Am nächsten Morgen fühlte ich mich verkatert, obwohl ich doch gar nichts
getrunken hatte. Dafür – und das muss ich zu meiner Schande
gestehen – hatte ich einige Einschlafschwierigkeiten gehabt. Aber mal
ehrlich: So überraschend war das nicht, nicht nach allem, was gestern
passiert war, oder? Es wäre viel seltsamer gewesen, wenn ich einfach rums, bums
wie ein Baby eingeschlafen wäre – zumindest redete ich mir das so
lange ein, bis ich es glaubte, ob es nun stimmte oder nicht.
Meine Einschlafschwierigkeiten kamen nicht davon, dass ich darüber
nachdachte, wie ich so etwas mit einem Jungen tun konnte, oder
was die Tatsache, dass es aufregender gewesen war als der Sex mit meiner Ex,
für meine sexuelle Orientierung bedeutete.
Zumindest nicht nur.
Mir war seit Längerem klar, dass ich männliche Körper anziehender fand als
weibliche. Seit über vier Jahren, um genau zu sein – seit meiner
dreizehnten Geburtstagsfeier, um ganz genau zu sein. Und seit ich mir sieben
Monate danach aus zweiter Reihe hatte mit ansehen dürfen, wie der soziale
Mikrokosmos ‚Schule‘ darauf reagierte, wenn sich ein halbwegs beliebter Kerl
outete, wusste ich, dass ich mir das nicht antun würde. Eine Woche später hatte
ich meine erste Freundin, ein gutes Jahr danach hatte ich mir mit meiner zweiten
Freundin dann bewiesen, dass er auch bei Frauen funktionierte.
… Zugegeben, manchmal brauchte es dazu ein wenig Kopfarbeit, aber das nahm
ich gerne in Kauf, wenn es um meine Zukunft ging. Und in meiner Zukunft kam
weder ‚Tunte‘ noch ‚Schwuchtel’ und schon gar nicht ‚Schwanzlutscher’ vor,
vielen Dank auch.
Beim Hades, ich wollte mir nicht vorstellen, was ein Outing für
meinen sorgfältig erarbeiteten Status bedeutet hätte! Ich musste es ja auch
nicht, da ich es wusste: den schnellen, aber deswegen nicht weniger
schmerzhaften und verdammt noch mal absoluten Tod. Nichts mit Elysion
oder gar Olymp, nein – da blieb nur noch der Tartaros. Und darauf
hatte ich nun mal keine Lust.
Und genau deshalb würde es nicht herauskommen. Rubin würde nichts sagen,
das würde ich sicherstellen – wie, das wusste ich noch nicht, aber
ich würde es tun, davon war ich überzeugt – sogar wenn ich es nicht
schaffen sollte, war ja wohl klar, dass ich gerade heraus lügen würde, wenn man
mich fragte, ob wir uns gegenseitig einen runtergeholt hätten.
Das Problem, der Knackpunkt, der verdammte mistige Hauptgrund meiner
Einschlafschwierigkeiten war ein anderer; zwei kleine Fragen, die beide mit
‚was‘ begannen:
Was war ‚es‘ genau gewesen und was bedeutete das jetzt?
Selbstverständlich versuchte ich mir einzureden, dass es Nichts Weiter
gewesen war und auch Nichts bedeutete. Wir hatten Druck ablassen müssen,
das war alles. Das Problem war nur, dass ich das nicht einhundertprozentig
glaubte. Noch nicht einmal neunzigprozentig. Und neunzig Prozent, so schien es,
war die Mindestanforderung für ruhigen Schlaf.
Mein überfordertes Hirn, das nebenbei auch noch verdrängen musste, dass
Weihnachten gestorben – nein, hinterlistig von der eigenen Mutter
erdrosselt worden – war, kam einfach auf zu viele Fragen und zu wenig
zufriedenstellende Antworten.
Warum hatte ich plötzlich so auf seine Nähe reagiert? Hatte mein Körper was
bemerkt, dass ich übersehen hatte?
Warum hatte Rubin das überhaupt getan? Druck ablassen hätte er
auch – ganz unkompliziert und ungefährlich – zu Hause
können. Befürchtete er denn nicht, dass ich das herumerz… okay, darauf wusste
ich die Antwort: Nein. Dann wäre mein Ruf schließlich dahin gewesen.
Und, wenn auch völlig unwichtig: Hieß das, Rubin war bi? Immer, oder nur
gelegenheits-bi?
Und warum hatte er ausgerechnet mich angemacht? Weil ich gerade in
greifbarer Nähe war oder – oder sah man es mir etwa an?!
Oh, bei Zeus, bitte nicht! War ich irgendwann im letzten halben
Jahr, ganz unbemerkt von mir selbst, doch zur Schwuchtel mutiert?
Und, nur, um das klarzustellen: Ich hatte nichts gegen
Homosexuelle – noch weniger als gegen Amis. ‚Schwuchtel‘ bezeichnete in meinem
kleinen Universum einfach jemanden, dem man seine Homosexualität ansah, ob er
nun geoutet war oder nicht. ‚Tunte‘ dagegen jemanden, der es darauf anlegte, dass auch
jeder es gleich beim ersten Blick mitbekam. Ich hätte mir dafür sicher auch
andere Bezeichnungen ausdenken können, aber ehrlich gesagt war mir das zu doof
und ich zu unkreativ. Es waren sicher keine Komplimente, aber erstens benutzte
ich die Wörter nicht außerhalb meines Kopfes und zweitens waren beide
Verhaltensweisen für mich auch entweder masochistisch, selbstmörderisch oder
einfach nur strohdumm. Intelligente Homosexuelle wussten, wie intolerant die
Gesellschaft war und passten sich an, ob geoutet oder nicht, damit sie sich
nicht gleich alle Chancen verbauten. Homophobie sah man den Menschen
schließlich nicht an, auch nicht, wenn sie einem im Geschäftsanzug
gegenübersaßen.
Aber falls ich zu meiner Definition einer Schwuchtel geworden war,
wer hatte es dann bereits bemerkt? Rubin, offensichtlich, aber – etwa
noch andere? Was war mit Fee? Theo? Kim?!
… Dann wäre ich bei unserer nächsten Begegnung Mus.
Das war mein ganz persönliches Horrorszenario. Und weil es das war,
versuchte ich gleich, mich von seiner Unwahrscheinlichkeit zu überzeugen. Das
beste Argument dabei: dass sich niemand anders benommen oder gar Anmerkungen
gemacht hatte. Nein, sie waren alle ganz normal gewesen.
Und Rubin, Rubin schien ja sowieso ein ärgerlich genauer Beobachter zu
sein. Wenn er der einzige war, der bemerkte, wie egal mir meine Freunde waren,
dann war er wahrscheinlich auch der einzige, der die Möglichkeit gesehen hatte,
dass meine etwas zu langen Seitenblicke auf Kims Rücken in der Umkleide nicht
nur neidisch-bewundernd gewesen waren. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass
Rubin mir und meinem Verhalten so viel Beachtung schenkte, aber es war viel
weniger unangenehm, als die andere Möglichkeit.
