Der Rest des Nachmittags war irgendwie … nein, nicht irgendwie, er war
seltsam, einfach nur verflucht seltsam. Unwirklich. Wir gingen doch tatsächlich
dazu über, die verbleibenden Aufgaben zu lösen – und das zweifellos
konzentrierter als zuvor – so dass wir irgendwann nach neunzehn Uhr
die allerletzte hinter uns brachten – aber obwohl ich die paar davor
meisterhaft gelöst hatte, musste mir natürlich genau diese eine, letzte,
verdammte Mistaufgabe Probleme bereiten.
Egal, am Ende hatte ich meinen Fehler dennoch verstanden und ich
ging – nicht ohne dabei ein fast schon schadenfreudiges Kribbeln in
den Fingerspitzen zu fühlen – dazu über, die Blätter zu ordnen,
ordentlich zu stapeln und schließlich auf meinem Schreibtisch abzulegen; später
würde ich Mum fragen, ob sie einen Ordner hatte, den ich dafür benutzen konnte.
Wie gesagt, waren wir beide nach unserer ‚Pause’ konzentrierter
gewesen – was nicht sonderlich erstaunte, wenn man bedachte, dass
gewisse Spannungen auf verdammt effiziente Weise abgebaut worden
waren – aber dafür herrschte eine neue, nicht weniger aufreibende
Spannung zwischen uns. Allerdings war es diesmal keine sexuelle Spannung, es
war vielmehr eine … nun, eine Nicht-Spannung. Ja, das ist eine scheiß
Beschreibung, aber ihr wisst: ich und Deutsch ... Nicht-Spannung jedenfalls in
der Hinsicht, dass eine Spannung bestand, aber nicht wegen etwas, das da war,
sondern wegen etwas, das eben nicht da war; etwas, das nicht
existierte – so wie unser Gespräch über das, was passiert war.
Ach, scheiße! Ich konnte meine Gedanken schon selbst nicht mehr
hören – ‚das, was passiert war‘, was für eine nette Umschreibung für
gegenseitiges Wichsen! Ich hatte normalerweise keine Probleme, die Dinge beim
Namen zu nennen, aber wenn ich verunsichert war, dann wich ich auf
Umschreibungen aus – und das war ich, als Rubin – diesmal
mit ein wenig mehr Abstand – einfach wieder dazu überging, mir
grammatische Regeln zu erklären, als wäre nichts gewesen – so, als ob
das, was verdammt noch mal passiert war, nicht aufregender gewesen wäre, als
wenn wir stattdessen Mums Sandwichs gegessen hätten. Seine Ganze
Haltung – so betont lässig, so betont ruhig und vor allem so betont unbewegt – sagte:
Bilde dir nur nichts ein, da gibt es nichts zu reden.
Das war doch nicht normal, oder? Da durfte ich doch verunsichert sein! Oder
seit wann war es denn gang und gäbe, seinem Mitschüler mal schnell in der
Lernpause einen runterzuholen? Den Trend hätte ich sicher mitbekommen,
verdammte Scheiße!
An der Stadt konnte es auch nicht liegen, wir waren hier schließlich nicht
in Köln oder Barcelona und in San Francisco schon gar nicht.
Scheiße.
Ich wusste nicht, was ich von dem allem halten sollte und tat das einzige,
das mir wie eine akzeptable Reaktion erschien: Ich tat ebenfalls so, als sei
nichts Aufregendes geschehen. Und entgegen einer leisen Befürchtung meinerseits
funktionierte das verdammt gut – wie gesagt, sogar meine
Konzentrationsfähigkeit war wieder da, vor allem, nachdem ein kurzer Badbesuch
mir gezeigt hatte, dass da doch keine Knutschflecken übrig geblieben waren. Ein
Hallelujah auf meine auch im Winter leicht gebräunte Haut! Und so verbrachten
wir den Rest der Aufgaben zur indirekten Rede im Englischen in trauter,
klinisch distanzierter Zweisamkeit. Bis, ja bis ich an meinem Schreibtisch
stand und den Blätterhaufen darauf ablegte.
„Schreib bitte auf nächstes Mal einen kleinen Aufsatz, um die dreihundert
Wörter, über was auch immer – euer Weihnachtsfest oder die Tulpen in
den Niederlanden, mir egal – und benutze dabei mindestens dreimal
indirekte Rede.“
Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn überhaupt nicht erfreut an. Da hatte ich
mir den Arsch abgeschuftet und er gab mir Hausaufgaben? Über die
Weihnachtstage?!
