„Ich war überrascht dich hier zu sehen; ich dachte, du würdest direkt nach
Hause gehen um Deutsch zu lernen. Wie bin ich nur auf diese Idee gekommen?“
Zwei Meter vor mir gingen Megan und Kitty Hand in Hand, etwa ein Meter
neben mir ging Rubin – wir natürlich nicht Hand in Hand. Wir
waren schon fast beim Rand des Parks angekommen, als er das sagte; ich hatte
die Stille vorgezogen.
Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, da ich ganz genau wusste, auf was
er anspielte: Fee. Und darauf, dass ich sie mit der Ausrede abgewimmelt hatte,
dass ich lernen müsste. Musste ich ja auch und die Schneeballschlacht war nicht
geplant gewesen, aber ich würde mich nicht rechtfertigen, nicht vor ihm.
„Ich war selbst überrascht, als ich mit Kitty am Sankt Katharina vorbeiging
und sah, dass deine Freundin immer noch in der Kälte wartete, obwohl du
mindestens eine viertel Stunde vor mir gegangen warst.“
Wir hatten beide geradeaus gesehen, doch nun wandte er den Kopf, sah mich
an und verlangsamte sogar seine Schritte, was ich ihm aber nicht nachtat. Warum
sollte ich?
„Und du hast gewusst, dass Megan auf mich wartet, weil …?“
„Ich habe euch letzte Woche zusammen gesehen, als ich Miss Kitty abgeholt
habe.“
Ich spürte seinen Blick auf mir, als er wieder aufholte, dachte aber nicht
daran, ihn anzusehen, sondern hielt meine Augen fest auf Kitty gerichtet. Sie
und Megan traten gerade aus dem Park hinaus auf den Gehsteig und Megan zeigte
auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich ein – zumindest von
außen – altmodisches Café befand, über dessen Tür mit geschwungenen
Lettern Orchid Garden stand. Wenigstens war es wirklich gleich um die
Ecke.
„‚Miss Kitty‘, hm?“, fragte Rubin, „Sie ist süß, deine Schwester.“
Diesmal war ich es, der fast stehen blieb.
Ich mochte ihn nicht – wie ich vielleicht bereits erwähnt
habe – und ich mochte es generell nicht, wenn meine Freunde oder
Bekannten allzu freundlich zu Kitty waren. Und Rubin war für seine
Verhältnisse unverhältnismäßig freundlich – man könnte fast schon
sagen, lieb – zu Kitty gewesen.
Er betrachtete meine Reaktion und ich erkannte an seinem Blick, dass mir
der Satz Hände weg! auf der Stirn geschrieben stand.
„Keine Angst, ich steh nicht auf Kinder, Vyvyan.“
„Das will ich hoffen. Du lässt sie trotzdem in Ruhe.“
Er grinste, ganz leicht nur, aber ich fand, dass er das diese Tage viel zu
oft tat, vor allem heute hatte er es zu oft getan. Wenigstens war er danach
ruhig.
***
„Ich hätte gerne einen Kakao.“
Kitty strahlte die Kellnerin an und wurde mit einem Lächeln belohnt.
Das Café war gemütlich, aber … nun, anders. Die Einrichtung war wie
das Äußere aufs neunzehnte Jahrhundert getrimmt und in Brauntönen gehalten.
Viel dunkelbraunes, poliertes Holz, Kopien alter Stillleben an den Wänden,
leise Streichmusik im Hintergrund und dazu Orchideen. Viele, viele
Orchideen – auf jedem Tisch, auf kleinen Regalen an den Wänden, auf
der Theke. Trotz der Anzahl lag der Duft aber nicht schwer in der Luft, sondern
wirkte beruhigend, entspannend. Ein Hoch auf moderne Belüftungsanlangen und
fast geruchslose Blumen! Wenigstens war der Name richtig gewählt worden.
Die Kellnerin in gestärkter Uniform – das sah ja mal
unbequem aus! – wandte sich nun an mich, da ich der einzige war, der
noch nicht bestellt hatte. Rubin und Megan nahmen beide einen Kaffee, sie mit
Milch, er ohne.
Ich warf noch einen Blick auf die Karte.
„Einen Chai Latte, bitte“, sagte ich schließlich und sah, wie im selben
Augenblick Megan gutmütig grinste und Rubins Augen belustigt blitzten.
„Tee mit Milch“, sagte Megan, als ich sie fragend ansah, „Das ist so schön
typisch englisch.“
Ich hätte fast mit den Augen gerollt, aber dann besann ich mich, dass ich
trotz Kittys Anwesenheit und meiner Abneigung Rubin gegenüber zumindest bei
Megan das Spiel spielen musste – meinen eigenen Regeln zufolge. Also
lächelte ich.
„Das ist eher eine Ausnahme. Ich mag Tee nicht besonders, aber für Cola
oder Wasser ist es mir zu kalt.“
„Und Kakao trinkt er nur zu Hause, das ist ihm zu uncool.“
„Kitty!“
Sie lachte und reckte ihr Kinn in die Höhe. „Was?“
Ich sah sie noch einmal extra böse an und wurde dann ganz ruhig.