In all diesem Chaos war mir nur eines klar: Die Tatsache, dass Rubins Hand
an meinem besten Stück gewesen war, hatte nichts an meiner nicht vorhandenen
Sympathie für Rubin geändert. Und solange es unser kleines Geheimnis blieb und
ich ihn bei Frauen noch hochbekam, war es kein Problem – nur einfach
ein weiteres Detail, das die Welt da draußen nichts anging.
Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn da nicht jedes Mal ein Kribbeln
in meinen Lenden gewesen wäre, wenn ich mir Rubins Berührungen allzu deutlich
vorstellte.
***
Und nun lag ich in meinem Bett, wach seit einer guten halben Stunde. Es war
kurz nach halb neun und ich wusste, dass, wenn ich in zwanzig Minuten nicht aus
dem Bett stieg, Sue kommen würde, um mich unnötigerweise zu wecken, was sie
natürlich bemerken würde und da ich, wie alle in meiner Familie, zu den
Frühaufstehern zählte und nach dem Aufwachen selten länger als fünf Minuten im
Bett blieb, würde sie wissen, dass etwas nicht stimmte. Natürlich konnte ich
sie dann auf das verdorbene Weihnachtsfest aufmerksam machen, aber sie war
nicht dumm; das einzige, worauf ich hoffen konnte, war, dass sie aus Taktgefühl
nicht fragen würde – und, dass wirklich Sue und nicht Kitty kam, denn
meine Kleine und Taktgefühl waren Antonyme.
Mein Handy piepste. Eine Nachricht von Fee – sie wünschte mir
fröhliche Weihnachten und all das. Ich antwortete, ließ die Hand dann sinken.
Sie würde garantiert gleich zurückschreiben und noch mindestens eine Antwort
von mir erwarten.
Fee.
Scheiße.
Darüber, wie ich mich in Bezug auf sie verhalten sollte, hatte ich noch
nicht nachgedacht. Was konnte ich tun? Was musste ich tun?
Egal, was Rubin gesagt hatte, das gestern war nicht okay gewesen. Wäre es
das, hätte ich es ihr schließlich ohne Probleme erzählen
können – aber das war selbstverständlich undenkbar.
Verdammte. Scheiße.
Ich hatte bisher noch keine meiner Freundinnen betrogen und hatte nie
vorgehabt, es zu tun. Und Fee war ein nettes Mädchen, sie verdiente es nicht,
hintergangen zu werden.
Also was? Schluss machen? An Weihnachten? Das ging ja mal gar nicht.
Nein, das konnte ich nicht, das wäre so richtig scheiße von mir – und
würde, ganz abgesehen von allem anderen, auch in der Schule ein schlechtes
Licht auf mich werfen.
Was dann?
Weitermachen, als sei nichts gewesen, und im neuen Jahr die Beziehung
beenden?
Oder … einfach nur weitermachen, als sei nichts gewesen?
…
Nein. Allein der Gedanke verwandelte meine Eingeweide in einen keltischen
Knoten.
Also Schluss machen. Im neuen Jahr.
Ach, Mist. Sie war so angenehm. Im Gegensatz zu vielen Mädchen
wirklich erträglich. Ich hatte weder Lust, Single zu sein, noch, mir einen
akzeptablen Schluss-Mach-Grund auszudenken, der mich nicht zum Arschloch des
Jahres machte.
Wieso zum Hades hatte ich Rubin gestern nicht einfach weggeschubst? So eine
Scheiße aber auch!
Mein Handy piepste erneut und kündigte mir Fees Antwort an – mit
einer Zuckerhaube: Ihre Familie hatte beschlossen, über Silvester ihre Tante zu
besuchen. Ich schrieb ihr zurück, wie schade ich es doch fände, dass wir
Silvester nicht gemeinsam verbringen konnten, und dass wir uns aber sicher
vorher noch sehen würden. Sie schien zufrieden. Wäre ich auch gern gewesen.
Langsam wurde es wohl wirklich Zeit aufzustehen. Ich zog die Decke mit
einem kräftigen Ruck von mir runter – der Tag konnte beginnen, ich
war gewappnet. Oder zumindest wünschte ich mir das.
***
„Und was genau, denkst du, tust du da?“, fragte ich, als ich mich mit einer
Toastscheibe im Mund an den Türrahmen zum Wohnzimmer lehnte. Hoffentlich
würde Mum nicht auftauchen und mich dabei erwischen, wie ich mein Frühstück im
Haus umherschlendernd aß.
Sue schreckte hoch und drehte sich ruckartig um.
„Vyvyan, du bist’s!“ Sie lächelte schief, warf einen Blick in den Flur
hinter mir und atmete aus. „Ein Glück!“
„Ach?“ Ich sah demonstrativ auf die silberne Kugel in Sues Hand. „Es ist
also ein Glück, dass ich dich dabei erwische, wie du meine und Kittys
Lieblingskugeln gegen rosarote austauschen willst?“
Sie sah runter auf ihre Hand und versteckte diese dann schnellstens hinter
ihrem Rücken. „Vyvyan, das siehst du falsch – ich dachte nur, ein
bisschen mehr Farbe würde dem Baum gut tun – Silber ist so
schrecklich kalt, das passt gar nicht zu Weihnachten!“
Ich stieß mich ab und ging langsam auf sie zu. „Deshalb haben wir uns
gestern ja auch für Bienenwachskerzen entschieden – etwas Wärmeres
als das gibt es nicht.“
Uwäh, als ich näher kam, sah ich, dass sie es tatsächlich gewagt hatte,
drei ‚ihrer’ Kugeln aufzuhängen – in allergrässlichstem Blassrosa.
Wie konnte sie nur?
„Die Kerzen alleine reichen aber nicht“, erwiderte sie und versuchte, die
Kugeln mit ihrem Körper zu verdecken, obwohl sie sicher schon an meinem Gesicht
erkannt hatte, dass ich sie gesehen hatte.
Ich schob sie sanft weg und nahm mit meiner freien Hand – das war
die, in der ich nicht mein Frühstück hielt – eines der Alptraumdinger
wieder weg. Ehrlich, was beim Hades war nur daran schuld, dass meine eigene
Schwester, eigentlich einer der liebsten und nettesten Personen der
Welt, auf Rosa und Pastelltöne stand? Irgendwas musste
schrecklich schief gelaufen sein. Irgendwie, irgendwo, irgendwann.
„Wenn du mehr Wärme am Baum willst, dann solltest du eigentlich Pas
gelbe – Pardon, goldene Kugeln nehmen. Die sind um einiges
wärmer als dein mit Weiß gemischtes Möchtegern-Rot.“
Nun war es an Sue, das Gesicht zu verziehen.
