Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 18. Dezember 2013

Von Edelsteinen und Papierengländern 08:


Am nächsten Morgen fühlte ich mich verkatert, obwohl ich doch gar nichts getrunken hatte. Dafür – und das muss ich zu meiner Schande gestehen – hatte ich einige Einschlafschwierigkeiten gehabt. Aber mal ehrlich: So überraschend war das nicht, nicht nach allem, was gestern passiert war, oder? Es wäre viel seltsamer gewesen, wenn ich einfach rums, bums wie ein Baby eingeschlafen wäre – zumindest redete ich mir das so lange ein, bis ich es glaubte, ob es nun stimmte oder nicht.
Meine Einschlafschwierigkeiten kamen nicht davon, dass ich darüber nachdachte, wie ich so etwas mit einem Jungen tun konnte, oder was die Tatsache, dass es aufregender gewesen war als der Sex mit meiner Ex, für meine sexuelle Orientierung bedeutete.
Zumindest nicht nur.
Mir war seit Längerem klar, dass ich männliche Körper anziehender fand als weibliche. Seit über vier Jahren, um genau zu sein – seit meiner dreizehnten Geburtstagsfeier, um ganz genau zu sein. Und seit ich mir sieben Monate danach aus zweiter Reihe hatte mit ansehen dürfen, wie der soziale Mikrokosmos ‚Schule‘ darauf reagierte, wenn sich ein halbwegs beliebter Kerl outete, wusste ich, dass ich mir das nicht antun würde. Eine Woche später hatte ich meine erste Freundin, ein gutes Jahr danach hatte ich mir mit meiner zweiten Freundin dann bewiesen, dass er auch bei Frauen funktionierte.
… Zugegeben, manchmal brauchte es dazu ein wenig Kopfarbeit, aber das nahm ich gerne in Kauf, wenn es um meine Zukunft ging. Und in meiner Zukunft kam weder ‚Tunte‘ noch ‚Schwuchtel’ und schon gar nicht ‚Schwanzlutscher’ vor, vielen Dank auch.

Beim Hades, ich wollte mir nicht vorstellen, was ein Outing für meinen sorgfältig erarbeiteten Status bedeutet hätte! Ich musste es ja auch nicht, da ich es wusste: den schnellen, aber deswegen nicht weniger schmerzhaften und verdammt noch mal absoluten Tod. Nichts mit Elysion oder gar Olymp, nein – da blieb nur noch der Tartaros. Und darauf hatte ich nun mal keine Lust.
Und genau deshalb würde es nicht herauskommen. Rubin würde nichts sagen, das würde ich sicherstellen – wie, das wusste ich noch nicht, aber ich würde es tun, davon war ich überzeugt – sogar wenn ich es nicht schaffen sollte, war ja wohl klar, dass ich gerade heraus lügen würde, wenn man mich fragte, ob wir uns gegenseitig einen runtergeholt hätten.
Das Problem, der Knackpunkt, der verdammte mistige Hauptgrund meiner Einschlafschwierigkeiten war ein anderer; zwei kleine Fragen, die beide mit ‚was‘ begannen:
Was war ‚es‘ genau gewesen und was bedeutete das jetzt?
Selbstverständlich versuchte ich mir einzureden, dass es Nichts Weiter gewesen war und auch Nichts bedeutete. Wir hatten Druck ablassen müssen, das war alles. Das Problem war nur, dass ich das nicht einhundertprozentig glaubte. Noch nicht einmal neunzigprozentig. Und neunzig Prozent, so schien es, war die Mindestanforderung für ruhigen Schlaf.
Mein überfordertes Hirn, das nebenbei auch noch verdrängen musste, dass Weihnachten gestorben – nein, hinterlistig von der eigenen Mutter erdrosselt worden – war, kam einfach auf zu viele Fragen und zu wenig zufriedenstellende Antworten.
Warum hatte ich plötzlich so auf seine Nähe reagiert? Hatte mein Körper was bemerkt, dass ich übersehen hatte?
Warum hatte Rubin das überhaupt getan? Druck ablassen hätte er auch – ganz unkompliziert und ungefährlich – zu Hause können. Befürchtete er denn nicht, dass ich das herumerz… okay, darauf wusste ich die Antwort: Nein. Dann wäre mein Ruf schließlich dahin gewesen. 
Und, wenn auch völlig unwichtig: Hieß das, Rubin war bi? Immer, oder nur gelegenheits-bi?
Und warum hatte er ausgerechnet mich angemacht? Weil ich gerade in greifbarer Nähe war oder – oder sah man es mir etwa an?!
Oh, bei Zeus, bitte nicht! War ich irgendwann im letzten halben Jahr, ganz unbemerkt von mir selbst, doch zur Schwuchtel mutiert?
Und, nur, um das klarzustellen: Ich hatte nichts gegen Homosexuelle – noch weniger als gegen Amis. ‚Schwuchtel‘ bezeichnete in meinem kleinen Universum einfach jemanden, dem man seine Homosexualität ansah, ob er nun geoutet war oder nicht. ‚Tunte‘ dagegen jemanden, der es darauf anlegte, dass auch jeder es gleich beim ersten Blick mitbekam. Ich hätte mir dafür sicher auch andere Bezeichnungen ausdenken können, aber ehrlich gesagt war mir das zu doof und ich zu unkreativ. Es waren sicher keine Komplimente, aber erstens benutzte ich die Wörter nicht außerhalb meines Kopfes und zweitens waren beide Verhaltensweisen für mich auch entweder masochistisch, selbstmörderisch oder einfach nur strohdumm. Intelligente Homosexuelle wussten, wie intolerant die Gesellschaft war und passten sich an, ob geoutet oder nicht, damit sie sich nicht gleich alle Chancen verbauten. Homophobie sah man den Menschen schließlich nicht an, auch nicht, wenn sie einem im Geschäftsanzug gegenübersaßen.
Aber falls ich zu meiner Definition einer Schwuchtel geworden war, wer hatte es dann bereits bemerkt? Rubin, offensichtlich, aber – etwa noch andere? Was war mit Fee? Theo? Kim?!
… Dann wäre ich bei unserer nächsten Begegnung Mus.
Das war mein ganz persönliches Horrorszenario. Und weil es das war, versuchte ich gleich, mich von seiner Unwahrscheinlichkeit zu überzeugen. Das beste Argument dabei: dass sich niemand anders benommen oder gar Anmerkungen gemacht hatte. Nein, sie waren alle ganz normal gewesen.
Und Rubin, Rubin schien ja sowieso ein ärgerlich genauer Beobachter zu sein. Wenn er der einzige war, der bemerkte, wie egal mir meine Freunde waren, dann war er wahrscheinlich auch der einzige, der die Möglichkeit gesehen hatte, dass meine etwas zu langen Seitenblicke auf Kims Rücken in der Umkleide nicht nur neidisch-bewundernd gewesen waren. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass Rubin mir und meinem Verhalten so viel Beachtung schenkte, aber es war viel weniger unangenehm, als die andere Möglichkeit.
In all diesem Chaos war mir nur eines klar: Die Tatsache, dass Rubins Hand an meinem besten Stück gewesen war, hatte nichts an meiner nicht vorhandenen Sympathie für Rubin geändert. Und solange es unser kleines Geheimnis blieb und ich ihn bei Frauen noch hochbekam, war es kein Problem – nur einfach ein weiteres Detail, das die Welt da draußen nichts anging.
Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn da nicht jedes Mal ein Kribbeln in meinen Lenden gewesen wäre, wenn ich mir Rubins Berührungen allzu deutlich vorstellte.