„Nichts“, erwiderte ich gelassen, „aber dir ist klar, dass du die
Prinzessin in der nächsten Woche selbst sein, entführen, bedrohen und retten
kannst, oder?“
„Nein!“ Ihr Gesicht wurde lang, bevor sie heftig den Kopf schüttelte und
dann versucht sicher sagte: „Nein, das würdest du nicht tun.“
Ich verkniff mir ein Grinsen, auch wenn ich aus den Augenwinkeln heraus
sehen konnte, dass Megan da nicht so erfolgreich war und antwortete: „Und wie
ich kann. Sei du mal froh, dass es nur eine Woche ist.“
Während in Kittys Gesicht die Unsicherheit mit jeder Sekunde größer und der
Drang zu grinsen in mir immer stärker wurde, sagte Rubin:
„Weil es nur vor Megan und mir war.“
Und wir nicht viel zählen, da wir keinen Einfluss auf deine Popularität
haben; dieser Zusatz schwang unmissverständlich mit.
Ich sah ihn an und suchte nach etwas in seinem Gesicht, in seinen Augen
oder der Mimik, das mir verraten würde, was er dachte. Nichts. Ich hatte nicht
den leisesten Schimmer, was in seinem Kopf vorging. Und ich hasste es.
„So könnte man es sagen, ja“, antwortete ich langsam, „es ist mir so sicher
lieber, als wenn sie solche Dinge vor unserer halben Klasse erzählt.“
„Apropos Klasse“, fiel Megan ein und lehnte sich über den Tisch zu mir,
„erzähl mal, Vyvyan, wie ist Rubin so in der Schule? Und ich meine nicht seine
Noten.“
Natürlich nicht – es hätte mich gewundert, wenn sie nicht gewusst
hätte, dass Rubins Noten die Wolken von oben betrachten konnten. Aber was
sollte ich auf die Frage antworten? Ihr zu sagen, dass ihr Freund ein asoziales
Arschloch war, war nicht unbedingt das, was ein Gentleman tun würde. Sie
anlügen wollte ich aber auch nicht, immerhin hatte sie auch das Recht, zu
erfahren, wie er sich verhielt, wenn sie nicht dabei war. Oder so.
Die Getränke kamen und schenkten mir noch einige Sekunden mehr, um mir eine
passende Antwort zu überlegen. Schließlich, als vor jedem eine dampfende Tasse
stand und Kitty bereits den Schaum von der Milch schlürfte, sagte ich, von
Megans Blick aufgefordert:
„Nun, nicht viel anders als in den letzten zehn Minuten, würde ich sagen.“
Und das, liebe Damen und Herren, war noch nicht einmal gelogen, denn es
waren schon deutlich mehr als zehn Minuten vergangen, seit er meine Schwester
so unheimlich freundlich begrüßt hatte. Und seit da war er vielleicht einen
Tick gesprächiger, aber nicht unbedingt freundlicher gewesen.
Megan sah mich an. „Du meinst also wortkarg, einzelgängerisch und ein
klitzeklein wenig zu sehr von sich selber überzeugt?“
Ein klitzeklein wenig überrascht grinste ich – und diesmal
meinte ich es sogar ernst. „Ganz genau so.“
Sie rollte mit den Augen und gab Rubin einen Knuff in die Schulter. „Du
änderst dich nie, oder?“
„Warum sollte ich?“, gab er mit dem üblichen überheblichen Ton zurück, „Ich
bin, wie ich bin; wenn die anderen damit ein Problem haben, meinetwegen.“
„Da siehst du’s!“ Megan warf die Hände in die Luft und sah mich verzweifelt
an. „Kannst du dir vorstellen, wie oft ich diesen Satz schon hören musste? Es
ist nicht zum Aushalten mit ihm!“
„Keine Bange“, mischte sich da mein vorlautes Schwesterchen wieder ein,
„Vyvyan ist manchmal auch schlimm.“
Was?
Ich starrte Kitty an. Das hatte sie nicht gesagt, oder?
„Vorhin hast du mir doch noch von ihm vorgeschwärmt, oder war das ein
anderer Vyvyan?“, fragte Megan mit einem belustigten Seitenblick auf mein
geschocktes Gesicht, das Kitty gekonnt ignorierte. Dass sie es dennoch gesehen
hatte, bewies sie mit ihrer Antwort:
„Oh, er ist toll – der beste Bruder der Welt!“, begann sie mit
einem Lächeln, das dann allerdings verschwand, „Zu Hause. Aber bei
seinen Freunden ist er nicht wie zu Hause. Bei seinen Freunden ist er nicht toll.“
Die letzten Worte sprach sie besonders deutlich, damit klar wurde, dass sie das
ernst meinte. Damit mir klar wurde, dass sie es ernst meinte.
Und ja, es tat weh. Es tat mir leid. Aber wie Rubin so schön gesagt hatte:
Ich war, wie ich war.
„Miss Kitty!“, rief ich aus und schob den Stich, den mir ihre Worte
versetzt hatten, beiseite. Dafür war jetzt nicht die richtige Zeit. „Du fällst
mir in den Rücken? Wie kannst du nur?!“
Endlich drehte sie sich wieder zu mir.
„Selber schuld!“, erwiderte sie und streckte mir ihre Zunge raus.
Megan lachte und stimmte ihr zu und ich drehte mich reflexartig von ihnen
weg – das musste ich mir doch nicht gefallen lassen!
Aber von ihnen weg bedeutete zu Rubin hin und der grinste
ebenfalls – und wenn ich je ein selbstzufriedenes Grinsen gesehen
habe, dann in diesem Moment. Es schrie geradezu: Ich hab’s doch gewusst.
Ich dachte nur: Ja, ja, du hast’s gewusst, ich hab’s ja kapiert. Du bist
toll und jetzt lass mich in Ruhe, Bastard und wandte mich angenehmeren
Dingen zu – meinem Chai Latte.