„Und wann ist das nächste Mal?“ Ich tat, als würde ich die zweideutige
Formulierung nicht bemerken und sah ihn direkt an.
„Feiert ihr am vier- oder fünfundzwanzigsten?“
„Am vierundzwanzigsten. Wieso?“
Ein kleines Grinsen, da! Ein Grinsen, ganz eindeutig!
„Weil die nächste Stunde dann am Montag, dem fünfundzwanzigsten ist. Du
hast also zwei Tage Zeit.“
Und plötzlich fand ich sein Grinsen wieder unsympathisch. „Für dreihundert
Wörter?! Willst du, dass ich den ganzen verdammten Heiligabend dran sitze?!“
Dreihundert Wörter, das klang nach nichts – auf Deutsch war das
ja auch nichts, ein Klacks – hey, auf Deutsch bedeuteten dreihundert
Wörter keine zehn Sätze, wenn man es geschickt anstellte – aber auf
Englisch war das etwas anderes.
„Nein, aber du hast ja den heutigen Abend, den Heiligmorgen und den
Weihnachtsmorgen, das sollte reichen – er ist auch nur so kurz, weil
es der erste ist, die anderen werden länger.“
„Welche anderen?“
„Oh, du wirst mir einen auf jede Stunde schreiben. Habe ich das etwa
vergessen zu erwähnen?“
Unsympathisch war kein Ausdruck – ich hätte ihm das verdammte
unschuldige Grinsen am liebsten aus dem Gesicht geschlagen. Der Bastard genoss
es, mir meine Ferien zu versauen. Und zwar so richtig.
Und, verdammt noch mal, hatte er gestern nicht gesagt, dass wir heute
anfangen mussten, weil ich am vier- und fünfundzwanzigsten sicher keinen Bock
haben würde? Was war aus dem impliziten Versprechen geworden, dass ich zwei
Tage Ruhe haben würde?
Keine Schwäche zeigen!, meldete sich mein sowieso schon angeknackstes Ego zu
Wort. Nach dem heute noch weniger als vorher.
War wahrscheinlich besser; vor Rubin Schwäche zu zeigen erschien mir desto
dümmer, je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte. Außerdem waren es ja nicht nur
meine Ferien, die den Bach runter gingen – immerhin musste nicht nur
ich mit ihm, sondern auch er mit mir Zeit verbringen. Also cool
bleiben und den Schreikrampf unterdrücken.
„Sieht ganz so aus“, erwiderte ich und öffnete demonstrativ die
Tür – die Stunde war offiziell beendet.
Er grinste, erneut – langsam war’s genug – nahm
Schal und Handschuhe und schulterte die Tasche, bevor er meiner nicht ganz
unauffälligen Aufforderung nachkam. Ich nahm mir noch einmal vor, mich nicht
über sein Verhalten aufzuregen – und vor allem, mir keine Gedanken
mehr zu machen. Wenn er es nicht tat – warum sollte ich dann? Da wäre
ich mir irgendwie blöd bei vorgekommen.
Es hätte sich wie verlieren angefühlt und das war scheiße, denn solange wir
beide unseren Spaß gehabt hatten, hatten wir doch beide gewonnen. Genau.
Ich schloss die Tür hinter mir und folgte ihm die Treppe hinunter, als
ausgerechnet in diesem Moment die Haustür aufging und Kitty mit zwei riesigen
Portionen Zuckerwatte ins Haus stürmte.
„Vyvy, Vyvy, ich hab …“ Sie sah uns, analysierte mit Kennerblick die
Situation und zog augenblicklich die Augenbrauen zusammen. „Rubin wollte nicht gehen,
oder?“
Schon mal einen Dokumentarfilm gesehen, in dem eine Löwendame einem
Beutetier auflauert und sich ihm dabei langsam, geschmeidig und vor allem
unheildrohend nähert? Wenn ja, dann wisst ihr, wie sich Kittys Stimme anhörte.
„Nun, er …“
„Vyvy!“ Ich zuckte zusammen. „Du hast meine Zuckerwatte vergessen?! Wie gemein!“
Schnell drängte ich mich an Rubin vorbei, ignorierte dabei, dass ich das
Gefühl hatte, dass er vor mir zurückzuckte, und sprang mehrere Tritte aufs Mal
hinunter bis ich vor Kitty zum Halten kam. Für den Rest der Familie, der einer
nach dem anderen mit einem schadenfreudigen Schmunzeln durch die Tür trat,
hatte ich nur ein unkonzentriertes Winken übrig.