***

Und nun lag ich in meinem Bett, wach seit einer guten halben Stunde. Es war kurz nach halb neun und ich wusste, dass, wenn ich in zwanzig Minuten nicht aus dem Bett stieg, Sue kommen würde, um mich unnötigerweise zu wecken, was sie natürlich bemerken würde und da ich, wie alle in meiner Familie, zu den Frühaufstehern zählte und nach dem Aufwachen selten länger als fünf Minuten im Bett blieb, würde sie wissen, dass etwas nicht stimmte. Natürlich konnte ich sie dann auf das verdorbene Weihnachtsfest aufmerksam machen, aber sie war nicht dumm; das einzige, worauf ich hoffen konnte, war, dass sie aus Taktgefühl nicht fragen würde – und, dass wirklich Sue und nicht Kitty kam, denn meine Kleine und Taktgefühl waren Antonyme.
Mein Handy piepste. Eine Nachricht von Fee – sie wünschte mir fröhliche Weihnachten und all das. Ich antwortete, ließ die Hand dann sinken. Sie würde garantiert gleich zurückschreiben und noch mindestens eine Antwort von mir erwarten.
Fee.
Scheiße.
Darüber, wie ich mich in Bezug auf sie verhalten sollte, hatte ich noch nicht nachgedacht. Was konnte ich tun? Was musste ich tun?
Egal, was Rubin gesagt hatte, das gestern war nicht okay gewesen. Wäre es das, hätte ich es ihr schließlich ohne Probleme erzählen können – aber das war selbstverständlich undenkbar.
Verdammte. Scheiße.
Ich hatte bisher noch keine meiner Freundinnen betrogen und hatte nie vorgehabt, es zu tun. Und Fee war ein nettes Mädchen, sie verdiente es nicht, hintergangen zu werden.
Also was? Schluss machen? An Weihnachten? Das ging ja mal gar nicht. Nein, das konnte ich nicht, das wäre so richtig scheiße von mir – und würde, ganz abgesehen von allem anderen, auch in der Schule ein schlechtes Licht auf mich werfen.
Was dann?
Weitermachen, als sei nichts gewesen, und im neuen Jahr die Beziehung beenden?
Oder … einfach nur weitermachen, als sei nichts gewesen?
Nein. Allein der Gedanke verwandelte meine Eingeweide in einen keltischen Knoten.
Also Schluss machen. Im neuen Jahr.
Ach, Mist. Sie war so angenehm. Im Gegensatz zu vielen Mädchen wirklich erträglich. Ich hatte weder Lust, Single zu sein, noch, mir einen akzeptablen Schluss-Mach-Grund auszudenken, der mich nicht zum Arschloch des Jahres machte.
Wieso zum Hades hatte ich Rubin gestern nicht einfach weggeschubst? So eine Scheiße aber auch!
Mein Handy piepste erneut und kündigte mir Fees Antwort an – mit einer Zuckerhaube: Ihre Familie hatte beschlossen, über Silvester ihre Tante zu besuchen. Ich schrieb ihr zurück, wie schade ich es doch fände, dass wir Silvester nicht gemeinsam verbringen konnten, und dass wir uns aber sicher vorher noch sehen würden. Sie schien zufrieden. Wäre ich auch gern gewesen.
Langsam wurde es wohl wirklich Zeit aufzustehen. Ich zog die Decke mit einem kräftigen Ruck von mir runter – der Tag konnte beginnen, ich war gewappnet. Oder zumindest wünschte ich mir das.

***

„Und was genau, denkst du, tust du da?“, fragte ich, als ich mich mit einer Toastscheibe im Mund an den Türrahmen zum Wohnzimmer lehnte. Hoffentlich würde Mum nicht auftauchen und mich dabei erwischen, wie ich mein Frühstück im Haus umherschlendernd aß.
Sue schreckte hoch und drehte sich ruckartig um.
„Vyvyan, du bist’s!“ Sie lächelte schief, warf einen Blick in den Flur hinter mir und atmete aus. „Ein Glück!“
„Ach?“ Ich sah demonstrativ auf die silberne Kugel in Sues Hand. „Es ist also ein Glück, dass ich dich dabei erwische, wie du meine und Kittys Lieblingskugeln gegen rosarote austauschen willst?“
Sie sah runter auf ihre Hand und versteckte diese dann schnellstens hinter ihrem Rücken. „Vyvyan, das siehst du falsch – ich dachte nur, ein bisschen mehr Farbe würde dem Baum gut tun – Silber ist so schrecklich kalt, das passt gar nicht zu Weihnachten!“
Ich stieß mich ab und ging langsam auf sie zu. „Deshalb haben wir uns gestern ja auch für Bienenwachskerzen entschieden – etwas Wärmeres als das gibt es nicht.“
Uwäh, als ich näher kam, sah ich, dass sie es tatsächlich gewagt hatte, drei ‚ihrer’ Kugeln aufzuhängen – in allergrässlichstem Blassrosa. Wie konnte sie nur?
„Die Kerzen alleine reichen aber nicht“, erwiderte sie und versuchte, die Kugeln mit ihrem Körper zu verdecken, obwohl sie sicher schon an meinem Gesicht erkannt hatte, dass ich sie gesehen hatte.
Ich schob sie sanft weg und nahm mit meiner freien Hand – das war die, in der ich nicht mein Frühstück hielt – eines der Alptraumdinger wieder weg. Ehrlich, was beim Hades war nur daran schuld, dass meine eigene Schwester, eigentlich einer der liebsten und nettesten Personen der Welt, auf Rosa und Pastelltöne stand? Irgendwas musste schrecklich schief gelaufen sein. Irgendwie, irgendwo, irgendwann.
„Wenn du mehr Wärme am Baum willst, dann solltest du eigentlich Pas gelbe – Pardon, goldene Kugeln nehmen. Die sind um einiges wärmer als dein mit Weiß gemischtes Möchtegern-Rot.“
Nun war es an Sue, das Gesicht zu verziehen.
„Komm schon, Vyvyan – Vyvy! Das meinst du nicht ernst; Gold ist so … prollig.“
Ich grinste.
„Findest du? Ich kann ja mal Pa dazuholen und wir hören, wie er die Farbe und ihre Bedeutung für Weihnachten beschreiben würde – falls du gestern Abend nicht zugehört hast, natürlich.“
Am Vorabend hatten wir danach, wie jeden dreiundzwanzigsten Dezember, den Baum zu Ende geschmückt und gute zwei Stunden damit verbracht, uns auf die Farbgebung zu einigen – eigentlich völlig überflüssig, denn dieses Jahr war ich dran mit Auswählen, aber auch wenn wir abwechselten, genossen wir es, uns ein wenig zu kabbeln, vor allem deshalb, weil es nie ins Ernste abrutschte. Und da ich  am Zug war, stand die Farbe von vornherein fest. Ich fand einfach, dass Silber am schönsten aussah; schlicht, aber elegant. Zugegeben war es trotz des Abwechselns nicht ganz fair, denn Kitty und ich teilten unsere Vorliebe für diese Farbe, aber das war nun wirklich nicht unsere Schuld. Zumindest nicht offiziell.
Sue sah mich nur mit großen, grünen Augen an und rollte eine ihrer rosaroten Kugeln in den Händen. Keine Ahnung, wann sie die silberne weggelegt hatte.
„… Vyvy? Bitte?“, fragte sie, als sie glaubte, mich lange genug ihrem Dackelblick ausgesetzt zu haben.
Dackelblicke funktionierten bei mir grundsätzlich nicht – das wiederholte Bitten einer meiner Schwestern dagegen in neunzig Prozent der Fälle.
Ich seufzte und ihre Augen begannen im selben Augenblick zu strahlen.
„Kein Rosa“, sage ich, bevor sie allzu euphorisch wurde, „aber wir können die dunkelroten Kugeln aus dem Keller holen. Deal?“
Deal.