Tja, das war der Vorteil daran, Engländer zu sein, egal ob Vollblut oder
die Papierversion: Auch wenn man von der ganzen Welt verlassen wurde, blieb
immer einem immer noch der Tee – und das sogar, wenn man Tee nicht
mochte.
Ich grinste, nahm die Tasse mit beiden Händen, so dass sie meine Finger
wärmen konnte und trank einen tiefen Schluck. Er schmeckte dank der vielen
Milch und des Zuckers ausgezeichnet und hatte genau die richtige Menge
Milchschaum oben drauf. Und er war nicht warm, sondern heiß.
Was wollte ich mehr?
Nun, nach Hause gehen, aber damit musste ich warten, bis Kitty ausgetrunken
hatte.
Ich unterdrückte ein Seufzen und leckte mir den Milchbart von der
Oberlippe, als Rubin neben mir zu husten anfing. Megan stand auf und klopfte
ihm auf den Rücken.
„Geht’s wieder?“, fragte sie halb besorgt, halb amüsiert und als er nickte,
ging das Klopfen für einige Sekunden in ein Reiben über, bevor sie sich wieder
auf ihren Stuhl setzte. „Also wirklich, so heiß kann der Kaffee nicht mehr
gewesen sein.“
„Das hat nichts mit Hitze zu tun; man kann sich auch an Eiswasser
verschlucken“, war Rubins nicht gerade glücklich klingende und ganz und gar
nicht freundliche Erwiderung, aber Megan schien sich nicht daran zu stören und
lächelte warm.
„Wenn du das sagst …“
***
Als ich und Kitty schließlich zu Hause ankamen, ging ich auf direktem Weg
in mein Zimmer und begann mein längst überfälliges Techtelmechtel mit der
deutschen Syntax. Dabei tat ich mein Bestes, um nicht an den Nachmittag zu
denken. Ich liebte Kitty, aber das, das hätte sie mir ersparen dürfen. Der
erste Teil, die Schneeballschlacht, war zweifellos super gewesen, aber danach …
Gut, sie konnte nicht wissen, dass Rubin … nun, eben Rubin war. Ach,
scheiße, kein Wunder, dass ich in Deutsch so mies abschnitt, wenn ich nicht
einmal ein passendes Wort für ihn fand. Jedenfalls war seine Gesellschaft bei
weitem nicht angenehm genug, um die Fragen aufzuwiegen, die gestellt werden
würden, wenn mich heute jemand mit ihm gesehen hatte. Vor allem, wenn Fee davon
Wind kriegen würde; Fee war zwar lieb, aber ich war mir sicher, dass sie ihre
Grenzen hatte – jeder hatte die. Und Frauen reagierten
erfahrungsgemäß nicht besonders gut, wenn man die Gesellschaft anderer der
ihren vorzog. Bei Kitty war sie nachsichtig, da sie die Meinung vertrat, dass
man bei einem Mann daran, wie er seine Schwester behandelte, sah, wie er seine
Partnerin behandeln würde. Eine Schneeballschlacht mit Kitty konnte ich also
relativ einfach entschuldigen, aber ein Kaffeekränzchen mit dem einzigen Schüler,
mit dem ich nicht klar kam, wenn ich doch mit meiner Freundin hätte
zusammen sein können?
Welches Mädchen würde dafür kein Verständnis haben?
Eben.
***
Ich überlebte Deutsch; mehr schlecht als recht zwar, aber ich überlebte und
konnte mich am folgenden Freitag, an dem wir beide Klausuren dieser Woche
zurückbekommen würden, damit trösten, wenigstens eine halbwegs
anständige Note mit nach Hause zu bringen. Die Erinnerung an die
Englischklausur wurde mit jedem Tag schlechter und das war normalerweise ein Zeichen,
dass ich sie ordentlich verhauen hatte.
Nun, Deutsch hatten wir in der ersten, Englisch in der letzten, ich wusste
also, dass das Schlimmste zuletzt kommen würde und saß dementsprechend
demotiviert auf meinem Stuhl.
Die Tatsache, dass gestern die Auktion von Eliaseis auf eBay, die
ich irgendwann mehr genervt als deprimiert mitverfolgt hatte, ihr Ende gefunden
hatte – zusammen mit meinen wahnwitzigen und sogar vor mir selbst
geheim gehaltenen Hoffnungen, auf dem Heimweg einen Batzen Geld zu finden und
das verdammte Ding den anderen vor der Nase wegzuschnappen – machte
die Sache auch nicht besser. Keinen Deut.
„Sag mal, hast du zu Hause gefragt? Wegen morgen?“
Ich hob träge den Kopf und sah Theo an, der sich zu mir umgedreht hatte und
mich mit erwartungsvollem Blick ansah.
Morgen?
… Morgen?
Morgen war Samstag. Samstag, der dreiundzwanzigste Dezember. Was sollte da
…?
Es machte klick.
„Du meinst wegen der Party?“
Theo nickte. Gut, wenigstens hatte ich mich rechtzeitig erinnert.
„Sorry“, antwortete ich dann, „ich hab’s echt versucht, aber meine Mutter
besteht darauf, den Weihnachtsbaum zusammen zu schmücken. Und das dauert bei
uns immer verdammt lange.“
Zugegeben, das war nicht wirklich die Wahrheit, aber ganz gelogen war es
auch nicht. Bei uns war es eine kleine Tradition, zusammen den Weihnachtsbaum
am Tag vor Heiligabend zu schmücken, aber ich hätte danach noch locker weggehen
können, denn eine Party ging sicher länger als bis sieben oder acht Uhr abends.
