sich Aaron, ein
Mitglied unserer ‚Gruppe‘, ein, „Ich dachte, du könntest ihn nicht ausstehen?“
Schlauer Bursche.
„Ja, aber wann interessiert es seine Hoheit schon, was dem Fußvolk
gefällt?“, antwortete ich, das erleichterte Aufatmen darüber, dass Theo
anscheinend nur kurz nach hinten geschaut hatte, unter einem Seufzer
verbergend, „Als ich ihm gesagt habe, er solle sich verziehen, meinte er, ich
säße auf dem Platz, den er haben wollte. Und ich hab keinen Grund gesehen, mich
nur wegen seinen Ansprüchen von meiner geliebten Heizung zu
trennen – sonst denkt er noch, er könne so was von jetzt an immer
abziehen.“
Ich bekam zustimmendes Nicken und Theo grinste.
„Ja, Vyv und die Heizung – eine Liebe gegen alle Widerstände.
Pass nur auf, dass Fee nicht eifersüchtig wird.“
Fee lachte nur, schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Orangensaft. Sie
trank in der Schule immer Orangensaft, ihr schmeckte das Wasser hier nicht.
„Aber sag, was war denn nun in Geschichte?“, fragte sie unschuldig und mit
einem freundlichen Lächeln. Und nein, ‚unschuldig‘ ist hier nicht ironisch
gemeint – zu Fee passte das Wort wirklich. Ihre Lächeln waren echt.
Wenn jemand den Unterschied kannte, dann ich.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich gefragt, was für ein Mädchen
mit einem Typen wie Rubin ausgehen würde.“
„Wieso das?“, fragte Kim.
„Ich habe ihn letzte Woche gesehen – am Donnerstag, als ich meine
kleine Schwester abgeholt habe. Ihre Schule ist in der Nähe des Sankt Katharina
Gymnasiums. Er hat eine der Schülerinnen dort abgeholt.“
„Er hat eine Freundin?“, rief Aaron fassungslos, „Warum hat ein Lackaffe
wie er eine Freundin und ein netter Kerl wie ich ist Single?!“
„Och, armer Junge.“ Cara, eine Freundin von Fee, die neben Aaron saß,
strich ihm über den Arm. „Aber so undenkbar ist das nicht, schließlich ist das
Sankt Katharina in erster Linie für höhere Töchter – bei denen ist
‚Lackaffe‘ sicher ein Kompliment.“
„Außerdem sieht er wirklich gut aus, das alleine würde auch mancher hier an
unserer Schule reichen, um über alles andere hinwegzutrösten.“
Ich sah Fee leicht schockiert an. „Er sieht was?!“
Die anderen am Tisch grinsten und kein einziger bemerkte, dass es mir so
was von egal war, wen Fee attraktiv fand und wen nicht. Sollte sie mit mir
Schluss machen wollen, gab es schließlich noch genug andere Mädchen an der
Schule, auch wenn es angenehmer war, wenn sie die Beziehung nicht beendete. Sie
war eine sehr unkomplizierte Freundin.
„Na ja“, erwiderte sie mit einem Lächeln, „auf eine androgyne Art und Weise
tut er das sicher, auch wenn ich persönlich mehr auf den sportlichen Typ
stehe.“ Sie legte die Gabel hin und schlang den rechten Arm um mich.
Ich tat das gleiche bei ihr und grinste wieder. „Das will ich doch hoffen.“
„Von wegen androgyn, der Kerl ist einfach nur eine halbe Portion.
Kommt davon, wenn man sich zu schade für ein bisschen Sport und Sonne ist“,
brummte Kim und Aaron nickte eifrig und fügte hinzu: „Genau. Außerdem sieht er
mit den halblangen Haaren aus wie’n Weib.“ Dann biss er mit mehr Kraft in sein
Brötchen, als nötig gewesen wäre.
Erstens: Wir konnten nicht alle den Körperbau eines
Herakles – oder in diesem Fall, eines Kim – haben, nicht
wahr?
Und zweitens sollte Aaron sich wohl weniger Gedanken um sein Liebesleben
machen und ein bisschen mehr Zeit mit der Nase in einem Wörterbuch verbringen.
Dann wüsste er auch, was androgyn bedeutete, was er offensichtlich nicht tat.