***

Wenig später hatten wir den Karton mit dem roten Set heraufgeholt – eigentlich nicht wir, sondern ich, während Sue schon mit größtmöglichem Vergnügen anfing, Silberkugel abzuhängen – und mit dem erneuten Schmücken des Baumes begonnen. Das Feuer im Kamin brannte bereits, denn das hatte Pa heute irgendwann gegen sieben Uhr angefacht und war nun dafür zuständig, dass es auch den ganzen Tag hindurch brannte.
„Sag mal, Vyvyan“, begann Sue und ich merkte sehr wohl, dass ich jetzt, wo sie bekommen hatte, was sie wollte, wieder Vyvyan und nicht mehr ‚Vyvy‘ war, „du und Rubin, seid ihr gut befreundet?“
Ich drehte mich zu ihr um, nahm die silberne Kugel aus ihrer Hand und hängte sie wieder zurück an den Baum. „Ein paar lässt du bitte dran, ja?“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Murmeln. Dann sah ich ihr in die Augen, hob meine Brauen etwas an und antwortete um so deutlicher:
„Wir sind gar nicht befreundet.“
„Aber ihr seid doch in einer Klasse, oder?“ Der zweite Satz, der ungesagt im ersten mitschwang, war: Und du freundest dich doch immer mit den Leuten aus deiner Klasse an.
Ich bückte mich, nahm noch eine rote Kugel mit glitzernden weißen Verzierungen und zupfte, bevor ich sie aufhängte, ein paar Lamettafäden aus den Nadeln – Lametta war eklig, egal in welcher Farbe.
„Er ist ein Außenseiter“, erwiderte ich schließlich.
„Ach so.“ Das sagt alles.
Ja, das tat es. Sich mit Außenseitern abzugeben brachte einem nichts außer Ärger – was die erste Nachhilfe gestern mehr als bewiesen hatte. Nicht nur war meine Beziehung nun futsch, sondern Weihnachten gleich mit. 
Eine Weile war es ruhig, nur der Baum raschelte und die Kugeln klirrten leise, wenn wir aus Versehen die Äste streiften. Ab und zu knackte es im Kamin.
Ich war froh, dass niemand in meiner Familie auf Weihnachtslieder stand; ich hätte es wohl nicht ausgehalten, das Gedudel auch noch zu Hause mit anhören zu müssen. Weihnachtslieder, da waren wir uns einig, waren etwas, das man draußen, im Supermarkt oder im Restaurant hörte, auch im Kaufhaus oder im Taxi, aber nicht dort, wo man die Hintergrundgeräusche selbst aussuchen konnte. Deshalb war es bei uns während den Festtagen verhältnismäßig still; ansonsten lief immer das Radio, aber da das während dieser Zeit nichts Gescheites brachte und sogar der verdammte Rocksender nur noch Weihnachtslieder spielte, ließen wir es lieber aus. Auf die Idee, stattdessen eine CD einzulegen, kam irgendwie niemand.
„Er scheint nett zu sein“, sagte Sue in die Stille hinein.
„Das ist richtig“, erwiderte ich, „er scheint. Er ist es nicht.“
„Gestern hat er sich ganz anständig verhalten.“
Wir sahen einander nicht an, sondern dekorierten weiter den Baum – mittlerweile hängte Sue silberne Kugeln ab und rote und Lametta auf und ich tat das Gegenteil; es war ein ewiger Kreislauf im Miniformat.
„Stimmt, solange ihr da wart, war er höflich, aber auch nur dann. Sonst ist er immer verdammt arrogant.“
Das stimmte so nicht ganz, fiel mir auf. Rubin war auch mehr oder weniger umgänglich gewesen, als wir alleine waren. Aber darüber wollte ich dann doch nicht genauer nachdenken.
„In erster Linie sind wir nicht nicht-befreundet, weil er ein Außenseiter ist, sondern, weil er sich vom ersten Schultag an unhöflich und abweisend mir gegenüber benommen hat. Grundlos, wie ich anmerken darf.“
Sue hielt inne und sah um den Baum herum zu mir. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Glaub’s ruhig.“ Ich kämpfte mir einem Lametta, das mehrere Male um den Ast geschlungen war und sah dann triumphierend auf, als ich es in der Hand hielt. „Es ist die Wahrheit.“
„Hm“, machte sie und das schalkhafte Lächeln, das sich in ihre Mundwinkel schlich, gefiel mir gar nicht, „Ist da etwa jemandes Ego angekratzt? Weil dir nicht gleich alle zu Füßen gelegen sind?“
„Nein!“ Meine Augenbrauen zogen sich so nahe zusammen, dass sie sich gegenseitig einen guten Morgen wünschen konnten. „Aber meine Sympathie hat er sich damit trotzdem verspielt.“
„Welche Sympathie?“ Sie kam die drei Schritte um den Baum herum auf mich zu. „Etwa die, die du deinen Freunden nur vorspielst?“ Sie sah mich einen Moment lang an und schüttelte den Kopf. „Weißt du, Vyvyan, ich denke nicht, dass er die sehr vermissen wird.“
Ich schnaubte und wollte mich wegdrehen, sie seufzte und hielt mich davon ab, indem sie mir mit gespreizten Fingern durch die Haare fuhr. „Warum gibst du ihm nicht noch eine Chance? Wenn er dich wirklich nicht mögen würde, wäre er gestern nicht zum Essen geblieben – und er würde ganz sicher heute nicht vorbeikommen.“
Ich genoss ihre Berührung. Es war eine von denen, bei der das Gefühl dahinter viel mehr aussagt, als die Bewegung oder der Hautkontakt; eine von denen, die nur möglich waren, wenn man sich wirklich kannte und einander vertraute, wenn man wusste, dass keine Hintergedanken dabei waren – die nur in der Familie möglich war, eben.
„Und was würde mir das bringen?“
„Wer weiß?“, fragte sie und zupfte eine meiner Strähnen zurecht. „Vielleicht nichts, vielleicht aber mehr, als du dir vorstellen kannst. Du musst es schon ausprobieren, um darauf eine Antwort zu bekommen.“
„Das ist mir zu schwammig“, erwiderte ich, „ich investiere meine Energie lieber in Dinge, die mich weiterbringen.“
„Vielleicht täte das eine Freundschaft ja – verlieren kannst du dabei jedenfalls nichts.“
Nein, nur meinen guten Ruf, wenn man sah, wie ich mich mit Rubin plötzlich freundschaftlich unterhielt. Außerdem zweifelte ich, ob eine Freundschaft zu ihm überhaupt möglich war – und da gab es mehr als einen Grund zu.
Meine Gedanken mussten mir mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn sie grinste schief und gab mir einen sanften Knuff gegen den Unterkiefer.
„Überleg’s dir einfach mal, ja? Mir zuliebe.“ Dann nahm sie mir das Lametta aus der Hand, hängte es auf einen freien Ast und nickte zufrieden. „Ich glaube, der Baum ist fertig geschmückt.“