„Komm schon, Vyvyan – Vyvy! Das meinst du nicht
ernst; Gold ist so … prollig.“
Ich grinste.
„Findest du? Ich kann ja mal Pa dazuholen und wir hören, wie er die Farbe
und ihre Bedeutung für Weihnachten beschreiben würde – falls du
gestern Abend nicht zugehört hast, natürlich.“
Am Vorabend hatten wir danach, wie jeden dreiundzwanzigsten Dezember, den
Baum zu Ende geschmückt und gute zwei Stunden damit verbracht, uns auf die
Farbgebung zu einigen – eigentlich völlig überflüssig, denn dieses
Jahr war ich dran mit Auswählen, aber auch wenn wir abwechselten, genossen wir
es, uns ein wenig zu kabbeln, vor allem deshalb, weil es nie ins Ernste
abrutschte. Und da ich am Zug war,
stand die Farbe von vornherein fest. Ich fand einfach, dass Silber am schönsten
aussah; schlicht, aber elegant. Zugegeben war es trotz des Abwechselns nicht
ganz fair, denn Kitty und ich teilten unsere Vorliebe für diese Farbe, aber das
war nun wirklich nicht unsere Schuld. Zumindest nicht offiziell.
Sue sah mich nur mit großen, grünen Augen an und rollte eine ihrer
rosaroten Kugeln in den Händen. Keine Ahnung, wann sie die silberne weggelegt
hatte.
„… Vyvy? Bitte?“, fragte sie, als sie glaubte, mich lange genug ihrem
Dackelblick ausgesetzt zu haben.
Dackelblicke funktionierten bei mir grundsätzlich nicht – das
wiederholte Bitten einer meiner Schwestern dagegen in neunzig Prozent der
Fälle.
Ich seufzte und ihre Augen begannen im selben Augenblick zu strahlen.
„Kein Rosa“, sage ich, bevor sie allzu euphorisch wurde, „aber wir können
die dunkelroten Kugeln aus dem Keller holen. Deal?“
Deal.
***
Wenig später hatten wir den Karton mit dem roten Set
heraufgeholt – eigentlich nicht wir, sondern ich, während Sue schon
mit größtmöglichem Vergnügen anfing, Silberkugel abzuhängen – und mit
dem erneuten Schmücken des Baumes begonnen. Das Feuer im Kamin brannte bereits,
denn das hatte Pa heute irgendwann gegen sieben Uhr angefacht und war nun dafür
zuständig, dass es auch den ganzen Tag hindurch brannte.
„Sag mal, Vyvyan“, begann Sue und ich merkte sehr wohl, dass ich jetzt, wo
sie bekommen hatte, was sie wollte, wieder Vyvyan und nicht mehr ‚Vyvy‘ war,
„du und Rubin, seid ihr gut befreundet?“
Ich drehte mich zu ihr um, nahm die silberne Kugel aus ihrer Hand und
hängte sie wieder zurück an den Baum. „Ein paar lässt du bitte dran, ja?“ Meine
Stimme war nicht mehr als ein Murmeln. Dann sah ich ihr in die Augen, hob meine
Brauen etwas an und antwortete um so deutlicher:
„Wir sind gar nicht befreundet.“
„Aber ihr seid doch in einer Klasse, oder?“ Der zweite Satz, der ungesagt
im ersten mitschwang, war: Und du freundest dich doch immer mit den Leuten
aus deiner Klasse an.
Ich bückte mich, nahm noch eine rote Kugel mit glitzernden weißen
Verzierungen und zupfte, bevor ich sie aufhängte, ein paar Lamettafäden aus den
Nadeln – Lametta war eklig, egal in welcher Farbe.
„Er ist ein Außenseiter“, erwiderte ich schließlich.
„Ach so.“ Das sagt alles.
Ja, das tat es. Sich mit Außenseitern abzugeben brachte einem nichts außer
Ärger – was die erste Nachhilfe gestern mehr als bewiesen hatte.
Nicht nur war meine Beziehung nun futsch, sondern Weihnachten gleich mit.
Eine Weile war es ruhig, nur der Baum raschelte und die Kugeln klirrten
leise, wenn wir aus Versehen die Äste streiften. Ab und zu knackte es im Kamin.
Ich war froh, dass niemand in meiner Familie auf Weihnachtslieder stand;
ich hätte es wohl nicht ausgehalten, das Gedudel auch noch zu Hause mit anhören
zu müssen. Weihnachtslieder, da waren wir uns einig, waren etwas, das man
draußen, im Supermarkt oder im Restaurant hörte, auch im Kaufhaus oder im Taxi,
aber nicht dort, wo man die Hintergrundgeräusche selbst aussuchen
konnte. Deshalb war es bei uns während den Festtagen verhältnismäßig still;
ansonsten lief immer das Radio, aber da das während dieser Zeit nichts
Gescheites brachte und sogar der verdammte Rocksender nur noch Weihnachtslieder
spielte, ließen wir es lieber aus. Auf die Idee, stattdessen eine CD
einzulegen, kam irgendwie niemand.
„Er scheint nett zu sein“, sagte Sue in die Stille hinein.
„Das ist richtig“, erwiderte ich, „er scheint. Er ist es nicht.“
„Gestern hat er sich ganz anständig verhalten.“
Wir sahen einander nicht an, sondern dekorierten weiter den
Baum – mittlerweile hängte Sue silberne Kugeln ab und rote und
Lametta auf und ich tat das Gegenteil; es war ein ewiger Kreislauf im
Miniformat.
„Stimmt, solange ihr da wart, war er höflich, aber auch nur dann. Sonst ist
er immer verdammt arrogant.“
Das stimmte so nicht ganz, fiel mir auf. Rubin war auch mehr oder weniger
umgänglich gewesen, als wir alleine waren. Aber darüber wollte ich dann doch
nicht genauer nachdenken.
„In erster Linie sind wir nicht nicht-befreundet, weil er ein Außenseiter
ist, sondern, weil er sich vom ersten Schultag an unhöflich und abweisend mir
gegenüber benommen hat. Grundlos, wie ich anmerken darf.“
Sue hielt inne und sah um den Baum herum zu mir. „Das kann ich mir gar
nicht vorstellen.“
„Glaub’s ruhig.“ Ich kämpfte mir einem Lametta, das mehrere Male um den Ast
geschlungen war und sah dann triumphierend auf, als ich es in der Hand hielt.