Vielleicht würde er sogar ein paar Synonyme zu ‚Weib‘ lernen und das wiederum
könnte seinem Liebesleben gut tun. Aber das war nicht mein Problem, also hielt
ich die Klappe.
Aber mal ehrlich: Sah Rubin wirklich feminin aus? Oder eben androgyn?
Gut, ich hatte vor einer Stunde selbst bemerkt, dass er ein fein
geschnittenes Gesicht hatte, aber an weibisch hatte ich dabei nicht
gedacht. Und zuvor war mir außer seinen Augen (und den Grübchen, aber die hatte
ich mittlerweile als Einbildung abgetan), nichts von seinem Äußeren besonders
aufgefallen. Weder positiv noch negativ, weder als besonders männlich noch
weiblich. Aber das konnte, wenn ich ehrlich war, auch daran gelegen haben, dass
seine Persönlichkeit so sehr herausstach.
Seine Haare waren ja wohl nicht femininer als meine Locken, die ich mit dem
Kamm regelmäßig zu ungebändigten Wellen bändigte, und die in diesem Zustand
länger waren als seine. Und ich war nicht weibisch, so viel stand
fest.
Ich zog Fee, die wie ich inzwischen mit essen fertig war, etwas näher zu
mir und lächelte sie kurz an, bevor ich mich dem Gespräch zuwandte.
Mein Fazit blieb, dass Rubin zwar kein Muskelprotz, aber auch nicht
androgyn war. Und damit, beschloss ich, hatte ich für den Rest meines Lebens
genug Gedanken an sein Äußeres verschwendet.
***
„Hast du Lust, nach der Schule etwas zu unternehmen?“
Es war die Pause vor der letzten Stunde des Tages. Fee war in mein
Klassenzimmer gekommen und saß jetzt rücklings auf dem Stuhl von Klaus, direkt
vor mir.
„Du weißt schon, dass ich im Gegensatz zu dir noch eine weitere Stunde
habe, oder?“
„Ja, du Genie, das weiß ich“, erwiderte sie, „aber ich könnte in der
Bibliothek auf dich warten.“
„Sorry, aber ich denke, nachdem ich heute schon Englisch verhauen habe,
sollte ich schauen, dass ich morgen in Deutsch besser eine anständige Note
kriege.“
Fee lächelte mich an. Ihr Lächeln war nicht schön, es war verführerisch,
auch wenn sie das nicht beabsichtigte; sie hatte so perfekt geschwungene
Lippen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, die dazu auch noch von Natur aus
tiefrot waren – dagegen sah sogar Angelina Jolie blass aus. Obwohl,
Angelina war sowieso nicht mein Typ, sie stach zu sehr heraus. Fee dagegen war
süß, mit kurzen, schwarzen Haaren und einem herzförmigen Gesicht, das einfach
dazu einlud, dass man es in die Hände nahm. Natürlich könnte man sie auch
weniger vorteilhaft beschreiben: Ihre Beine waren zwar hübsch, aber im
Verhältnis zu ihrem Oberkörper etwas kurz geraten, Oberweite hatte sie auch
nicht wirklich viel und das Gesicht war mit Ausnahme des Mundes eher
durchschnittlich – aber das interessierte mich weniger. Sie war nett,
freundlich und vor allem nicht so aufgedreht und unnatürlich wie andere Mädchen
in ihrem Alter. Und ihr Mund war der Hammer.
„Wir könnten auch bei mir zu Hause lernen. Meine Klasse schreibt morgen
Mathe, wir könnten uns gegenseitig helfen.“
Zu zweit lernen? Bitte, nur schon die Zeit, bis ich bei ihr war und bis wir
dann anfingen und … nein, da würde ich alleine schneller vorankommen. Außerdem
war ich nicht in der Stimmung für Gesellschaft, nicht nach der Niederlage vom
Morgen.
„Glaubst du wirklich, ich könnte mich auf Deutsch konzentrieren, wenn ich
mit dir alleine in deinem Zimmer bin?“, fragte ich und wackelte mit den
Augenbrauen. „Im Endeffekt bin ich auch nur ein hormongesteuerter Teenager.“
„Ist das so?“ Sie schüttelte lachend den Kopf, stand auf und gab mir einen
Kuss, als die erste Glocke erklang. „Dann ist es vielleicht wirklich besser,
wenn wir getrennt lernen.“ Sie nahm Tasche, Jacke und Schal, zog die letzten
zwei an und schenkte mir dann noch eines dieser Lächeln.