Das war er eindeutig nicht, denn die eine Hälfte war ausgeglichen rot-silbern und ohne das metallene Möchtegern-Stroh, während die andere deutlich röter und Lametta-verseucht war, aber Sue verließ das Zimmer trotzdem und überließ es gnädigerweise mir, den goldenen Mittelweg zu finden, während sie zu Mum in die Küche ging und ihr höchstwahrscheinlich mitteilte, dass sie die Tischdekoration nun so aussuchen musste, dass sie zu einem rot-silbernen Baum passte. Und dem genervten Aufschrei eine Minute später, als Mum ins Wohnzimmer kam und das Übel mit eigenen Augen sah, zufolge, war sie über meine Kompromissfähigkeit gar nicht begeistert. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sie die Deko schon seit Wochen geplant hatte, da es mein Jahr war und ich immer Silber wählte.
„Ich habe doch gar keine roten Servietten mehr!“ Sie starrte direkt an mir vorbei und sah wohl nur noch Kugeln, rote Weihnachtskugeln, die unschuldig vor sich hinglänzten.
„Macht doch nichts“, erwiderte ich, auch wenn es nicht speziell an mich gerichtet gewesen war, „Tausch eben die silbernen Kerzen auf dem Tisch gegen rote aus.“
Nun fokussierten sie mich; einen Moment lang sah sie erleichtert, dann zweifelnd und schließlich eine Mischung aus beidem aus.
„Du denkst, das reicht?“
Ich nickte. „Klar, zusammen mit dem Rotwein, den wir trinken, sicher. Der Baum ist mittlerweile mehr rot als silbern; da darf der Tisch ruhig mehr silbern als rot sein.“
Sie ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. „Gut. Ich würde dich jetzt küssen, wenn du nicht Schuld an meiner Krise gewesen wärest.“ 
Sie war herzlich wie immer.
Mum drehte sich schon um und wollte zurück in die Küche gehen, als sie sich noch einmal umentschied.
„Sag mal, Vyvyan“, fing sie an, „denkst du, Rubin kommt zum Mittagessen?“
Na toll. Da dachte ich, endlich ein wenig Ruhe vor ihm zu haben, und dann kam Mum. Super.
„Keine Ahnung.“
„Hast du ihm denn auf dem Weg zur Bushaltestelle noch einmal gesagt, dass er gerne mit uns zu Mittag essen darf?“
Der unterschwellige Satz diesmal: Dafür habe ich dich schließlich mitgeschickt.
„Ja.“ Da Mum sich noch immer nicht zufrieden gab, hängte ich nach einigen Sekunden hinzu: „Ich habe ihm gesagt, dass du sowieso für ihn mitkochen wirst, ob er kommt oder nicht.“
„Sehr schön!“ Sie klatschte in die Hände und stemmte diese dann in die Hüften. „Dann kommt er sicher – so ein höflicher Junge wird mich nicht auf meinem Essen sitzen lassen.“ Sie nickte, um sich das Gesagte selbst noch einmal zu bestätigen und lächelte mich dann an.
„Gut gemacht, Maus!“
Maus. Maus! Was war nur mit den alten Übernamen heute? Erst nannte mich Sue Vyvy und nun Mum Maus. Vor allem: Maus benutzte Mum nur noch, wenn ich ihr wirklich eine Freude gemacht hatte – und das in Verbindung mit Rubin wurmte mich. Sehr.
„Was habt ihr eigentlich alle mit Rubin, verdammt noch mal?!“ Ich knallte den letzten Büschel Lametta, den ich zwischen den Nadeln herausgepult hatte, in die offene Schachtel mit rotem Weihnachtsschmuck und hielt mich selbst nur knapp davon ab, ihr auch noch einen Tritt zu geben. „Ihr tut so, als sei er mein neuer bester Freund und dazu noch der tollste Typ der Erde. Ich kann dir sagen, er ist keins von beidem!“
Mum runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du musst nicht gleich wütend werden, deswegen. Ich finde ihn nett, immerhin war er gestern sehr höflich und er hilft dir – und da du mich noch nicht um Geld gebeten hast, nehme ich an, er tut es gratis. Außerdem“, sagte sie und musterte mich kurz, „hat Kate gestern auf dem Markt erzählt, dass du gar nicht glücklich ausgesehen hast, als er kam. Sie war darüber verwundert und, ehrlich gesagt, das war ich auch, als ich die knurrige Grimasse sah, die du während des Abendessens gezeigt hast – du, ausgerechnet vor deinem Pultnachbarn? Verzeih mir, aber das ist absolut neu für mich – für uns.“
„Braucht es nicht zu sein.“ Ich bückte mich und verschloss den Karton, nachdem ich sichergestellt hatte, dass auch der ganze nicht benötigte Schmuck darin verstaut war. „Rubin ist – wie ich vor wenigen Minuten Sue schon erklärt hab – ein Außenseiter und wir verstehen uns alles andere als gut. Ich bin auch in der Schule nicht freundlicher zu ihm, warum also zu Hause?“
Völlig unbeeindruckt zuckte Mum mit den Schultern.
„Na, es ist immer noch das erste Mal, dass du einen Außenseiter mit nach Hause bringst. Noch dazu am dreiundzwanzigsten.“
„Glaub mir, das war auch nicht meine Idee.“ Karton zu, auf den zweiten gestellt und hoch mit beiden. „Aber ich hab keinen Bock drauf, in Englisch durchzufliegen. Ich hab bloß das kleinere Übel gewählt.“ Ich ging mit den Kisten auf dem Arm auf sie zu, da sie immer noch in der Tür stand. „Und mittlerweile bereue ich das – hätte ich gewusst, dass ihr ihn gleich halb adoptiert, hätte ich mir diese Scheißsprache doch lieber von Pa erklären lassen!“
Ich versuchte, so wütend auszusehen, wie ich mich gerne gefühlt hätte, aber wusste irgendwo, dass es wahrscheinlich eher trotzig und unreif wirkte. Das wurde mir bestätigt, als ich mich an Mum vorbeidrückte, um die Kartons in den Keller zu bringen und hören konnte, wie sie genervt seufzte.