„Es ist die Wahrheit.“
„Hm“, machte sie und das schalkhafte Lächeln, das sich in ihre Mundwinkel
schlich, gefiel mir gar nicht, „Ist da etwa jemandes Ego angekratzt? Weil dir
nicht gleich alle zu Füßen gelegen sind?“
„Nein!“ Meine Augenbrauen zogen sich so nahe zusammen, dass sie sich
gegenseitig einen guten Morgen wünschen konnten. „Aber meine Sympathie hat er
sich damit trotzdem verspielt.“
„Welche Sympathie?“ Sie kam die drei Schritte um den Baum herum auf mich
zu. „Etwa die, die du deinen Freunden nur vorspielst?“ Sie sah mich einen
Moment lang an und schüttelte den Kopf. „Weißt du, Vyvyan, ich denke nicht,
dass er die sehr vermissen wird.“
Ich schnaubte und wollte mich wegdrehen, sie seufzte und hielt mich davon
ab, indem sie mir mit gespreizten Fingern durch die Haare fuhr. „Warum gibst du
ihm nicht noch eine Chance? Wenn er dich wirklich nicht mögen würde, wäre er
gestern nicht zum Essen geblieben – und er würde ganz sicher heute
nicht vorbeikommen.“
Ich genoss ihre Berührung. Es war eine von denen, bei der das Gefühl
dahinter viel mehr aussagt, als die Bewegung oder der Hautkontakt; eine von
denen, die nur möglich waren, wenn man sich wirklich kannte und einander
vertraute, wenn man wusste, dass keine Hintergedanken dabei
waren – die nur in der Familie möglich war, eben.
„Und was würde mir das bringen?“
„Wer weiß?“, fragte sie und zupfte eine meiner Strähnen zurecht.
„Vielleicht nichts, vielleicht aber mehr, als du dir vorstellen kannst. Du
musst es schon ausprobieren, um darauf eine Antwort zu bekommen.“
„Das ist mir zu schwammig“, erwiderte ich, „ich investiere meine Energie
lieber in Dinge, die mich weiterbringen.“
„Vielleicht täte das eine Freundschaft ja – verlieren kannst du
dabei jedenfalls nichts.“
Nein, nur meinen guten Ruf, wenn man sah, wie ich mich mit Rubin plötzlich freundschaftlich
unterhielt. Außerdem zweifelte ich, ob eine Freundschaft zu ihm überhaupt
möglich war – und da gab es mehr als einen Grund zu.
Meine Gedanken mussten mir mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben
stehen, denn sie grinste schief und gab mir einen sanften Knuff gegen den Unterkiefer.
„Überleg’s dir einfach mal, ja? Mir zuliebe.“ Dann nahm sie mir das Lametta
aus der Hand, hängte es auf einen freien Ast und nickte zufrieden. „Ich glaube,
der Baum ist fertig geschmückt.“
Das war er eindeutig nicht, denn die eine Hälfte war ausgeglichen
rot-silbern und ohne das metallene Möchtegern-Stroh, während die andere
deutlich röter und Lametta-verseucht war, aber Sue verließ das Zimmer trotzdem
und überließ es gnädigerweise mir, den goldenen Mittelweg zu finden, während
sie zu Mum in die Küche ging und ihr höchstwahrscheinlich mitteilte, dass sie
die Tischdekoration nun so aussuchen musste, dass sie zu einem rot-silbernen
Baum passte. Und dem genervten Aufschrei eine Minute später, als Mum ins
Wohnzimmer kam und das Übel mit eigenen Augen sah, zufolge, war sie über meine
Kompromissfähigkeit gar nicht begeistert. Verständlich, wenn man bedenkt, dass
sie die Deko schon seit Wochen geplant hatte, da es mein Jahr war und ich immer
Silber wählte.
„Ich habe doch gar keine roten Servietten mehr!“ Sie starrte direkt an mir
vorbei und sah wohl nur noch Kugeln, rote Weihnachtskugeln, die
unschuldig vor sich hinglänzten.
„Macht doch nichts“, erwiderte ich, auch wenn es nicht speziell an mich
gerichtet gewesen war, „Tausch eben die silbernen Kerzen auf dem Tisch gegen
rote aus.“
Nun fokussierten sie mich; einen Moment lang sah sie erleichtert, dann
zweifelnd und schließlich eine Mischung aus beidem aus.
„Du denkst, das reicht?“
Ich nickte. „Klar, zusammen mit dem Rotwein, den wir trinken, sicher. Der
Baum ist mittlerweile mehr rot als silbern; da darf der Tisch ruhig mehr
silbern als rot sein.“
Sie ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. „Gut. Ich würde dich
jetzt küssen, wenn du nicht Schuld an meiner Krise gewesen wärest.“
Sie war herzlich wie immer.
Mum drehte sich schon um und wollte zurück in die Küche gehen, als sie sich
noch einmal umentschied.
„Sag mal, Vyvyan“, fing sie an, „denkst du, Rubin kommt zum Mittagessen?“
Na toll. Da dachte ich, endlich ein wenig Ruhe vor ihm zu haben, und dann
kam Mum. Super.
„Keine Ahnung.“
„Hast du ihm denn auf dem Weg zur Bushaltestelle noch einmal gesagt, dass
er gerne mit uns zu Mittag essen darf?“
Der unterschwellige Satz diesmal: Dafür habe ich dich schließlich
mitgeschickt.
„Ja.“ Da Mum sich noch immer nicht zufrieden gab, hängte ich nach einigen
Sekunden hinzu: „Ich habe ihm gesagt, dass du sowieso für ihn mitkochen wirst,
ob er kommt oder nicht.“
„Sehr schön!“ Sie klatschte in die Hände und stemmte diese dann in die
Hüften. „Dann kommt er sicher – so ein höflicher Junge wird mich
nicht auf meinem Essen sitzen lassen.“ Sie nickte, um sich das Gesagte selbst
noch einmal zu bestätigen und lächelte mich dann an.
„Gut gemacht, Maus!“
Maus. Maus! Was war nur mit den alten Übernamen heute? Erst nannte
mich Sue Vyvy und nun Mum Maus. Vor allem: Maus benutzte Mum nur noch, wenn ich
ihr wirklich eine Freude gemacht hatte – und das in Verbindung
mit Rubin wurmte mich. Sehr.
„Was habt ihr eigentlich alle mit Rubin, verdammt noch mal?!“ Ich
knallte den letzten Büschel Lametta, den ich zwischen den Nadeln herausgepult
hatte, in die offene Schachtel mit rotem Weihnachtsschmuck und hielt mich
selbst nur knapp davon ab, ihr auch noch einen Tritt zu geben. „Ihr tut so, als
sei er mein neuer bester Freund und dazu noch der tollste Typ der Erde. Ich
kann dir sagen, er ist keins von beidem!“
Mum runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du musst nicht gleich wütend werden, deswegen. Ich finde ihn nett,
immerhin war er gestern sehr höflich und er hilft dir – und da du
mich noch nicht um Geld gebeten hast, nehme ich an, er tut es gratis.