„Bis morgen, Vyvyan. Rubin.“
Sie grüßte ihn immer, sie grüßte einfach jeden und da er jetzt neben mir
saß, wäre es unhöflich gewesen, es nicht zu tun – das hatte sie mir
gesagt, als ich meinte, sie bräuchte sich nicht die Mühe machen, da er sowieso
nie antwortete. Auch diesmal nicht; er sah zwar auf, hob aber nur eine
Augenbraue.
„Es würde dich wirklich nicht umbringen, wenn du einen verdammten
Abschiedsgruß erwidern würdest“, sagte ich, als Fee gegangen war, „es ist auch
wirklich einfach: Tschüss, ciao, bye – alles ganz kurze Wörter!“
Er wandte sich mir zu und sah mich unbewegt an.
„Sie ist deine Freundin, nicht meine; warum sollte ich mir die Mühe
machen?“
„Jemanden zu grüßen, heißt nicht, sich Mühe zu machen!“
„Wenn es einem egal ist, was der andere von einem denkt, gibt es auch
keinen Grund ihn zu grüßen. Felizitas ist mir egal.“
„Arschloch.“
Er grinste, zum zweiten Mal seit ich ihn kannte. Wieder mit Grübchen.
***
Bis morgen, Vyvyan.
Ich trat mit aller Kraft in die Pedale – hätte ich auf dem Boden
gestanden, hätte man sagen können, dass ich aufstampfte, aber zum Glück fuhr
ich mit dem Rad. Ich fuhr zu Kittys Schule, wollte sie abholen, hatte meine
Mutter angerufen und gesagt, sie müsse nicht kommen, ich ginge. Hätte Mum sie
abgeholt, wären die beiden noch einkaufen gegangen und dann hätte ich Kitty
nicht vor sechs oder sieben gesehen. Ich wollte aber nicht bis sechs oder
sieben warten, denn bis ich sie sah, würde ich nicht in der Lage sein, zu
lernen. Die ganze Zeit über wiederholte sich in meinem Kopf der Satz, den Rubin
mir mit vor Spott funkelnden Augen zugeraunt hatte, bevor er wie immer als
erster aus dem Schulzimmer abgehauen war.
Ich wusste, dass er mich damit ärgern wollte, und ärgerte mich darüber,
dass er es geschafft hatte, aber ändern konnte ich es nicht. Er regte mich
tierisch auf und das Schlimmste war: Ich wusste nicht einmal, wieso.
In so einer Situation war Kitty Balsam für die Seele – eigentlich
war sie das immer, aber sie war die einzige, die mich wieder runterholen konnte
und mich auf andere Gedanken brachte.
Ja, vielleicht hatte ich einen Schwesternkomplex. Einen leichten.
Als ich vor der Schule hielt, stand Kitty schon draußen und unterhielt sich
mit ihren Freundinnen, von denen mich eine entdeckte und auf mich zeigte. Kitty
drehte sich um, fing bei meinem Anblick an zu strahlen und rannte fast
augenblicklich los, wenn auch nicht ohne sich noch einmal mitten im Rennen
umzudrehen und den Mädchen zuzuwinken. Da die Distanz zwischen uns von Anfang
an nicht sehr groß gewesen war, wäre sie fast in mich hineingerannt, aber
irgendwie schaffte sie es trotzdem, mir um den Hals zu fallen, ohne einem von
uns beiden dabei weh zu tun.
„Ich dachte, Mum holt mich heute ab“, sagte sie, als ich sie wieder
herunterließ.
„Hm.“ Ich nahm mein Rad und zuckte mit den Schultern, als sie den Kopf
schief legte und stumm nach einer aufschlussreicheren Antwort verlangte. „Ich
habe ihr Bescheid gegeben.“
Sie grinste breit und ihre schokoladenbraunen Augen fingen an zu leuchten.
„Schlechte Laune?“
„Na, wenigstens kannst du dich darüber freuen.“
„Du schmollst!“ Sie kicherte und hüpfte ein paar Schritte, was auch mich
dazu brachte, mich in Bewegung zu setzen. Wie es aussah, wollte sie zu Fuß
gehen – nun, meine Hände dankten es ihr, ich hatte nämlich wieder nur
die Wollhandschuhe dabei.