„Kittymaus, es tut mir leid – ehrlich! Aber es war wirklich ein
anstrengender Nachmittag und ich habe einen ganzen Stapel Aufgaben
machen müssen, obwohl mir der Kopf schon nach fünf Minuten wehgetan hat und …“
Ich ging in die Knie, sah sie an und seufzte. „… und ich hör jetzt auf, dumme
Ausreden zu brauchen – tut mir wirklich leid.“
Sie sah mich an, immer noch ein wenig verstimmt – und ich konnte
sie verstehen, denn ich wusste, wie sehr sie das Zeug liebte und dass sie es
trotzdem unversehrt bis nach Hause getragen hatte, zeigte, wie sehr sie sich
darauf gefreut hatte, mir damit eine Freude zu machen.
„Aber weißt du was?“ Ich versuchte mich an einem Lächeln. „Jetzt freue ich
mich dafür doppelt darüber, weil es wie eine Überraschung ist – und
Zuckerwatte ist genau das Richtige, um mich den anstrengenden Nachmittag
vergessen zu lassen.“
Sie verzog ihren Mund, leider nicht in Richtung Lächeln, und musterte mich
mehrere Herzschläge lang.
„Du freust dich jetzt wirklich doppelt?“
Ich nickte.
„Als wäre es eine Überraschung?“
„Es ist eine Überraschung.“
Endlich – ein Lächeln. „Ich mag Überraschungen!“
Ich grinste sie an und wackelte mit den Augenbrauen. „Und ich erst!“
Sie kicherte wieder versöhnt und überreichte mir dann feierlich die
blassrosarote Süßigkeit. Als ich aufstand und an ihr vorbeiging, bemerkte ich,
dass Rubin mir gefolgt war und so jetzt vor Kitty stand. Sie sah ihn
auffordernd an.
„Mir tut es auch Leid, Catherine“, sagte Rubin und hörte sich dabei ernst
an.
Sie nickte. „Das sollte es auch.“
„Hey“, rief ich, als sie ihn bereits wieder anlächelte und auch ihm seine
Zuckerwatte übergab, „warum verzeihst du ihm schneller als mir?“
Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich zu mir. „Weil Gäste bevorzugt
behandelt werden.“
„Und große Brüder, die einen abgöttisch lieben?“
Sue grinste schelmisch und mischte sich ein: „Die müssen erst noch richtig
erzogen werden!“
„Genau!“ Kitty quietschte vergnügt und startete die Flucht die Treppe
hinauf. Ich wollte ihr gerade folgen, als meine Mutter aus der Küche kam.
„Vyvyan, warum habt ihr denn die Sandwichs nicht gegessen?“
Oh, Mist.
Ade, Zuckerwatte, es war schön, von dir zu träumen.
„Wir hatten keinen Hunger.“ Dafür ein paar Kekse, aber das zu sagen, hätte
nichts besser gemacht. Im Gegenteil.
„Fünfeinhalb Stunden lang?“ Mum sah mich ungläubig an und schüttelte dann
den Kopf. „Es wäre besser gewesen, wenn ihr zwischendurch etwas zu euch genommen
hättet. Jetzt seid ihr doch sicher ausgehungert?“ Diese Frage war natürlich
nicht an mich, sondern an Rubin gerichtet – und wenn er wusste, was
gut für ihn war, schnappte er sich jetzt seine Jacke und ergriff die Flucht.
Aber natürlich kannte er meine Mutter nicht.
„Es geht, Ma’am, wir essen zu Hause meist etwas später.“ Er schenkte
ihr ein echtes Killer-Lächeln – warum, beim Hades, lächelte er
meine Familie die ganze Zeit an? Das war ja nicht zum
Aushalten! – und fügte, fatalerweise, hinzu: „Außerdem hat Catherine
mir ja diese Zuckerwatte mitgebracht.“
Scheiße. Und noch einmal: Scheiße! Wusste er denn nicht, dass das
das absolut Schlimmste war, was er zu meiner Mutter sagen konnte?
Offensichtlich nicht.
Dafür registrierte er, wie sich ihr Gesicht zusammenzog, als hätte sie in
eine Grapefruit gebissen – und Mum hasste Grapefruits. Er warf mir
einen fragenden Blick zu, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Ich konnte
nichts mehr tun – er war selbst schuld. Blieb nur die Hoffnung, dass
sie sich mit den Sandwichs zufrieden geben würde – was aber höchst
unwahrscheinlich war.