Außerdem“, sagte sie und musterte mich kurz, „hat Kate gestern auf dem Markt
erzählt, dass du gar nicht glücklich ausgesehen hast, als er kam. Sie war
darüber verwundert und, ehrlich gesagt, das war ich auch, als ich die knurrige
Grimasse sah, die du während des Abendessens gezeigt hast – du,
ausgerechnet vor deinem Pultnachbarn? Verzeih mir, aber das ist absolut neu für
mich – für uns.“
„Braucht es nicht zu sein.“ Ich bückte mich und verschloss den Karton,
nachdem ich sichergestellt hatte, dass auch der ganze nicht benötigte Schmuck
darin verstaut war. „Rubin ist – wie ich vor wenigen Minuten Sue
schon erklärt hab – ein Außenseiter und wir verstehen uns
alles andere als gut. Ich bin auch in der Schule nicht freundlicher zu ihm,
warum also zu Hause?“
Völlig unbeeindruckt zuckte Mum mit den Schultern.
„Na, es ist immer noch das erste Mal, dass du einen Außenseiter mit
nach Hause bringst. Noch dazu am dreiundzwanzigsten.“
„Glaub mir, das war auch nicht meine Idee.“ Karton zu, auf den zweiten
gestellt und hoch mit beiden. „Aber ich hab keinen Bock drauf, in Englisch
durchzufliegen. Ich hab bloß das kleinere Übel gewählt.“ Ich ging mit den
Kisten auf dem Arm auf sie zu, da sie immer noch in der Tür stand. „Und
mittlerweile bereue ich das – hätte ich gewusst, dass ihr ihn gleich
halb adoptiert, hätte ich mir diese Scheißsprache doch lieber von Pa erklären
lassen!“
Ich versuchte, so wütend auszusehen, wie ich mich gerne gefühlt hätte, aber
wusste irgendwo, dass es wahrscheinlich eher trotzig und unreif wirkte. Das
wurde mir bestätigt, als ich mich an Mum vorbeidrückte, um die Kartons in den
Keller zu bringen und hören konnte, wie sie genervt seufzte.
***
Mum sollte Recht behalten; Rubin kam tatsächlich gegen zwölf Uhr, pünktlich
zum Mittagessen also. Ihr könnt euch die euphorische Freude, die in meinem Innern
herrschte, sicher vorstellen.
Musterjunge, wie er vor meiner Familie war, hatte er auch ein kleines
Mitbringsel dabei – auch wenn das niemand erwartet hatte, schon gar
nicht bei einer so kurzfristigen Einladung. Aber natürlich nahm meine Mum die
Blumen – wo hatte er die her? – gerne entgegen und die
Flasche Wein, die den Strauß begleitete, konnte auch nicht so schlecht sein,
wenn das erfreute Grienen meines Vaters irgendein Anhaltspunkt war.
Rubin trug ein schwarzes Hemd, das seine Haare fast weiß Aussehen ließ, und
eine dunkle Bluejeans, die an den richtigen Stellen ein wenig ausgebleicht
war – mir fiel auf, dass er das noch nie in der Schule getragen
hatte. Im nächsten Moment gab ich mir eine mentale Kopfnuss.
Was gingen mich seine Klamotten an? Und sowieso: Woher wollte ich das denn
überhaupt wissen? War ja nicht so, als ob ich jeden Tag sein Outfit checkte,
verdammt noch mal!
Ich beobachtete sein Eintreffen von der Treppe aus, hatte mich auf den
zweitobersten Tritt gesetzt, die Ellbogen auf den Knien, so dass er mich erst
bemerkte, als Mum sich in Richtung Esszimmer begab und dabei, wie nebenbei,
meinte:
„Vyvyan, sorgst du bitte dafür, dass Rubin etwas zu Trinken bekommt?“
Rubin hob erst die Augenbrauen und warf einen Blick in den Gang vor ihm,
sah dann aber zu mir herauf und verzog ansatzweise die Lippen – zu
dem Lächeln, das er meinen Eltern gezeigt hatte, reichte es bei Weitem nicht.
„Hallo, Vyvyan. Frohe Weihnachten.“
„Hallo“, antwortete ich und stand schwerfällig auf, „Gleichfalls.“
Du mich auch.
Ich ging hinunter und an ihm vorbei in die Küche.
Er war tatsächlich da. Ich wusste, das kam jetzt etwas spät, aber es wurde
mir erst in diesem Moment bewusst. Das hieß also, nicht nur einen ganzen Abend
mit ihm, sondern einen Nachmittag dazu – und diesmal hatten wir keine
zehntausend Aufgaben, die ich lösen musste und die
mir – uns – somit eine Beschäftigung gaben. Was sollte ich
nur einen Nachmittag lang mit Rubin machen? Ich kannte ihn ja noch nicht einmal
wirklich und war mir ziemlich sicher, dass wir nicht besonders viele gemeinsame
Gesprächsthemen finden würden.
***
Das mussten wir auch nicht, zumindest nicht gleich. Das Mittagessen verlief
friedlich, mit dem üblichen Geplapper meiner Familie; Pa brummte etwas über
unfähige Politiker und noch miesere Fußballtrainer, Mum regte sich
zwischendurch einmal mehr über ihren Vorgesetzten auf, Sue jammerte, weil das
Buch, das sie gerade lesen musste, so staubtrocken wie ein Sack Mehl war und
Kitty, tja, Kitty schwärmte jetzt schon mal von den Geschenken, die sie
hoffentlich heute Abend bekommen würde. Sie war die einzige, die sich jedes
Jahr den ganzen Tag hindurch hibbelig verhielt, wir andern nutzen die Stunden,
um uns vom dreiundzwanzigsten zu erholen und uns auf den Abend zu freuen. Je normaler
der Nachmittag war, desto spezieller erschien einem dann das Fest am Abend,
oder so.
Auch Rubin wurde in die Gespräche miteinbezogen und Mum konnte es nicht
lassen, ihn ein paar Kleinigkeiten zu fragen: wo er wohnte, ob seine Eltern gut
angekommen seien, ob er meine Freundin, die ich noch nicht mit nach Hause
genommen hatte, kannte; solche Dinge eben. Und auch wenn ich bei der letzten
Frage genervt aufstöhnte, war ich froh, dass sie nicht mehr ins Detail ging.
Bei Mum war das zwar fast schon verdächtig, denn Kittys Neugier kam ja
bekanntlich nicht von ungefähr, aber ich wusste, dass sie versuchte, Rücksicht
auf mich zu nehmen, immerhin hatte ich nicht oft solche Ausbrüche wie an diesem
Morgen.
Alles in allem war ich wohl der Schweigsamste, auch wenn das kein
Kunststück war, denn meine Liebsten waren nun mal ziemlich redefreudig. Nur,
dass sogar Rubin mehr sagte als ich, das wollte ich nicht so ganz verstehen;
ich war schließlich nicht derjenige, bei dem sich keiner gewundert hätte, wenn
er einen ganzen Schultag lang kein Wort sagte.
Aber gut, in den Ferien und vor allem an Weihnachten war wohl alles ein
wenig anders. Außerdem hatte ich die Ausrede, dass ich mich unwohl
fühlte – und das zu Anfang sehr demonstrativ, bis ich mich selbst
über mein kindisches Verhalten aufregte. Meiner Familie muss ich zugute halten,
dass sie es mir nicht übel nahm.
