Der nächste Morgen war seltsam. Einerseits begann er wie jeder andere
dreiundzwanzigste Dezember bei uns, und das hieß: Er startete um acht Uhr mit
einer riesigen Portion Eierkuchen mit Schokostückchen, wahlweise mit Honig,
Marmelade, Schokocreme, Rohzucker oder Ahornsirup bestrichen, und dazu
literweise Kakao, Tee, O-Saft oder Cola, je nach Wunsch. Normalerweise mochte
es Mum nicht, wenn wir uns mit Zucker vollstopften, deshalb war das ein
seltenes Frühstücksvergnügen in meiner Familie. Damit Mum nicht die ganze
Arbeit alleine machen musste, standen wir alle abwechselnd am Herd und nachdem
die erste Ladung gegessen war, machte sich jeder selber neue, wenn er noch
welche wollte. Das war die beste Lösung, denn wenn wir den ganzen Teig gleich
zu Anfang verarbeitet hätten, wären die Dinger spätestens nach wenigen nur noch
lauwarm gewesen – und mal ehrlich: Lauwarme oder gar kalte Eierkuchen
schmeckten scheiße. Genau das wurde mir immer wieder bestätigt, wenn mir einer
auf dem Teller kalt wurde, während ich zu sehr in unsere Unterhaltung vertieft
war – Kitty amüsierte sich dann köstlich über mein Gesicht, wenn ich
es doch noch hinunterwürgte, aber sie selber war nicht weniger
wählerisch – sie konnte nur besser essen, zuhören und reden zur
gleichen Zeit – Frauen und ihr Multitasking, eben.
Das Frühstück zog sich auf diese Weise bis zehn oder halb elf hin und dann
teilten wir uns auf: Die eine Hälfte – normalerweise Pa und
Sue – spülten das Geschirr und räumten die Küche auf, während Mum,
Kitty und ich in den Keller gingen, den Weihnachtsschmuck heraussuchten und
dann Kiste für Kiste nach oben trugen – und das ging mindestens
ebenso lange wie das Geschirrspülen, denn wir hatten mehr als ein
Weihnachtsschmuckset und jedes Jahr mussten alle ins Wohnzimmer, damit
man am besten bestimmen konnte, wie und in welchen Farben dieses Jahr dekoriert
werden sollte. Ich liebte es, in den Keller zu gehen, denn es war jedes Mal wie
eine Entdeckungsreise, ein kleines Abenteuer, dessen versteckter Schatz aus
unseren schönsten Familienerinnerungen bestand.
Wenn die Küche fertig und das Wohnzimmer überstellt war, rumorten wir
meistens noch etwas in den Schachteln, suchten schon einmal unsere liebsten
Kugeln und Figürchen heraus und vertrieben uns die Zeit mit reden und suchen
und uns entspannen, bis es am Nachmittag auf den Weihnachtsmarkt ging und es
Zuckerwatte und Pfefferkuchen und – für alle außer
Kitty – auch Glühwein gab. Am Abend wurde dann der Baum ins Haus
geholt und geschmückt, was meist in der einen oder anderen Auseinandersetzung
endete, da unsere Geschmäcker doch recht verschieden waren. Trotzdem war der
dreiundzwanzigste Dezember meine persönliche Vorstellung von Harmonie und mir
sogar fast lieber als Weihnachten selbst – auch wenn ich natürlich
nichts gegen Geschenke einzuwenden hatte.
Das war ‚einerseits‘. Andererseits aber wusste ich, dass dieser
dreiundzwanzigste Dezember nicht wie die anderen werden würde, denn heute
konnte ich mich nicht im Schoß meiner Familie verstecken, und es würde auch
weder Zuckerwatte noch Glühwein für mich geben und der Pfefferkuchen, der würde
höchstens aus der hauseigenen Keksdose kommen. Heute musste ich den mir
liebsten Nachmittag im Jahr mit Rubin verbringen.
Und Englisch.
Mit Englisch und Rubin und seinem Amerikanisch.
Kein Wunder war meine Laune heute nicht ganz so gut wie sonst immer und sie
sank weiter mit dem Fortschreiten des Morgens, so dass ich mich, nachdem wir
uns ein wenig durch den Weihnachtsschmuck gewühlt hatten, auf mein Zimmer
verabschiedete. Pa drückte mir kurz die Schulter, als ich an ihm vorbei das
Zimmer verließ. Er wusste genauso gut wie die anderen drei, wie wichtig mir
dieser Tag war und hatte Mitgefühl – aber das brachte mir nichts,
genauso wenig wie es etwas gebracht hätte zu jammern, denn ich war selbst
Schuld. Die Verantwortung für meine schlechte Note trug ich ganz allein und
eigentlich musste ich Rubin dankbar sein, dass er sich bereiterklärt hatte mir
zu helfen.
Ja, eben, eigentlich. Im Moment war es mir einfach nicht möglich, diese
Dankbarkeit zu fühlen und bei dem Gedanken, sie auszudrücken, lief es mir kalt
den Rücken hinunter.
Also verkroch ich mich in meinem Zimmer, versuchte zu lesen, was aber nicht
klappte, fing an aufzuräumen und brach wieder ab (na und, dann war mein Zimmer
eben ein wenig unordentlich – für Rubin musste ich mir sicher keine
Mühe geben!) und tigerte schließlich von einem Zimmerende zum anderen und
wieder zurück.
Als es um zehn Minuten vor zwei an der Tür klingelte, hielt ich inne,
schüttelte aber den Kopf und verwarf die Idee, dass es Rubin sein könnte. Rubin
kam nie zu früh.
Trotzdem öffnete ich die Zimmertür und trat auf den Flur, um an der Treppe
hinunter auf die Haustür sehen zu können, auf die Kitty gerade zurannte und sie
dann mit viel Schwung öffnete.
Ich hatte mich geirrt; anscheinend kam er nur in der Schule nie zu früh.
„Du gibst Vyvy Nachhilfe?“, fragte Kitty und vergaß dabei, ihn
hereinzulassen.