„Wenn man gereizt ist, soll man das weder in sich hineinfressen, noch es an
anderen auslassen, sondern es durch Bewegung abreagieren“, verkündete sie.
„Woher hast du denn das?“
„Von meiner Lehrerin, das hat sie heute gesagt, als Paul Timo eins auf die
Nase gegeben hat – wirklich, Jungs sind so primitiv!“
„’Primitiv‘?“ Ich schmunzelte und schloss zu ihr auf. „Weißt du überhaupt,
was das Wort bedeutet?“
„Natürlich“, antwortete sie und reckte das Kinn in die Höhe, „Angie hat es
mir erklärt. Es bedeutet, dass sie Steinzeitmenschen sind.“
Ich verkniff mir ein Lachen und fasste sie mit einer raschen Bewegung am
Jackenkragen, um sie rückwärts zu mir zu ziehen.
„Ich bin also ein Steinzeitmensch?“
Sie legte den Kopf in den Nacken und grinste mich breit an. „Du doch nicht!
Du bist der beste Bruder der Welt!“
Nun lachte ich doch, ließ sie los und gab ihr einen Schubs, aber nicht so
stark, dass sie auf dem verschneiten Bürgersteig ausgerutscht wäre.
„Gute Antwort, Miss Kitty. Wie ich sehe, habt Ihr eine äußert vorzügliche
Erziehung genossen.“
Kitty gluckste und hüpfte ausgelassen voran.
„Komm, Vyvy, ich weiß, was wir gegen deine schlechte Laune tun!“
„Was denn?“, fragte ich wenig begeistert, weil ich eine Vorahnung hatte,
dass es noch mehr Zeit als nötig im Freien – und damit in der
Kälte – bedeutete. „Damit das gesagt ist: Bewegung bringt nichts,
schließlich bin ich schon wie ein Verrückter hierher geradelt und meine Laune
hat sich nicht verbessert.“
Nein, gerade sackte sie wieder einige Stockwerke nach unten, denn wir waren
beim Sankt Katharina Gymnasium angekommen. Und dort, vor dem Tor, inmitten
einer Gruppe Schülerinnen, war das nicht Rubins Freundin?
Das Mädchen tat mir leid, denn sie musste wirklich schlechte Erfahrungen
mit Jungs gemacht haben, um sich in jemanden wie Rubin zu verlieben.
„Dann war das eben nicht die richtige Bewegung“, erklärte mir Miss Kitty,
„ich weiß etwas, was ganz sicher helfen wird!“
Ich riss den Blick von dem Mädchen los und sah wieder Kitty an.
„Verrätst du mir auch, an was du dabei denkst?“
„Nein, das ist ein Geheimnis!“
Ja, war ja klar gewesen. Kitty liebte Geheimnisse, zumindest, solange sie
eingeweiht war.
***
„Und was genau wollen wir hier?“, fragte ich, als sie stolz vor einem
kleinen Park stehen blieb und laut „Tadaa!“ rief.
„Es ist total schön hier, oder?“ Kitty ging in die Knie und strich mit den
behandschuhten Händen sanft über ein Stück unberührter Schneeoberfläche.
Ich sah mich um. Verschneite Bäume, verschneite Rasenflächen, verschneite
Wege, deren Schnee aber schon niedergetrampelt war und über die einige wenige
Spaziergänger gingen.
„Es ist schön, ja“, antwortete ich langsam und vergrub meine Hände in den
Taschen, „aber vor allem ist es …“
Platsch!
… kalt. Das wollte ich eigentlich sagen: Vor allem ist es kalt. Und das war
es auch, jetzt noch mehr als vorher, denn jetzt hatte ich eine Ladung Schnee im
Gesicht.
„… genial für eine Schneeballschlacht!“, rief Kitty vergnügt und formte
bereits den nächsten Ball in ihren Händen.
Einen Moment lang stand ich regungslos da, aber schon im nächsten grinste
ich breit, kettete mein Fahrrad an den Ständer und bückte mich selbst nach
Schnee.
„Na warte, Miss Kitty, das wirst du noch bereuen!“
Sie kreischte vergnügt und fing an zu laufen, quer über die Wiese. An ihren
Armbewegungen konnte ich erkennen, dass sie den Ball während des Rennens fester
zusammendrückte. Diesmal zögerte ich nicht, sondern rannte ihr sofort
hinterher.
