Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 20. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 04:


„Ich war überrascht dich hier zu sehen; ich dachte, du würdest direkt nach Hause gehen um Deutsch zu lernen. Wie bin ich nur auf diese Idee gekommen?“
Zwei Meter vor mir gingen Megan und Kitty Hand in Hand, etwa ein Meter neben mir ging Rubin – wir natürlich nicht Hand in Hand. Wir waren schon fast beim Rand des Parks angekommen, als er das sagte; ich hatte die Stille vorgezogen.
Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, da ich ganz genau wusste, auf was er anspielte: Fee. Und darauf, dass ich sie mit der Ausrede abgewimmelt hatte, dass ich lernen müsste. Musste ich ja auch und die Schneeballschlacht war nicht geplant gewesen, aber ich würde mich nicht rechtfertigen, nicht vor ihm.
„Ich war selbst überrascht, als ich mit Kitty am Sankt Katharina vorbeiging und sah, dass deine Freundin immer noch in der Kälte wartete, obwohl du mindestens eine viertel Stunde vor mir gegangen warst.“
Wir hatten beide geradeaus gesehen, doch nun wandte er den Kopf, sah mich an und verlangsamte sogar seine Schritte, was ich ihm aber nicht nachtat. Warum sollte ich?
„Und du hast gewusst, dass Megan auf mich wartet, weil …?“
„Ich habe euch letzte Woche zusammen gesehen, als ich Miss Kitty abgeholt habe.“
Ich spürte seinen Blick auf mir, als er wieder aufholte, dachte aber nicht daran, ihn anzusehen, sondern hielt meine Augen fest auf Kitty gerichtet. Sie und Megan traten gerade aus dem Park hinaus auf den Gehsteig und Megan zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich ein – zumindest von außen – altmodisches Café befand, über dessen Tür mit geschwungenen Lettern Orchid Garden stand. Wenigstens war es wirklich gleich um die Ecke.
„‚Miss Kitty‘, hm?“, fragte Rubin, „Sie ist süß, deine Schwester.“
Diesmal war ich es, der fast stehen blieb.
Ich mochte ihn nicht – wie ich vielleicht bereits erwähnt habe – und ich mochte es generell nicht, wenn meine Freunde oder Bekannten allzu freundlich zu Kitty waren. Und Rubin war für seine Verhältnisse unverhältnismäßig freundlich – man könnte fast schon sagen, lieb – zu Kitty gewesen.
Er betrachtete meine Reaktion und ich erkannte an seinem Blick, dass mir der Satz Hände weg! auf der Stirn geschrieben stand.
„Keine Angst, ich steh nicht auf Kinder, Vyvyan.“
„Das will ich hoffen. Du lässt sie trotzdem in Ruhe.“
Er grinste, ganz leicht nur, aber ich fand, dass er das diese Tage viel zu oft tat, vor allem heute hatte er es zu oft getan. Wenigstens war er danach ruhig.