„Hat er das nicht erzählt?“ Rubin sah darüber gar nicht überrascht aus und
fügte dann – war das ein Lächeln?! – hinzu: „Schön,
dich wieder zu sehen, Catherine.“
„Komm rein“, sagte ich laut genug, dass er es hörte und ging die Treppe
hinunter. Ich versuchte, meinen Unmut nicht zu zeigen, aber anscheinend gelang
es mir nicht, denn Kitty musterte mich. Sie war erst neun, aber nicht dumm oder
begriffsstutzig, auch wenn ich das manchmal – wirklich nur manchmal,
ganz selten, aber dafür in genau diesem Moment – fast vorgezogen
hätte. Sie sah noch einmal zu Rubin, dann zu mir und ich konnte sehen, wie ihr
die Schuppen von den Augen fielen. Etwas hatte sie gestört, etwas an meinem
Verhalten, an meiner schlechten Laune – und nun hatte sie bemerkt,
dass es war, dass man mir meine schlechte Laune ansah. Letztes Mal war
Megan dabei gewesen und ich hatte mich beherrscht, aber diesmal klappte das
nicht, auch wenn ich mir sagte, dass ich es versuchen sollte, weil Rubin
immerhin gerade seine Freizeit opferte.
Pech nur, dass mir seine Freizeit am Arsch vorbei
ging – zumindest, solange er sie nicht mit mir verbrachte.
„Hallo, Vyvyan“, erwiderte er süffisant und ich rollte mit den
Augen.
„Hallo.“
„Vyvy“, begann Kitty, als ich unten ankam, „mögen wir ihn?“
Nein. Wir taten vieles, aber das gehörte sicher nicht dazu.
„Wir akzeptieren ihn gezwungenermaßen“, antwortete ich, schob sie sanft von
der Tür weg und ließ ihn herein, „danke fürs Türöffnen, Kitty; du kannst wieder
ins Wohnzimmer gehen – und pass auf, dass Sue die silbernen
Weihnachtskugeln nicht verschwinden lässt, ja? Ich will keinen weiß-rosaroten
Weihnachtsschmuck!“
Sie zögerte eine Sekunde, dann grinste sie mich an und stemmte die Hände in
die Hüften. „Keine Bange, ich auch nicht! Ich werd unsere mit meinem
Leben verteidigen. Dieses Jahr gehört der Baum uns!“ Damit rannte sie weg und
kurz darauf hörte man sie schreien: „Halt, stopp! Pa, was hast du da unters
Sofa geschoben! Rück die Kugeln raus!“
Ich schmunzelte und schloss dann endlich die Haustür – unsere
Heizung würde es mir danken – bevor ich Rubins Jacke entgegennahm und
aufhängte. Da er die Schuhe schon ausgezogen hatte, führte ich ihn die Stufen
hoch.
„Mein Zimmer – mein Sofa.“ Ich zeigte auf die weiche Zweiercouch,
die ich schon seit Jahren mein Eigen nannte und deren Überzug meine Mum alle
paar Jahre wechselte, damit sie auch schön weiß blieb. „Mach’s dir bequem. Was
willst du trinken? Wir haben Kaffee, Kakao, O-Saft, Apfelsaft, Cola, Bier, Tee,
Milch und Wasser.“
„Eine Cola wäre nett“, antwortete Rubin, ließ seine Tasche neben das Sofa
fallen und zog sich die Handschuhe aus, bevor er sich langsam aus dem Schal
wickelte.
Ich nickte. „Bin gleich wieder da.“
Und genau so, wie ich mich schon über Sandwichs und ihre schnelle
Zubereitungszeit geärgert habe, ärgerte ich mich diesmal über Cola; Kaffee
hätte ich wenigstens noch machen
müssen, aber bei Cola konnte ich einfach eine Flasche und zwei Gläser nehmen
und wieder hinaufgehen.
Ich wollte nicht hinauf; lieber ließ ich Rubin in meinem Zimmer alleine,
als da wieder hinaufzugehen – mein Zimmer war sowieso nicht besonders
interessant, da konnte er nichts anrichten. Aber auch wenn die Memme in mir
sich am liebsten vor dem blöden Ami mit seinem verfluchten Englisch versteckt
hätte, ging ich mit erhobenem Kopf wieder zurück – gleich nachdem ich
einen Teller mit Keksen gefüllt hatte – Kekse, in deren Auswahl ich
erst einige Minuten investieren musste, versteht sich.
Als ich das Zimmer betrat, stand Rubin vor meinem Bücherregal, den Schal
noch in den Händen.
„Ziemlich gemischt“, sagte er und drehte sich zu mir.
„Ich mag Abwechslung und viele davon habe ich geschenkt bekommen.“ Ich
deutete ein Schulterzucken an – mehr ging nicht, da ich weder die
Kekse noch die Gläser auf dem Teppichboden verteilen wollte – und
ging zum Tischchen vor dem Sofa, um alles abzustellen, was mit der Colaflasche
unterm Arm nicht ganz so einfach war. Rubin, ganz der Gentleman, der er nicht
war, nahm mir die Flasche ab, bevor sie herunterfallen konnte.
„Wollen wir anfangen?“
Er nickte, machte es sich auf dem Sofa bequem und ich nahm mein Schreibzeug
vom Pult, bevor ich mich auf den Boden zwischen dem Sofa und Tischchen
hinsetzte. Als ich mich zu ihm umdrehte, um ihm die Mappe mit den bisherigen
Klausuren bei Herrn Kirsten zu geben, bemerkte ich seinen Blick.
„So ist’s bequemer zum Schreiben“, beantwortete ich die Frage, bevor er sie
stellen konnte, und drückte ihm die pastellgrüne Mappe in die Hand.
Ich hasste Pastellgrün; es musste eine von Sue sein, denn sie hatte einen
etwas fragwürdigen Geschmack, wenn es um Farben ging. Kitty hingegen kam ganz
nach mir, zum Glück.
Rubin erwiderte nichts, sondern nahm es mit einem kurzen Nicken entgegen
und legte einige Blätter vor mich hin.
„Wir beginnen mit der indirekten Rede, da du dabei Dienstag die meisten Probleme
hattest.“
Ich nickte und sah mir die Blätter an. Sie waren alle mit dem Computer
geschrieben worden und ordentlich strukturiert, mit einer kurzen Einführung auf
der ersten Seite, dann wurde die indirekte Rede im Deutschen angerissen und mit
der des Englischen verglichen und schließlich die des Englischen im Detail
erklärt. Auf den restlichen Seiten standen Übungen, reichlich Übungen.
