Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 27. November 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 05:


Der nächste Morgen war seltsam. Einerseits begann er wie jeder andere dreiundzwanzigste Dezember bei uns, und das hieß: Er startete um acht Uhr mit einer riesigen Portion Eierkuchen mit Schokostückchen, wahlweise mit Honig, Marmelade, Schokocreme, Rohzucker oder Ahornsirup bestrichen, und dazu literweise Kakao, Tee, O-Saft oder Cola, je nach Wunsch. Normalerweise mochte es Mum nicht, wenn wir uns mit Zucker vollstopften, deshalb war das ein seltenes Frühstücksvergnügen in meiner Familie. Damit Mum nicht die ganze Arbeit alleine machen musste, standen wir alle abwechselnd am Herd und nachdem die erste Ladung gegessen war, machte sich jeder selber neue, wenn er noch welche wollte. Das war die beste Lösung, denn wenn wir den ganzen Teig gleich zu Anfang verarbeitet hätten, wären die Dinger spätestens nach wenigen nur noch lauwarm gewesen – und mal ehrlich: Lauwarme oder gar kalte Eierkuchen schmeckten scheiße. Genau das wurde mir immer wieder bestätigt, wenn mir einer auf dem Teller kalt wurde, während ich zu sehr in unsere Unterhaltung vertieft war – Kitty amüsierte sich dann köstlich über mein Gesicht, wenn ich es doch noch hinunterwürgte, aber sie selber war nicht weniger wählerisch – sie konnte nur besser essen, zuhören und reden zur gleichen Zeit – Frauen und ihr Multitasking, eben.
Das Frühstück zog sich auf diese Weise bis zehn oder halb elf hin und dann teilten wir uns auf: Die eine Hälfte – normalerweise Pa und Sue – spülten das Geschirr und räumten die Küche auf, während Mum, Kitty und ich in den Keller gingen, den Weihnachtsschmuck heraussuchten und dann Kiste für Kiste nach oben trugen – und das ging mindestens ebenso lange wie das Geschirrspülen, denn wir hatten mehr als ein Weihnachtsschmuckset und jedes Jahr mussten alle ins Wohnzimmer, damit man am besten bestimmen konnte, wie und in welchen Farben dieses Jahr dekoriert werden sollte. Ich liebte es, in den Keller zu gehen, denn es war jedes Mal wie eine Entdeckungsreise, ein kleines Abenteuer, dessen versteckter Schatz aus unseren schönsten Familienerinnerungen bestand.
Wenn die Küche fertig und das Wohnzimmer überstellt war, rumorten wir meistens noch etwas in den Schachteln, suchten schon einmal unsere liebsten Kugeln und Figürchen heraus und vertrieben uns die Zeit mit reden und suchen und uns entspannen, bis es am Nachmittag auf den Weihnachtsmarkt ging und es Zuckerwatte und Pfefferkuchen und – für alle außer Kitty – auch Glühwein gab. Am Abend wurde dann der Baum ins Haus geholt und geschmückt, was meist in der einen oder anderen Auseinandersetzung endete, da unsere Geschmäcker doch recht verschieden waren. Trotzdem war der dreiundzwanzigste Dezember meine persönliche Vorstellung von Harmonie und mir sogar fast lieber als Weihnachten selbst – auch wenn ich natürlich nichts gegen Geschenke einzuwenden hatte.
Das war ‚einerseits‘. Andererseits aber wusste ich, dass dieser dreiundzwanzigste Dezember nicht wie die anderen werden würde, denn heute konnte ich mich nicht im Schoß meiner Familie verstecken, und es würde auch weder Zuckerwatte noch Glühwein für mich geben und der Pfefferkuchen, der würde höchstens aus der hauseigenen Keksdose kommen. Heute musste ich den mir liebsten Nachmittag im Jahr mit Rubin verbringen.
Und Englisch.
Mit Englisch und Rubin und seinem Amerikanisch.