Als das Essen beendet war und ich die Teller in die Küche brachte, stand Pa
bereits an der Spüle.
„Was machst du da?“, fragte ich und stellte die Teller daneben, „Heute bin
doch ich dran?“
„Hm, ja“, erwiderte er, „aber ich dachte, ich mach das. Du hast schließlich
Besuch.“
Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich mit der Schulter leicht gegen
seine, um ihn wegzudrücken. „Der wird nicht sterben, wenn ich ihn zehn Minuten
alleine lasse. Zumindest nicht, wenn du da bist, um ihn vor Mum zu schützen.“
„Ja, aber trotzdem …“ Er sah mich an und zwinkerte mir zu. „Heute würde
noch nicht einmal sie etwas dagegen haben, wenn du dich vor deinen Aufgaben
drückst. Die Gelegenheit solltest du nutzen!“
Ich grinste zurück, da wir beide wussten, dass ich mich auch so oft genug
drückte, und lehnte mich dann mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn.
„Und genau deshalb kann ich doppelt punkten, wenn ich mich nicht
drücke – du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mir diese Chance
entgehen lasse, oder? Ich bin schließlich der mit den meisten Minuspunkten!“
Pa lachte, wuschelte mir kurz durch die Haare und ließ sich dann
wegdrücken.
„Stimmt, das wäre unfair von mir. Ich überlasse dir also diese
außerordentlich wichtige und strapaziöse Aufgabe und stelle sicher, dass deine
Mutter auch mitkriegt, dass du sie freiwillig auf dich genommen hast.“
„Deal!“
„Was für ein Deal? Um was geht es?“
Wir drehten uns zeitgleich zu Kitty um, die gerade die Küche betrat und
Rubins Hand ergriff, um ihn auch mit hineinzuziehen. „Komm, komm“, sagte sie zu
ihm, „je schneller wir das Geschirr in die Küche geschafft haben, umso
schneller haben wir’s hinter uns!“
Ich grinste. Kitty war mir halt doch am ähnlichsten.
Trotzdem konnte sie ihn loslassen.
„Ist das alles?“, fragte ich und sie nickte, bevor sie die Schüssel, in der
zuvor noch Kartoffelsalat gewesen war, auf die Anrichte hievte. Als ich
hineinsah, lag da der Grund für ihren Kraftakt: Sie hatte kurzerhand das ganze
Besteck und alles andere, was noch mit hineinpasste hineingelegt. Typisch.
„Danke dir.“
Sie hielt demonstrativ ihre Wange hin und ich bückte mich runter, um ihr
ein Küsschen drauf zu geben. Ihre Hilfe war nicht gratis; Kitty war eine
Küsschen-Kapitalistin.
Als ich mir die Ärmel hochkrempelte, kam Rubin neben mich und stellte die
Gläser, die er vom Esszimmer hergetragen hatte, ins Spülbecken. Direkt. Nicht
auf die Anrichte oder so, nein, er lehnte sich zu mir rüber und stellte sie
hinein. Seine Schulter streifte meine und mir wurde wieder einmal bewusst, wie
unterschiedlich die gleiche Berührung sein konnte, wenn sie von verschiedenen Menschen
ausging.
„Rubin, kommst du mit ins Wohnzimmer?“ Kitty hielt ihm ihre freie Hand hin,
während die andere schon in Pas lag.
Doch Rubin lächelte sie mal wieder an und antwortete in seinem
freundlichsten Ton: „Ich denke, ich helfe Vyvyan.“
„Brauchst du nicht“, sagte ich, vielleicht etwas zu schnell, „Gäste sind
bei uns bis zu drei Tage von jeglicher Hausarbeit freigestellt.“
„Und nach diesen drei Tagen?“
„Werden sie wie jede andere fähige Arbeitskraft in den Kohleminen meiner
Mutter eingesetzt.“
„Gut zu wissen.“ Rubins Mundwinkel zuckten und er nahm sich eines der
Küchentücher. „Ich helfe dir trotzdem. Ich will auch noch ein bisschen punkten,
wenn ich schon keine Geschenke dabei habe.“
Pf, er hatte doch schon Wein und Blumen gebracht. Dennoch, das mit dem
Punkten wollen hätte ich ihm fast zugetraut, so ekelhaft freundlich, wie er
sich wieder einmal gab.
Und ja, das irritierte mich. Sehr.
„Willst du spülen oder abtrocknen?“ fragte ich ohne ihn anzusehen und
stellte die Teller unter den heißen Wasserstrahl, nachdem ich die Gläser an den
Rand des Beckens geschoben hatte.
Als er nicht gleich antwortete, warf ich einen Seitenblick zu ihm. So
schwierig konnte die Entscheidung ja nicht sein.
„Abtrocknen“, sagte er schließlich und hielt das Küchentuch in seiner Hand
ein wenig höher.
„War ja klar.“ Ein Versuch war’s trotzdem wert gewesen; ich hasste
spülen. Das Wasser war zu heiß, der Schaum kitzelte in der Nase und zu allem
Überfluss roch Mums Spülmittel auch noch nach Jasmin. Und nein, Jasmin duftete nicht,
das Zeug stank, in echt genauso wie in künstlicher Form. Meine innere
Meckertante war jedenfalls vom Spülen nicht begeistert.
…Vielleicht traf’s auch ‚Diva’ besser, zumindest ab und zu.
„Du stehst nicht auf Hausarbeit, hm?“, fragte Rubin, als ich den ersten
Teller in Angriff nahm.
„Du etwa?“
Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er mit den Schultern zuckte. Wow, das war
ja fast schon Körpersprache, und das, wo meine ganze Familie gerade im
Wohnzimmer war.
„Es gibt Schlimmeres.“
„Zum Beispiel?“
Kam es nur mir so vor, oder hielt ich gerade diese Farce von Unterhaltung
durch eine Frage am Leben?
„Unkraut jäten – im Sommer, in den Sommerferien
besonders.“
Ich grinste. „Da hab ich keine Erfahrung mit, unser Garten ist Pas
Territorium.“
„Du Glücklicher.“
Ich warf Rubin einen kurzen Blick zu – oder sagen wir es so: Es
hätte ein kurzer werden sollen, aber gleich wieder wegzusehen, wenn sich die
Blicke kreuzen, erinnerte mich zu sehr an kleine verschüchterte Schulmädchen,
also hielt ich den Kontakt eine Weile aufrecht. Ich hatte schon eine innere
Meckertante und eine innere Frostbeule, ich brauchte nicht auch noch ein
inneres Schulmädchen.
„Komm schon“, sagte ich, als ich mich wieder meinem Geschirr zuwandte, „als
ob du tatsächlich einen Nachmittag auf den Knien im Garten verbringen würdest.“
Scheiße!