Genug für eine Woche.
„Woher hast du das? Aus einem Lehrbuch?“
„Nein, ich habe das gestern zusammengestellt – es würde nicht
viel bringen, dich noch einmal unser Englischbuch durchkauen zu lassen. Ich
habe versucht, es mit anderen Worten zu erklären; hoffen wir, dass es so
verständlicher ist.“
Okay, ich gebe es zu: Ich starrte ihn an.
Das alles hatte er gestern geschrieben? Nach der Schule?
Für mich?!
Bei Megan hätte ich es ja noch verstanden, aber das er sich so viel Mühe
für jemanden gab, den er noch nicht einmal leiden konnte, war nicht
überraschend, sondern fast schon verstörend. Rubin schien die Nachhilfe wirklich
ernst zu nehmen.
Bevor ich wusste, was ich tat, oder mich selbst daran erinnern konnte, dass
ich ihn nicht ausstehen konnte, sagte ich mit einem echten Lächeln:
„Danke.“
Rubin musterte mich einen langen Moment lang und ich dachte schon, er würde
wieder seine rechte Augenbraue anheben und eine spöttische Bemerkung machen,
aber dann zeigte er mir seine Grübchen – ohne Spott und Trara. Und in
diesem Augenblick schien er gar nicht so unsympathisch wie sonst.
Doch natürlich musste er den falschen Eindruck gleich wieder berichtigen,
denn das Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Bedanken kannst du dich heute Abend,
nachdem du alle Übungen gelöst hast.“
Ich runzelte meine Stirn.
„Wie meinst du das, ‚alle‘?“
„Alle, die ich dir eben gegeben habe; die arbeiten wir heute durch. Ich
gehe nicht, bevor du fertig bist.“
Alle?
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, rief ich aus und starrte auf den
Papierstapel vor mir, „Dann bist du morgen noch hier!“
Rubin blieb, wie eigentlich fast immer, gelassen. „Wenn du noch mehr Zeit
damit verschwendest, geschockt zu sein, könntest du damit Recht haben.“
Ich rollte meine Augen und unterdrückte nur mit Mühe ein Knurren. Ja, ich
hatte den Wink mit der Freiheitsstatue verstanden; ich war ja nicht blöd,
sondern hatte lediglich eine Schwäche in Englisch.
„Fangen wir an.“
Bastard.
Ich wandte mich dem obersten Blatt zu und wollte zu lesen beginnen, als
Rubin herüberrutschte, es mir aus der Hand nahm und mit der Rückseite nach oben
auf die anderen legte.
„Das kannst du dir später durchlesen, wenn du noch einmal unsicher
wirst – es ist besser, wenn du die Überlegungen, die darauf stehen,
selbst machst, Vyvyan.“
Ich nickte und hoffte irgendwo, dass er wieder wegrutschen
würde – ein Stückchen zumindest, das würde schon reichen, nur soweit,
dass ich seine Körperwärme nicht mehr durch die Kleider hindurch an meiner
rechten Schulter spüren konnte – wobei es ja schon erstaunlich war,
dass sein Körper überhaupt Wärme ausstrahlte, so unterkühlt wie er sich immer
verhielt. Aber natürlich rutschte er nicht weg – warum auch, war ja
nichts dabei und ich wusste sowieso nicht, warum es mir aufgefallen
war – doch, schon, ich stand nämlich nicht auf Kuscheln mit
Mitschülern, schon gar nicht mit Außenseitern. Aber ich würde es überleben. War ja nichts dabei.
„Gut, dann bleiben wir erst mal dort, wo du dich auskennst: im Deutschen“,
begann er und ich unterdrückte ein Schnauben. Auskennen, der war gut. Würden
wir bleiben, wo ich mich auskannte, dann würden wir unsere Mathebücher
hervorholen. Mathe war wenigstens logisch, Mathe war nachvollziehbar und nicht
so willkürlich wie –
Weiter kam ich nicht, denn Rubin fuhr fort:
„Im Deutschen benutzt man den Konjunktiv, um indirekte Rede auszudrücken.
Das ist alles andere als ideal und ziemlich verwirrend, da der Konjunktiv in
erster Linie die Möglichkeit oder Nicht-Wirklichkeit von etwas und die Distanz
des Sprechers dazu ausdrückt.“ Er sah wohl, dass es in meinem Kopf bereits zu
rattern angefangen hatte (hey, Konjunktiv, das hatte ich schon länger nicht
mehr genauer betrachtet; nicht meine Schuld also, wenn ich nicht alle Regeln
auswendig konnte!) und erklärte, ein wenig freundlicher als sonst:
„Zum Beispiel: Wenn ich sage ‚Klaus war gestern krank’, dann ist das eine
Tatsache und ich bin mir dessen sicher. Wenn ich aber sage ‚Klaus sagt, er sei
gestern krank gewesen‘, weiß ich dann, ob er wirklich krank gewesen
ist?“
Rubin erwartete offensichtlich eine Antwort und ich schüttelte nach kurzem
Überlegen den Kopf: „Nein, es kann ja sein, dass er dich angelogen hat.“
Da! Die Mundwinkel zuckten, das war fast ein Lächeln.
„Genau. Wenn ich das also Herr Kirsten sage, dann drücke ich damit meine
Unsicherheit aus und distanziere mich davon, für den Fall, dass Kirsten
herausfindet, dass Klaus in Wirklichkeit die Schule geschwänzt hat.“
Ein Grinsen kitzelte meine Mundwinkel, denn der Klaus aus unserer Klasse
würde nie und nimmer die Schule schwänzen – noch nicht einmal eine
einzelne Stunde, das könnte ja Konsequenzen haben.
Ich spürte Rubins Blick auf mir und sah wieder hoch. Nach einem weiteren
Moment, der mir ein wenig zu lang erschien, setzte er seine Erklärung fort:
„So weit, so gut. Das Problem an dem Ganzen ist nur, dass der Konjunktiv in
der indirekten Rede dazu noch die Zeitenfolge wiedergeben soll; also was vorher
passiert ist, was gleichzeitig geschieht, was nachher. Wenn ich sage: ‚Megan
sagte mir, ihre Eltern seien heute nach Amerika geflogen‘, sind sie dann
geflogen, bevor sie es mir gesagt hat, waren sie da gerade auf dem Weg
oder flogen sie erst danach ab?“
„Megans Eltern sind nach Amerika gegangen?“, fragte ich, um ein bisschen
Zeit zu schinden, „Ohne sie?“
„Vyvyan, konzentrier dich.“
Rubin könnte Lehrer werden. Ganz ehrlich, zumindest den Für solche
Fragen haben wir jetzt keine Zeit, junger Mann-Blick hatte er schon perfekt
drauf und das, obwohl wir gleich alt waren.