Kein Wunder war meine Laune heute nicht ganz so gut wie sonst immer und sie sank weiter mit dem Fortschreiten des Morgens, so dass ich mich, nachdem wir uns ein wenig durch den Weihnachtsschmuck gewühlt hatten, auf mein Zimmer verabschiedete. Pa drückte mir kurz die Schulter, als ich an ihm vorbei das Zimmer verließ. Er wusste genauso gut wie die anderen drei, wie wichtig mir dieser Tag war und hatte Mitgefühl – aber das brachte mir nichts, genauso wenig wie es etwas gebracht hätte zu jammern, denn ich war selbst Schuld. Die Verantwortung für meine schlechte Note trug ich ganz allein und eigentlich musste ich Rubin dankbar sein, dass er sich bereiterklärt hatte mir zu helfen.
Ja, eben, eigentlich. Im Moment war es mir einfach nicht möglich, diese Dankbarkeit zu fühlen und bei dem Gedanken, sie auszudrücken, lief es mir kalt den Rücken hinunter.
Also verkroch ich mich in meinem Zimmer, versuchte zu lesen, was aber nicht klappte, fing an aufzuräumen und brach wieder ab (na und, dann war mein Zimmer eben ein wenig unordentlich – für Rubin musste ich mir sicher keine Mühe geben!) und tigerte schließlich von einem Zimmerende zum anderen und wieder zurück.
Als es um zehn Minuten vor zwei an der Tür klingelte, hielt ich inne, schüttelte aber den Kopf und verwarf die Idee, dass es Rubin sein könnte. Rubin kam nie zu früh.
Trotzdem öffnete ich die Zimmertür und trat auf den Flur, um an der Treppe hinunter auf die Haustür sehen zu können, auf die Kitty gerade zurannte und sie dann mit viel Schwung öffnete.
Ich hatte mich geirrt; anscheinend kam er nur in der Schule nie zu früh.
Du gibst Vyvy Nachhilfe?“, fragte Kitty und vergaß dabei, ihn hereinzulassen.
„Hat er das nicht erzählt?“ Rubin sah darüber gar nicht überrascht aus und fügte dann – war das ein Lächeln?! – hinzu: „Schön, dich wieder zu sehen, Catherine.“
„Komm rein“, sagte ich laut genug, dass er es hörte und ging die Treppe hinunter. Ich versuchte, meinen Unmut nicht zu zeigen, aber anscheinend gelang es mir nicht, denn Kitty musterte mich. Sie war erst neun, aber nicht dumm oder begriffsstutzig, auch wenn ich das manchmal – wirklich nur manchmal, ganz selten, aber dafür in genau diesem Moment – fast vorgezogen hätte. Sie sah noch einmal zu Rubin, dann zu mir und ich konnte sehen, wie ihr die Schuppen von den Augen fielen. Etwas hatte sie gestört, etwas an meinem Verhalten, an meiner schlechten Laune – und nun hatte sie bemerkt, dass es war, dass man mir meine schlechte Laune ansah. Letztes Mal war Megan dabei gewesen und ich hatte mich beherrscht, aber diesmal klappte das nicht, auch wenn ich mir sagte, dass ich es versuchen sollte, weil Rubin immerhin gerade seine Freizeit opferte.
Pech nur, dass mir seine Freizeit am Arsch vorbei ging – zumindest, solange er sie nicht mit mir verbrachte.
„Hallo, Vyvyan“, erwiderte er süffisant und ich rollte mit den Augen.
„Hallo.“
„Vyvy“, begann Kitty, als ich unten ankam, „mögen wir ihn?“ 
Nein. Wir taten vieles, aber das gehörte sicher nicht dazu.
„Wir akzeptieren ihn gezwungenermaßen“, antwortete ich, schob sie sanft von der Tür weg und ließ ihn herein, „danke fürs Türöffnen, Kitty; du kannst wieder ins Wohnzimmer gehen – und pass auf, dass Sue die silbernen Weihnachtskugeln nicht verschwinden lässt, ja? Ich will keinen weiß-rosaroten Weihnachtsschmuck!“
Sie zögerte eine Sekunde, dann grinste sie mich an und stemmte die Hände in die Hüften. „Keine Bange, ich auch nicht! Ich werd unsere mit meinem Leben verteidigen. Dieses Jahr gehört der Baum uns!“ Damit rannte sie weg und kurz darauf hörte man sie schreien: „Halt, stopp! Pa, was hast du da unters Sofa geschoben! Rück die Kugeln raus!“
Ich schmunzelte und schloss dann endlich die Haustür – unsere Heizung würde es mir danken – bevor ich Rubins Jacke entgegennahm und aufhängte. Da er die Schuhe schon ausgezogen hatte, führte ich ihn die Stufen hoch.
„Mein Zimmer – mein Sofa.“ Ich zeigte auf die weiche Zweiercouch, die ich schon seit Jahren mein Eigen nannte und deren Überzug meine Mum alle paar Jahre wechselte, damit sie auch schön weiß blieb. „Mach’s dir bequem. Was willst du trinken? Wir haben Kaffee, Kakao, O-Saft, Apfelsaft, Cola, Bier, Tee, Milch und Wasser.“
„Eine Cola wäre nett“, antwortete Rubin, ließ seine Tasche neben das Sofa fallen und zog sich die Handschuhe aus, bevor er sich langsam aus dem Schal wickelte.
Ich nickte. „Bin gleich wieder da.“
Und genau so, wie ich mich schon über Sandwichs und ihre schnelle Zubereitungszeit geärgert habe, ärgerte ich mich diesmal über Cola; Kaffee hätte ich  wenigstens noch machen müssen, aber bei Cola konnte ich einfach eine Flasche und zwei Gläser nehmen und wieder hinaufgehen.
Ich wollte nicht hinauf; lieber ließ ich Rubin in meinem Zimmer alleine, als da wieder hinaufzugehen – mein Zimmer war sowieso nicht besonders interessant, da konnte er nichts anrichten. Aber auch wenn die Memme in mir sich am liebsten vor dem blöden Ami mit seinem verfluchten Englisch versteckt hätte, ging ich mit erhobenem Kopf wieder zurück – gleich nachdem ich einen Teller mit Keksen gefüllt hatte – Kekse, in deren Auswahl ich erst einige Minuten investieren musste, versteht sich.