Woher kam denn das verdammte Bild in meinem Kopf?!
Das hatte ich mit ‚auf den Knien‘ definitiv nicht gemeint.
Falsche Assoziation, Vyvyan, absolut falsche Assoziation!
Rubin neben mir schnaubte. War er vorher auch schon so nah gestanden?
Möglichst unauffällig trat ich ein bisschen von ihm weg.
„Du kannst gerne nächsten Juli vorbeikommen, dann
erlebst du das live.“
Ich riss meine Augen auf und starrte plötzlich
sehr konzentriert auf das Glas in meinen Händen. Warum zum Teufel bekam der
Satz in meinen Ohren etwas Zweideutiges? Ich wusste, dass Rubin gar nicht an so
was dachte, das konnte ich an seiner Stimme hören; sie war viel zu monoton und
leicht trotzig, als dass er gerade schmutzige Gedanken haben konnte.
Wieso konnte ich meine Gedanken nicht
einfach abstellen?
„Aber bei uns hat niemand Schonfrist. Zuschauen
gilt nicht, ich würde darauf bestehen, dass du mir hilfst und meine Mom auch,
denn die denkt, es sei gesund, wenn sich junge Menschen im Garten etwas
‚austoben‘.“
Verdammt noch mal, halt bitte
die Klappe!
Ich konnte fühlen, wie meine Wangen mit jedem
seiner Worte wärmer wurden. Zu wissen, dass er wirklich von ganz normaler
Gartenarbeit sprach, half auch nicht. Das Glas in meinen Händen war
mittlerweile übersauber und ich wollte es ihm hinstellen, ohne allerdings den
Blick vom Schaum an meiner anderen Hand abzuwenden – scheiße, waren
meine Wange wirklich heiß? Wann war ich das letzte Mal rot geworden? Ich
konnte mich nicht erinnern und glaubte sogar, dass mir das noch nie passiert
war. Ich war mir auch sicher, dass es nie passiert wäre, wenn wir nicht bei mir
zu Hause gewesen wären. Und dabei war doch eigentlich nichts passiert!
Es gab keinen Grund, rot zu werden.
Bevor das Glas die Ablage berührte, nahm er es mir
aus der Hand. Ohne das klischeehafte, kurze Berühren unserer Finger, aber das
brachte mir im Endeffekt nicht viel, denn ich zuckte trotzdem so schnell
zurück, dass das dumme Ding fast heruntergefallen wäre. Zum Glück hatte Rubin
gute Reflexe.
„Alles in Ordnung?“
„M-hm“, antwortete ich und nickte, während ich
versuchte, meine Wangen durch die Kraft meiner Gedanken wieder ihre normale
Färbung annehmen zu lassen.
Rubin musterte mich, während ich das nächste Glas
mit dem Schwamm bearbeitete. Sein forschender Blick half mir mit meinem
Wangen-Problem nicht unbedingt.
„Und warum hast du dann eben …?“
Vielleicht fiel es mir verspätet auf, aber ich
merkte, dass Rubins Stimme wieder den üblichen, abweisenden Klang hatte, den
ich von der Schule so gut kannte. Oder zumindest fast … er war sozusagen auf
fünfundachtzig Prozent seiner ‚Schulstimme’.
„Ich war gedanklich abwesend. Hab mich erschreckt,
nichts weiter.“
Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass er
eine Augenbraue anhob, denn sein Blick, den ich nur zu deutlich spürte, sagte
alles. ‚Alles‘ wie in: „Wer’s glaubt“ und „Ja, klar, du erschrickst,
weil man dir ein Glas abnimmt. Sicher“. Ich war froh, dass er nichts mehr
sagte, auch wenn es meiner Meinung nach unnötig und irgendwie leicht verstörend
war, dass er sich mit der Hüfte seitlich an die Anrichte lehnte und mir somit
beim Spülen zusehen konnte, während er munter weiter das Küchentuch schwang.
Normalerweise machte es mir nichts aus, wenn andere mir bei etwas zusahen, aber
es war etwas anderes, wenn diese ‚anderen‘ einen so intensiv beobachten, als
würden sie auf irgendetwas warten; darauf, dass man einen Fehler machte, dass
man ihnen irgendeinen brauchbaren Hinweis gab, während man selbst nicht einmal
wusste, worum es überhaupt ging. So stellte ich mir den Besuch im Verhörraum
der Polizei vor; zumindest, solange die netten Bullen von nebenan auch wirklich
nett blieben und nicht die Knüppel hervorholten, wie sie das im Fernsehen oft
genug taten.
Aber, wie gesagt, wenigstens war er ruhig und gab
mir so die Möglichkeit, mich ganz auf die äußerst komplizierte Aufgabe des
Reinigens einer Salatschüssel zu konzentrieren. Jedenfalls beruhigte sich mein
Gesicht und der plötzliche Wunsch, einen langen, in die Augen frisierten Pony
zu haben, hinter dem man sich verstecken konnte, verschwand auf
Nimmerwiedersehen dorthin, von wo er gekommen war. Und während Salatschüssel,
Messer, Gabeln und schließlich auch die beiden benutzten Schneidebretter im
Spülbecken verschwanden und sauber wieder herauskamen, beruhigte ich mich
soweit, dass ich mich wieder entspannen konnte. Aus Rubin wurde ich zwar immer
noch nicht schlau, aber wenigstens konnte ich die Zeit nutzen, um mich selbst
davon zu überzeugen, dass das mit den falschen, absolut falschen
Assoziationen nur ein vorübergehender Patzer und eigentlich irgendwie ja nicht
einmal ganz indirekt Rubins Schuld war, denn hätte er gestern nicht mit
versauten Dingen angefangen, hätte ich sicher nie daran gedacht. Garantiert
nicht in Verbindung mit ihm. Genau, alles seine Schuld.
Ich hatte noch genau zwei Pfannen und drei Deckel
vor mir und reichte eine Pfanne Rubin, der bereits darauf wartete, da er
es mühelos schaffte, schneller im Abtrocknen zu sein als ich im Spülen. Das war
unfair, ganz eindeutig, aber wahrscheinlich lag es nur an meiner mangelnden
Übung. Ich registrierte zwar, dass er die Pfanne nicht abtrocknete, sondern auf
die Ablage legte, dachte mir aber nichts dabei; wahrscheinlich war das
Küchentuch schon zu nass, um noch irgendwie nützlich zu sein. Damit erklärte
ich mir auch, dass er auf mich zutrat, denn links von mir hing noch ein
zweites. Als sich aber plötzlich zwei Arme von hinten um meinen Bauch
schlangen, versteifte sich mein ganzer Körper von einer Sekunde auf die andere;
nur der Hamster in meinem Brustkorb begann an seinem Laufrad zu drehen.
Was, bitte schön, sollte das denn jetzt werden?
Hatte ich irgendwas gemacht, um es zu provozieren? Nein.
Eben!