Ich seufzte, murmelte den Satz noch einmal vor mich hin und antwortete
dann: „Davor?“
Er nickte, so falsch konnte es also nicht gewesen sein. „Und bei ‚Megan
sagte mir, ihre Eltern wären heute nach Amerika geflogen‘?“
War das nicht dasselbe?
… Oder … doch nicht?
Wenn nicht, wo war denn da der Unterschied?
„Auch … davor …?“, sagte ich schließlich und hoffte, dass er nicht nach
einer Begründung verlangte, denn die hätte ich ihm nie und nimmer liefern
können.
„Wie sieht es dann bei ‚Megan sagte mir, ihre Eltern gingen heute nach
Amerika‘ aus?“
„Verdammt!“, rief ich, drehte mich zu ihm um und bemerkte, dass ich aus
dieser Position heraus zu ihm hochsehen musste – was mir natürlich
gar nicht gefiel, noch weniger, weil ich mich freiwillig auf den Boden gesetzt
und den Höhenunterschied bis jetzt gar nicht bemerkt hatte. Aber sich jetzt
plötzlich aufs Sofa zu setzen kam mir kindisch vor – und ich wollte
vor Rubin nicht kindisch sein, schließlich fand er so schon genug Gründe, um
mich zu belächeln.
„Ich dachte, du wolltest mir Englisch beibringen und nicht zeigen,
wie scheiße mein Deutsch ist?!“
Rubin grinste mich von oben herab an – aber vielleicht bildete
ich mir das ‚von oben herab‘ nur ein, denn seine Stimme klang zwar belustigt,
aber nicht spöttisch, als er antwortete.
„Ich wollte dir nur zeigen, wie unbestimmt das deutsche System
ist – und das ganz abgesehen von der Bildung der indirekten
Rede, von der wir nicht mal angefangen haben.“
„Gut, ich hab’s kapiert: Unser System ist scheiße. Und weiter?“
Sein Grinsen wurde ein bisschen breiter und eine ganze Portion
überheblicher.
„Jetzt erkläre ich dir, warum das englische System besser, klarer und vor
allem einfacher ist.“
***
„Zusammengefasst heißt das also, dass sich das Verb von der direkten zur
indirekten Rede nicht verändert, wenn der übergeordnete Satz im Präsens steht,
wenn er in der Vergangenheit steht aber schon?“
Rubin nickte; das war ein gutes Zeichen, egal, wie knapp dieses Nicken
ausfiel. „Und warum verändern sie sich?“
Mir rauchte der Kopf, obwohl er mir erst die Grundregeln erklärt hatte,
aber wenigstens hatte ich trotzdem das Gefühl, langsam das Prinzip hinter dem
Ganzen wirklich zu verstehen – in der Theorie, zumindest, denn wie’s
mit der Praxis aussah, würde sich erst noch zeigen.
„Weil der Zeitpunkt, zu dem es wiedergegeben wird, und der, zu dem es
gedacht, gesagt oder ge-was-auch-immer-t wurde, nicht übereinstimmen.“
„Richtig“, antwortete Rubin und lehnte sich nach vorne, um an mir vorbei
nach einem bestimmten Blatt zu suchen. Dass er sich dabei wegen unserer
Position über meine Schulter lehnte und seine Haare mein Ohr kitzelten, schien
er nicht einmal wahrzunehmen – im Gegensatz zu mir. Irgendetwas in
mir machte einen Hüpfer – ob es mein Magen, mein Puls oder etwas ganz
anderes gewesen war, konnte ich nicht sagen, da sich außer dem Geruchssinn plötzlich
alle anderen Sinne aus dem Staub gemachten hatten.
Zitronengras. Er – seine Haare – sein
Shampoo – roch nach Zitronengras. Ich hatte immer geglaubt, ich würde
Zitronengras nicht mögen – der Tee war absolut
scheußlich – aber ich hatte mich geirrt; anscheinend konnte ich es
doch ganz gut leiden.
Nicht gut. Was sollte das denn jetzt?
„Und wie verändert sich das Verb?“
Er suchte immer noch nach dem Blatt. Wie lange konnte es dauern, das
verdammte Ding zu finden? Und ja, ich wusste, dass es erst einige wenige
Sekunden waren, aber –
Ach, auch egal. Er war zu nah und ich behielt nun mal gerne Abstand zu
Menschen, die nicht blutsverwandt mit mir waren.
„Es geht in der Zeit eins nach hinten.“
„Und du weißt, welche Zeitform zu welcher wird, weil …?“ Seine Stimme klang
in meinen Ohren belegt, aber das bildete ich mir sicher ein. Genauso, wie ich
mir einbildete, dass die Bewegungen seiner Hand, die nun schon zum zweiten Mal
durch den Stapel blätterte, fahrig aussahen.
„Weil ich mir deine Beispielsätze merken werde“, antwortete ich einen Tick
zu leise.
Das mit den Beispielsätzen klang vielleicht banal, war es aber nicht.
Natürlich hatten mir auch schon andere gesagt, ich solle mir Beispielsätze
merken und dann davon ableiten, aber das Problem war, dass ich schon mit dem
Merken Mühe hatte, weil sie entweder total willkürlich und zusammenhangslos,
oder aber sich viel zu ähnlich waren, so dass ich alles durcheinander brachte.
Rubin aber hatte es geschafft, die Veränderung von simple present zu simple
past, von present perfect zu past perfect und so weiter in
Sätzen zu zeigen, die miteinander verbunden waren, die eine kleine Geschichte
erzählten, und zwar einer Geschichte, die beim simple present und Anna,
die in unserer Klasse in der ersten Reihe am Fenster saß, anfing, sich durch
die Zeiten und die Pulte am Fenster zog und schließlich beim second
conditional mit Rubin endete. Das war super, denn so konnte ich die Sätze
auswendig lernen, ohne mich um die Namen der Zeitformen kümmern zu müssen, denn
wenn ich vergaß, welche Zeit aus einer bestimmten wurde, musste ich nur
schauen, wer neben der Person mit eben dieser Zeit saß und dessen Satz in
meinem Kopf aufsagen.