Ich hatte einfach keine Lust, diese Leute auch noch in den Ferien zu
treffen – klar, ganz ohne würde es nicht gehen, aber ich hoffte, es
auf zwei oder drei Mal beschränken zu können. Wenn ich immer absagte,
war das mehr als ein bisschen auffällig.
„Schade“, meinte Theo, grinste aber im nächsten Moment schon wieder, „Deine
Familie steht sich echt nahe, oder? Meiner Mutter sind solche Dinge total egal,
solange der Weihnachtsbaum am vierundzwanzigsten steht und glitzert, ist sie
zufrieden.“
Ich grinste zurück. „Bei uns kommt das wahrscheinlich daher, dass wir so
oft umgezogen sind. Das schweißt zusammen, denk ich mal.“
Der Deutschlehrer betrat den Raum und Theo rollte mit den Augen. Von
Deutsch war er etwa so begeistert wie ich.
„Ab dem sechsundzwanzigsten hab ich wieder Zeit – ich ruf dich
an, ja?“, sagte ich in dem Moment, als das erste Läuten erklang.
„Klar tust du das“, erwiderte Theo, „sonst komm ich zu dir nach Hause und
nehme dich einfach mit – sogar wenn du nichts als eine alte, schlabberige
Boxer anhast!“
Schlabberige Boxer?
Ich und eine schlabberige Boxer?
Also wirklich, etwas so Abtörnendes besaß ich nicht und würde es auch
niemals anziehen. Weite Boxershorts waren was für kleine Jungs vom Land.
„Du willst mich in Unterwäsche aus dem Haus schleifen? Du, mich?“
Ich grinste breit und ließ meinen Blick vielsagend einmal an ihm herunter und
wieder heraufwandern. Theo war zwar einen guten halben Kopf größer als ich,
aber trotzdem war ich stärker und schneller, das hatte sich sowohl im
Sportunterricht als auch bei freundschaftlichem Rangeln mehrmals bestätigt.
„Das will ich sehen!“
Er blitzte mich an und meinte dann mit einem hinterlistigen Lächeln. „Ich
hab nie gesagt, ich würde alleine kommen. Kim hilft mir sicher – und
Aaron und Viktor auch.“
Ich verzog das Gesicht. „Nicht nötig, Kim alleine reicht
völlig – gegen ihn hab ich in tausend Jahren keine Chance.“
„Stimmt“, erwiderte Theo und grinste, obwohl das auf ihn genauso zutraf.
Aber während es mich wurmte, ließ es ihn völlig kalt. „Dann können die anderen
beiden die Zeit nutzen, um deine Strafe vorzubereiten.“
„Oh Mann, ich will mir nicht einmal vorstellen, was ihr euch Krankes
ausdenken würdet – ich ruf am sechsundzwanzigsten an. Versprochen.“
„Und du hältst dir den Tag gleich frei?“
Ich nickte, wenn auch unwillig.
„Warum nicht gleich so?“
Die Schulglocke ertönte zum zweiten Mal und Rubin betrat mit ein paar
Nachzüglern den Raum – obwohl, nein, nicht mit ihnen, sondern
nur zeitgleich.
„Morgen, Vyvyan.“
Er legte seine Tasche neben das Pult, setzte sich hin und begann in aller
Ruhe, drei Stifte, ein leeres Blatt und das Mäppchen mit dem
Unterrichtsmaterial auszupacken. Mehr hatte er nie auf dem Tisch,
wahrscheinlich außer etwas Geld auch nicht in der Tasche.
Theo warf ihm einen genervten Blick zu und wandte sich dann nach vorne, wo
der Lehrer stand und ausschweifend über die Klausur und ihre Ergebnisse,
unseren vorhandenen oder eben nicht vorhandenen Elan und noch eine ganze Reihe
weiterer Dinge zu reden begann, wie er es nach einer Klausur, einem kleinen
Test, den Ferien und eigentlich jeglichem noch so trivialen Anlass immer tat,
ohne dabei aber jemals auf den Punkt zu kommen. Wie ich schon in der ersten
Stunde bei ihm bemerkt hatte, war er um jede Minute froh, in der er uns nichts
beibringen musste, von dem er genau wusste, dass es siebzig Prozent nicht
interessierte und neunundzwanzig Komma neun Prozent des Restes nur soweit, wie
es für ihre künftige Karriere von Belang war – also nur in Form von
akzeptablen Noten.
„Morgen“, presste ich zwischen den Zähnen hindurch und starrte gerade aus.
Rubin tat das schon die ganze Woche über, seit ich ihm am Montag gesagt
hatte, er solle Fee zurückgrüßen. Jeden Morgen grüßte er mich und
verabschiedete sich dann nach der letzten Stunde, aber nur von mir; sowohl Fee
als auch die anderen ignorierte er immer noch genauso wie
zuvor – mich auch, solange ich den Gruß erwiderte. Tat ich das nicht,
kam bloß wieder ein Spruch über englische Manieren oder dergleichen.
Theo hatte mich am Dienstagmorgen, als er es zum ersten Mal bemerkt hatte,
ziemlich angestarrt und natürlich wurde ich später in der Pause gefragt, warum
Rubin meine Anwesenheit plötzlich zur Kenntnis nahm, aber mittlerweile hatte er
sich daran gewöhnt, auch wenn es ihn offensichtlich nervte.
Das wiederum konnte ich sehr, sehr, nein, wirklich verdammt gut
nachvollziehen, denn ich hätte Rubin jedes Mal den Hals umdrehen
können – schön langsam und genüsslich, verstand sich.