***

„Ich hätte gerne einen Kakao.“
Kitty strahlte die Kellnerin an und wurde mit einem Lächeln belohnt.
Das Café war gemütlich, aber … nun, anders. Die Einrichtung war wie das Äußere aufs neunzehnte Jahrhundert getrimmt und in Brauntönen gehalten. Viel dunkelbraunes, poliertes Holz, Kopien alter Stillleben an den Wänden, leise Streichmusik im Hintergrund und dazu Orchideen. Viele, viele Orchideen – auf jedem Tisch, auf kleinen Regalen an den Wänden, auf der Theke. Trotz der Anzahl lag der Duft aber nicht schwer in der Luft, sondern wirkte beruhigend, entspannend. Ein Hoch auf moderne Belüftungsanlangen und fast geruchslose Blumen! Wenigstens war der Name richtig gewählt worden.
Die Kellnerin in gestärkter Uniform – das sah ja mal unbequem aus! – wandte sich nun an mich, da ich der einzige war, der noch nicht bestellt hatte. Rubin und Megan nahmen beide einen Kaffee, sie mit Milch, er ohne.
Ich warf noch einen Blick auf die Karte.
„Einen Chai Latte, bitte“, sagte ich schließlich und sah, wie im selben Augenblick Megan gutmütig grinste und Rubins Augen belustigt blitzten.
„Tee mit Milch“, sagte Megan, als ich sie fragend ansah, „Das ist so schön typisch englisch.“
Ich hätte fast mit den Augen gerollt, aber dann besann ich mich, dass ich trotz Kittys Anwesenheit und meiner Abneigung Rubin gegenüber zumindest bei Megan das Spiel spielen musste – meinen eigenen Regeln zufolge. Also lächelte ich.
„Das ist eher eine Ausnahme. Ich mag Tee nicht besonders, aber für Cola oder Wasser ist es mir zu kalt.“
„Und Kakao trinkt er nur zu Hause, das ist ihm zu uncool.“
„Kitty!“
Sie lachte und reckte ihr Kinn in die Höhe. „Was?“
Ich sah sie noch einmal extra böse an und wurde dann ganz ruhig.
„Nichts“, erwiderte ich gelassen, „aber dir ist klar, dass du die Prinzessin in der nächsten Woche selbst sein, entführen, bedrohen und retten kannst, oder?“
„Nein!“ Ihr Gesicht wurde lang, bevor sie heftig den Kopf schüttelte und dann versucht sicher sagte: „Nein, das würdest du nicht tun.“
Ich verkniff mir ein Grinsen, auch wenn ich aus den Augenwinkeln heraus sehen konnte, dass Megan da nicht so erfolgreich war und antwortete: „Und wie ich kann. Sei du mal froh, dass es nur eine Woche ist.“
Während in Kittys Gesicht die Unsicherheit mit jeder Sekunde größer und der Drang zu grinsen in mir immer stärker wurde, sagte Rubin:
„Weil es nur vor Megan und mir war.“
Und wir nicht viel zählen, da wir keinen Einfluss auf deine Popularität haben; dieser Zusatz schwang unmissverständlich mit.
Ich sah ihn an und suchte nach etwas in seinem Gesicht, in seinen Augen oder der Mimik, das mir verraten würde, was er dachte. Nichts. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was in seinem Kopf vorging. Und ich hasste es.
„So könnte man es sagen, ja“, antwortete ich langsam, „es ist mir so sicher lieber, als wenn sie solche Dinge vor unserer halben Klasse erzählt.“
„Apropos Klasse“, fiel Megan ein und lehnte sich über den Tisch zu mir, „erzähl mal, Vyvyan, wie ist Rubin so in der Schule? Und ich meine nicht seine Noten.“
Natürlich nicht – es hätte mich gewundert, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Rubins Noten die Wolken von oben betrachten konnten. Aber was sollte ich auf die Frage antworten? Ihr zu sagen, dass ihr Freund ein asoziales Arschloch war, war nicht unbedingt das, was ein Gentleman tun würde. Sie anlügen wollte ich aber auch nicht, immerhin hatte sie auch das Recht, zu erfahren, wie er sich verhielt, wenn sie nicht dabei war. Oder so.
Die Getränke kamen und schenkten mir noch einige Sekunden mehr, um mir eine passende Antwort zu überlegen. Schließlich, als vor jedem eine dampfende Tasse stand und Kitty bereits den Schaum von der Milch schlürfte, sagte ich, von Megans Blick aufgefordert:
„Nun, nicht viel anders als in den letzten zehn Minuten, würde ich sagen.“