***

Mum sollte Recht behalten; Rubin kam tatsächlich gegen zwölf Uhr, pünktlich zum Mittagessen also. Ihr könnt euch die euphorische Freude, die in meinem Innern herrschte, sicher vorstellen.
Musterjunge, wie er vor meiner Familie war, hatte er auch ein kleines Mitbringsel dabei – auch wenn das niemand erwartet hatte, schon gar nicht bei einer so kurzfristigen Einladung. Aber natürlich nahm meine Mum die Blumen – wo hatte er die her? – gerne entgegen und die Flasche Wein, die den Strauß begleitete, konnte auch nicht so schlecht sein, wenn das erfreute Grienen meines Vaters irgendein Anhaltspunkt war.
Rubin trug ein schwarzes Hemd, das seine Haare fast weiß Aussehen ließ, und eine dunkle Bluejeans, die an den richtigen Stellen ein wenig ausgebleicht war – mir fiel auf, dass er das noch nie in der Schule getragen hatte. Im nächsten Moment gab ich mir eine mentale Kopfnuss.
Was gingen mich seine Klamotten an? Und sowieso: Woher wollte ich das denn überhaupt wissen? War ja nicht so, als ob ich jeden Tag sein Outfit checkte, verdammt noch mal!
Ich beobachtete sein Eintreffen von der Treppe aus, hatte mich auf den zweitobersten Tritt gesetzt, die Ellbogen auf den Knien, so dass er mich erst bemerkte, als Mum sich in Richtung Esszimmer begab und dabei, wie nebenbei, meinte:
„Vyvyan, sorgst du bitte dafür, dass Rubin etwas zu Trinken bekommt?“
Rubin hob erst die Augenbrauen und warf einen Blick in den Gang vor ihm, sah dann aber zu mir herauf und verzog ansatzweise die Lippen – zu dem Lächeln, das er meinen Eltern gezeigt hatte, reichte es bei Weitem nicht.
„Hallo, Vyvyan. Frohe Weihnachten.“
„Hallo“, antwortete ich und stand schwerfällig auf, „Gleichfalls.“
Du mich auch.
Ich ging hinunter und an ihm vorbei in die Küche.
Er war tatsächlich da. Ich wusste, das kam jetzt etwas spät, aber es wurde mir erst in diesem Moment bewusst. Das hieß also, nicht nur einen ganzen Abend mit ihm, sondern einen Nachmittag dazu – und diesmal hatten wir keine zehntausend Aufgaben, die ich lösen musste und die mir – uns – somit eine Beschäftigung gaben. Was sollte ich nur einen Nachmittag lang mit Rubin machen? Ich kannte ihn ja noch nicht einmal wirklich und war mir ziemlich sicher, dass wir nicht besonders viele gemeinsame Gesprächsthemen finden würden.