***
Normalerweise war Freitag der Tag in der Woche, der sich am meisten Zeit
mit Vergehen ließ. Ich war sicher, jeder Schüler oder Arbeitende mit
Fünftagewoche kannte das: Es war
Freitag, das Wochenende rief nicht nur, es schrie geradezu verzweifelt nach
einem und man wusste, dass es nur noch einige wenige Stunden waren, nur noch
zwei, noch eine – aber dann beschloss der scheiß Sekundenzeiger, dass
er wie jeder andere Arbeitende ein verdammtes Anrecht auf Urlaub hatte. Man
schaute auf die Uhr an der Wand oder am Handgelenk und flehte den Mistkerl an,
seinen Metallarsch in Bewegung zu setzen – und tatsächlich, da! Er
hatte sich einen Millimeter weiter bewegt, hin zum nächsten Strichchen, und man
wollte schon jubeln, hörte schon die Glocke läuten und glaubte den herrlichen
Duft versmogter Stadtluft riechen zu können, doch dann blieb der Zeiger erneut
stehen und beschloss, nach dieser Heraklestat erst einmal eine zu rauchen.
Und natürlich holte er die verlorene Zeit wieder ein, indem er am
Wochenende einen Dauerspurt hinlegte. Nun, nix zu machen, das war eben der Lauf
der Welt. Freitage waren lang wie Wochen, Samstag und Sonntag dagegen schon
vorbei, bevor man sein Frühstück verputzt hatte.
Zumindest sollte das der Lauf der Welt sein, verdammt noch mal! Aber
an diesem Freitag hatte der Bastard offensichtlich vor, den Sprint ein wenig
vorzuziehen – wer weiß, vielleicht wollte er in Ruhe mit seinen
beiden großen Brüdern Weihnachten feiern. Theoretisch hätte ich nichts dagegen
einzuwenden gehabt, aber an diesem einen Freitag wäre es mir lieber gewesen,
wenn die letzte Stunde nie gekommen wäre. Meine Deutschnote war besser als
erwartet und ich wusste, dass es jetzt nur noch bergab gehen konnte. Hätte ich
gewusst, wie weit bergab, hätte ich in der Mittagspause zweifellos das
Weite gesucht.
Der erste Schock war die Note an sich. Genau so, wie Deutsch gut gegangen
war, obwohl ich weniger als geplant gelernt hatte, waren meine Antworten in
Englisch noch schlechter, als ich sie mir vorgestellt hatte. Es war das absolut
Mieseste, was ich je bekommen hatte.
Scheiß Englisch.
Scheiß verficktes Englisch!
Aber damit hätte ich leben können. Das Positive an schlechten Noten war,
dass sie irgendwann nicht mehr tiefer fallen konnten. Und, dass man sich immer
wieder heraufarbeiten konnte. Das Negative an Lehrern wiederum war, dass sie,
sobald die Punktezahl eine gewisse Grenze unterschritten hatte, aufhören, daran
zu glauben, dass man es alleine auf die Reihe kriegen würde und übereifrig
wurden; ‚helfen‘, nannten sie das dann. Ich nannte es Sadismus.
Helfen, das wollte auch Herr Kirsten. Und übereifrig, wie er als
grundsätzlich lieber und freundlicher und netter und guter und gutherziger
und vor allem hilfsbereiter Mensch nun einmal war, konnte er damit
offensichtlich nicht bis nach den Weihnachtsferien warten. Nein, nicht Herr
Kirsten, nicht, wenn es um seinen neuen Schützling ging, bei dem schließlich
immer noch die Gefahr bestand, dass er sich doch noch nicht so gut eingelebt hatte,
wie es den Anschein machte, und bei dem die schlechten Noten ihre direkte
Ursache vielleicht ja im Mangel an sozialen Kontakten hatte.
Ha. Ha.
Und was machte man, wenn man nicht bis nach den Ferien warten konnte?
Genau: Man packte die Sache gleich nach der Stunde noch an. Gute Idee, war ja
nicht so, als ob den heutigen Schülern schlechte Noten etwas ausmachen
würden – deshalb brauchten sie auch keine Zeit, um sie zu verdauen.
Nach der Klausurbesprechung blieben noch gute zwanzig Minuten Unterrichtszeit
und die verbrachte meine Klasse damit, auf die Leinwand zu starren, auf die für
den Rest der Stunde als kleine Überraschung von Herr Kirsten Shrek the Halls – auf
Deutsch Oh, du Shrekliche – projiziert wurde. Kirsten selbst
saß dabei an einem der freien hinteren Pulte und nutzte diese Nähe, um auf mich
zuzukommen, sobald der Film zu Ende und die Schüler sozusagen schon fast auf
dem Heimweg waren.
„Vyvyan?“, sprach er mich an, die Stimme ernst, so dass auch das dünne
Lächeln nichts brachte, „Dürfte ich Sie kurz sprechen?“
Ich nickte. Was blieb mir auch anderes übrig? Mein Zeug packte ich trotzdem
ein – ich wollte nachher so schnell wie möglich hier wegkommen.
Rubin stand auf und wollte sich wahrscheinlich gerade von mir
verabschieden – ich war ein wenig gespannt, was er sagen würde, denn
sein übliches Bis morgen konnte er diesmal nicht bringen und ich
zweifelte stark daran, dass er mir frohe Festtage wünschen
würde – als Kirsten sich an ihn wandte.