Und das, liebe Damen und Herren, war noch nicht einmal gelogen, denn es waren schon deutlich mehr als zehn Minuten vergangen, seit er meine Schwester so unheimlich freundlich begrüßt hatte. Und seit da war er vielleicht einen Tick gesprächiger, aber nicht unbedingt freundlicher gewesen.
Megan sah mich an. „Du meinst also wortkarg, einzelgängerisch und ein klitzeklein wenig zu sehr von sich selber überzeugt?“
Ein klitzeklein wenig überrascht grinste ich – und diesmal meinte ich es sogar ernst. „Ganz genau so.“
Sie rollte mit den Augen und gab Rubin einen Knuff in die Schulter. „Du änderst dich nie, oder?“
„Warum sollte ich?“, gab er mit dem üblichen überheblichen Ton zurück, „Ich bin, wie ich bin; wenn die anderen damit ein Problem haben, meinetwegen.“
„Da siehst du’s!“ Megan warf die Hände in die Luft und sah mich verzweifelt an. „Kannst du dir vorstellen, wie oft ich diesen Satz schon hören musste? Es ist nicht zum Aushalten mit ihm!“
„Keine Bange“, mischte sich da mein vorlautes Schwesterchen wieder ein, „Vyvyan ist manchmal auch schlimm.“
Was?
Ich starrte Kitty an. Das hatte sie nicht gesagt, oder?
„Vorhin hast du mir doch noch von ihm vorgeschwärmt, oder war das ein anderer Vyvyan?“, fragte Megan mit einem belustigten Seitenblick auf mein geschocktes Gesicht, das Kitty gekonnt ignorierte. Dass sie es dennoch gesehen hatte, bewies sie mit ihrer Antwort:
„Oh, er ist toll – der beste Bruder der Welt!“, begann sie mit einem Lächeln, das dann allerdings verschwand, „Zu Hause. Aber bei seinen Freunden ist er nicht wie zu Hause. Bei seinen Freunden ist er nicht toll.“ Die letzten Worte sprach sie besonders deutlich, damit klar wurde, dass sie das ernst meinte. Damit mir klar wurde, dass sie es ernst meinte.
Und ja, es tat weh. Es tat mir leid. Aber wie Rubin so schön gesagt hatte: Ich war, wie ich war.
„Miss Kitty!“, rief ich aus und schob den Stich, den mir ihre Worte versetzt hatten, beiseite. Dafür war jetzt nicht die richtige Zeit. „Du fällst mir in den Rücken? Wie kannst du nur?!“
Endlich drehte sie sich wieder zu mir.
„Selber schuld!“, erwiderte sie und streckte mir ihre Zunge raus.
Megan lachte und stimmte ihr zu und ich drehte mich reflexartig von ihnen weg – das musste ich mir doch nicht gefallen lassen!
Aber von ihnen weg bedeutete zu Rubin hin und der grinste ebenfalls – und wenn ich je ein selbstzufriedenes Grinsen gesehen habe, dann in diesem Moment. Es schrie geradezu: Ich hab’s doch gewusst.
Ich dachte nur: Ja, ja, du hast’s gewusst, ich hab’s ja kapiert. Du bist toll und jetzt lass mich in Ruhe, Bastard und wandte mich angenehmeren Dingen zu – meinem Chai Latte.
Tja, das war der Vorteil daran, Engländer zu sein, egal ob Vollblut oder die Papierversion: Auch wenn man von der ganzen Welt verlassen wurde, blieb immer einem immer noch der Tee – und das sogar, wenn man Tee nicht mochte.
Ich grinste, nahm die Tasse mit beiden Händen, so dass sie meine Finger wärmen konnte und trank einen tiefen Schluck. Er schmeckte dank der vielen Milch und des Zuckers ausgezeichnet und hatte genau die richtige Menge Milchschaum oben drauf. Und er war nicht warm, sondern heiß.
Was wollte ich mehr?
Nun, nach Hause gehen, aber damit musste ich warten, bis Kitty ausgetrunken hatte.
Ich unterdrückte ein Seufzen und leckte mir den Milchbart von der Oberlippe, als Rubin neben mir zu husten anfing. Megan stand auf und klopfte ihm auf den Rücken.
„Geht’s wieder?“, fragte sie halb besorgt, halb amüsiert und als er nickte, ging das Klopfen für einige Sekunden in ein Reiben über, bevor sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte. „Also wirklich, so heiß kann der Kaffee nicht mehr gewesen sein.“
„Das hat nichts mit Hitze zu tun; man kann sich auch an Eiswasser verschlucken“, war Rubins nicht gerade glücklich klingende und ganz und gar nicht freundliche Erwiderung, aber Megan schien sich nicht daran zu stören und lächelte warm.
„Wenn du das sagst …“