Rubin trat noch näher am mich heran, lehnte sich
mit seinem Oberkörper gegen meinen Rücken und legte den Kopf auf meine
Schultern, und ich, ich ließ den dummen Deckel in die Spüle fallen.
Zitronengras, was auch sonst.
Zwischenfrage: Seit wann hatte der Duft von
Zitronengras eine … nun, erotisierende Wirkung? War das schon immer so
gewesen?
Sicher, sicher, antwortete mein
Verstand, alles andere wäre ja seltsam.
Gut, dann war ich beruhigt.
Oder auch nicht, aber für diesen Gedanken hatte
ich gerade keine Zeit, denn Rubin sagte:
„Siehst du, du lebst noch.“
Irritiert zog ich meine Brauen zusammen. „Was?“
„Na, ich berühre dich und du lebst trotzdem
weiter“, antwortete er, nun auf neunzig Prozent seiner Schulstimme. Ich fragte
mich, wie er sich gleichzeitig so abweisend und überheblich anhören und so
anschmiegsam sein konnte. Das passte doch nicht zusammen.
Ich drehte mich zu ihm um und warf als erstes
einen Blick zur Küchentür und in den Gang dahinter. In Büchern und Filmen kam
in solchen Momenten immer irgendjemand, der die Situation garantiert
falsch verstand, und darauf hatte ich keinen Bock. Aber glücklicherweise waren
wir noch genau so alleine wie wir es die ganze Zeit über gewesen waren.
„Was wird das, verdammt?!“ Viel mehr als ein
Zischen war die Frage nicht.
„Ich beweise dir, dass es dich nicht umbringt, von
jemandem – in diesem Falle, mir – berührt zu werden.“
Nun klang seine Stimme nicht mehr nur überheblich
oder spöttisch, sondern so, als ob er mit einem Kleinkind reden
würde – nur mochte er Kinder anscheinend nicht, denn sie hatte
gefühlte minus zwölf Grad Celsius. Warm, also, für Rubins Verhältnisse, aber
saukalt für den Rest der Welt.
„Das war mir schon klar, sonst hätte ich dich kaum
ins Haus gelassen.“
Ein Zucken der Mundwinkel, mehr bekam ich nicht,
mal wieder.
„Gut, dann gibt es ja auch keinen Grund mehr,
Gläser fallen zu lassen.“
Scheiße noch mal!
Musste er unbedingt wieder damit anfangen?
Klar musste er, schließlich passierte es nicht
oft, dass ich mich so, so, so verschämt verhielt, das musste er genießen
und noch ein bisschen drauf rumreiten. Danke auch.
Ich biss die Zähne zusammen und antwortete nach
einigen Sekunden der aktiven Beruhigung – wie hatten sie vor ein paar
Wochen im Fernsehen gesagt? ‚Ozean, denk an den Ozean!‘? Gut, Ozean
also – betont gefasst:
„Da das geklärt ist, lässt du mich dann fertig
spülen?“
Er nickte, sah mich aber weiterhin unbewegt an und
nahm auch seine Hände nicht aus meinem Kreuz. Ich wartete, aber nichts
passierte. Dann, endlich, als ich schon etwas sagen wollte, hob er eine Hand.
Die andere blieb, wo sie war, lag schwer und warm auf meinem Shirt. Gleich
darauf spürte ich, wie er an einer Haarsträhne von mir zupfte und dann mit dem
Daumen mehrere Male kurz über eine Stelle an meiner Stirn fuhr, die sich nass
anfühlte.
„Schaum.“
‚Schaum, toll. Danke sehr
fürs Wegwischen, jetzt lass mich los‘, wollte ich eigentlich sagen, aber die Worte
kamen nicht aus meinem Mund raus. Irgendwas hielt sie da drin fest; also nickte
ich. Schaum, klar, was denn sonst?
Schließlich grinste er garantiert zum ersten Mal
an diesem Tag inklusive Grübchen, aber trotzdem sah er eine Millisekunde lang
bedrückt aus. Doch bereits als er sich im nächsten Moment von mir löste und
endlich begann, die Pfanne abzutrocknen, hatte ich mich selbst davon überzeugt,
dass das völliger Quatsch war.
*********
Vyvyans Mutter sah mich an und lächelte freundlich.
„Danke übrigens. Vyvyan wird es nicht sagen – oder
zeigen – aber er ist auch dankbar, dass du ihm hilfst.“
Vyvyan und dankbar? Ich wollte ihr ja nicht direkt widersprechen, aber …
Mein Gesichtsausdruck sagte offenbar alles, denn sie verzog das Gesicht.
„Gut, vielleicht weiß er es selber noch nicht, aber spätestens wenn er eine
bessere Note bekommt, wird er es sein.“
Ja, das dachte ich auch. Gute Noten waren ziemlich wichtig für ihn. Das war
eines der Dinge, die mir an ihm gefielen.
„Im Übrigen würde ich dich gerne dafür entschädigen. Immerhin ist es für
dich ein großer zeitlicher Aufwand - und dann musst du auch noch seine Launen
ertragen. Wie …“
Ich hob abwehrend die Hände und unterbrach sie. „Das ist nicht nötig!“
Sie sah mich überrascht an. Vielleicht war das ein wenig zu heftig
herausgerutscht, aber das Letzte, was ich wollte, war, Geld dafür zu bekommen.
„Wirklich“, setzte ich deshalb neu an, „es macht mir nichts aus. Ich
bekomme ja dafür von Herr Kirsten die Bemerkung im Zeugnis und in einem Monat
sicher auch eine Empfehlung für meine Bewerbung. Das ist mehr als genug.“
„Es sind deine Weihnachtsferien. Und ich kenne meinen Sohn: Er ist Weltmeister im
Bockigsein.“ Leise grummelnd fügte sie hinzu: „Das hat er von seiner Oma.“
Ich unterdrückte ein Grinsen und zuckte mit den Schultern.
„Mit bockig kann ich umgehen.“
„Dennoch, er macht dir die Sache ja nicht gerade leicht. Es ist nur fair,
wenn du …“
„Das ist okay, wirklich! Vyvyan ist nicht …“
Damnit! Das war eindeutig zu schnell aus meinem Mund gekommen. Und dass
ich mitten im Satz abgebrochen hatte, machte die Sache nicht besser.
Seine Mutter schwieg und musterte mich plötzlich so eindringlich, dass ich
das Gefühl bekam, nackt vor ihr zu stehen.
Ganz ruhig, cool bleiben …
Dann lächelte sie ein wenig zu wissend für meinen Geschmack. „Gut, wenn du
meinst.“
Ich war froh, als Catherine mich in diesem Moment darum bat, ihr beim
Abräumen des Tisches zu helfen. Doch als ich mich entfernte, rief seine Mutter
mir leise etwas hinterher, das mich davon überzeugte, dass sie wirklich Megans
Röntgen-Blick hatte:
„Viel Glück!“
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