Als ich das Zimmer betrat, stand Rubin vor meinem Bücherregal, den Schal noch in den Händen.
„Ziemlich gemischt“, sagte er und drehte sich zu mir.
„Ich mag Abwechslung und viele davon habe ich geschenkt bekommen.“ Ich deutete ein Schulterzucken an – mehr ging nicht, da ich weder die Kekse noch die Gläser auf dem Teppichboden verteilen wollte – und ging zum Tischchen vor dem Sofa, um alles abzustellen, was mit der Colaflasche unterm Arm nicht ganz so einfach war. Rubin, ganz der Gentleman, der er nicht war, nahm mir die Flasche ab, bevor sie herunterfallen konnte.
„Wollen wir anfangen?“
Er nickte, machte es sich auf dem Sofa bequem und ich nahm mein Schreibzeug vom Pult, bevor ich mich auf den Boden zwischen dem Sofa und Tischchen hinsetzte. Als ich mich zu ihm umdrehte, um ihm die Mappe mit den bisherigen Klausuren bei Herrn Kirsten zu geben, bemerkte ich seinen Blick.
„So ist’s bequemer zum Schreiben“, beantwortete ich die Frage, bevor er sie stellen konnte, und drückte ihm die pastellgrüne Mappe in die Hand.
Ich hasste Pastellgrün; es musste eine von Sue sein, denn sie hatte einen etwas fragwürdigen Geschmack, wenn es um Farben ging. Kitty hingegen kam ganz nach mir, zum Glück.
Rubin erwiderte nichts, sondern nahm es mit einem kurzen Nicken entgegen und legte einige Blätter vor mich hin.
„Wir beginnen mit der indirekten Rede, da du dabei Dienstag die meisten Probleme hattest.“
Ich nickte und sah mir die Blätter an. Sie waren alle mit dem Computer geschrieben worden und ordentlich strukturiert, mit einer kurzen Einführung auf der ersten Seite, dann wurde die indirekte Rede im Deutschen angerissen und mit der des Englischen verglichen und schließlich die des Englischen im Detail erklärt. Auf den restlichen Seiten standen Übungen, reichlich Übungen. Genug für eine Woche.
„Woher hast du das? Aus einem Lehrbuch?“
„Nein, ich habe das gestern zusammengestellt – es würde nicht viel bringen, dich noch einmal unser Englischbuch durchkauen zu lassen. Ich habe versucht, es mit anderen Worten zu erklären; hoffen wir, dass es so verständlicher ist.“
Okay, ich gebe es zu: Ich starrte ihn an.
Das alles hatte er gestern geschrieben? Nach der Schule?
Für mich?!
Bei Megan hätte ich es ja noch verstanden, aber das er sich so viel Mühe für jemanden gab, den er noch nicht einmal leiden konnte, war nicht überraschend, sondern fast schon verstörend. Rubin schien die Nachhilfe wirklich ernst zu nehmen.
Bevor ich wusste, was ich tat, oder mich selbst daran erinnern konnte, dass ich ihn nicht ausstehen konnte, sagte ich mit einem echten Lächeln:
„Danke.“
Rubin musterte mich einen langen Moment lang und ich dachte schon, er würde wieder seine rechte Augenbraue anheben und eine spöttische Bemerkung machen, aber dann zeigte er mir seine Grübchen – ohne Spott und Trara. Und in diesem Augenblick schien er gar nicht so unsympathisch wie sonst.
Doch natürlich musste er den falschen Eindruck gleich wieder berichtigen, denn das Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Bedanken kannst du dich heute Abend, nachdem du alle Übungen gelöst hast.“
Ich runzelte meine Stirn.
„Wie meinst du das, ‚alle‘?“
„Alle, die ich dir eben gegeben habe; die arbeiten wir heute durch. Ich gehe nicht, bevor du fertig bist.“
Alle?
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, rief ich aus und starrte auf den Papierstapel vor mir, „Dann bist du morgen noch hier!“
Rubin blieb, wie eigentlich fast immer, gelassen. „Wenn du noch mehr Zeit damit verschwendest, geschockt zu sein, könntest du damit Recht haben.“
Ich rollte meine Augen und unterdrückte nur mit Mühe ein Knurren. Ja, ich hatte den Wink mit der Freiheitsstatue verstanden; ich war ja nicht blöd, sondern hatte lediglich eine Schwäche in Englisch.
„Fangen wir an.“
Bastard.

Ich wandte mich dem obersten Blatt zu und wollte zu lesen beginnen, als Rubin herüberrutschte, es mir aus der Hand nahm und mit der Rückseite nach oben auf die anderen legte.
„Das kannst du dir später durchlesen, wenn du noch einmal unsicher wirst – es ist besser, wenn du die Überlegungen, die darauf stehen, selbst machst, Vyvyan.“
Ich nickte und hoffte irgendwo, dass er wieder wegrutschen würde – ein Stückchen zumindest, das würde schon reichen, nur soweit, dass ich seine Körperwärme nicht mehr durch die Kleider hindurch an meiner rechten Schulter spüren konnte – wobei es ja schon erstaunlich war, dass sein Körper überhaupt Wärme ausstrahlte, so unterkühlt wie er sich immer verhielt. Aber natürlich rutschte er nicht weg – warum auch, war ja nichts dabei und ich wusste sowieso nicht, warum es mir aufgefallen war – doch, schon, ich stand nämlich nicht auf Kuscheln mit Mitschülern, schon gar nicht mit Außenseitern. Aber ich würde es überleben. War ja nichts dabei.
„Gut, dann bleiben wir erst mal dort, wo du dich auskennst: im Deutschen“, begann er und ich unterdrückte ein Schnauben. Auskennen, der war gut. Würden wir bleiben, wo ich mich auskannte, dann würden wir unsere Mathebücher hervorholen. Mathe war wenigstens logisch, Mathe war nachvollziehbar und nicht so willkürlich wie – 
Weiter kam ich nicht, denn Rubin fuhr fort:
„Im Deutschen benutzt man den Konjunktiv, um indirekte Rede auszudrücken. Das ist alles andere als ideal und ziemlich verwirrend, da der Konjunktiv in erster Linie die Möglichkeit oder Nicht-Wirklichkeit von etwas und die Distanz des Sprechers dazu ausdrückt.“ Er sah wohl, dass es in meinem Kopf bereits zu rattern angefangen hatte (hey, Konjunktiv, das hatte ich schon länger nicht mehr genauer betrachtet; nicht meine Schuld also, wenn ich nicht alle Regeln auswendig konnte!) und erklärte, ein wenig freundlicher als sonst:
„Zum Beispiel: Wenn ich sage ‚Klaus war gestern krank’, dann ist das eine Tatsache und ich bin mir dessen sicher. Wenn ich aber sage ‚Klaus sagt, er sei gestern krank gewesen‘, weiß ich dann, ob er wirklich krank gewesen ist?“
Rubin erwartete offensichtlich eine Antwort und ich schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf: „Nein, es kann ja sein, dass er dich angelogen hat.“
Da! Die Mundwinkel zuckten, das war fast ein Lächeln.
„Genau. Wenn ich das also Herr Kirsten sage, dann drücke ich damit meine Unsicherheit aus und distanziere mich davon, für den Fall, dass Kirsten herausfindet, dass Klaus in Wirklichkeit die Schule geschwänzt hat.“
Ein Grinsen kitzelte meine Mundwinkel, denn der Klaus aus unserer Klasse würde nie und nimmer die Schule schwänzen – noch nicht einmal eine einzelne Stunde, das könnte ja Konsequenzen haben.
Ich spürte Rubins Blick auf mir und sah wieder hoch. Nach einem weiteren Moment, der mir ein wenig zu lang erschien, setzte er seine Erklärung fort:
„So weit, so gut. Das Problem an dem Ganzen ist nur, dass der Konjunktiv in der indirekten Rede dazu noch die Zeitenfolge wiedergeben soll; also was vorher passiert ist, was gleichzeitig geschieht, was nachher. Wenn ich sage: ‚Megan sagte mir, ihre Eltern seien heute nach Amerika geflogen‘, sind sie dann geflogen, bevor sie es mir gesagt hat, waren sie da gerade auf dem Weg oder flogen sie erst danach ab?“
„Megans Eltern sind nach Amerika gegangen?“, fragte ich, um ein bisschen Zeit zu schinden, „Ohne sie?“
„Vyvyan, konzentrier dich.“
Rubin könnte Lehrer werden. Ganz ehrlich, zumindest den Für solche Fragen haben wir jetzt keine Zeit, junger Mann-Blick hatte er schon perfekt drauf und das, obwohl wir gleich alt waren.
Ich seufzte, murmelte den Satz noch einmal vor mich hin und antwortete dann: „Davor?“
Er nickte, so falsch konnte es also nicht gewesen sein. „Und bei ‚Megan sagte mir, ihre Eltern wären heute nach Amerika geflogen‘?“
War das nicht dasselbe?
… Oder … doch nicht?
Wenn nicht, wo war denn da der Unterschied?
„Auch … davor …?“, sagte ich schließlich und hoffte, dass er nicht nach einer Begründung verlangte, denn die hätte ich ihm nie und nimmer liefern können.
„Wie sieht es dann bei ‚Megan sagte mir, ihre Eltern gingen heute nach Amerika‘ aus?“
„Verdammt!“, rief ich, drehte mich zu ihm um und bemerkte, dass ich aus dieser Position heraus zu ihm hochsehen musste – was mir natürlich gar nicht gefiel, noch weniger, weil ich mich freiwillig auf den Boden gesetzt und den Höhenunterschied bis jetzt gar nicht bemerkt hatte. Aber sich jetzt plötzlich aufs Sofa zu setzen kam mir kindisch vor – und ich wollte vor Rubin nicht kindisch sein, schließlich fand er so schon genug Gründe, um mich zu belächeln.
„Ich dachte, du wolltest mir Englisch beibringen und nicht zeigen, wie scheiße mein Deutsch ist?!“
Rubin grinste mich von oben herab an – aber vielleicht bildete ich mir das ‚von oben herab‘ nur ein, denn seine Stimme klang zwar belustigt, aber nicht spöttisch, als er antwortete.
„Ich wollte dir nur zeigen, wie unbestimmt das deutsche System ist – und das ganz abgesehen von der Bildung der indirekten Rede, von der wir nicht mal angefangen haben.“
„Gut, ich hab’s kapiert: Unser System ist scheiße. Und weiter?“
Sein Grinsen wurde ein bisschen breiter und eine ganze Portion überheblicher.
„Jetzt erkläre ich dir, warum das englische System besser, klarer und vor allem einfacher ist.“ 