***

Das mussten wir auch nicht, zumindest nicht gleich. Das Mittagessen verlief friedlich, mit dem üblichen Geplapper meiner Familie; Pa brummte etwas über unfähige Politiker und noch miesere Fußballtrainer, Mum regte sich zwischendurch einmal mehr über ihren Vorgesetzten auf, Sue jammerte, weil das Buch, das sie gerade lesen musste, so staubtrocken wie ein Sack Mehl war und Kitty, tja, Kitty schwärmte jetzt schon mal von den Geschenken, die sie hoffentlich heute Abend bekommen würde. Sie war die einzige, die sich jedes Jahr den ganzen Tag hindurch hibbelig verhielt, wir andern nutzen die Stunden, um uns vom dreiundzwanzigsten zu erholen und uns auf den Abend zu freuen. Je normaler der Nachmittag war, desto spezieller erschien einem dann das Fest am Abend, oder so.
Auch Rubin wurde in die Gespräche miteinbezogen und Mum konnte es nicht lassen, ihn ein paar Kleinigkeiten zu fragen: wo er wohnte, ob seine Eltern gut angekommen seien, ob er meine Freundin, die ich noch nicht mit nach Hause genommen hatte, kannte; solche Dinge eben. Und auch wenn ich bei der letzten Frage genervt aufstöhnte, war ich froh, dass sie nicht mehr ins Detail ging. Bei Mum war das zwar fast schon verdächtig, denn Kittys Neugier kam ja bekanntlich nicht von ungefähr, aber ich wusste, dass sie versuchte, Rücksicht auf mich zu nehmen, immerhin hatte ich nicht oft solche Ausbrüche wie an diesem Morgen.
Alles in allem war ich wohl der Schweigsamste, auch wenn das kein Kunststück war, denn meine Liebsten waren nun mal ziemlich redefreudig. Nur, dass sogar Rubin mehr sagte als ich, das wollte ich nicht so ganz verstehen; ich war schließlich nicht derjenige, bei dem sich keiner gewundert hätte, wenn er einen ganzen Schultag lang kein Wort sagte.
Aber gut, in den Ferien und vor allem an Weihnachten war wohl alles ein wenig anders. Außerdem hatte ich die Ausrede, dass ich mich unwohl fühlte – und das zu Anfang sehr demonstrativ, bis ich mich selbst über mein kindisches Verhalten aufregte. Meiner Familie muss ich zugute halten, dass sie es mir nicht übel nahm.
Als das Essen beendet war und ich die Teller in die Küche brachte, stand Pa bereits an der Spüle.
„Was machst du da?“, fragte ich und stellte die Teller daneben, „Heute bin doch ich dran?“
„Hm, ja“, erwiderte er, „aber ich dachte, ich mach das. Du hast schließlich Besuch.“
Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich mit der Schulter leicht gegen seine, um ihn wegzudrücken. „Der wird nicht sterben, wenn ich ihn zehn Minuten alleine lasse. Zumindest nicht, wenn du da bist, um ihn vor Mum zu schützen.“
„Ja, aber trotzdem …“ Er sah mich an und zwinkerte mir zu. „Heute würde noch nicht einmal sie etwas dagegen haben, wenn du dich vor deinen Aufgaben drückst. Die Gelegenheit solltest du nutzen!“
Ich grinste zurück, da wir beide wussten, dass ich mich auch so oft genug drückte, und lehnte mich dann mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn.
„Und genau deshalb kann ich doppelt punkten, wenn ich mich nicht drücke – du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mir diese Chance entgehen lasse, oder? Ich bin schließlich der mit den meisten Minuspunkten!“
Pa lachte, wuschelte mir kurz durch die Haare und ließ sich dann wegdrücken.
„Stimmt, das wäre unfair von mir. Ich überlasse dir also diese außerordentlich wichtige und strapaziöse Aufgabe und stelle sicher, dass deine Mutter auch mitkriegt, dass du sie freiwillig auf dich genommen hast.“
„Deal!“
„Was für ein Deal? Um was geht es?“
Wir drehten uns zeitgleich zu Kitty um, die gerade die Küche betrat und Rubins Hand ergriff, um ihn auch mit hineinzuziehen. „Komm, komm“, sagte sie zu ihm, „je schneller wir das Geschirr in die Küche geschafft haben, umso schneller haben wir’s hinter uns!“
Ich grinste. Kitty war mir halt doch am ähnlichsten.
Trotzdem konnte sie ihn loslassen.
„Ist das alles?“, fragte ich und sie nickte, bevor sie die Schüssel, in der zuvor noch Kartoffelsalat gewesen war, auf die Anrichte hievte. Als ich hineinsah, lag da der Grund für ihren Kraftakt: Sie hatte kurzerhand das ganze Besteck und alles andere, was noch mit hineinpasste hineingelegt. Typisch.
„Danke dir.“
Sie hielt demonstrativ ihre Wange hin und ich bückte mich runter, um ihr ein Küsschen drauf zu geben. Ihre Hilfe war nicht gratis; Kitty war eine Küsschen-Kapitalistin. 
Als ich mir die Ärmel hochkrempelte, kam Rubin neben mich und stellte die Gläser, die er vom Esszimmer hergetragen hatte, ins Spülbecken. Direkt. Nicht auf die Anrichte oder so, nein, er lehnte sich zu mir rüber und stellte sie hinein. Seine Schulter streifte meine und mir wurde wieder einmal bewusst, wie unterschiedlich die gleiche Berührung sein konnte, wenn sie von verschiedenen Menschen ausging.
„Rubin, kommst du mit ins Wohnzimmer?“ Kitty hielt ihm ihre freie Hand hin, während die andere schon in Pas lag.
Doch Rubin lächelte sie mal wieder an und antwortete in seinem freundlichsten Ton: „Ich denke, ich helfe Vyvyan.“
„Brauchst du nicht“, sagte ich, vielleicht etwas zu schnell, „Gäste sind bei uns bis zu drei Tage von jeglicher Hausarbeit freigestellt.“
„Und nach diesen drei Tagen?“
„Werden sie wie jede andere fähige Arbeitskraft in den Kohleminen meiner Mutter eingesetzt.“
„Gut zu wissen.“ Rubins Mundwinkel zuckten und er nahm sich eines der Küchentücher. „Ich helfe dir trotzdem. Ich will auch noch ein bisschen punkten, wenn ich schon keine Geschenke dabei habe.“
Pf, er hatte doch schon Wein und Blumen gebracht. Dennoch, das mit dem Punkten wollen hätte ich ihm fast zugetraut, so ekelhaft freundlich, wie er sich wieder einmal gab.
Und ja, das irritierte mich. Sehr.