Für diesen Einfall hätte ich Rubin knutschen können – im
sprichwörtlichen Sinne, versteht sich. Ich wollte auch gar nicht wissen, wie
lange er an der Geschichte herumgeknobelt hatte.
„Genau.“ Rubin hatte das Blatt gefunden und drehte sich zu mir. „Bereit für
ein bisschen Praxis?“
Dass er das Blatt gefunden hatte, fand ich super; nur das mit dem Umdrehen
war keine so brillante Idee, da er sowieso schon zu nah gewesen war und jetzt …
jetzt konnte ich seine Wimpern zählen.
Es waren verdammt viele.
Ich versuchte zu schlucken, aber es funktionierte aus mir unerfindlichen
Gründen nicht, also ließ ich es und nickte und versuchte das Kribbeln im Nacken
zu ignorieren, das die Wärme, der ich plötzlich wieder gewahr wurde, erzeugte.
Praxis und ausprobieren, das hörte sich doch gut an.
In indirekter Rede, natürlich.
Rubin rührte sich nicht. Kein bisschen, auch wenn ich das Gefühl hatte,
dass er sich bewegen wollte.
Ich zwang mich, den Blick von ihm ab und auf das Blatt hinzuwenden und
antwortete endlich:
„Ja, das sollte ich besser, damit ich ein bisschen Übung bekomme.“ Ich nahm
ihm das Blatt aus der Hand und konnte spüren, wie sich mir die Wärme entzog,
als er sich wieder aufsetzte.
„Gut.“ Er räusperte sich leise. „Wenn du Fragen hast oder irgendwo nicht
weiterkommst, frag einfach; es ist schließlich kein Test.“
Nein, die Aufgaben vielleicht nicht, aber es kam mir vor, als sei der ganze
Nachmittag ein einziger Test und ich verstand nicht, warum. Warum war die
Atmosphäre plötzlich so geladen und warum hatte ich das Gefühl, Rubin müsste
sich zurückhalten, obwohl wir doch überraschend gut auskamen?
Ich wusste die Antwort, eigentlich, aber ich wollte sie nicht wissen. Und
bevor sie sich in den Vordergrund drängen konnte, schob ich alle Gedanken
gewaltsam beiseite und wandte mich dem Blatt zu, das nun zuoberst auf den
andern lag.
***
Ich kam nicht weit.
Ich hatte zwar das Grundprinzip verstanden, aber das Problem im Moment war,
dass ich mich nicht konzentrieren konnte – und das lag weder am Stoff
noch am Lehrer, sondern daran, dass mein Mund nichts zu tun
hatte – und wer das jetzt falsch versteht, kriegt eins auf’n
Hinterkopf! Aber, da war eben diese kleine, unwichtige Tatsache, dass ich nicht
lernen konnte, wenn ich dieses eine, kleine, süße Ding nicht hatte. Trotzdem
konnte ich mich nicht dazu bringen aufzustehen. Der Gedanke, dass Rubin von
meinem Tick erfahren könnte, war mir peinlich – obwohl es mir ja
eigentlich hätte egal sein sollen. Ich meine, wen interessierte schon, was
Rubin von mir dachte? Eben!
„Vyvy?“
Kittys Stimme holte mich aus meinem Grübeln darüber, wie ich ohne Lutscher
etwas Anständiges produzieren sollte. Ich stand auf und ging zur Tür, während
ich mir selbst sagte, dass ich das hier auch als Extrem-Entzug sehen konnte.
Wenn ich mehrere Stunden Englisch ohne Lutscher überlebte, würde ich alles ohne
überleben.
„Miss Kitty, was ist?“, fragte ich, als ich die Tür öffnete, vor der Kitty
ganz entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit brav gewartet hatte. Es fühlte sich
seltsam an, so in der Tür zu stehen. Ich wusste, dass sie sich Mühe gab, nicht
einfach hereinzustürzen, weil ich Besuch hatte und dass das eigentlich etwas
Gutes war, aber so richtig darüber freuen konnte ich mich trotzdem nicht. Ich
mochte ihre freche Ader.
„Wie läuft’s?“
Ich seufzte.
„Ganz okay.“
Sie nickte, schlang ihre Arme um mich und drückte mich einmal fest. Ich
konnte nicht anders, ich musste die Umarmung einfach erwidern.
„Wir fahren jetzt zum Weihnachtsmarkt“, sagte Kitty, als sie mich losließ,
„Soll ich dir Zuckerwatte mitbringen?“
„Ich bestehe darauf.“
„Und Rubin?“
Ich zuckte mit den Schultern, lehnte mich ein wenig zurück und sah zu ihm.
Er hatte sich keinen Zentimeter von seinem Platz entfernt.
„Willst du Zuckerwatte?“
Da war es wieder, das spöttische Anheben der rechten Augenbraue, das ich an
diesem Nachmittag schon fast vermisst hatte – nur, dass man so etwas
schwerlich vermissen konnte.
„Zuckerwatte?“
„Ja“, gab ich leicht genervt zurück, „vom Weihnachtsmarkt – du
weißt schon, das rosa Zeug, das so süß ist, dass es wehtut, und das an den
Händen klebt und von dem man trotzdem nicht genug bekommen kann.“
„Ach, die Zuckerwatte …“ Er überlegte einen Moment und nickte dann.
„Wenn es nichts ausmacht, dann hätte ich gerne welche, ja.“
Ich nickte und wandte mich wieder an Kitty. „Zweimal bitte, Kitty-Maus.“
Sie grinste breit. „Oki-doki! Bis nachher.“ Sie wollte schon weggehen,
drehte sich dann aber noch einmal um. „Ach ja: Mum hat euch Sandwichs und so
gemacht, falls ihr Hunger bekommt. Sie sind in der Küche.“ Damit verschwand sie
die Treppe hinunter und ich hörte noch die Abschiedsrufe des Restes meiner
Familie, bevor ich die Tür wieder schloss und zum Sofa
zurückging – nicht, ohne einen kleinen Abstecher zu meinem
Schreibtisch zu machen und ganz unauffällig einen Lutscher zu nehmen; die waren
schließlich auch nicht schlimmer als Zuckerwatte.