***

„Zusammengefasst heißt das also, dass sich das Verb von der direkten zur indirekten Rede nicht verändert, wenn der übergeordnete Satz im Präsens steht, wenn er in der Vergangenheit steht aber schon?“
Rubin nickte; das war ein gutes Zeichen, egal, wie knapp dieses Nicken ausfiel. „Und warum verändern sie sich?“
Mir rauchte der Kopf, obwohl er mir erst die Grundregeln erklärt hatte, aber wenigstens hatte ich trotzdem das Gefühl, langsam das Prinzip hinter dem Ganzen wirklich zu verstehen – in der Theorie, zumindest, denn wie’s mit der Praxis aussah, würde sich erst noch zeigen.
„Weil der Zeitpunkt, zu dem es wiedergegeben wird, und der, zu dem es gedacht, gesagt oder ge-was-auch-immer-t wurde, nicht übereinstimmen.“
„Richtig“, antwortete Rubin und lehnte sich nach vorne, um an mir vorbei nach einem bestimmten Blatt zu suchen. Dass er sich dabei wegen unserer Position über meine Schulter lehnte und seine Haare mein Ohr kitzelten, schien er nicht einmal wahrzunehmen – im Gegensatz zu mir. Irgendetwas in mir machte einen Hüpfer – ob es mein Magen, mein Puls oder etwas ganz anderes gewesen war, konnte ich nicht sagen, da sich außer dem Geruchssinn plötzlich alle anderen Sinne aus dem Staub gemachten hatten.
Zitronengras. Er – seine Haare – sein Shampoo – roch nach Zitronengras. Ich hatte immer geglaubt, ich würde Zitronengras nicht mögen – der Tee war absolut scheußlich – aber ich hatte mich geirrt; anscheinend konnte ich es doch ganz gut leiden.
Nicht gut. Was sollte das denn jetzt?
„Und wie verändert sich das Verb?“
Er suchte immer noch nach dem Blatt. Wie lange konnte es dauern, das verdammte Ding zu finden? Und ja, ich wusste, dass es erst einige wenige Sekunden waren, aber – 
Ach, auch egal. Er war zu nah und ich behielt nun mal gerne Abstand zu Menschen, die nicht blutsverwandt mit mir waren.
„Es geht in der Zeit eins nach hinten.“
„Und du weißt, welche Zeitform zu welcher wird, weil …?“ Seine Stimme klang in meinen Ohren belegt, aber das bildete ich mir sicher ein. Genauso, wie ich mir einbildete, dass die Bewegungen seiner Hand, die nun schon zum zweiten Mal durch den Stapel blätterte, fahrig aussahen.
„Weil ich mir deine Beispielsätze merken werde“, antwortete ich einen Tick zu leise.
Das mit den Beispielsätzen klang vielleicht banal, war es aber nicht. Natürlich hatten mir auch schon andere gesagt, ich solle mir Beispielsätze merken und dann davon ableiten, aber das Problem war, dass ich schon mit dem Merken Mühe hatte, weil sie entweder total willkürlich und zusammenhangslos, oder aber sich viel zu ähnlich waren, so dass ich alles durcheinander brachte. Rubin aber hatte es geschafft, die Veränderung von simple present zu simple past, von present perfect zu past perfect und so weiter in Sätzen zu zeigen, die miteinander verbunden waren, die eine kleine Geschichte erzählten, und zwar einer Geschichte, die beim simple present und Anna, die in unserer Klasse in der ersten Reihe am Fenster saß, anfing, sich durch die Zeiten und die Pulte am Fenster zog und schließlich beim second conditional mit Rubin endete. Das war super, denn so konnte ich die Sätze auswendig lernen, ohne mich um die Namen der Zeitformen kümmern zu müssen, denn wenn ich vergaß, welche Zeit aus einer bestimmten wurde, musste ich nur schauen, wer neben der Person mit eben dieser Zeit saß und dessen Satz in meinem Kopf aufsagen.
Für diesen Einfall hätte ich Rubin knutschen können – im sprichwörtlichen Sinne, versteht sich. Ich wollte auch gar nicht wissen, wie lange er an der Geschichte herumgeknobelt hatte.
„Genau.“ Rubin hatte das Blatt gefunden und drehte sich zu mir. „Bereit für ein bisschen Praxis?“
Dass er das Blatt gefunden hatte, fand ich super; nur das mit dem Umdrehen war keine so brillante Idee, da er sowieso schon zu nah gewesen war und jetzt … jetzt konnte ich seine Wimpern zählen.
Es waren verdammt viele.
Ich versuchte zu schlucken, aber es funktionierte aus mir unerfindlichen Gründen nicht, also ließ ich es und nickte und versuchte das Kribbeln im Nacken zu ignorieren, das die Wärme, der ich plötzlich wieder gewahr wurde, erzeugte.
Praxis und ausprobieren, das hörte sich doch gut an.
In indirekter Rede, natürlich.
Rubin rührte sich nicht. Kein bisschen, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass er sich bewegen wollte.
Ich zwang mich, den Blick von ihm ab und auf das Blatt hinzuwenden und antwortete endlich:
„Ja, das sollte ich besser, damit ich ein bisschen Übung bekomme.“ Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und konnte spüren, wie sich mir die Wärme entzog, als er sich wieder aufsetzte.
„Gut.“ Er räusperte sich leise. „Wenn du Fragen hast oder irgendwo nicht weiterkommst, frag einfach; es ist schließlich kein Test.“
Nein, die Aufgaben vielleicht nicht, aber es kam mir vor, als sei der ganze Nachmittag ein einziger Test und ich verstand nicht, warum. Warum war die Atmosphäre plötzlich so geladen und warum hatte ich das Gefühl, Rubin müsste sich zurückhalten, obwohl wir doch überraschend gut auskamen?
Ich wusste die Antwort, eigentlich, aber ich wollte sie nicht wissen. Und bevor sie sich in den Vordergrund drängen konnte, schob ich alle Gedanken gewaltsam beiseite und wandte mich dem Blatt zu, das nun zuoberst auf den andern lag.