„Junger Mann“, begann Mum und ich sah aus den Augenwinkeln, wie Sue sich
hinter Mums Rücken ins Wohnzimmer verzog. Wir alle kannten diesen Ton und die
unabwendbar folgende Standpauke zur Genüge. Mum war eben Mum. „Du glaubst ja
wohl nicht, dass ich dich, nachdem du den ganzen Nachmittag über nichts
Richtiges gegessen hast, nun mit Zuckerwatte nach Hause schicke, oder?“
Erneut das Grapefruit-Gesicht, kombiniert mit einem Kopfschütteln. „Solche
Gastgeber sind wir nicht, auch wenn mein Sohn das manchmal vergisst.“
Danke für den Seitenhieb, Mum. Ich hab dich auch lieb.
Sie ging zu Rubin und nahm ihm Zuckerwatte und Schal schneller aus den
Händen, als er reagieren konnte.
„Diesen Süßkram auf leeren Magen, weißt du, was das mit deinem
Blutzuckerspiegel anstellt? Das kann ich nicht
verantworten – Diabetes fängt im Kleinen an!“ Der Schal kam auf die
Kommode, die Zuckerwatte drückte sie mir mit einem mahnenden Blick in die Hand.
„Eine ausgewogene Ernährung ist das A und O – du isst heute mit uns.“
„Mum …“ Hatte ich vorhin gesagt, dass ich nichts mehr tun konnte? Das hieß
noch lange nicht, dass ich es nicht trotzdem versuchen würde! Denn
jetzt, als ich sah, wie Mum Rubin in Richtung Wohnzimmer schob, stieg Panik in
mir auf. Ich wollte nicht mit ihm zu Abend essen! Vor allem nicht zusammen mit
meiner Familie. Nicht nach vorhin! „Rubin ist genauso geschafft wie ich
und hat sicher keine Lust, noch länger hier zu bleiben. Kannst du ihm nicht
einfach eines der Sandwichs geben und er verspricht dir, die Zuckerwatte erst
als Nachtisch, zu Hause, zu essen?“
Sie drehte sich zu mir um. „Das Sandwich hatte seine Chance, als es noch
frisch war.“ Und da meine Mutter, wie jeder in meiner Familie, wusste, wie
begeistert ich davon war, Mitschüler bei mir zu Hause zu haben, hieß das
übersetzt soviel wie: Wenn du keinen Gast beim Abendessen haben wolltest,
hättest du dir vorhin etwas mehr Mühe geben sollen. Oder kurz: Selber
schuld!
Verdammt noch mal, wer war denn verantwortlich dafür, dass wir die
Sandwichs nicht gegessen hatten, hä? Ich wollte sie ja holen gehen!
„Ich schicke doch niemanden hungrig nach Hause. Außerdem kommt es auf die
Stunde auch nicht mehr an.“ Sie wandte sich wieder an Rubin, der das Ganze
still und erstaunlich gehorsam verfolgte. „Oder hast du eine feste Zeit, zu der
du zu Hause sein musst? Oder noch etwas vor, heute Abend?“
Darf ich vorstellen: Meine Mutter, Vollkornfreak, regelmäßige
Fitnessstudio-Besucherin und natürlich alles andere als neugierig.
Ich sah zu Rubin, mit einem Blick, der förmlich schrie, er solle Ja
sagen – mir egal, auf welche der beiden Fragen – aber da er
nicht zu mir sah, konnte er ihn nicht bemerken – und ein Teil von mir
war überzeugt, dass das Absicht war. Bastard.
„Nein, weder noch“, antwortete er und lächelte dann
erneut – langsam war echt gut.
Hatte er vorhin nicht noch genauso aus diesem Haus hinaus gewollt,
wie ich ihn vor die Tür setzen wollte? Ich war mir sicher gewesen, dass er
nichts dagegen hatte zu gehen.
„Wunderbar!“ Mum sah mich triumphierend an, nahm mir die Zuckerwatte wieder
aus den Händen und schubste mir dann mit dem Ellenbogen in seine Richtung.
Wie es aussah, wurde ich Rubin immer noch nicht los und es wurde sogar noch
schlimmer: Nun würde er meine Familie kennen lernen. Toll. Wirklich. Genau das,
was ich mir seit meinem ersten Schultag hier wünschte.