„Könnten Sie sich vielleicht um die Leinwand und den Projektor kümmern? Sie
wissen ja, ich bin etwas ungeschickt in diesen Dingen.“
‚Etwas ungeschickt‘, der war gut. Herr Kirsten war der Erzfeind jeglicher
Geräte, deren Bedienungsschwierigkeitsgrad über den eines Lichtschalters
hinausging. Trotzdem hätte er wirklich nicht Rubin fragen müssen, vor allem
nicht, da doch Theo, mein Kumpel, keinen Meter entfernt saß. Aber
während Rubin Herrn Kirsten einen Blick zuwarf, der deutlich machte, was er
davon hielt hinter seinem Lehrer aufzuräumen, wurde Theo von eben diesem dazu
aufgefordert, die Klasse zu verlassen, damit wir reden konnten. Also wünschte
mir Theo schöne Weihnachten und erinnerte mich noch einmal daran, ihn
anzurufen.
„Ich nehme an, Sie wissen, warum ich mit Ihnen reden möchte?“ Herr Kirsten
setzte sich, ganz der schülernahe Vertrauenslehrer, auf Rubins Stuhl.
„Meine Note“, erwiderte ich und sah ihn direkt an.
Er nickte. „Sie sind ein guter Schüler und ich weiß, dass jeder die ein
oder andere Schwäche hat – das ist ganz normal, aber …“ Er machte
eine Pause und sprach dann das aus, was ich schon seit Jahren wusste. „Vyvyan,
wir müssen einen Weg finden, Ihre Englischnote zu verbessern. Es wäre wirklich
eine Schande, wenn Ihnen diese eine Schwäche Ihr gutes Zeugnis zunichte machen
würde.“
‚Wir‘? Nein, wir mussten gar nichts; ich musste. Es war meine
Schwäche, also musste ich sie auch selbst in den Griff kriegen, irgendwie.
„Ich mache in der ersten Schulwoche im Januar eine Nachklausur für alle,
die diese nicht bestanden haben. Die bessere Note zählt.“
Januar, wie schön. Erste Schulwoche, welch Wohlklang! Das bedeutete also,
dass ich meine ganzen Ferien über Englisch büffeln durfte?
Ganz toll, wirklich, einfach fantastisch.
Aber ich wäre dumm gewesen, wenn ich die Chance nicht genutzt hätte.
„Es ist ja nicht so, als ob ich nicht doppelt so viel dafür gelernt hätte
wie für alles andere“, erwiderte ich, und versuchte, das leichte Schaben von
klemmenden Kunststoffrollen auf dem Boden zu ignorieren. Musste Rubin unbedingt
dabei sein, wenn ich dieses Gespräch mit Kirsten führte? Ausgerechnet
Rubin?!
Herr Kirsten nickte verständnisvoll – natürlich, was auch
sonst – und fragte:
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich einen Nachhilfelehrer zu
suchen?“
Ja, aber die Vorstellung davon kratzte stark an meinem Ego – und
bisher hatte ich es auch ohne irgendwie geschafft.
„Ich glaube nicht, dass ich so kurzfristig jemanden finde, der mir über die
Feiertage Nachhilfe gibt“, gab ich zu bedenken und wusste in dem Moment, in dem
ich sein Lächeln sah, dass ich mit diesem Satz in seine Hände gespielt hatte.
Trotzdem war das Lächeln nicht hinterlistig oder schadenfreudig, noch nicht
einmal spitzbübisch oder triumphierend, sondern treuherzig und ehrlich erfreut.
Und ich beschloss, dass mein Klassenlehrer entweder ein verdammt guter
Schauspieler oder aber ein sehr seltsamer Mensch war.
„Nun“, begann er, „ein Fremder vielleicht nicht, aber jemand, der Sie
kennt, ist sicher eher dazu bereit.“
Er sah zu Rubin hinüber, der gerade den Projektor im Schrank verstaute.
„Rubin, Sie hätten nicht zufällig Zeit, um Vyvyan während der Ferien beim
Lernen behilflich zu sein?“
Schockiert, meine verehrten Damen und Herren, ist kein Wort, das meinen
Zustand in diesem Augenblick treffend beschrieben hätte. Was ich fühlte, war
nicht Schock, sondern etwas, das schon fast an Panik grenzte.
Nein!
Nein, nein, nein, nein, nein, verdammt noch mal!
Ganz klar und deutlich nein.
„Das wäre kein Problem.“
Ich riss den Kopf hoch und starrte Rubin an. Was hatte er gesagt?
Das war nicht sein Ernst, das konnte nicht sein Ernst sein! Warum sollte
er so etwas tun? Ausgerechnet er?!
Rubin erwiderte meinen Blick einige Sekunden lang ruhig und ich glaubte,
sogar über die Distanz hinweg ein belustigtes Aufblitzen in seinen Augen zu
erkennen, bevor er Herr Kirsten ansah.
„Ich darf doch annehmen, dass das in meinem Zeugnis vermerkt werden wird?“
„Natürlich“, antwortete Kirsten zufrieden. „Na dann …“
„Nein.“
Kirsten hatte Anstalten gemacht aufzustehen, hielt nun aber in der Bewegung
inne und sah mich überrascht an.
„Das ist nicht nötig“, fügte ich erklärend hinzu und achtete diesmal wieder
darauf, dass mein Ton freundlich war, „ich will Rubin nicht in seinen Ferien
damit belästigen; ich finde schon jemanden.“
„Aber warum?“, fragte er und lächelte dann wieder, „Er hat doch gesagt,
dass es ihm nichts ausmachen würde. Qualifiziert genug ist er als
Muttersprachler und es macht doch sicher mehr Spaß, mit einem Gleichaltrigen zu
lernen, meinen Sie nicht auch?“ Er stand auf und sein Lächeln wurde
richtiggehend froh. Glücklich. So, als ob er zwei Sorgen mit einem Streich von
seinen Schultern hatte stoßen können.