„Willst du spülen oder abtrocknen?“ fragte ich ohne ihn anzusehen und stellte die Teller unter den heißen Wasserstrahl, nachdem ich die Gläser an den Rand des Beckens geschoben hatte.
Als er nicht gleich antwortete, warf ich einen Seitenblick zu ihm. So schwierig konnte die Entscheidung ja nicht sein.
„Abtrocknen“, sagte er schließlich und hielt das Küchentuch in seiner Hand ein wenig höher.
„War ja klar.“ Ein Versuch war’s trotzdem wert gewesen; ich hasste spülen. Das Wasser war zu heiß, der Schaum kitzelte in der Nase und zu allem Überfluss roch Mums Spülmittel auch noch nach Jasmin. Und nein, Jasmin duftete nicht, das Zeug stank, in echt genauso wie in künstlicher Form. Meine innere Meckertante war jedenfalls vom Spülen nicht begeistert.
…Vielleicht traf’s auch ‚Diva’ besser, zumindest ab und zu.
„Du stehst nicht auf Hausarbeit, hm?“, fragte Rubin, als ich den ersten Teller in Angriff nahm.
„Du etwa?“
Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er mit den Schultern zuckte. Wow, das war ja fast schon Körpersprache, und das, wo meine ganze Familie gerade im Wohnzimmer war.
„Es gibt Schlimmeres.“
„Zum Beispiel?“
Kam es nur mir so vor, oder hielt ich gerade diese Farce von Unterhaltung durch eine Frage am Leben?
„Unkraut jäten – im Sommer, in den Sommerferien besonders.“
Ich grinste. „Da hab ich keine Erfahrung mit, unser Garten ist Pas Territorium.“
„Du Glücklicher.“
Ich warf Rubin einen kurzen Blick zu – oder sagen wir es so: Es hätte ein kurzer werden sollen, aber gleich wieder wegzusehen, wenn sich die Blicke kreuzen, erinnerte mich zu sehr an kleine verschüchterte Schulmädchen, also hielt ich den Kontakt eine Weile aufrecht. Ich hatte schon eine innere Meckertante und eine innere Frostbeule, ich brauchte nicht auch noch ein inneres Schulmädchen.
„Komm schon“, sagte ich, als ich mich wieder meinem Geschirr zuwandte, „als ob du tatsächlich einen Nachmittag auf den Knien im Garten verbringen würdest.“
Scheiße!
Woher kam denn das verdammte Bild in meinem Kopf?!
Das hatte ich mit ‚auf den Knien‘ definitiv nicht gemeint. Falsche Assoziation, Vyvyan, absolut falsche Assoziation!
Rubin neben mir schnaubte. War er vorher auch schon so nah gestanden? Möglichst unauffällig trat ich ein bisschen von ihm weg.
„Du kannst gerne nächsten Juli vorbeikommen, dann erlebst du das live.“
Ich riss meine Augen auf und starrte plötzlich sehr konzentriert auf das Glas in meinen Händen. Warum zum Teufel bekam der Satz in meinen Ohren etwas Zweideutiges? Ich wusste, dass Rubin gar nicht an so was dachte, das konnte ich an seiner Stimme hören; sie war viel zu monoton und leicht trotzig, als dass er gerade schmutzige Gedanken haben konnte.
Wieso konnte ich meine Gedanken nicht einfach abstellen?
„Aber bei uns hat niemand Schonfrist. Zuschauen gilt nicht, ich würde darauf bestehen, dass du mir hilfst und meine Mom auch, denn die denkt, es sei gesund, wenn sich junge Menschen im Garten etwas ‚austoben‘.“
Verdammt noch mal, halt bitte die Klappe!
Ich konnte fühlen, wie meine Wangen mit jedem seiner Worte wärmer wurden. Zu wissen, dass er wirklich von ganz normaler Gartenarbeit sprach, half auch nicht. Das Glas in meinen Händen war mittlerweile übersauber und ich wollte es ihm hinstellen, ohne allerdings den Blick vom Schaum an meiner anderen Hand abzuwenden – scheiße, waren meine Wange wirklich heiß? Wann war ich das letzte Mal rot geworden? Ich konnte mich nicht erinnern und glaubte sogar, dass mir das noch nie passiert war. Ich war mir auch sicher, dass es nie passiert wäre, wenn wir nicht bei mir zu Hause gewesen wären. Und dabei war doch eigentlich nichts passiert! Es gab keinen Grund, rot zu werden.
Bevor das Glas die Ablage berührte, nahm er es mir aus der Hand. Ohne das klischeehafte, kurze Berühren unserer Finger, aber das brachte mir im Endeffekt nicht viel, denn ich zuckte trotzdem so schnell zurück, dass das dumme Ding fast heruntergefallen wäre. Zum Glück hatte Rubin gute Reflexe.
„Alles in Ordnung?“
„M-hm“, antwortete ich und nickte, während ich versuchte, meine Wangen durch die Kraft meiner Gedanken wieder ihre normale Färbung annehmen zu lassen.
Rubin musterte mich, während ich das nächste Glas mit dem Schwamm bearbeitete. Sein forschender Blick half mir mit meinem Wangen-Problem nicht unbedingt.
„Und warum hast du dann eben …?“
Vielleicht fiel es mir verspätet auf, aber ich merkte, dass Rubins Stimme wieder den üblichen, abweisenden Klang hatte, den ich von der Schule so gut kannte. Oder zumindest fast … er war sozusagen auf fünfundachtzig Prozent seiner ‚Schulstimme’.
„Ich war gedanklich abwesend. Hab mich erschreckt, nichts weiter.“
Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass er eine Augenbraue anhob, denn sein Blick, den ich nur zu deutlich spürte, sagte alles. ‚Alles‘ wie in: „Wer’s glaubt“ und „Ja, klar, du erschrickst, weil man dir ein Glas abnimmt. Sicher“. Ich war froh, dass er nichts mehr sagte, auch wenn es meiner Meinung nach unnötig und irgendwie leicht verstörend war, dass er sich mit der Hüfte seitlich an die Anrichte lehnte und mir somit beim Spülen zusehen konnte, während er munter weiter das Küchentuch schwang. Normalerweise machte es mir nichts aus, wenn andere mir bei etwas zusahen, aber es war etwas anderes, wenn diese ‚anderen‘ einen so intensiv beobachten, als würden sie auf irgendetwas warten; darauf, dass man einen Fehler machte, dass man ihnen irgendeinen brauchbaren Hinweis gab, während man selbst nicht einmal wusste, worum es überhaupt ging. So stellte ich mir den Besuch im Verhörraum der Polizei vor; zumindest, solange die netten Bullen von nebenan auch wirklich nett blieben und nicht die Knüppel hervorholten, wie sie das im Fernsehen oft genug taten.
Aber, wie gesagt, wenigstens war er ruhig und gab mir so die Möglichkeit, mich ganz auf die äußerst komplizierte Aufgabe des Reinigens einer Salatschüssel zu konzentrieren. Jedenfalls beruhigte sich mein Gesicht und der plötzliche Wunsch, einen langen, in die Augen frisierten Pony zu haben, hinter dem man sich verstecken konnte, verschwand auf Nimmerwiedersehen dorthin, von wo er gekommen war. Und während Salatschüssel, Messer, Gabeln und schließlich auch die beiden benutzten Schneidebretter im Spülbecken verschwanden und sauber wieder herauskamen, beruhigte ich mich soweit, dass ich mich wieder entspannen konnte. Aus Rubin wurde ich zwar immer noch nicht schlau, aber wenigstens konnte ich die Zeit nutzen, um mich selbst davon zu überzeugen, dass das mit den falschen, absolut falschen Assoziationen nur ein vorübergehender Patzer und eigentlich irgendwie ja nicht einmal ganz indirekt Rubins Schuld war, denn hätte er gestern nicht mit versauten Dingen angefangen, hätte ich sicher nie daran gedacht. Garantiert nicht in Verbindung mit ihm. Genau, alles seine Schuld.
Ich hatte noch genau zwei Pfannen und drei Deckel vor mir und reichte eine Pfanne Rubin, der bereits darauf wartete, da er es mühelos schaffte, schneller im Abtrocknen zu sein als ich im Spülen. Das war unfair, ganz eindeutig, aber wahrscheinlich lag es nur an meiner mangelnden Übung. Ich registrierte zwar, dass er die Pfanne nicht abtrocknete, sondern auf die Ablage legte, dachte mir aber nichts dabei; wahrscheinlich war das Küchentuch schon zu nass, um noch irgendwie nützlich zu sein. Damit erklärte ich mir auch, dass er auf mich zutrat, denn links von mir hing noch ein zweites. Als sich aber plötzlich zwei Arme von hinten um meinen Bauch schlangen, versteifte sich mein ganzer Körper von einer Sekunde auf die andere; nur der Hamster in meinem Brustkorb begann an seinem Laufrad zu drehen.
Was, bitte schön, sollte das denn jetzt werden? Hatte ich irgendwas gemacht, um es zu provozieren? Nein.
Eben!
Rubin trat noch näher am mich heran, lehnte sich mit seinem Oberkörper gegen meinen Rücken und legte den Kopf auf meine Schultern, und ich, ich ließ den dummen Deckel in die Spüle fallen.
Zitronengras, was auch sonst.
Zwischenfrage: Seit wann hatte der Duft von Zitronengras eine … nun, erotisierende Wirkung? War das schon immer so gewesen?
Sicher, sicher, antwortete mein Verstand, alles andere wäre ja seltsam.
Gut, dann war ich beruhigt.
Oder auch nicht, aber für diesen Gedanken hatte ich gerade keine Zeit, denn Rubin sagte:
„Siehst du, du lebst noch.“
Irritiert zog ich meine Brauen zusammen. „Was?“
„Na, ich berühre dich und du lebst trotzdem weiter“, antwortete er, nun auf neunzig Prozent seiner Schulstimme. Ich fragte mich, wie er sich gleichzeitig so abweisend und überheblich anhören und so anschmiegsam sein konnte. Das passte doch nicht zusammen.
Ich drehte mich zu ihm um und warf als erstes einen Blick zur Küchentür und in den Gang dahinter. In Büchern und Filmen kam in solchen Momenten immer irgendjemand, der die Situation garantiert falsch verstand, und darauf hatte ich keinen Bock. Aber glücklicherweise waren wir noch genau so alleine wie wir es die ganze Zeit über gewesen waren.
„Was wird das, verdammt?!“ Viel mehr als ein Zischen war die Frage nicht.
„Ich beweise dir, dass es dich nicht umbringt, von jemandem – in diesem Falle, mir – berührt zu werden.“
Nun klang seine Stimme nicht mehr nur überheblich oder spöttisch, sondern so, als ob er mit einem Kleinkind reden würde – nur mochte er Kinder anscheinend nicht, denn sie hatte gefühlte minus zwölf Grad Celsius. Warm, also, für Rubins Verhältnisse, aber saukalt für den Rest der Welt.
„Das war mir schon klar, sonst hätte ich dich kaum ins Haus gelassen.“
Ein Zucken der Mundwinkel, mehr bekam ich nicht, mal wieder.
„Gut, dann gibt es ja auch keinen Grund mehr, Gläser fallen zu lassen.“