***

Ich kam nicht weit.
Ich hatte zwar das Grundprinzip verstanden, aber das Problem im Moment war, dass ich mich nicht konzentrieren konnte – und das lag weder am Stoff noch am Lehrer, sondern daran, dass mein Mund nichts zu tun hatte – und wer das jetzt falsch versteht, kriegt eins auf’n Hinterkopf! Aber, da war eben diese kleine, unwichtige Tatsache, dass ich nicht lernen konnte, wenn ich dieses eine, kleine, süße Ding nicht hatte. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu bringen aufzustehen. Der Gedanke, dass Rubin von meinem Tick erfahren könnte, war mir peinlich – obwohl es mir ja eigentlich hätte egal sein sollen. Ich meine, wen interessierte schon, was Rubin von mir dachte? Eben!
„Vyvy?“
Kittys Stimme holte mich aus meinem Grübeln darüber, wie ich ohne Lutscher etwas Anständiges produzieren sollte. Ich stand auf und ging zur Tür, während ich mir selbst sagte, dass ich das hier auch als Extrem-Entzug sehen konnte. Wenn ich mehrere Stunden Englisch ohne Lutscher überlebte, würde ich alles ohne überleben.
„Miss Kitty, was ist?“, fragte ich, als ich die Tür öffnete, vor der Kitty ganz entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit brav gewartet hatte. Es fühlte sich seltsam an, so in der Tür zu stehen. Ich wusste, dass sie sich Mühe gab, nicht einfach hereinzustürzen, weil ich Besuch hatte und dass das eigentlich etwas Gutes war, aber so richtig darüber freuen konnte ich mich trotzdem nicht. Ich mochte ihre freche Ader.
„Wie läuft’s?“
Ich seufzte.
„Ganz okay.“
Sie nickte, schlang ihre Arme um mich und drückte mich einmal fest. Ich konnte nicht anders, ich musste die Umarmung einfach erwidern.
„Wir fahren jetzt zum Weihnachtsmarkt“, sagte Kitty, als sie mich losließ, „Soll ich dir Zuckerwatte mitbringen?“
„Ich bestehe darauf.“
„Und Rubin?“
Ich zuckte mit den Schultern, lehnte mich ein wenig zurück und sah zu ihm. Er hatte sich keinen Zentimeter von seinem Platz entfernt.
„Willst du Zuckerwatte?“
Da war es wieder, das spöttische Anheben der rechten Augenbraue, das ich an diesem Nachmittag schon fast vermisst hatte – nur, dass man so etwas schwerlich vermissen konnte.
„Zuckerwatte?“
„Ja“, gab ich leicht genervt zurück, „vom Weihnachtsmarkt – du weißt schon, das rosa Zeug, das so süß ist, dass es wehtut, und das an den Händen klebt und von dem man trotzdem nicht genug bekommen kann.“
„Ach, die Zuckerwatte …“ Er überlegte einen Moment und nickte dann. „Wenn es nichts ausmacht, dann hätte ich gerne welche, ja.“
Ich nickte und wandte mich wieder an Kitty. „Zweimal bitte, Kitty-Maus.“
Sie grinste breit. „Oki-doki! Bis nachher.“ Sie wollte schon weggehen, drehte sich dann aber noch einmal um. „Ach ja: Mum hat euch Sandwichs und so gemacht, falls ihr Hunger bekommt. Sie sind in der Küche.“ Damit verschwand sie die Treppe hinunter und ich hörte noch die Abschiedsrufe des Restes meiner Familie, bevor ich die Tür wieder schloss und zum Sofa zurückging – nicht, ohne einen kleinen Abstecher zu meinem Schreibtisch zu machen und ganz unauffällig einen Lutscher zu nehmen; die waren schließlich auch nicht schlimmer als Zuckerwatte.
Ich setzte mich wieder hin, nach kurzem Zögern an dieselbe Stelle wie zuvor. Eigentlich hätte ich mich lieber ein wenig weggesetzt, nur ein ganz klein bisschen, aber da ich selbst sagen musste, dass das lächerlich gewesen wäre, ließ ich es. Dann nahm ich einen Schluck Cola und füllte unsere Gläser wieder auf. Und danach nahm ich einen Keks und aß ihn langsam und genüsslich – vor allem langsam. Ich fand, so eine ganz kleine, winzige Pause hatte ich verdient.
Da ich aber wusste, dass ich, je schneller ich anfing, umso schneller fertig sein würde, beließ ich es bei dem einen Keks und nahm dann mit einem leisen Seufzen den Stift wieder auf. 