„Außerdem scheinen Sie beide sich doch gut zu verstehen – ich
sehe also nicht, warum es ein Problem geben sollte.“ Er sah mich abwartend an,
aber das bemerkte ich nur am Rande.
Was hatte er gesagt? Ich und Rubin würden uns gut verstehen? Wie kam er
denn bitte auf den Scheiß?!
Wir saßen nebeneinander, aber das hieß doch nichts! Hätte Herr Kirsten
genauer hingeschaut, hätte er gesehen, dass zwischen mir und Rubin genauso
Funkstille herrschte wie zwischen ihm und dem Rest der Schule.
Okay, gut, seit ein paar Tagen grüßte er mich – wir uns,
gezwungenermaßen – aber wir hatten Englisch nie in der ersten und nur
freitags in der letzten, Herr Kirsten konnte das also nicht mitbekommen haben.
… Außer natürlich, die anderen Lehrer hätten es bemerkt und es
sich – ganz die Tratschtanten, die Lehrer nun einmal generell
waren – nicht nehmen lassen, Kirsten davon zu erzählen. Aber sogar
dann: Pro Tag zwischen zwei und fünf Wörtern mit dem anderen zu wechseln konnte
ja kein Anzeichen für ein freundschaftliches Verhältnis sein!
Fuck, das konnte er doch nicht …
„Schön, dass das geklärt ist.“ Herr Kirsten nahm seine Tasche und sah uns
noch einmal oh-so-freundlich lächelnd an. „Nun denn, ich wünsche Ihnen beiden
frohe Festtage, einen guten Rutsch und viel Erfolg.“ Dann verließ er das Zimmer
und ließ mich mit Rubin alleine, der den Schrank schloss und auf mich zukam.
„Gib mir dein Prüfungsblatt, dann kann ich schauen, wo deine Schwächen
liegen.“
„Überall.“
Ich konnte es immer noch nicht glauben, was Kirsten da eben abgezogen
hatte. Was war das, ein Sozialisierungsversuch? Wenn ja, warum musste dann
unbedingt ich dafür herhalten? Ich war schließlich sozial!
Da war es wieder, da belustigte Aufblitzen der Augen. „Gib es mir
trotzdem – und deine Adresse und Telefonnummer.“
„Wozu brauchst du meine Adresse?“
Er sah mich einen Moment lang an und zuckte dann mit den Schultern. „Sonst
können wir es auch bei mir machen, aber morgen geht das nicht, also muss ich zu
dir kommen.“
„Morgen?! Hey, warte, wann …“
„Ja, morgen“, schnitt er mir das Wort ab, „Wir treffen uns morgen.
Wir haben nur zwei Wochen und da du am vier- und fünfundzwanzigsten sicher
keine Lust zum Lernen hast, werden wir uns morgen treffen.“ Er griff
nach dem Papier in meiner Hand und nahm es, bevor ich richtig verstanden hatte,
was er da tat. „Dann kannst du mir auch gleich die anderen bisherigen Klausuren
geben.“
„Moment!“ Ich hielt meine Hand wie ein Verkehrspolizist hoch und schüttelte
den Kopf. „Hör zu, du brauchst mir nicht zu helfen, ich frage meine ältere
Schwester, dann hast du deine Ruhe, ich meinen Frieden und Kirsten im Januar
eine bessere Note. Alle sind zufrieden, alles ist gut.“ Ich wollte mir meinen
Prüfungsbogen wieder nehmen, aber er verstaute ihn in seiner Tasche und schloss
diese.
„Vergiss es, Vyvyan. Ich habe gesagt, dass ich es mache und das
werde ich.“
Was sollte das? Konnte er mir nicht ein Mal, einfach nur ein einziges Mal
zustimmen?
„Warum? Was hast du davon?“
Seine Mundwinkel zuckten, aber es reichte nicht für ein Grinsen. „Das hast
du doch eben gehört – es wird in meinem Zeugnis vermerkt werden.“
„Und warum ist das gut?“
„Weil ich auf eine Universität in Amerika gehen will und dort sieht man
sich mehr an als nur die Noten. Was denkst du, weshalb ich Schülerratpräsident
bin?“
Auf diese offensichtlich rhetorische Frage musste ich nicht antworten, was
auch ganz gut so war, denn ich war überrascht; hatte ich nicht geglaubt, dass
Rubin keinen Ehrgeiz besaß? Anscheinend hatte ich mich darin getäuscht.
„Und deshalb werde ich auch dafür sorgen, dass du die Nachklausur im Januar
mit einer ordentlichen Note bestehst. Verstanden?“
Ich nickte. Was konnte ich auch anderes tun? Er sah nicht aus, als ob er
Widerworte akzeptieren würde und sogar wenn – ich fand keine. Ich
wusste nicht, warum, aber ich fand einfach keine.
Ob er mir wirklich zu einer akzeptablen Note verhelfen konnte? In zwei
Wochen?
„Gut.“ Er nickte, reichte mir einen Zettel und einen Stift und sagte:
„Adresse und Telefonnummer.“
Als ich sie ihm aufgeschrieben hatte, steckte er den Zettel ein und
schlüpfte in seine Jacke. „Ist morgen gegen vierzehn Uhr okay?“
Ich nickte noch einmal, bevor ich meine Sprache endlich wieder fand.