***
Zwanzig Minuten später hatte ich sie erwischt, hielt sie am Ärmel fest und
hatte den anderen Arm erhoben, einen großen, weichen Schneeball darin. Meine
Handschuhe waren durchnässt, die Hände steif gefroren, Schnee, der mich im
Nacken getroffen hatte, verflüssigte sich langsam und lief unter meinem Schal
in die Jacke hinein, aber mir war nicht kalt. Im Gegenteil, ich fühlte mich so
wohlig wie schon lange nicht mehr. Und es war mir so was von egal, ob die
anderen Parkbesucher mich für kindisch hielten.
„Na, gibst du auf oder willst du Bekanntschaft mit meiner neusten Kreation
machen?“, fragte ich und näherte die erhobene Hand ihrem Gesicht.
„Nein, niemals!“, rief Kitty und versuchte sich loszureißen.
„Na dann“, antwortete ich, „darf ich vorstellen? Das ist Anna Maria
Leopolde, ihres Zeichens erstklassige Schneeballdame – Anna Maria
Leopolde, das ist …“ Ich holte aus, doch bevor ich ihr den Schnee ins Gesicht
drücken konnte, rief Kitty:
„Warte! Vyvy, bitte, warte, ich ergebe mich – ich ergebe
mich …“
Ich grinste schon und ließ den Arm wieder sinken, als sie mir eine Ladung
lockeren Schnees ins Gesicht warf und sich mit einem Ruck doch noch losriss.
„… niemals! Never ever!“ Sie streckte mir die Zunge heraus und
lachte, als ich mich wieder aufrappelte.
„Kitty, das ist Betrug!“, rief ich laut, rannte ihr nach und warf den
Schneeball.
Doch sie war schon immer gut in so etwas gewesen und schlug genau im
richtigen Moment einen Haken, drehte sich unversehrt zu mir um und machte eine
lange Nase.
Buff!
„Ah!“
Das Geräusch eines Aufpralls, gefolgt vom erschrockenen Ausruf eines
Mädchens.
Kitty und ich, bereits wieder mit neuem Schnee zwischen den Fingern,
drehten uns simultan um und sahen zu dem Pärchen, das etwas entfernt auf dem
Weg stand.
„Anna Maria Leopolde hat jemanden getroffen“, sagte Kitty erstaunt und sah
kurz zu mir, „sie war wirklich erste Klasse!“
„Natürlich war sie das“, gab ich trotzig zurück und ging dann ein paar
Schritte auf das Mädchen zu, das sich gerade den Schnee von der Schulter
klopfte. „Tut mir leid, das war keine Absi…“
Ich stockte. Mein Blick war auf ihren Begleiter gefallen und der war genau
die Person, die ich nun wirklich nicht außerhalb der Schule treffen
wollte – vor allem nicht heute.
„… keine Absicht“, wiederholte ich und wandte mich wieder an das Mädchen,
mit der Absicht, ihn einfach zu ignorieren, wie sonst auch.
„Kein Problem“, antwortete sie und lächelte mich offen an. Wenn ich ehrlich
war, überraschte es mich, denn ich hatte sie mir anders
vorgestellt – versnobter, zugeknöpfter und unfreundlicher. Aber sie
schien, dem ersten Eindruck und dem Lächeln nach zu urteilen, ein normales,
nettes Mädchen zu sein.
„Erst hältst du mir einen Vortrag darüber, wie wichtig es ist, sich zu
grüßen und nun hältst du dich selbst nicht daran.“
Widerwillig wandte ich meinen Blick von ihr ab und sah ihn an.
„Du bist nicht gerade ein gutes Vorbild für britische Manieren.“ Seine
Lippen verzogen sich nur das kleinstmögliche bisschen in Richtung Grinsen, aber
seine Augen funkelten – funkelten mit dem üblichen Spott, aber ich
glaubte, noch etwas anderes erkennen zu können. Interesse? Unmöglich.
„Hallo, Vyvyan.“
Rubin sprach meinen Namen, wie schon in der Schule, amerikanisch aus. Ich
hatte bereits vorher an diesem Tag das Gefühl gehabt, dass er es mit einem
Unterton gesagt hatte – unter dem Spott, versteht sich, denn davon
triefte seine Stimme geradezu – es aber als Einbildung abgetan, doch
nun war es deutlicher. Nicht deutlich genug, gedeutet zu werden, aber genug, um
auf eine mir unverständliche Art nervenaufreibend zu sein.