Und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich doch tatsächlich
geglaubt, dass seine Augen zufrieden aufblitzten, als ich an ihm vorbei
ging, um ihn ins Wohnzimmer zu führen.
***
„Rubin, hast du schon zu Hause angerufen und gesagt, dass du bei uns essen
wirst?“
Wir – also eigentlich ich, aber freundlich, wie er urplötzlich war,
hatte Rubin seine Hilfe angeboten – waren gerade damit fertig
geworden, den Tisch zu decken und die anderen drei mit dem Versprechen von
Futter ins Esszimmer zu locken, wo sie sich mit gewohnter Schnelligkeit auf
ihren Plätzen niedergelassen hatten, als sich Mum, kaum hatte sie den Salat gut
sichtbar in die Mitte des Tisches gestellt, daran erinnerte, dass man andere ja
behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden wollte – und das
hieß in diesem Fall: Da sie darauf bestand, dass ihre Kinder anriefen, wenn sie
nicht mitessen würden, hatte sie dafür zu sorgen, dass die Gäste ihrer Kinder
in diesem ihren Haus dasselbe taten.
Und ich hatte eine tiefschwarze Vorahnung. Aber zum Glück war ich ja
Optimist und wusste, dass alles gut werden würde.
Haha, genau.
Rubin rückte noch kurz eine Gabel zurecht – wen interessierte
schon, wie die verdammte Gabel lag?! – und sah dann zu meiner
Mutter.
„Das ist nicht nötig, meine Eltern sind nicht zu Hause.“
„Oh. Sie sind ausgegangen?“
Hatte ich schon erwähnt, dass meine Mutter überhaupt nicht neugierig war?
Ich warf Rubin einen warnenden Blick zu und deutete ein Kopfschütteln an,
aber obwohl er diesmal kurz zu mir herübersah, verstand er offenbar nicht, was
ich ihm damit sagen wollte. Daran mussten wir definitiv noch arbeiten, vor
allem, wenn er mein Zuhause während dieser Ferien noch einmal betreten wollte.
„Nein“, antwortete er also idiotischerweise wahrheitsgemäß, „sie sind heute
in die USA geflogen.“
Falsch. Junge, hättest du dir nicht denken können, dass diese Antwort
einfach nur so was von verdammt falsch ist?!
Ich sah, wie es hinter Mums Pony zu rattern begann und schaute Hilfe
suchend zu Pa, aber er zog nur die Schultern hoch – er würde mir
helfen, so gut er konnte, aber wir wussten beide, dass unsere Chancen gering
waren. In diesem Haushalt hatte nun mal offiziell Mum die Hosen an.
„Über Weihnachten? Ohne dich?!“
Rubin schien endlich zu bemerken, dass das Entsetzen in ihrer
Stimme – vor allem gepaart mit der absoluten Stille im
Esszimmer – nichts Gutes bedeuten konnte und beeilte sich zu sagen:
„Nur, weil ich ihnen versichert habe, dass es mir nichts
ausmacht – ich wollte nicht, dass sie auf das Weihnachtsfest bei
unseren Verwandten verzichten müssen, nur, weil ich dieses Jahr nicht mitgehen
will.“
„Aber du kannst doch nicht alleine feiern – das wäre doch kein
Weihnachten!“
„Er ist nicht alleine, Mum“, mischte ich mich nun ein, da ich eine Chance
sah, das Desaster abzuwenden, „seine Freundin bleibt auch hier.“ Nicht
nur Freundin, sondern in den Augen ihrer Eltern sogar seine
Fast-Verlobte – aber ich wollte nicht vom Thema ablenken, das war bei
meiner Mutter nämlich ein äußerst zweischneidiges Schwert, denn die
Wahrscheinlichkeit, dass sie dann nach ein paar Minuten ihre Entscheidung – Diskussion
nicht ausgeschlossen, aber meist völlig nutzlos – verkündete, war
verdammt groß.
„Zwei machen aber noch kein Weihnachtsfest“, sagte sie und zerschlug mit
diesem kleinen, einfachen Satz mein Argument, bevor sie mich und Rubin an den
Tisch scheuchte, damit das Abendessen beginnen konnte – das zumindest
war eine gute Idee, denn Kitty rutschte schon ungeduldig auf ihrem Stuhl umher.