***

Als ich und Kitty schließlich zu Hause ankamen, ging ich auf direktem Weg in mein Zimmer und begann mein längst überfälliges Techtelmechtel mit der deutschen Syntax. Dabei tat ich mein Bestes, um nicht an den Nachmittag zu denken. Ich liebte Kitty, aber das, das hätte sie mir ersparen dürfen. Der erste Teil, die Schneeballschlacht, war zweifellos super gewesen, aber danach …
Gut, sie konnte nicht wissen, dass Rubin … nun, eben Rubin war. Ach, scheiße, kein Wunder, dass ich in Deutsch so mies abschnitt, wenn ich nicht einmal ein passendes Wort für ihn fand. Jedenfalls war seine Gesellschaft bei weitem nicht angenehm genug, um die Fragen aufzuwiegen, die gestellt werden würden, wenn mich heute jemand mit ihm gesehen hatte. Vor allem, wenn Fee davon Wind kriegen würde; Fee war zwar lieb, aber ich war mir sicher, dass sie ihre Grenzen hatte – jeder hatte die. Und Frauen reagierten erfahrungsgemäß nicht besonders gut, wenn man die Gesellschaft anderer der ihren vorzog. Bei Kitty war sie nachsichtig, da sie die Meinung vertrat, dass man bei einem Mann daran, wie er seine Schwester behandelte, sah, wie er seine Partnerin behandeln würde. Eine Schneeballschlacht mit Kitty konnte ich also relativ einfach entschuldigen, aber ein Kaffeekränzchen mit dem einzigen Schüler, mit dem ich nicht klar kam, wenn ich doch mit meiner Freundin hätte zusammen sein können?
Welches Mädchen würde dafür kein Verständnis haben?
Eben.