Scheiße, das war ja peinlich. Dann war er eben ehrgeizig, na und? Und ein
bisschen bestimmender, als ich gewohnt war … aber es war nicht das
erste Mal, dass ich mich ein kleines bisschen in einem Menschen getäuscht
hatte.
„Ja, kein Problem.“
„Dann bis morgen, Vyvyan.“
„Bis morgen“, erwiderte ich und bemerkte, dass er nun doch den üblichen
Abschiedsgruß hatte verwenden können.
***
Als ich kurz darauf das Schulzimmer verließ, sah ich Fee im Gang auf mich
warten. Sie lächelte mich an und kam auf mich zu, um sich bei mir einzuhaken.
„Theo hat gesagt, Herr Kirsten habe dich noch sprechen wollen?“
„Ja. Sorry, dass du warten musstest.“
„Das macht mir nichts aus.“ Sie sah zu mir hoch und ich bemerkte, wie süß
sie mit ihrer dicken Wollmütze aussah.
Und genau das sagte ich ihr auch.
Ihr Lächeln wurde zu einem Strahlen und sie gab mir einen Kuss. „Danke.“
Dann, als wir losgingen, fragte sie:
„Und, was ist dabei rausgekommen?“
Die Gänge waren leer – kein Wunder, am letzten Schultag vor den
Ferien rannten die meisten noch schneller hinaus als sonst. Es war ein wenig
seltsam, nur die eigenen Schritte auf dem Steinboden echoen zu hören, aber auch
beruhigend.
„Dass ich meine Ferien damit verbringen muss, mit einem Nachhilfelehrer
Englisch zu büffeln, damit ich die Nachklausur im Januar bestehe.“ Ich seufzte
und sah sie entschuldigend an. „Tut mir leid, aber so wie es aussieht, werde
ich dich nicht so oft sehen können, wie ich es vorhatte.“
Sie sah ein bisschen enttäuscht aus, aber lächelte trotzdem ermunternd.
„Schade, aber ich will natürlich nicht, dass du wegen mir durchfällst. Ein
oder zwei Mal liegen aber trotzdem drin, oder?“
„Natürlich.“ Ich zog sie näher an mich und verfluchte Kirsten stumm. Ich
wollte gar nicht wissen, wie viel Zeit mir am Ende für meine Familie und mich
selbst bleiben würde. Am liebsten hätte ich Fee, Theo und den anderen gesagt,
dass ich wegfuhr, dann müsste ich wenigstens sie nicht treffen. „Möchtest du dein
Geschenk jetzt oder wenn wir uns sehen?“
Sie sah mich freudig überrascht an. Vielleicht hatte sie nicht mit einem
Weihnachtsgeschenk gerechnet, aber da unterschätzte sie mich wirklich. Das
gehörte schließlich zum Programm.
„In den Ferien. Erstens habe ich dann einen guten Vorwand, um dich so
schnell wie möglich zu sehen und zweitens …“ Sie lächelte schief. „… zweitens
ist das Geschenk, das ich für dich bestellt habe, immer noch nicht da. Tut mir
leid.“
„Ist doch kein Problem“, erwiderte ich und lehnte mich zu ihr, „Aber du
brauchst keinen Vorwand, um mich zu sehen. Du bist meine Freundin, schon
vergessen?“
Sie kicherte. „Ich glaube, das ist mir eben wirklich für eine Sekunde
entfallen.“
„Dann muss ich dich wohl daran erinnern, hm?“ Ich zog sie an mich und
küsste sie.
Als Fees Bus einige Minuten später abfuhr, wurde mir etwas bewusst, das mir
bis dahin nicht aufgefallen war – oder vielleicht hatte ich es auch
nur erfolgreich übersehen.
Ich würde Nachhilfe von Rubin bekommen – der, neben so manch anderem,
ein Amerikaner war.
Ein Ami gab einem Engländer Nachhilfe in Englisch.
Super, wirklich, das tat dem Ego gut.
*********
„Kirsten hat mich heute angesprochen.“
„Worum ging’s?“
„Ich soll ihm Nachhilfe geben.“
„Kirsten?!“ Megan grinste. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass es um eure
Lehrkräfte schon so schlecht steht, dass sie Nachhilfe von den Schülern
brauchen …“
Ich boxte sie in die Schulter. „Natürlich nicht Kirsten. Ihm. Vyvyan.“
„Oh. Wie praktisch für dich. Hat er zugestimmt?”
„Er weiß noch nichts davon. Kirsten wollte erst sicherstellen, ob ich
einverstanden bin. Er fragt ihn morgen.“
„Warst du denn inzwischen netter? Wenigstens ein kleines bisschen?“
„… Vielleicht?“
„Wirklich Rubin!“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Wie willst du
herausfinden, was du von ihm willst, wenn du ihn nicht näher kennenlernst?“
„Das werde ich doch jetzt. Durch die Nachhilfe.“
„Falls er mitmacht.“ Sie stand auf und ging zum Küchenschrank, um eine
Tafel Schokolade zu holen. „So, wie er sich Montag verhalten hat, scheint er
nicht gerade erpicht auf ein bisschen quality time mit dir zu
sein.“
„Ich werde ihm gar keine andere Wahl lassen.“ Ich nahm das Stück, das sie
mir anbot und stand dann auf. „Danke. Ich muss langsam.“
„Was hast du denn noch vor? Ich dachte, wir machen uns einen schönen
Abend?“
Ich grinste ohne es zu wollen. „Ich muss doch die Nachhilfe vorbereiten.“
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