Scheiße noch mal!
Musste er unbedingt wieder damit anfangen?
Klar musste er, schließlich passierte es nicht oft, dass ich mich so, so, so verschämt verhielt, das musste er genießen und noch ein bisschen drauf rumreiten. Danke auch.
Ich biss die Zähne zusammen und antwortete nach einigen Sekunden der aktiven Beruhigung – wie hatten sie vor ein paar Wochen im Fernsehen gesagt? ‚Ozean, denk an den Ozean!‘? Gut, Ozean also – betont gefasst:
„Da das geklärt ist, lässt du mich dann fertig spülen?“
Er nickte, sah mich aber weiterhin unbewegt an und nahm auch seine Hände nicht aus meinem Kreuz. Ich wartete, aber nichts passierte. Dann, endlich, als ich schon etwas sagen wollte, hob er eine Hand. Die andere blieb, wo sie war, lag schwer und warm auf meinem Shirt. Gleich darauf spürte ich, wie er an einer Haarsträhne von mir zupfte und dann mit dem Daumen mehrere Male kurz über eine Stelle an meiner Stirn fuhr, die sich nass anfühlte. 
„Schaum.“
‚Schaum, toll. Danke sehr fürs Wegwischen, jetzt lass mich los‘, wollte ich eigentlich sagen, aber die Worte kamen nicht aus meinem Mund raus. Irgendwas hielt sie da drin fest; also nickte ich. Schaum, klar, was denn sonst?
Schließlich grinste er garantiert zum ersten Mal an diesem Tag inklusive Grübchen, aber trotzdem sah er eine Millisekunde lang bedrückt aus. Doch bereits als er sich im nächsten Moment von mir löste und endlich begann, die Pfanne abzutrocknen, hatte ich mich selbst davon überzeugt, dass das völliger Quatsch war.

*********


Vyvyans Mutter sah mich an und lächelte freundlich.
„Danke übrigens. Vyvyan wird es nicht sagen – oder zeigen – aber er ist auch dankbar, dass du ihm hilfst.“
Vyvyan und dankbar? Ich wollte ihr ja nicht direkt widersprechen, aber …
Mein Gesichtsausdruck sagte offenbar alles, denn sie verzog das Gesicht.
„Gut, vielleicht weiß er es selber noch nicht, aber spätestens wenn er eine bessere Note bekommt, wird er es sein.“
Ja, das dachte ich auch. Gute Noten waren ziemlich wichtig für ihn. Das war eines der Dinge, die mir an ihm gefielen.
„Im Übrigen würde ich dich gerne dafür entschädigen. Immerhin ist es für dich ein großer zeitlicher Aufwand - und dann musst du auch noch seine Launen ertragen. Wie …“
Ich hob abwehrend die Hände und unterbrach sie. „Das ist nicht nötig!“
Sie sah mich überrascht an. Vielleicht war das ein wenig zu heftig herausgerutscht, aber das Letzte, was ich wollte, war, Geld dafür zu bekommen.
„Wirklich“, setzte ich deshalb neu an, „es macht mir nichts aus. Ich bekomme ja dafür von Herr Kirsten die Bemerkung im Zeugnis und in einem Monat sicher auch eine Empfehlung für meine Bewerbung. Das ist mehr als genug.“
„Es sind deine Weihnachtsferien. Und ich kenne meinen Sohn: Er ist Weltmeister im Bockigsein.“ Leise grummelnd fügte sie hinzu: „Das hat er von seiner Oma.“
Ich unterdrückte ein Grinsen und zuckte mit den Schultern.
„Mit bockig kann ich umgehen.“
„Dennoch, er macht dir die Sache ja nicht gerade leicht. Es ist nur fair, wenn du …“
„Das ist okay, wirklich! Vyvyan ist nicht …“
Damnit! Das war eindeutig zu schnell aus meinem Mund gekommen. Und dass ich mitten im Satz abgebrochen hatte, machte die Sache nicht besser.
Seine Mutter schwieg und musterte mich plötzlich so eindringlich, dass ich das Gefühl bekam, nackt vor ihr zu stehen.
Ganz ruhig, cool bleiben …
Dann lächelte sie ein wenig zu wissend für meinen Geschmack. „Gut, wenn du meinst.“
Ich war froh, als Catherine mich in diesem Moment darum bat, ihr beim Abräumen des Tisches zu helfen. Doch als ich mich entfernte, rief seine Mutter mir leise etwas hinterher, das mich davon überzeugte, dass sie wirklich Megans Röntgen-Blick hatte:
„Viel Glück!“

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