***

Ich überlebte Deutsch; mehr schlecht als recht zwar, aber ich überlebte und konnte mich am folgenden Freitag, an dem wir beide Klausuren dieser Woche zurückbekommen würden, damit trösten, wenigstens eine halbwegs anständige Note mit nach Hause zu bringen. Die Erinnerung an die Englischklausur wurde mit jedem Tag schlechter und das war normalerweise ein Zeichen, dass ich sie ordentlich verhauen hatte.
Nun, Deutsch hatten wir in der ersten, Englisch in der letzten, ich wusste also, dass das Schlimmste zuletzt kommen würde und saß dementsprechend demotiviert auf meinem Stuhl.
Die Tatsache, dass gestern die Auktion von Eliaseis auf eBay, die ich irgendwann mehr genervt als deprimiert mitverfolgt hatte, ihr Ende gefunden hatte – zusammen mit meinen wahnwitzigen und sogar vor mir selbst geheim gehaltenen Hoffnungen, auf dem Heimweg einen Batzen Geld zu finden und das verdammte Ding den anderen vor der Nase wegzuschnappen – machte die Sache auch nicht besser. Keinen Deut.
„Sag mal, hast du zu Hause gefragt? Wegen morgen?“
Ich hob träge den Kopf und sah Theo an, der sich zu mir umgedreht hatte und mich mit erwartungsvollem Blick ansah.
Morgen?
… Morgen?
Morgen war Samstag. Samstag, der dreiundzwanzigste Dezember. Was sollte da …?
Es machte klick.
„Du meinst wegen der Party?“
Theo nickte. Gut, wenigstens hatte ich mich rechtzeitig erinnert.
„Sorry“, antwortete ich dann, „ich hab’s echt versucht, aber meine Mutter besteht darauf, den Weihnachtsbaum zusammen zu schmücken. Und das dauert bei uns immer verdammt lange.“
Zugegeben, das war nicht wirklich die Wahrheit, aber ganz gelogen war es auch nicht. Bei uns war es eine kleine Tradition, zusammen den Weihnachtsbaum am Tag vor Heiligabend zu schmücken, aber ich hätte danach noch locker weggehen können, denn eine Party ging sicher länger als bis sieben oder acht Uhr abends.
Ich hatte einfach keine Lust, diese Leute auch noch in den Ferien zu treffen – klar, ganz ohne würde es nicht gehen, aber ich hoffte, es auf zwei oder drei Mal beschränken zu können. Wenn ich immer absagte, war das mehr als ein bisschen auffällig.
„Schade“, meinte Theo, grinste aber im nächsten Moment schon wieder, „Deine Familie steht sich echt nahe, oder? Meiner Mutter sind solche Dinge total egal, solange der Weihnachtsbaum am vierundzwanzigsten steht und glitzert, ist sie zufrieden.“
Ich grinste zurück. „Bei uns kommt das wahrscheinlich daher, dass wir so oft umgezogen sind. Das schweißt zusammen, denk ich mal.“
Der Deutschlehrer betrat den Raum und Theo rollte mit den Augen. Von Deutsch war er etwa so begeistert wie ich.
„Ab dem sechsundzwanzigsten hab ich wieder Zeit – ich ruf dich an, ja?“, sagte ich in dem Moment, als das erste Läuten erklang.
„Klar tust du das“, erwiderte Theo, „sonst komm ich zu dir nach Hause und nehme dich einfach mit – sogar wenn du nichts als eine alte, schlabberige Boxer anhast!“
Schlabberige Boxer?
Ich und eine schlabberige Boxer?
Also wirklich, etwas so Abtörnendes besaß ich nicht und würde es auch niemals anziehen. Weite Boxershorts waren was für kleine Jungs vom Land.
„Du willst mich in Unterwäsche aus dem Haus schleifen? Du, mich?“ Ich grinste breit und ließ meinen Blick vielsagend einmal an ihm herunter und wieder heraufwandern. Theo war zwar einen guten halben Kopf größer als ich, aber trotzdem war ich stärker und schneller, das hatte sich sowohl im Sportunterricht als auch bei freundschaftlichem Rangeln mehrmals bestätigt. „Das will ich sehen!“
Er blitzte mich an und meinte dann mit einem hinterlistigen Lächeln. „Ich hab nie gesagt, ich würde alleine kommen. Kim hilft mir sicher – und Aaron und Viktor auch.“
Ich verzog das Gesicht. „Nicht nötig, Kim alleine reicht völlig – gegen ihn hab ich in tausend Jahren keine Chance.“
„Stimmt“, erwiderte Theo und grinste, obwohl das auf ihn genauso zutraf. Aber während es mich wurmte, ließ es ihn völlig kalt. „Dann können die anderen beiden die Zeit nutzen, um deine Strafe vorzubereiten.“
„Oh Mann, ich will mir nicht einmal vorstellen, was ihr euch Krankes ausdenken würdet – ich ruf am sechsundzwanzigsten an. Versprochen.“
„Und du hältst dir den Tag gleich frei?“
Ich nickte, wenn auch unwillig.
„Warum nicht gleich so?“
Die Schulglocke ertönte zum zweiten Mal und Rubin betrat mit ein paar Nachzüglern den Raum – obwohl, nein, nicht mit ihnen, sondern nur zeitgleich.
„Morgen, Vyvyan.“
Er legte seine Tasche neben das Pult, setzte sich hin und begann in aller Ruhe, drei Stifte, ein leeres Blatt und das Mäppchen mit dem Unterrichtsmaterial auszupacken. Mehr hatte er nie auf dem Tisch, wahrscheinlich außer etwas Geld auch nicht in der Tasche.
Theo warf ihm einen genervten Blick zu und wandte sich dann nach vorne, wo der Lehrer stand und ausschweifend über die Klausur und ihre Ergebnisse, unseren vorhandenen oder eben nicht vorhandenen Elan und noch eine ganze Reihe weiterer Dinge zu reden begann, wie er es nach einer Klausur, einem kleinen Test, den Ferien und eigentlich jeglichem noch so trivialen Anlass immer tat, ohne dabei aber jemals auf den Punkt zu kommen. Wie ich schon in der ersten Stunde bei ihm bemerkt hatte, war er um jede Minute froh, in der er uns nichts beibringen musste, von dem er genau wusste, dass es siebzig Prozent nicht interessierte und neunundzwanzig Komma neun Prozent des Restes nur soweit, wie es für ihre künftige Karriere von Belang war – also nur in Form von akzeptablen Noten.
„Morgen“, presste ich zwischen den Zähnen hindurch und starrte gerade aus.
Rubin tat das schon die ganze Woche über, seit ich ihm am Montag gesagt hatte, er solle Fee zurückgrüßen. Jeden Morgen grüßte er mich und verabschiedete sich dann nach der letzten Stunde, aber nur von mir; sowohl Fee als auch die anderen ignorierte er immer noch genauso wie zuvor – mich auch, solange ich den Gruß erwiderte. Tat ich das nicht, kam bloß wieder ein Spruch über englische Manieren oder dergleichen.
Theo hatte mich am Dienstagmorgen, als er es zum ersten Mal bemerkt hatte, ziemlich angestarrt und natürlich wurde ich später in der Pause gefragt, warum Rubin meine Anwesenheit plötzlich zur Kenntnis nahm, aber mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, auch wenn es ihn offensichtlich nervte.
Das wiederum konnte ich sehr, sehr, nein, wirklich verdammt gut nachvollziehen, denn ich hätte Rubin jedes Mal den Hals umdrehen können – schön langsam und genüsslich, verstand sich.