Ich setzte mich wieder hin, nach kurzem Zögern an dieselbe Stelle wie
zuvor. Eigentlich hätte ich mich lieber ein wenig weggesetzt, nur ein ganz
klein bisschen, aber da ich selbst sagen musste, dass das lächerlich gewesen
wäre, ließ ich es. Dann nahm ich einen Schluck Cola und füllte unsere Gläser
wieder auf. Und danach nahm ich einen Keks und aß ihn langsam und
genüsslich – vor allem langsam. Ich fand, so eine ganz kleine,
winzige Pause hatte ich verdient.
Da ich aber wusste, dass ich, je schneller ich anfing, umso schneller
fertig sein würde, beließ ich es bei dem einen Keks und nahm dann mit einem
leisen Seufzen den Stift wieder auf.
***
Wann genau ich den Lutscher ausgepackt hatte, wusste ich nicht, das geschah
schon längst automatisch. Ich konnte auch nicht sagen, wann Rubin, der sich
wieder nach vorne gebeugt hatte, sich dabei mit einem Ellenbogen auf dem Knie
abstützte und die andere Hand dazu benutzte, auf Wörter, Abschnitte oder
Blätter zu zeigen, während er mir Dinge, wie, warum meine Antwort
falsch – oder gerade richtig – war, oder kleine
grammatische Kniffs erklärte, still wurde. Ich war nun nämlich wieder völlig
konzentriert bei der Sache und die Tatsache, dass ich immer mehr Aufgaben
richtig löste, spornte mich noch mehr an. Aber irgendwann begann ich, seinen
Blick auf mir zu spüren. Erst tat ich es als Einbildung ab, dann sagte ich mir,
dass das normal war, immerhin sah er mir beim Lösen der Übungen zu, aber
dennoch nahm ich ihn immer stärker wahr, bis ich schließlich nervös wurde und
meine Konzentration förmlich den Bach hinunter ging.
Und wieder roch es nach Zitronengras.
Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu – natürlich nur
um mich zu vergewissern, ob er mich wirklich ansah – und tatsächlich:
Sein Blick hing fest an meinem Mund, in dem ich, wie mir erst jetzt bewusst
wurde, den Lutscher unaufhörlich hin und her schob, drehte und wendete. Rubin
schien weder zu bemerken, dass ich aufgehört hatte zu schreiben, noch, dass ich
meinen Kopf zu ihm drehte. In meinem Nacken kribbelte es, diesmal noch heftiger
als zuvor und ich wurde nun wirklich unruhig. Aber das zu zeigen wagte ich
nicht. Dafür erkannte ich, dass sein Atem schneller ging; das war nicht
gut, vor allem nicht für meine Nerven.
Als Rubin auch nicht mitbekam, dass ich ihn mittlerweile direkt ansah, nahm
ich den Lolli aus dem Mund.
„Sorry, willst du auch einen?“, fragte ich betont ruhig und neigte den Kopf
ein kleines Stück nach rechts, „Die sind gut. Kirschgeschmack.“
Endlich sah Rubin auf, in meine Augen. Einen Moment lang blieb sein Blick
undeutbar und intensiv, dann schlich sich ein kleines Grinsen auf seine Lippen.
„Sure, Vyvyan“, antwortete er und nahm mir den Lutscher aus
der Hand, bevor ich reagieren konnte. Ungläubig sah ich ihm dabei zu, wie er
ihn in seinem eigenen Mund verschwinden ließ und den Stil zwischen den Fingern
rollte, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, bevor das Grinsen sich
vertiefte. „Du hast Recht, er schmeckt wirklich gut.“
Was zum …!
Ich wusste nicht, ob ich schockiert, wütend oder peinlich berührt sein
sollte und so entschloss ich mich, aufzustehen und mir als erstes einen neuen
Lolli zu holen.
Hätte ich nicht gewusst, dass Rubin eine Freundin hatte – eine hübsche,
nette Freundin – dann hätte ich das eben wahrscheinlich falsch
interpretiert – als Anmache nämlich. Als verdammt plumpe Anmache noch
dazu. Da ich Megan aber persönlich kennen gelernt hatte, konnte ich es als
Rubins etwas seltsame Art, sich über mich lustig zu machen abtun – oder
zumindest sagte ich mir das. Mehrmals.
„Macht es dir etwas aus, wenn wir eine Pause machen? Ich kann nicht mehr“,
meinte ich, als ich zurückging. Er schüttelte den Kopf, also setzte ich mich
neben ihn aufs Sofa und griff nach meinem Glas.
Ich brauchte jetzt etwas zu Trinken.
„Sind Megans Eltern wirklich nach Amerika gegangen?“, fragte ich, weil mir
die Stille zu … nun, still wurde.
„Ja“, erwiderte er, „zusammen mit meinen, für zwei Wochen. Unsere Familien
feiern Weihnachten immer in ihrem Heimatort.“ Nach einem Moment fügte er hinzu:
„Deshalb konntest du heute auch nicht zu mir kommen – meine Mutter
hat schreckliche Flugangst und rennt am Abflugtag wie eine Wilde durchs ganze
Haus.“
Ich grinste. Dass jemand, der so nah mit Rubin verwandt war, hysterisch wurde,
war irgendwie schwer vorstellbar. Andererseits war es bis jetzt auch schwer
vorstellbar gewesen, dass Rubin von sich aus mehr sagte als
nötig – und genau das hatte er eben getan. Er schien wirklich einen
guten Tag zu haben.
Abgesehen von der Sache mit dem Lolli, versteht sich.
„Und warum seid ihr nicht mitgegangen?“
Er antwortete nicht gleich, sondern griff seinerseits nach seinem Glas.
„Megan wollte nicht“, sagte er nachdem er getrunken hatte, „und da ihre
Eltern sie nicht alleine hier gelassen hätten, bin ich auch dageblieben. Ich
hatte dieses Jahr sowieso keine große Lust zu gehen.“
Es entstand eine Pause, in der ich an einem Keks
knabberte – nicht, weil ich ihn unbedingt essen wollte, aber es war
besser als nichts zu tun.