„Geht ihr denn nicht zu Verwandten?“
Rubin hob überrascht die Augenbrauen. Anscheinend hatte er, völlig zu
Recht, wenn man meine Mutter nicht kannte, nicht damit gerechnet, dass daraus
eine solche Diskussion entstehen würde.
„Mum“, übernahm ich das Wort, während ich anfing und Salat in die
Schüsselchen verteilte, die Sue mir hinhielt, „Rubins und
Megans – das ist seine Freundin – Verwandte leben alle in
Amerika. Das ist ja auch der Grund, warum ihre Familien jedes Weihnachten rüber
fliegen, nicht wahr?“
Ich sah ihn an und er nickte knapp. Guter Junge, er war anscheinend
lernfähig.
„Und warum bist du dann dieses Jahr nicht mitgegangen?“ Sie hatte gerade
Kitty ihre Portion gedünstetes Gemüse gegeben und griff nun nach Rubins Teller,
als sich ihre Augen weiteten und sie ein betroffenes Gesicht machte. „Doch
nicht wegen Vyvyan, oder? Nicht wegen der Nachhilfestunden?“
Rubin, der im ersten Moment über diese Annahme verständlicherweise
überrascht aussah, fing sich schnell und erwiderte, immer noch mit diesem
eklig-höflichen Ton, den er schon hatte, seit meine Familie zurückgekommen war:
„Megan wollte gerne hier bleiben, da sie eingeladen wurde, das Fest mit der
Familie ihrer Freundin zu feiern, aber ihre Eltern wollten nicht, dass sie den
Rest der Ferien über alleine bleibt.“
„Dann gehst du mit ihr mit?“
Es war nicht so, dass Mum keinen Respekt vor der Privatsphäre anderer
hatte; sie empfand einfach viele Dinge als nicht so privat wie manch anderer,
und beim Rest, da hielt sie sich an das Motto: Fragen wird ja wohl erlaubt
sein. Theoretisch war sie der Auffassung, dass man nicht zu antworten brauchte,
wenn man nicht wollte, aber wer vorhatte, ihr die Antwort zu verweigern, sollte
zuvor sein Testament machen und den Grabstein aussuchen. Nur so als Tipp.
„Ich habe mich noch nicht entschieden.“
Der Schöpflöffel blieb in der Luft stehen, als Mum den Kopf ein wenig zur
Seite neigte und gekonnt eine Augenbraue noch oben zog. Das hatte sie
ebenso drauf wie Rubin. Oder Pa, nur dass es bei dem meist lustig gemeint war.
„Da heute der dreiundzwanzigste ist, heißt ‚noch nicht entschieden‘ wohl so
viel wie ‚gehe nicht hin‘, oder?“
Ein kleines Grinsen umspielte Rubins Lippen, als er, endlich wieder in
einem natürlicheren Tonfall, antwortete: „Höchstwahrscheinlich.“
Und das war der Moment, in dem ich das Gefühl hatte, irgendetwas ganz
Essentielles verpasst zu haben. Rekapitulieren wir doch die Fakten:
Fakt eins: Rubin und Megan waren Sandkastenfreunde und nach der Meinung
ihrer Eltern so-gut-wie-verlobt.
Fakt zwei: Rubin war für Megan über die Festtage hier geblieben, obwohl
ihre Familien nach Amerika gegangen waren.
Fakt drei: Rubin hatte trotzdem nicht vor, mit Megan Weihnachten zu feiern.
Es lag doch nicht an mir, dass ich Fakt drei beim besten Willen nicht mit
den ersten beiden in Einklang bringen konnte, oder?
Gut, dem Gleichgewicht halber konnte ich noch Fakt vier erwähnen, nämlich,
dass Rubin heute Nachmittag das beste Stück eines
Kerls – meines – poliert hatte, aber seltsamerweise
wollte ich darüber nicht weiter nachdenken. Vor allem nicht während des
Abendessens mit meiner Familie.
Meine Mutter schien seine Antwort auch zu irritieren, allerdings aus
anderen Gründen.
„Ich wiederhole: Du kannst doch nicht alleine feiern – das wäre
kein Weihnachten!“
Da schellten bei mir nicht nur sämtliche Alarmglocken, sondern auch alles
andere, was auch nur ansatzweise in der Lage zu schellen war, doch bevor ich
auch nur den Mund aufmachen konnte, hatte Mum die für sie logischen
Konsequenzen der Fakten eins bis drei ermittelt. Von Fakt viers Existenz wusste
sie ja nichts.