***

Normalerweise war Freitag der Tag in der Woche, der sich am meisten Zeit mit Vergehen ließ. Ich war sicher, jeder Schüler oder Arbeitende mit Fünftagewoche  kannte das: Es war Freitag, das Wochenende rief nicht nur, es schrie geradezu verzweifelt nach einem und man wusste, dass es nur noch einige wenige Stunden waren, nur noch zwei, noch eine – aber dann beschloss der scheiß Sekundenzeiger, dass er wie jeder andere Arbeitende ein verdammtes Anrecht auf Urlaub hatte. Man schaute auf die Uhr an der Wand oder am Handgelenk und flehte den Mistkerl an, seinen Metallarsch in Bewegung zu setzen – und tatsächlich, da! Er hatte sich einen Millimeter weiter bewegt, hin zum nächsten Strichchen, und man wollte schon jubeln, hörte schon die Glocke läuten und glaubte den herrlichen Duft versmogter Stadtluft riechen zu können, doch dann blieb der Zeiger erneut stehen und beschloss, nach dieser Heraklestat erst einmal eine zu rauchen.
Und natürlich holte er die verlorene Zeit wieder ein, indem er am Wochenende einen Dauerspurt hinlegte. Nun, nix zu machen, das war eben der Lauf der Welt. Freitage waren lang wie Wochen, Samstag und Sonntag dagegen schon vorbei, bevor man sein Frühstück verputzt hatte.
Zumindest sollte das der Lauf der Welt sein, verdammt noch mal! Aber an diesem Freitag hatte der Bastard offensichtlich vor, den Sprint ein wenig vorzuziehen – wer weiß, vielleicht wollte er in Ruhe mit seinen beiden großen Brüdern Weihnachten feiern. Theoretisch hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, aber an diesem einen Freitag wäre es mir lieber gewesen, wenn die letzte Stunde nie gekommen wäre. Meine Deutschnote war besser als erwartet und ich wusste, dass es jetzt nur noch bergab gehen konnte. Hätte ich gewusst, wie weit bergab, hätte ich in der Mittagspause zweifellos das Weite gesucht.
Der erste Schock war die Note an sich. Genau so, wie Deutsch gut gegangen war, obwohl ich weniger als geplant gelernt hatte, waren meine Antworten in Englisch noch schlechter, als ich sie mir vorgestellt hatte. Es war das absolut Mieseste, was ich je bekommen hatte.
Scheiß Englisch.
Scheiß verficktes Englisch!
Aber damit hätte ich leben können. Das Positive an schlechten Noten war, dass sie irgendwann nicht mehr tiefer fallen konnten. Und, dass man sich immer wieder heraufarbeiten konnte. Das Negative an Lehrern wiederum war, dass sie, sobald die Punktezahl eine gewisse Grenze unterschritten hatte, aufhören, daran zu glauben, dass man es alleine auf die Reihe kriegen würde und übereifrig wurden; ‚helfen‘, nannten sie das dann. Ich nannte es Sadismus.
Helfen, das wollte auch Herr Kirsten. Und übereifrig, wie er als grundsätzlich lieber und freundlicher und netter und guter und gutherziger und vor allem hilfsbereiter Mensch nun einmal war, konnte er damit offensichtlich nicht bis nach den Weihnachtsferien warten. Nein, nicht Herr Kirsten, nicht, wenn es um seinen neuen Schützling ging, bei dem schließlich immer noch die Gefahr bestand, dass er sich doch noch nicht so gut eingelebt hatte, wie es den Anschein machte, und bei dem die schlechten Noten ihre direkte Ursache vielleicht ja im Mangel an sozialen Kontakten hatte.
Ha. Ha.
Und was machte man, wenn man nicht bis nach den Ferien warten konnte? Genau: Man packte die Sache gleich nach der Stunde noch an. Gute Idee, war ja nicht so, als ob den heutigen Schülern schlechte Noten etwas ausmachen würden – deshalb brauchten sie auch keine Zeit, um sie zu verdauen.
Nach der Klausurbesprechung blieben noch gute zwanzig Minuten Unterrichtszeit und die verbrachte meine Klasse damit, auf die Leinwand zu starren, auf die für den Rest der Stunde als kleine Überraschung von Herr Kirsten Shrek the Halls – auf Deutsch Oh, du Shrekliche – projiziert wurde. Kirsten selbst saß dabei an einem der freien hinteren Pulte und nutzte diese Nähe, um auf mich zuzukommen, sobald der Film zu Ende und die Schüler sozusagen schon fast auf dem Heimweg waren.
„Vyvyan?“, sprach er mich an, die Stimme ernst, so dass auch das dünne Lächeln nichts brachte, „Dürfte ich Sie kurz sprechen?“
Ich nickte. Was blieb mir auch anderes übrig? Mein Zeug packte ich trotzdem ein – ich wollte nachher so schnell wie möglich hier wegkommen.
Rubin stand auf und wollte sich wahrscheinlich gerade von mir verabschieden – ich war ein wenig gespannt, was er sagen würde, denn sein übliches Bis morgen konnte er diesmal nicht bringen und ich zweifelte stark daran, dass er mir frohe Festtage wünschen würde – als Kirsten sich an ihn wandte.
„Könnten Sie sich vielleicht um die Leinwand und den Projektor kümmern? Sie wissen ja, ich bin etwas ungeschickt in diesen Dingen.“
‚Etwas ungeschickt‘, der war gut. Herr Kirsten war der Erzfeind jeglicher Geräte, deren Bedienungsschwierigkeitsgrad über den eines Lichtschalters hinausging. Trotzdem hätte er wirklich nicht Rubin fragen müssen, vor allem nicht, da doch Theo, mein Kumpel, keinen Meter entfernt saß. Aber während Rubin Herrn Kirsten einen Blick zuwarf, der deutlich machte, was er davon hielt hinter seinem Lehrer aufzuräumen, wurde Theo von eben diesem dazu aufgefordert, die Klasse zu verlassen, damit wir reden konnten. Also wünschte mir Theo schöne Weihnachten und erinnerte mich noch einmal daran, ihn anzurufen.
„Ich nehme an, Sie wissen, warum ich mit Ihnen reden möchte?“ Herr Kirsten setzte sich, ganz der schülernahe Vertrauenslehrer, auf Rubins Stuhl.
„Meine Note“, erwiderte ich und sah ihn direkt an.
Er nickte. „Sie sind ein guter Schüler und ich weiß, dass jeder die ein oder andere Schwäche hat – das ist ganz normal, aber …“ Er machte eine Pause und sprach dann das aus, was ich schon seit Jahren wusste. „Vyvyan, wir müssen einen Weg finden, Ihre Englischnote zu verbessern. Es wäre wirklich eine Schande, wenn Ihnen diese eine Schwäche Ihr gutes Zeugnis zunichte machen würde.“
‚Wir‘? Nein, wir mussten gar nichts; ich musste. Es war meine Schwäche, also musste ich sie auch selbst in den Griff kriegen, irgendwie.
„Ich mache in der ersten Schulwoche im Januar eine Nachklausur für alle, die diese nicht bestanden haben. Die bessere Note zählt.“
Januar, wie schön. Erste Schulwoche, welch Wohlklang! Das bedeutete also, dass ich meine ganzen Ferien über Englisch büffeln durfte?
Ganz toll, wirklich, einfach fantastisch.
Aber ich wäre dumm gewesen, wenn ich die Chance nicht genutzt hätte.
„Es ist ja nicht so, als ob ich nicht doppelt so viel dafür gelernt hätte wie für alles andere“, erwiderte ich, und versuchte, das leichte Schaben von klemmenden Kunststoffrollen auf dem Boden zu ignorieren. Musste Rubin unbedingt dabei sein, wenn ich dieses Gespräch mit Kirsten führte? Ausgerechnet Rubin?!
Herr Kirsten nickte verständnisvoll – natürlich, was auch sonst – und fragte:
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, sich einen Nachhilfelehrer zu suchen?“
Ja, aber die Vorstellung davon kratzte stark an meinem Ego – und bisher hatte ich es auch ohne irgendwie geschafft.
„Ich glaube nicht, dass ich so kurzfristig jemanden finde, der mir über die Feiertage Nachhilfe gibt“, gab ich zu bedenken und wusste in dem Moment, in dem ich sein Lächeln sah, dass ich mit diesem Satz in seine Hände gespielt hatte. Trotzdem war das Lächeln nicht hinterlistig oder schadenfreudig, noch nicht einmal spitzbübisch oder triumphierend, sondern treuherzig und ehrlich erfreut. Und ich beschloss, dass mein Klassenlehrer entweder ein verdammt guter Schauspieler oder aber ein sehr seltsamer Mensch war.
„Nun“, begann er, „ein Fremder vielleicht nicht, aber jemand, der Sie kennt, ist sicher eher dazu bereit.“
Er sah zu Rubin hinüber, der gerade den Projektor im Schrank verstaute. „Rubin, Sie hätten nicht zufällig Zeit, um Vyvyan während der Ferien beim Lernen behilflich zu sein?“