„Hm, meine Eltern hätten keine Probleme damit, mich zwei oder drei Wochen
alleine zu lassen – oder Sue, als sie in unserem Alter war.“
Rubin zuckte mit den Schultern.
„Megans Eltern sind ziemlich vorsichtig und streng.“
„Und da lassen sie Megan in deiner Obhut?!“
Ich starrte ihn an und vergaß einen Moment lang den Keks in meiner Hand.
Megan bei Rubin zu lassen kam mir vor, als hätte die Mutter Rotkäppchen gleich
direkt zum Wolf geschickt.
Rubins Augen funkelten. „Ich weiß nicht, was du für einen Eindruck von mir
hast, Vyvyan, aber sie kennen mich seit Kindertagen und vertrauen mir.“
Dann zuckte er mit den Schultern und fügte etwas leiser und langsamer hinzu:
„Außerdem sind wir in ihren Augen eh so gut wie verlobt.“
Er sah mich an und wartete auf meine Reaktion, die, zugegebenermaßen, etwas
spät kam.
„Verlobt?!“
„Wenn es nach unseren Eltern ginge, wären wir es spätestens in ein paar
Jahren.“
„Und wenn es nach euch geht?“
„Bitte, wer möchte nicht seine Sandkastenfreundin heiraten?“, fragte
er in dem für ihn typischen Ton, bevor er mit den Schultern zuckte. „Allerdings
hat es Vorteile, wenn sie so denken. Dass wir beide über Weihnachten
hierbleiben können, ist einer davon.“
„Hm …“
Dazu fiel mir nichts ein, jedenfalls nichts, was angebracht
war – immerhin kannte ich Rubin nicht gut genug, um mich in seine
Familienangelegenheiten einzumischen. Aber eines wusste ich: Ich hätte mich
gewehrt, wenn meine Eltern sich in so etwas verrannt hätten, und war froh, dass
es heutzutage akzeptiert wurde, wenn man ewig Junggeselle blieb. Unter uns
gesagt war es nämlich sehr unwahrscheinlich, dass ich jemals heiraten würde.
Nicht, weil ich etwas gegen das Konzept an sich hatte; ich war mir sogar
sicher, dass es mit dem richtigen Menschen ganz wundervoll sein
konnte – das sah ich bei meinen Eltern, auch wenn auch bei ihnen
nicht alles Sonnenschein und Erdbeereis war – aber diese Person zu
finden war meiner Meinung nach nicht nur verdammt schwierig, sondern zu einem
großen Teil auch noch Glückssache. Und jemanden zu heiraten, den ich nicht
mindestens so sehr liebte wie meine Familie, das stellte ich mir wie die Hölle
auf Erden vor – zumindest zu Hause, in meinen eigenen vier Wänden
wollte ich ich selbst sein können und wissen, dass genau dieses Ich
zurückgeliebt wurde. Ein ziemlich alltäglicher Wunsch vielleicht, aber wer
liebte schon jemanden, dem außer seiner Familie alle egal waren?
Wie gesagt: Es war einfacher, zu lieben, wenn man wusste, dass man
zurückgeliebt wurde. Das Gegenteil stimmte genauso: Es war schwierig, zu
lieben, wenn man wusste, dass man nicht zurückgeliebt wurde; das erforderte
eine Art von Mut, die die meisten nicht hatten. Und ich konnte es ihnen nicht
verübeln, denn ich besaß ihn auch nicht.
Ganz abgesehen davon sollte man den Ehepartner nicht nur lieben, sondern
auch begehren und das wäre dann schon mein zweites Problem geworden.
Rubin ließ sich nach hinten gegen die Lehne fallen und mir wurde bewusst,
dass er, als ich mich vorhin hingesetzt hatte, nicht weggerückt war; er saß
immer noch in der Mitte und da es nur ein Zweiersofa war, hieß das, dass er nah
war. So nah, dass ich glaubte, ihn trotz der Distanz spüren zu können.
Ich hatte Fee die Wahrheit gesagt, als ich meinte, dass ich auch nur ein
hormongesteuerter Teenager wäre. Das war ja auch nicht weiter schlimm, denn das
waren alle in meinem Alter. Es war vielleicht peinlich, aber ungefährlich. Das
Problem war nur, dass mein Körper sich die ungünstigsten Zeitpunkte auswählte,
um verrückt zu spielen. Hätte er das bei Fee getan, wäre ich vielleicht ein
wenig peinlich berührt gewesen, aber nicht so sehr, dass ich es nicht hätte
überspielen können. Nur, bei Fee hatte ich mich unter
Kontrolle – alles andere wäre ja auch zu einfach gewesen.
Nein, mein Körper war gemeinhin der Ansicht, dass der beste Zeitpunkt, um
den Hormonen Auslauf zu gewähren, immer dann war, wenn es keinen Grund dazu
gab. Wie in diesem Moment, zum Beispiel.
Gut, sicher, ich saß dicht neben einer schlanken Blondine, die sogar meine
Freundin als gutaussehend bezeichnet hatte – einer Blondine, die eben
an meinem Lolli gelut-
Okay, das hörte sich falsch an. Ich korrigierte: einer Blondine, die mir
eben den Lolli geklaut hatte – das klang zwar kindisch, aber besser
kindisch als versaut.
Das Problem an dieser Blondine war natürlich, dass ihr oben fehlte, was sie
unten –
Stopp! Falsche Formulierung!
Bilder – Kopfkino!
…
Ganz ruhig. Es war alles in Ordnung. Nur eine der Peinlichkeiten, die jeder
Mensch mindestens einmal in seinem Leben erleben musste. Erleben war auch
akzeptabel, dass sie publik wurde aber nicht.
Kurz und bündig also: Das Problem war, dass neben mir keine Blondine,
sondern ein Blondeur saß. Und wenn der nicht mitbekommen sollte, dass ich
gerade anfing, mir einzubilden, dass der leichte Luftzug, den ich auf der
Schulter spürte, von seinem Atem herkam, dann musste ich schleunigst wieder
herunterkommen und meinem Körper klarmachen, dass jetzt kein günstiger
Augenblick für so was war, auch wenn wir alleine in meinem Zimmer in
unserem leeren Haus saßen.
Bei Eros, was sollte das auch?!