„Du feierst mit uns.“
„Mum!“
Gut, ich gebe zu, dieser mein Aufschrei zeugte nicht gerade von Reife, aber
das ging mir in dem Moment so was von an meinen knackigen vier Buchstaben
vorbei. Ich hatte ihn in mein Haus und in mein Zimmer gelassen, alles nur für
meine Englischnote – und in einem schwachen Moment sogar in meine
Hose – aber Weihnachten war tabu! Ich war mir verdammt sicher,
dass es nicht üblich war, Mitschüler der eigenen Sprösslinge einfach so
einzuladen. Weihnachten war schließlich ein Familienfest und das bedeutete:
Alles, was nicht verwandt war oder mit einem der besagten Verwandten regelmäßig
Körperflüssigkeiten austauschte, hatte keinen Zutritt!
Und da die Betonung des Mittelteils auf regelmäßig lag, schied Rubin
aus. Und wirklich ausgetauscht hatten wir sowieso nichts.
Als Mum nur mit: „Was denn? An Weihnachten müsstest sogar du eine Ausnahme
machen können“ reagierte, wandte ich mich an meine letzte Rettung: meinen
Vater. Bei dem brauchte es glücklicherweise keine weinerlichen Worte, er
verstand mich auch so.
„Liebes, bei den jungen Leuten von heute hat Weihnachten doch einen ganz
anderen Stellenwert als bei uns – da bedeutet das weniger Familie und
mehr Party.“
„Hast du vor, morgen Abend Party zu machen?“, fragte Mum sofort an Rubin
gewandt.
„Nein, ich …“
„Na, siehst du.“
Pa seufzte, sah mich noch einmal an und als sich mein bittender Blick nicht
verändert hatte, setzte er von Neuem an.
„Trotzdem, love, kannst du ihm doch nicht einfach befehlen, her zu
kommen. Oder wie würdest du dich fühlen, wenn du Heiligabend mit Leuten
verbringen müsstest, die du kaum kennst?“
Doch Mum wäre nicht Mum, wenn sie sich von solch schwachen Argumenten hätte
überzeugen lassen.
„Auf jeden Fall besser, als wenn ich alleine mit einer Tiefkühlpizza vor
dem Fernseher säße, während alle, die ich kenne, im Kreis ihrer Liebsten
feiern. Das, mein Lieber, ist einer der Gründe, warum die Selbstmordrate
an den Feiertagen drastisch steigt.“ Sie drehte sich zu Rubin und sah ihn mit
ihrem patentierten forschenden Blick an und griff in demselben Moment zur
Karaffe, um ihm Wasser einzuschenken. „Oder willst du morgen Abend etwa
alleine sein?“
Manche Leute behaupteten ja, dass man immer eine Wahl habe. Nun, diese
Leute kannten Mum nicht. Und da sie Mum nicht kannten, wussten sie auch nicht,
dass simples Wassernachfüllen unter den richtigen Bedingungen zur Drohgebärde
werden konnte.
„Nein, Ma’am, natürlich nicht, aber …“
„Eben.“ Mum sah mehr als zufrieden aus, als sie die Karaffe wieder
hinstellte und verkündete: „Wir erwarten dich also morgen, spätestens um
achtzehn Uhr, freuen uns aber auch, wenn du früher kommst – ab neun
Uhr sind wir alle wach, Mittagessen gibt’s um halb eins.“ Sie lächelte in die
Runde – natürlich, sie hatte ja nicht nur mal wieder ihren Kopf
durchgesetzt, sondern das gleichzeitig noch mit ihrer Version des Geistes
von Weihnachten verbinden können.
„Da das nun geklärt ist, können wir ja mit dem Essen beginnen. Ich wünsche
guten Appetit.“
Genau der war mir gründlich vergangen. Wenigstens hatte Rubin den Anstand
und sah entschuldigend und leicht verloren zu mir herüber. Aber das würde mein
Weihnachtsfest auch nicht retten können.
***
Das Essen verlief Hera sei Dank ohne weitere
Katastrophen – obwohl das fast schon logisch war, denn schlimmer
konnte es eh nicht mehr kommen. Mum war auch so gütig, Rubin danach zu
entlassen, wenn auch nicht ohne nochmals zu betonen, dass er morgen gerne
früher kommen konnte. Ja, darauf war er sicher grausig scharf – noch
mehr Zeit mit mir und meiner Familie zu verbringen.