***

Wann genau ich den Lutscher ausgepackt hatte, wusste ich nicht, das geschah schon längst automatisch. Ich konnte auch nicht sagen, wann Rubin, der sich wieder nach vorne gebeugt hatte, sich dabei mit einem Ellenbogen auf dem Knie abstützte und die andere Hand dazu benutzte, auf Wörter, Abschnitte oder Blätter zu zeigen, während er mir Dinge, wie, warum meine Antwort falsch – oder gerade richtig – war, oder kleine grammatische Kniffs erklärte, still wurde. Ich war nun nämlich wieder völlig konzentriert bei der Sache und die Tatsache, dass ich immer mehr Aufgaben richtig löste, spornte mich noch mehr an. Aber irgendwann begann ich, seinen Blick auf mir zu spüren. Erst tat ich es als Einbildung ab, dann sagte ich mir, dass das normal war, immerhin sah er mir beim Lösen der Übungen zu, aber dennoch nahm ich ihn immer stärker wahr, bis ich schließlich nervös wurde und meine Konzentration förmlich den Bach hinunter ging.
Und wieder roch es nach Zitronengras.
Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu – natürlich nur um mich zu vergewissern, ob er mich wirklich ansah – und tatsächlich: Sein Blick hing fest an meinem Mund, in dem ich, wie mir erst jetzt bewusst wurde, den Lutscher unaufhörlich hin und her schob, drehte und wendete. Rubin schien weder zu bemerken, dass ich aufgehört hatte zu schreiben, noch, dass ich meinen Kopf zu ihm drehte. In meinem Nacken kribbelte es, diesmal noch heftiger als zuvor und ich wurde nun wirklich unruhig. Aber das zu zeigen wagte ich nicht. Dafür erkannte ich, dass sein Atem schneller ging; das war nicht gut, vor allem nicht für meine Nerven.
Als Rubin auch nicht mitbekam, dass ich ihn mittlerweile direkt ansah, nahm ich den Lolli aus dem Mund.
„Sorry, willst du auch einen?“, fragte ich betont ruhig und neigte den Kopf ein kleines Stück nach rechts, „Die sind gut. Kirschgeschmack.“
Endlich sah Rubin auf, in meine Augen. Einen Moment lang blieb sein Blick undeutbar und intensiv, dann schlich sich ein kleines Grinsen auf seine Lippen.
Sure, Vyvyan“, antwortete er und nahm mir den Lutscher aus der Hand, bevor ich reagieren konnte. Ungläubig sah ich ihm dabei zu, wie er ihn in seinem eigenen Mund verschwinden ließ und den Stil zwischen den Fingern rollte, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, bevor das Grinsen sich vertiefte. „Du hast Recht, er schmeckt wirklich gut.“