„Ihr kennt euch?“
Kitty und Rubins Freundin sprachen gleichzeitig, sahen sich an und lachten,
bevor beide Rubin ansahen – seine Freundin wahrscheinlich, um eine
Antwort zu bekommen, aber in Kittys Augen flirrte eindeutig Neugierde. Und es
ist ja allgemein bekannt, dass Neugierde besonders für Katzen keine gesunde
Eigenschaft ist.
„Wir sind in derselben Klasse“, erklärte ich deshalb und hoffte, dass es
Kittys Interesse dimmen würde. Und tatsächlich sah sie ein klein wenig
enttäuscht aus, aber bei Weitem nicht enttäuscht genug – nicht für
meinen Geschmack.
„Genau“, stimmte mir Rubin unaufgefordert zu, „und seit Kurzem sitzen wir
nebeneinander.“ Er trat einen Schritt näher zu ihr, streckte die Hand aus und
fügte hinzu:
„Mein Name ist Rubin.“
Oh ja, sein Name war Rubin und er tat gerade etwas, das mich mehr als nur
ein wenig schockierte: Er lächelte. So richtig. Freundlich. Ohne
Spott oder Hohn. Wie ein normaler Mensch. Freiwillig.
Warum?
Wozu?
Was bei Hades versprach er sich davon?!
„Catherine Oakley.“ Kitty musterte ihn neugierig, bevor sie ihre Hand
elegant ausstreckte und meinte: „Du bist hübsch. Du darfst mir einen Handkuss
geben.“
Seine Augen flackerten kurz zu mir, der Spott wieder da, wo er hingehörte,
auch wenn die Mundwinkel immer noch leicht verzogen waren, und dann kniete er
sich tatsächlich hinunter und beugte sich über die Hand meiner Schwester, immer
den Augenkontakt zu ihr haltend.
Das war nicht gut. Es gefiel mir nicht, er sollte nicht in Kittys Nähe,
egal, was seine Beweggründe oder Absichten waren.
Kitty. War. Tabu.
Deshalb konnte ich es mir auch nicht verkneifen, sie, sobald Rubin wieder
stand, zu mir zu ziehen. Dann wandte ich mich an Rubins Freundin und hielt ihr
gezwungenermaßen die Hand hin – ganz normal, versteht sich. Wenn der
Bastard sich unbedingt meiner Schwester vorstellen musste, dann konnte ich das
ebenso gut bei seiner Freundin machen.
„Hi, ich bin Vyvyan – wie du eben wahrscheinlich schon gehört
hast.“ Ich lächelte mein Schullächeln und musste Kitty nicht ansehen, um zu
wissen, dass sie die Augen rollte. Ich wusste, dass sie mein künstliches
Lächeln nicht mochte, aber noch nicht einmal sie brachte mich dazu, es in
solchen Situationen abzulegen.
„Megan Midner. Es freut mich außerordentlich, Vyvyan.“
Ich vertiefte mein Lächeln – das ‚mich auch‘ wollte mir nicht
über die Lippen.
Nachdem sich auch die beiden Mädchen noch mit einem
Knicks – Kitty bestand darauf – begrüßt hatten, sah ich zu
Megan.
„Nochmals sorry wegen dem Schneeball.“
Sie lachte. „Na, wenn es dir wirklich so Leid tut, dann lad mich doch als
Entschädigung auf einen Kaffee ein – wir wollten sowieso gerade einen
trinken gehen. Right, hon?“
Oh Gott, noch eine Amerikanerin. Ich hätte es wissen müssen.
Na, wenigstens passten die beiden von daher perfekt zusammen, auch wenn ich
fand, dass Megan zu schade für Rubin war. Sie war nicht nur hübsch, mit den
gewellten mittelbraunen Haaren und stechend grünen Augen, sondern schien auch
relativ nett zu sein. Also ganz anders als Rubin – obwohl ich zugeben
musste, dass er sich vor ihr besser verhielt als sonst. Deswegen wahrscheinlich
auch das Lächeln vorhin.
Rubin nickte und sah mich an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Blick zu
deuten hatte; ob es mehr in die Richtung Wag es nicht, meiner Freundin etwas
abzuschlagen, ging, oder eher Wenn du weißt, was gut für dich ist,
lehnst du ab – und sonst auch. Sein Blick war intensiv und
verstörend, aber durch und durch undeutbar.