Schockiert, meine verehrten Damen und Herren, ist kein Wort, das meinen Zustand in diesem Augenblick treffend beschrieben hätte. Was ich fühlte, war nicht Schock, sondern etwas, das schon fast an Panik grenzte.
Nein!
Nein, nein, nein, nein, nein, verdammt noch mal!
Ganz klar und deutlich nein.
„Das wäre kein Problem.“
Ich riss den Kopf hoch und starrte Rubin an. Was hatte er gesagt? Das war nicht sein Ernst, das konnte nicht sein Ernst sein! Warum sollte er so etwas tun? Ausgerechnet er?!
Rubin erwiderte meinen Blick einige Sekunden lang ruhig und ich glaubte, sogar über die Distanz hinweg ein belustigtes Aufblitzen in seinen Augen zu erkennen, bevor er Herr Kirsten ansah.
„Ich darf doch annehmen, dass das in meinem Zeugnis vermerkt werden wird?“
„Natürlich“, antwortete Kirsten zufrieden. „Na dann …“
„Nein.“
Kirsten hatte Anstalten gemacht aufzustehen, hielt nun aber in der Bewegung inne und sah mich überrascht an.
„Das ist nicht nötig“, fügte ich erklärend hinzu und achtete diesmal wieder darauf, dass mein Ton freundlich war, „ich will Rubin nicht in seinen Ferien damit belästigen; ich finde schon jemanden.“
„Aber warum?“, fragte er und lächelte dann wieder, „Er hat doch gesagt, dass es ihm nichts ausmachen würde. Qualifiziert genug ist er als Muttersprachler und es macht doch sicher mehr Spaß, mit einem Gleichaltrigen zu lernen, meinen Sie nicht auch?“ Er stand auf und sein Lächeln wurde richtiggehend froh. Glücklich. So, als ob er zwei Sorgen mit einem Streich von seinen Schultern hatte stoßen können.
„Außerdem scheinen Sie beide sich doch gut zu verstehen – ich sehe also nicht, warum es ein Problem geben sollte.“ Er sah mich abwartend an, aber das bemerkte ich nur am Rande.
Was hatte er gesagt? Ich und Rubin würden uns gut verstehen? Wie kam er denn bitte auf den Scheiß?!
Wir saßen nebeneinander, aber das hieß doch nichts! Hätte Herr Kirsten genauer hingeschaut, hätte er gesehen, dass zwischen mir und Rubin genauso Funkstille herrschte wie zwischen ihm und dem Rest der Schule.
Okay, gut, seit ein paar Tagen grüßte er mich – wir uns, gezwungenermaßen – aber wir hatten Englisch nie in der ersten und nur freitags in der letzten, Herr Kirsten konnte das also nicht mitbekommen haben.
… Außer natürlich, die anderen Lehrer hätten es bemerkt und es sich – ganz die Tratschtanten, die Lehrer nun einmal generell waren – nicht nehmen lassen, Kirsten davon zu erzählen. Aber sogar dann: Pro Tag zwischen zwei und fünf Wörtern mit dem anderen zu wechseln konnte ja kein Anzeichen für ein freundschaftliches Verhältnis sein!
Fuck, das konnte er doch nicht …
„Schön, dass das geklärt ist.“ Herr Kirsten nahm seine Tasche und sah uns noch einmal oh-so-freundlich lächelnd an. „Nun denn, ich wünsche Ihnen beiden frohe Festtage, einen guten Rutsch und viel Erfolg.“ Dann verließ er das Zimmer und ließ mich mit Rubin alleine, der den Schrank schloss und auf mich zukam.
„Gib mir dein Prüfungsblatt, dann kann ich schauen, wo deine Schwächen liegen.“
„Überall.“
Ich konnte es immer noch nicht glauben, was Kirsten da eben abgezogen hatte. Was war das, ein Sozialisierungsversuch? Wenn ja, warum musste dann unbedingt ich dafür herhalten? Ich war schließlich sozial!
Da war es wieder, da belustigte Aufblitzen der Augen. „Gib es mir trotzdem – und deine Adresse und Telefonnummer.“
„Wozu brauchst du meine Adresse?“
Er sah mich einen Moment lang an und zuckte dann mit den Schultern. „Sonst können wir es auch bei mir machen, aber morgen geht das nicht, also muss ich zu dir kommen.“
„Morgen?! Hey, warte, wann …“
„Ja, morgen“, schnitt er mir das Wort ab, „Wir treffen uns morgen. Wir haben nur zwei Wochen und da du am vier- und fünfundzwanzigsten sicher keine Lust zum Lernen hast, werden wir uns morgen treffen.“ Er griff nach dem Papier in meiner Hand und nahm es, bevor ich richtig verstanden hatte, was er da tat. „Dann kannst du mir auch gleich die anderen bisherigen Klausuren geben.“
„Moment!“ Ich hielt meine Hand wie ein Verkehrspolizist hoch und schüttelte den Kopf. „Hör zu, du brauchst mir nicht zu helfen, ich frage meine ältere Schwester, dann hast du deine Ruhe, ich meinen Frieden und Kirsten im Januar eine bessere Note. Alle sind zufrieden, alles ist gut.“ Ich wollte mir meinen Prüfungsbogen wieder nehmen, aber er verstaute ihn in seiner Tasche und schloss diese.
„Vergiss es, Vyvyan. Ich habe gesagt, dass ich es mache und das werde ich.“
Was sollte das? Konnte er mir nicht ein Mal, einfach nur ein einziges Mal zustimmen?
Warum? Was hast du davon?“
Seine Mundwinkel zuckten, aber es reichte nicht für ein Grinsen. „Das hast du doch eben gehört – es wird in meinem Zeugnis vermerkt werden.“
„Und warum ist das gut?“
„Weil ich auf eine Universität in Amerika gehen will und dort sieht man sich mehr an als nur die Noten. Was denkst du, weshalb ich Schülerratpräsident bin?“
Auf diese offensichtlich rhetorische Frage musste ich nicht antworten, was auch ganz gut so war, denn ich war überrascht; hatte ich nicht geglaubt, dass Rubin keinen Ehrgeiz besaß? Anscheinend hatte ich mich darin getäuscht.
„Und deshalb werde ich auch dafür sorgen, dass du die Nachklausur im Januar mit einer ordentlichen Note bestehst. Verstanden?“
Ich nickte. Was konnte ich auch anderes tun? Er sah nicht aus, als ob er Widerworte akzeptieren würde und sogar wenn – ich fand keine. Ich wusste nicht, warum, aber ich fand einfach keine.
Ob er mir wirklich zu einer akzeptablen Note verhelfen konnte? In zwei Wochen?
„Gut.“ Er nickte, reichte mir einen Zettel und einen Stift und sagte: „Adresse und Telefonnummer.“
Als ich sie ihm aufgeschrieben hatte, steckte er den Zettel ein und schlüpfte in seine Jacke. „Ist morgen gegen vierzehn Uhr okay?“
Ich nickte noch einmal, bevor ich meine Sprache endlich wieder fand. Scheiße, das war ja peinlich. Dann war er eben ehrgeizig, na und? Und ein bisschen bestimmender, als ich gewohnt war … aber es war nicht das erste Mal, dass ich mich ein kleines bisschen in einem Menschen getäuscht hatte.
„Ja, kein Problem.“
„Dann bis morgen, Vyvyan.“
„Bis morgen“, erwiderte ich und bemerkte, dass er nun doch den üblichen Abschiedsgruß hatte verwenden können.

***

Als ich kurz darauf das Schulzimmer verließ, sah ich Fee im Gang auf mich warten. Sie lächelte mich an und kam auf mich zu, um sich bei mir einzuhaken.
„Theo hat gesagt, Herr Kirsten habe dich noch sprechen wollen?“
„Ja. Sorry, dass du warten musstest.“
„Das macht mir nichts aus.“ Sie sah zu mir hoch und ich bemerkte, wie süß sie mit ihrer dicken Wollmütze aussah.
Und genau das sagte ich ihr auch.
Ihr Lächeln wurde zu einem Strahlen und sie gab mir einen Kuss. „Danke.“
Dann, als wir losgingen, fragte sie:
„Und, was ist dabei rausgekommen?“
Die Gänge waren leer – kein Wunder, am letzten Schultag vor den Ferien rannten die meisten noch schneller hinaus als sonst. Es war ein wenig seltsam, nur die eigenen Schritte auf dem Steinboden echoen zu hören, aber auch beruhigend.
„Dass ich meine Ferien damit verbringen muss, mit einem Nachhilfelehrer Englisch zu büffeln, damit ich die Nachklausur im Januar bestehe.“ Ich seufzte und sah sie entschuldigend an. „Tut mir leid, aber so wie es aussieht, werde ich dich nicht so oft sehen können, wie ich es vorhatte.“
Sie sah ein bisschen enttäuscht aus, aber lächelte trotzdem ermunternd.
„Schade, aber ich will natürlich nicht, dass du wegen mir durchfällst. Ein oder zwei Mal liegen aber trotzdem drin, oder?“
„Natürlich.“ Ich zog sie näher an mich und verfluchte Kirsten stumm. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel Zeit mir am Ende für meine Familie und mich selbst bleiben würde. Am liebsten hätte ich Fee, Theo und den anderen gesagt, dass ich wegfuhr, dann müsste ich wenigstens sie nicht treffen. „Möchtest du dein Geschenk jetzt oder wenn wir uns sehen?“
Sie sah mich freudig überrascht an. Vielleicht hatte sie nicht mit einem Weihnachtsgeschenk gerechnet, aber da unterschätzte sie mich wirklich. Das gehörte schließlich zum Programm.
„In den Ferien. Erstens habe ich dann einen guten Vorwand, um dich so schnell wie möglich zu sehen und zweitens …“ Sie lächelte schief. „… zweitens ist das Geschenk, das ich für dich bestellt habe, immer noch nicht da. Tut mir leid.“
„Ist doch kein Problem“, erwiderte ich und lehnte mich zu ihr, „Aber du brauchst keinen Vorwand, um mich zu sehen. Du bist meine Freundin, schon vergessen?“
Sie kicherte. „Ich glaube, das ist mir eben wirklich für eine Sekunde entfallen.“
„Dann muss ich dich wohl daran erinnern, hm?“ Ich zog sie an mich und küsste sie.

Als Fees Bus einige Minuten später abfuhr, wurde mir etwas bewusst, das mir bis dahin nicht aufgefallen war – oder vielleicht hatte ich es auch nur erfolgreich übersehen.
Ich würde Nachhilfe von Rubin bekommen – der, neben so manch anderem, ein Amerikaner war.
Ein Ami gab einem Engländer Nachhilfe in Englisch.
Super, wirklich, das tat dem Ego gut.

*********

„Kirsten hat mich heute angesprochen.“
„Worum ging’s?“
„Ich soll ihm Nachhilfe geben.“
„Kirsten?!“ Megan grinste. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass es um eure Lehrkräfte schon so schlecht steht, dass sie Nachhilfe von den Schülern brauchen …“
Ich boxte sie in die Schulter. „Natürlich nicht Kirsten. Ihm. Vyvyan.“
„Oh. Wie praktisch für dich. Hat er zugestimmt?”
„Er weiß noch nichts davon. Kirsten wollte erst sicherstellen, ob ich einverstanden bin. Er fragt ihn morgen.“
„Warst du denn inzwischen netter? Wenigstens ein kleines bisschen?“
„… Vielleicht?“
„Wirklich Rubin!“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Wie willst du herausfinden, was du von ihm willst, wenn du ihn nicht näher kennenlernst?“
„Das werde ich doch jetzt. Durch die Nachhilfe.“
„Falls er mitmacht.“ Sie stand auf und ging zum Küchenschrank, um eine Tafel Schokolade zu holen. „So, wie er sich Montag verhalten hat, scheint er nicht gerade erpicht auf ein bisschen quality time mit dir zu sein.“
„Ich werde ihm gar keine andere Wahl lassen.“ Ich nahm das Stück, das sie mir anbot und stand dann auf. „Danke. Ich muss langsam.“
„Was hast du denn noch vor? Ich dachte, wir machen uns einen schönen Abend?“
Ich grinste ohne es zu wollen. „Ich muss doch die Nachhilfe vorbereiten.“

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