Was zum …!
Ich wusste nicht, ob ich schockiert, wütend oder peinlich berührt sein sollte und so entschloss ich mich, aufzustehen und mir als erstes einen neuen Lolli zu holen.
Hätte ich nicht gewusst, dass Rubin eine Freundin hatte – eine hübsche, nette Freundin – dann hätte ich das eben wahrscheinlich falsch interpretiert – als Anmache nämlich. Als verdammt plumpe Anmache noch dazu. Da ich Megan aber persönlich kennen gelernt hatte, konnte ich es als Rubins etwas seltsame Art, sich über mich lustig zu machen abtun – oder zumindest sagte ich mir das. Mehrmals.
„Macht es dir etwas aus, wenn wir eine Pause machen? Ich kann nicht mehr“, meinte ich, als ich zurückging. Er schüttelte den Kopf, also setzte ich mich neben ihn aufs Sofa und griff nach meinem Glas.
Ich brauchte jetzt etwas zu Trinken.
„Sind Megans Eltern wirklich nach Amerika gegangen?“, fragte ich, weil mir die Stille zu … nun, still wurde.
„Ja“, erwiderte er, „zusammen mit meinen, für zwei Wochen. Unsere Familien feiern Weihnachten immer in ihrem Heimatort.“ Nach einem Moment fügte er hinzu: „Deshalb konntest du heute auch nicht zu mir kommen – meine Mutter hat schreckliche Flugangst und rennt am Abflugtag wie eine Wilde durchs ganze Haus.“
Ich grinste. Dass jemand, der so nah mit Rubin verwandt war, hysterisch wurde, war irgendwie schwer vorstellbar. Andererseits war es bis jetzt auch schwer vorstellbar gewesen, dass Rubin von sich aus mehr sagte als nötig – und genau das hatte er eben getan. Er schien wirklich einen guten Tag zu haben.
Abgesehen von der Sache mit dem Lolli, versteht sich.
„Und warum seid ihr nicht mitgegangen?“
Er antwortete nicht gleich, sondern griff seinerseits nach seinem Glas.
„Megan wollte nicht“, sagte er nachdem er getrunken hatte, „und da ihre Eltern sie nicht alleine hier gelassen hätten, bin ich auch dageblieben. Ich hatte dieses Jahr sowieso keine große Lust zu gehen.“
Es entstand eine Pause, in der ich an einem Keks knabberte – nicht, weil ich ihn unbedingt essen wollte, aber es war besser als nichts zu tun.
„Hm, meine Eltern hätten keine Probleme damit, mich zwei oder drei Wochen alleine zu lassen – oder Sue, als sie in unserem Alter war.“
Rubin zuckte mit den Schultern.
„Megans Eltern sind ziemlich vorsichtig und streng.“
„Und da lassen sie Megan in deiner Obhut?!“
Ich starrte ihn an und vergaß einen Moment lang den Keks in meiner Hand. Megan bei Rubin zu lassen kam mir vor, als hätte die Mutter Rotkäppchen gleich direkt zum Wolf geschickt.
Rubins Augen funkelten. „Ich weiß nicht, was du für einen Eindruck von mir hast, Vyvyan, aber sie kennen mich seit Kindertagen und vertrauen mir.“ Dann zuckte er mit den Schultern und fügte etwas leiser und langsamer hinzu: „Außerdem sind wir in ihren Augen eh so gut wie verlobt.“
Er sah mich an und wartete auf meine Reaktion, die, zugegebenermaßen, etwas spät kam. 
Verlobt?!“
„Wenn es nach unseren Eltern ginge, wären wir es spätestens in ein paar Jahren.“
„Und wenn es nach euch geht?“
„Bitte, wer möchte nicht seine Sandkastenfreundin heiraten?“, fragte er in dem für ihn typischen Ton, bevor er mit den Schultern zuckte. „Allerdings hat es Vorteile, wenn sie so denken. Dass wir beide über Weihnachten hierbleiben können, ist einer davon.“
„Hm …“
Dazu fiel mir nichts ein, jedenfalls nichts, was angebracht war – immerhin kannte ich Rubin nicht gut genug, um mich in seine Familienangelegenheiten einzumischen. Aber eines wusste ich: Ich hätte mich gewehrt, wenn meine Eltern sich in so etwas verrannt hätten, und war froh, dass es heutzutage akzeptiert wurde, wenn man ewig Junggeselle blieb. Unter uns gesagt war es nämlich sehr unwahrscheinlich, dass ich jemals heiraten würde. Nicht, weil ich etwas gegen das Konzept an sich hatte; ich war mir sogar sicher, dass es mit dem richtigen Menschen ganz wundervoll sein konnte – das sah ich bei meinen Eltern, auch wenn auch bei ihnen nicht alles Sonnenschein und Erdbeereis war – aber diese Person zu finden war meiner Meinung nach nicht nur verdammt schwierig, sondern zu einem großen Teil auch noch Glückssache. Und jemanden zu heiraten, den ich nicht mindestens so sehr liebte wie meine Familie, das stellte ich mir wie die Hölle auf Erden vor – zumindest zu Hause, in meinen eigenen vier Wänden wollte ich ich selbst sein können und wissen, dass genau dieses Ich zurückgeliebt wurde. Ein ziemlich alltäglicher Wunsch vielleicht, aber wer liebte schon jemanden, dem außer seiner Familie alle egal waren?
Wie gesagt: Es war einfacher, zu lieben, wenn man wusste, dass man zurückgeliebt wurde. Das Gegenteil stimmte genauso: Es war schwierig, zu lieben, wenn man wusste, dass man nicht zurückgeliebt wurde; das erforderte eine Art von Mut, die die meisten nicht hatten. Und ich konnte es ihnen nicht verübeln, denn ich besaß ihn auch nicht.
Ganz abgesehen davon sollte man den Ehepartner nicht nur lieben, sondern auch begehren und das wäre dann schon mein zweites Problem geworden.

Rubin ließ sich nach hinten gegen die Lehne fallen und mir wurde bewusst, dass er, als ich mich vorhin hingesetzt hatte, nicht weggerückt war; er saß immer noch in der Mitte und da es nur ein Zweiersofa war, hieß das, dass er nah war. So nah, dass ich glaubte, ihn trotz der Distanz spüren zu können.
Ich hatte Fee die Wahrheit gesagt, als ich meinte, dass ich auch nur ein hormongesteuerter Teenager wäre. Das war ja auch nicht weiter schlimm, denn das waren alle in meinem Alter. Es war vielleicht peinlich, aber ungefährlich. Das Problem war nur, dass mein Körper sich die ungünstigsten Zeitpunkte auswählte, um verrückt zu spielen. Hätte er das bei Fee getan, wäre ich vielleicht ein wenig peinlich berührt gewesen, aber nicht so sehr, dass ich es nicht hätte überspielen können. Nur, bei Fee hatte ich mich unter Kontrolle – alles andere wäre ja auch zu einfach gewesen.
Nein, mein Körper war gemeinhin der Ansicht, dass der beste Zeitpunkt, um den Hormonen Auslauf zu gewähren, immer dann war, wenn es keinen Grund dazu gab. Wie in diesem Moment, zum Beispiel.
Gut, sicher, ich saß dicht neben einer schlanken Blondine, die sogar meine Freundin als gutaussehend bezeichnet hatte – einer Blondine, die eben an meinem Lolli gelut-
Okay, das hörte sich falsch an. Ich korrigierte: einer Blondine, die mir eben den Lolli geklaut hatte – das klang zwar kindisch, aber besser kindisch als versaut.
Das Problem an dieser Blondine war natürlich, dass ihr oben fehlte, was sie unten – 
Stopp! Falsche Formulierung!
Bilder – Kopfkino!
Ganz ruhig. Es war alles in Ordnung. Nur eine der Peinlichkeiten, die jeder Mensch mindestens einmal in seinem Leben erleben musste. Erleben war auch akzeptabel, dass sie publik wurde aber nicht.
Kurz und bündig also: Das Problem war, dass neben mir keine Blondine, sondern ein Blondeur saß. Und wenn der nicht mitbekommen sollte, dass ich gerade anfing, mir einzubilden, dass der leichte Luftzug, den ich auf der Schulter spürte, von seinem Atem herkam, dann musste ich schleunigst wieder herunterkommen und meinem Körper klarmachen, dass jetzt kein günstiger Augenblick für so was war, auch wenn wir alleine in meinem Zimmer in unserem leeren Haus saßen.
Bei Eros, was sollte das auch?!
Rubin mochte mich nicht, ich mochte Rubin nicht, da waren wir uns einig – und das bedeutete, dass es wirklich keinen Grund gab, nervös zu werden. Wäre ich in ihn verliebt gewesen, hätte ich ihn zumindest ein bisschen anziehend gefunden, dann hätte ich es verstanden, irgendwie, aber so? Bei einem Kerl, dessen Persönlichkeit so sehr im Eimer war, dass sie jegliche mögliche Anziehungskraft von Anfang an unmöglich machte? Das war nicht verständlich, sondern notgeil – was wiederum sehr wohl verständlich war; Fee war noch Jungfrau. Nur: Wann war es mit mir so schlimm geworden, dass eine andere Person in greifbarer Nähe und ein leeres Haus ausreichten, um meinen Puls zu beschleunigen?
Eigentlich hatte ich mir etwas mehr Anspruch zugetraut.
Wenn es wenigstens Kim mit seinem tollen Rücken gewesen wäre …
Obwohl, nein, lieber doch nicht. Kim war zwar eher ruhig und Single, aber ich glaubte nicht, dass er besonders gut auf Annäherungsversuche von Männern reagieren würde. Er schien eher der Typ zu sein, der alles, was auch nur entfernt mit Homosexualität zu tun hatte, weit von sich stieß – außer natürlich, das Etwas war weiblich. Aber Lesben waren ja auch eine ganz legitime Männerfantasie.