Als er Schuhe und Jacke angezogen hatte, schob ich ihn fast schon zur Tür
hinaus – nicht gerade unauffällig, das gebe ich zu, aber wen
interessierte das schon? Meine Familie war im Wohnzimmer und schmückte den
Baum, und Rubins Meinung war mir egal.
„Hör mal, ich will euch morgen nicht stören – ich frage mich
sowieso, wie es eigentlich zu diesem Arrangement gekommen ist …“ Er musterte
mich im gelblichen Licht der Lampe über unserer Haustür. „Wenn du willst, rufe
ich dich morgen an und melde mich krank.“
Ich lachte humorlos und ging den kurzen Weg über die Steinplatten durch
unseren Vorgarten. Anscheinend hatte er immer noch nicht begriffen, was für
eine Person meine Mutter war.
„Tu das und du verbringst den Rest der Ferien in unserem Gästezimmer, mit
mir als deiner Krankenschwester.“
Er gluckste leise. „Das ist doch mal eine Alternative …“
Ich drehte mich zu ihm um ohne anzuhalten. „Glaub mir, das würdest du nicht
überleben – dafür würde ich sorgen.“
Er grinste nur breit.
Die nächsten Meter gingen wir schweigend, sobald wir auf den Bürgersteig
traten auch mehr oder weniger nebeneinander, bis Rubin erneut das Wort ergriff.
„Wann soll ich morgen erscheinen?“
Ich seufzte, zuckte mit den Schultern und seufzte nochmals, zur
Dramatisierung und Pointierung meines Gemütszustandes.
„Am besten zwischen halb zwei und halb vier – außer, du willst
Mum eine Freude machen und mit uns zu Mittag essen, dann zwischen viertel vor
und viertel nach Zwölf.“
„Ich kann doch nicht unangemeldet zum Essen auftauchen.“
„Sie hat dich eingeladen – das bedeutet, dass sie so oder so für
dich mitkocht“, antwortete ich. Langsam sickerte die Erkenntnis in mein
Bewusstsein, dass ich mich damit abfinden musste, den morgigen Tag mit Rubin zu
verbringen. Hätte mir das jemand gestern Morgen gesagt, hätte ich ihn
ausgelacht. Scheiß Veränderungen.
Die Bushaltestelle kam in Sicht und ich machte mich bereit, umzukehren,
sobald das schwache Licht Rubins Haare erfasste.
„Na dann …“, begann ich und wollte mich umdrehen, aber er hielt mich auf.
„Vyvyan“, rief er, stoppte, sah mich an, kam einen Schritt auf mich
zu und öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte. Ich wartete, aber er
schwieg. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, da er mit dem
Rücken zur einzigen Lichtquelle stand, die uns erreichte – die
Straßenlaterne ein paar Meter entfernt war kaputt.
Ich versuchte trotzdem, an seiner Körperhaltung und -sprache etwas
abzulesen, aber alles, was mir auffiel, war, dass wir, wenn nicht genau, dann
verdammt nah an gleich groß waren. Wenn, dann war wahrscheinlich ich einen oder
zwei Zentimeter größer – warum hatte ich dann trotzdem immer das
Gefühl, als würde er auf mich herunterschauen? Aber gut, Ausstrahlung ließ sich
eben nicht auf das Äußere beschränken.
Schließlich räusperte er sich.
„Vergiss den Aufsatz nicht – den musst du natürlich trotzdem
schreiben“, sagte er in seinem Nachhilfelehrerton, der sich aber das erste Mal
seltsam aufgesetzt anhörte. Ich war mir sicher, dass er eigentlich etwas
anderes hatte sagen wollen, aber wenn er sich dagegen entschieden hatte, würde
ich nicht nachfragen.
„Natürlich, was denn sonst“, erwiderte ich und war froh, als der Bus aus
dem Dunkeln erschien und stockend neben uns zum Halten kam.
Rubin ging zur Tür, drückte auf den Knopf und drehte sich dann noch einmal
um.
„Bis morgen, Vyvyan.“
Langsam bekam ich das Gefühl, er würde sich nie wieder anders von mir
verabschieden.
*********
„Ich mag seine Mutter.“
Als Megan lachte, rauschte es in der Leitung. „Ich frage mich, ob sie dich
mögen würde, wenn sie wüsste, was du nur ein paar Stunden vorher mit ihrem
Jungen angestellt hast.“
„Ganz zu schweigen davon, wenn sie wüsste, was ich alles noch gerne mit ihm
anstellen würde …“
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