Noch ein Grund, ihn nicht zu mögen.
„Eigentlich sollten wir langsam nach Hause“, antwortete ich mit einem
entschuldigenden Lächeln, „Ich hatte vor, meine Schwester abzuholen und direkt
nach Hause zu gehen – wenn wir noch länger wegbleiben, fragt sich
unsere Mutter noch, wo wir bleiben.“
„Ach, komm schon, Vyvy“, protestierte Kitty, „Mum ist bestimmt noch
einkaufen, das dauert doch immer Stunden!“
In mir drin bereitete sich etwas bereits darauf vor zu verlieren, denn
gegen Kitty verlor ich immer, aber da ich meine Freizeit nun wirklich nicht mit
Rubin verbringen wollte, lehnte sich ein anderer Teil dagegen auf und entschied
zu kämpfen.
„Sogar wenn, Miss Kitty, bist du bestimmt halb
durchgefroren – ich zumindest bin es – und gehörst darum in
eine heiße Badewanne mit viel Schaum und Pfirsichduft.“
Kittys Gesicht hellte sich für einen Moment auf – sie liebte
Pfirsichduft – dann besah sie sich ihre Hände in den nassen
Handschuhen und für einen Moment – einen winzig kleinen Moment
nur – hatte ich die Hoffnung, dass sie mir zustimmen würde.
„Nur meine Hände sind kalt“, sagte sie und streckte mir beide entgegen,
„und die kannst du mir ja aufwärmen, so dass es bis zum Café reicht, oder?“
„Es ist auch gleich um die Ecke“, mischte sich Megan ein, immer noch
freundlich lächelnd. „Und ab da übernehmen dann die Heizung und eine Tasse mit
heißer Schokolade die Arbeit – du magst doch sicher heiße Schokolade,
oder, Catherine?“
Kitty nickte begeistert und strahlte mich richtiggehend an. „Du bist
überstimmt!“
Ich warf einen Blick zu Rubin, aber der hatte anscheinend nicht vor,
Stellung zu beziehen. War ja klar, als würde er sich einmal auf meine
Seite stellen – sogar wenn er der gleichen Meinung wäre!
Ich seufzte und verkniff mir einen nicht ganz so schönen Fluch.
„Scheint so.“ Ich zog meine Handschuhe aus, griff nach Kittys Linker und
zog auch ihr den Handschuh aus. „Bereit?“
Sie nickte und quietschte vergnügt, als ich begann, ihre Hand schnell
zwischen meinen Händen zu reiben, bis sie nicht mehr ganz so kalkweiß war. Dann
wiederholte ich dasselbe mit der Rechten. Die Handschuhe, die kalt und nass und
unangenehm waren, stopfte ich in meine Taschen; die würden heute niemandem mehr
warm geben.
„Hier“, sagte Megan und hielt Kitty ihre eigenen, gefütterten
Lederhandschuhe hin, „du kannst meine benutzen – dann bleiben die
Hände auch wirklich warm, bis wir da sind.“
Da sagte Kitty natürlich nicht nein – sie war schließlich
meine Schwester und nicht ganz so kälteresistent, wie sie es gerne gewesen
wäre. Dann hielt sie Megan die Hand hin.
„Wenn ich dir die Hand gebe, bekommst du auch von der Wärme ab.“
Auch wenn Megan wärmer gewesen wäre, wenn sie ihre Hände einfach in ihre
Manteltaschen gesteckt hätte, nahm sie Kittys Hand und bedankte sich bei ihr.
Als die beiden losgingen, blieb mir nichts anderes übrig, als mit Rubin zu
folgen.
Heute, beschloss ich, war absolut. Nicht. Mein. Tag.
*********
„Gib’s zu, das hast du mit Absicht gemacht – du hast gesehen,
dass sie in den Park gegangen sind!“
Megan lachte. „Ich habe nur gesehen, wie sie die Richtung des Parks
eingeschlagen haben. Sie es als Belohnung.“
Ich schnaubte und legte die Hand über meine Augen. „Es hat sich eher wie
eine Bestrafung angefühlt.“
Sie lächelte wie die Sphinx. „Vielleicht war’s ja auch ein bisschen von
beidem. Verdient hättest du es auf jeden Fall.“
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