Rubin mochte mich nicht, ich mochte Rubin nicht, da waren wir uns
einig – und das bedeutete, dass es wirklich keinen Grund gab,
nervös zu werden. Wäre ich in ihn verliebt gewesen, hätte ich ihn zumindest ein
bisschen anziehend gefunden, dann hätte ich es verstanden, irgendwie, aber so?
Bei einem Kerl, dessen Persönlichkeit so sehr im Eimer war, dass sie jegliche
mögliche Anziehungskraft von Anfang an unmöglich machte? Das war nicht
verständlich, sondern notgeil – was wiederum sehr wohl verständlich
war; Fee war noch Jungfrau. Nur: Wann war es mit mir so schlimm geworden, dass
eine andere Person in greifbarer Nähe und ein leeres Haus ausreichten, um
meinen Puls zu beschleunigen?
Eigentlich hatte ich mir etwas mehr Anspruch zugetraut.
Wenn es wenigstens Kim mit seinem tollen Rücken gewesen wäre …
Obwohl, nein, lieber doch nicht. Kim war zwar eher ruhig und Single, aber
ich glaubte nicht, dass er besonders gut auf Annäherungsversuche von Männern
reagieren würde. Er schien eher der Typ zu sein, der alles, was auch nur
entfernt mit Homosexualität zu tun hatte, weit von sich stieß – außer
natürlich, das Etwas war weiblich. Aber Lesben waren ja auch eine ganz legitime
Männerfantasie.
Die ganze Zeit über, in der mir diese Dinge durch den Kopf gingen, schwieg
Rubin. Und ich? Ich sowieso. Ich hatte genug damit zu tun, meine Atmung davon
abzuhalten, sich meinem Puls anzupassen.
Und ja, ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich plötzlich so ein
Aufheben um seine Nähe machte, obwohl wir in der Schule doch tagtäglich
nebeneinander saßen, aber das half mir nicht dabei, mich zu entspannen. Ich
hatte schon wieder das Gefühl, dass er mich ansah, aber ich traute mich nicht,
mich zu ihm umzudrehen und es zu überprüfen. Einerseits, weil ich nicht wollte,
dass er etwas bemerkte, andererseits, weil ein kleiner Teil von mir
dachte – flüsterte – fürchtete, dass es nicht ganz so
eingebildet war, wie ich mir einredete. Das war vielleicht das, was mir am
meisten Angst machte – dass es nicht nur an meinem Hormonhaushalt
lag. Ich würde ihn sicher nicht anspringen, da war ich mir sicher, aber was,
wenn er mich …? Das mit dem Lutscher war schon ziemlich …
Nein, halt, stillgestanden!
Rubin wollte niemanden bespringen, außer seine Freundin – seine
so-gut-wie-Verlobte – und ich, ich wollte das auch nicht. Nicht mit
ihm.
Die Stille wurde mit jeder Sekunde angespannter, zumindest kam es mir so
vor, und so langsam hielt ich es fast nicht mehr auf dem Sofa aus. Trotzdem,
ich konnte mich nicht rühren und saß da, als hätte mich Medusas Blick
getroffen.
Konnte Rubin nicht etwas sagen? Irgend etwas Unverfängliches, Banales, in
seinem überheblichen und desinteressierten Ton, den ich aus der Schule so gut
kannte? Ich schloss die Augen und flehte ihn still an, aber er erhörte mich
nicht.
Wie auch, er wusste ja noch nicht einmal, dass ich ihn um etwas bat.
Die Blicke, die ich mir – wie ich immer wieder im Kopf
wiederholte – nur einbildete, wurden intensiver, das Gefühl, wie sie
über meinen Rücken tasteten, glich schon beinahe Fingern, die langsam,
unerträglich langsam hinaufwanderten. So ging das nicht weiter, ich musste
etwas tun – und in dem Moment, als ich glaubte, wirklich eine
Berührung, ein leichtes Streifen meiner Haare zu spüren, schoss ich auf.
„Ich – ich hole die Sandwichs“, brachte ich hervor und hasste
mich für das verräterische Stammeln, „Hast du Hunger? Wenn wir schon Pause
machen, dann sollten wir sie nutzen.“ Ich drehte mich immer noch nicht zu ihm
um, denn ich war mir sicher, dass ich dann kein Wort herausgebracht hätte; die
Sätze waren ja so schon in der falschen Reihenfolge herausgekommen. Scheiße,
war das peinlich. Ich hoffte, er wartete mit dem Lachen, bis ich außer Hörweite
war.
Ich ging mit raschen Schritten zur Tür, mir wohl bewusst, dass ich gerade
flüchtete, aber ich konnte nicht anders. Ich wusste nicht, warum ich plötzlich
so überreagierte, denn eigentlich war nichts geschehen – natürlich
nicht, was sollte schon passieren?! – aber ich war mir sicher, mich
in diesem Zimmer nicht beruhigen zu können. Und wenn ich da blieb und mich noch
mehr in irgendwelche Hirngespinste hineinsteigerte, würde es nur noch
peinlicher werden, als es sowieso schon war.
Alles, was ich brauchte, so sagte ich mir, waren ein paar Minuten alleine,
um wieder runterzukommen.
Wieder herunterkommen, das hörte sich gut an. Fantastisch. Fabelhaft.
Ich griff nach der Klinke, als wäre sie meine Rettung, die Lösung all
meiner Probleme, und zog die Tür auf, als eine Hand rechts an mir
vorbeischnellte und sie wieder zudrückte.
Rubin stand hinter mir. Ganz nah. Ich konnte die Wärme seines Körpers an
meinem Rücken und seinen Atem an meiner Halsbeuge spüren – diesmal
garantiert nicht eingebildet – obwohl er mich nicht berührte. Mein
Nacken kribbelte so stark, dass es fast nicht auszuhalten war.
„Stay“, sagte er nur wenig lauter als ein Flüstern und brachte mein
Blut dazu, im Dreivierteltakt durch meinen Körper zu schießen, „Ich will
nichts.“
Finger an meinem Hals, die meine Haare zur Seite schoben.
„Zumindest keine Sandwichs.“
Die Finger wurden von Lippen abgelöst.
*********
„Du hast was?!“
„Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Mein Verstand muss
kurzzeitig ausgesetzt haben. Und dann war’s zu spät.“
Megan ächzte. „Oh, honey … von Selbstkontrolle hast du auch noch nie was
gehört, oder?“
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