Die ganze Zeit über, in der mir diese Dinge durch den Kopf gingen, schwieg Rubin. Und ich? Ich sowieso. Ich hatte genug damit zu tun, meine Atmung davon abzuhalten, sich meinem Puls anzupassen.
Und ja, ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich plötzlich so ein Aufheben um seine Nähe machte, obwohl wir in der Schule doch tagtäglich nebeneinander saßen, aber das half mir nicht dabei, mich zu entspannen. Ich hatte schon wieder das Gefühl, dass er mich ansah, aber ich traute mich nicht, mich zu ihm umzudrehen und es zu überprüfen. Einerseits, weil ich nicht wollte, dass er etwas bemerkte, andererseits, weil ein kleiner Teil von mir dachte – flüsterte – fürchtete, dass es nicht ganz so eingebildet war, wie ich mir einredete. Das war vielleicht das, was mir am meisten Angst machte – dass es nicht nur an meinem Hormonhaushalt lag. Ich würde ihn sicher nicht anspringen, da war ich mir sicher, aber was, wenn er mich …? Das mit dem Lutscher war schon ziemlich …
Nein, halt, stillgestanden!
Rubin wollte niemanden bespringen, außer seine Freundin – seine so-gut-wie-Verlobte – und ich, ich wollte das auch nicht. Nicht mit ihm.

Die Stille wurde mit jeder Sekunde angespannter, zumindest kam es mir so vor, und so langsam hielt ich es fast nicht mehr auf dem Sofa aus. Trotzdem, ich konnte mich nicht rühren und saß da, als hätte mich Medusas Blick getroffen.
Konnte Rubin nicht etwas sagen? Irgend etwas Unverfängliches, Banales, in seinem überheblichen und desinteressierten Ton, den ich aus der Schule so gut kannte? Ich schloss die Augen und flehte ihn still an, aber er erhörte mich nicht.
Wie auch, er wusste ja noch nicht einmal, dass ich ihn um etwas bat.
Die Blicke, die ich mir – wie ich immer wieder im Kopf wiederholte – nur einbildete, wurden intensiver, das Gefühl, wie sie über meinen Rücken tasteten, glich schon beinahe Fingern, die langsam, unerträglich langsam hinaufwanderten. So ging das nicht weiter, ich musste etwas tun – und in dem Moment, als ich glaubte, wirklich eine Berührung, ein leichtes Streifen meiner Haare zu spüren, schoss ich auf.
„Ich – ich hole die Sandwichs“, brachte ich hervor und hasste mich für das verräterische Stammeln, „Hast du Hunger? Wenn wir schon Pause machen, dann sollten wir sie nutzen.“ Ich drehte mich immer noch nicht zu ihm um, denn ich war mir sicher, dass ich dann kein Wort herausgebracht hätte; die Sätze waren ja so schon in der falschen Reihenfolge herausgekommen. Scheiße, war das peinlich. Ich hoffte, er wartete mit dem Lachen, bis ich außer Hörweite war.
Ich ging mit raschen Schritten zur Tür, mir wohl bewusst, dass ich gerade flüchtete, aber ich konnte nicht anders. Ich wusste nicht, warum ich plötzlich so überreagierte, denn eigentlich war nichts geschehen – natürlich nicht, was sollte schon passieren?! – aber ich war mir sicher, mich in diesem Zimmer nicht beruhigen zu können. Und wenn ich da blieb und mich noch mehr in irgendwelche Hirngespinste hineinsteigerte, würde es nur noch peinlicher werden, als es sowieso schon war.
Alles, was ich brauchte, so sagte ich mir, waren ein paar Minuten alleine, um wieder runterzukommen.
Wieder herunterkommen, das hörte sich gut an. Fantastisch. Fabelhaft.
Ich griff nach der Klinke, als wäre sie meine Rettung, die Lösung all meiner Probleme, und zog die Tür auf, als eine Hand rechts an mir vorbeischnellte und sie wieder zudrückte.
Rubin stand hinter mir. Ganz nah. Ich konnte die Wärme seines Körpers an meinem Rücken und seinen Atem an meiner Halsbeuge spüren – diesmal garantiert nicht eingebildet – obwohl er mich nicht berührte. Mein Nacken kribbelte so stark, dass es fast nicht auszuhalten war.
Stay“, sagte er nur wenig lauter als ein Flüstern und brachte mein Blut dazu, im Dreivierteltakt durch meinen Körper zu schießen, „Ich will nichts.“
Finger an meinem Hals, die meine Haare zur Seite schoben.
„Zumindest keine Sandwichs.“
Die Finger wurden von Lippen abgelöst.

*********

Du hast was?!
Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Mein Verstand muss kurzzeitig ausgesetzt haben. Und dann war’s zu spät.
Megan ächzte. „Oh, honey … von Selbstkontrolle hast du auch noch nie was gehört, oder?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen