Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Mittwoch, 29. Januar 2014

Von Edelsteinen und Papierengländern 14:

Ich mag dich nicht nicht.
Wow, der Blick war intensiv. Konnte ich wieder die Grübchen haben, bitte? Mein Nacken kribbelte und ich wusste nicht, ob das in seinen Augen Wut oder doch etwas anderes war.
Scheiße, das – das …
Ich wollte hier weg – und gleichzeitig auch … nicht.
Doch, natürlich wollte ich weg. Und ich wollte, dass er mich losließ, sofort.
„Ich habe nichts gegen dich“, sagte er nach einer kurzen Pause, „du bist mir sympathisch; ansonsten hätte ich Kirstens Angebot nie angenommen.“ Sein Blick verlor an Intensität, wurde wieder distanzierter, und sein Griff um meine Hand weniger fest. Ich entspannte mich ein bisschen.
Sympathisch, das … hm.
„Dann hast du eine verdammt charmante Art, das zu zeigen.“
„Das am Anfang war nichts gegen dich persönlich, da habe ich dich ja noch nicht gekannt. Deine Freunde dagegen mag ich nicht – und ich habe nicht vor, das zu überspielen.“
Das war’s dann wohl für Theo und seine Nachhilfe in Mathe bei Rubin. Ich konnte nicht sagen, dass ich das schade fand.
Ich erwiderte den Blick noch einen Moment, dann wandte ich mich ab und entwand meine Hand seiner.
„Du willst, dass ich die Zeit von August bis heute ‚vergesse‘? Sogar wenn ich wollte, das funktioniert nicht.“ Und meinem Nacken zuliebe nahm ich noch ein wenig mehr Abstand, indem ich zum Tisch hinüber ging und mich an die Kante lehnte.
Rubins Blick verfolgte mich. „Ganz ‚vergessen‘ sicher nicht, aber ein Neuanfang könnte trotzdem funktionieren. Natürlich nur, wenn wir es versuchen.“
„Und was soll mir das bringen?“
„Angenehmere Ferien ohne dass zu denkst, dich immer über mich aufregen zu müssen?“
„Vielleicht tue ich das ja trotzdem noch.“
„Dann haben wir Pech gehabt.“ Er lehnte sich mit der Hüfte an die Anrichte und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Sicher, wenn es funktionieren würde und man einfach einen Knopf im Kopf drücken und etwas gezielt vergessen könnte, dann wäre das eine Möglichkeit gewesen – aber so war das doch nur eine Farce. Es würde nichts daran ändern, dass ich ihn nicht mochte oder dass er in seine Schulstimme verfiel oder …
Es brachte nichts. Es war lächerlich und unnütz und nur etwas, dass verzweifelte Menschen benutzten, um sich vorzumachen, dass ihre Beziehung noch zu retten war, nachdem sie bereits zwei Meter unter der Erde lag. Ich wusste das. Und wir hatten noch nicht mal eine freundschaftliche Beziehung; zu retten war also nichts.
Warum wollte ich dann trotzdem Ja sagen?
„Und was passiert nach den Ferien, wenn die Schule wieder anfängt?“, fragte ich um Zeit zu gewinnen, „Vergessen wir dann die Ferien und machen so weiter wie zuvor?“
Rubin zuckte mit den Schultern.
„Wenn du das willst.“
„Und sonst nicht?“ Ich wollte lachen, aber es wurde nur ein Schnauben. „Ich glaube nicht, dass du es über dich bringen könntest, vor allen anderen nett zu mir zu sein. Dann wäre doch dein schöner Ruf als asozialster Kerl der Schule kaputt.“
Seine Mundwinkel zuckten.
„Ich glaube nicht, dass mir das allzu schwer fallen würde.“
„Das möchte ich sehen.“
„Ja?“ Sie zuckten erneut, diesmal eindeutig amüsiert. „Und um deinen eigenen Ruf machst du dir keine Gedanken?“
„Ich habe es dir schon einmal gesagt: Mein Ruf hält dich aus.“ Wäre ja noch schöner, wenn jemand wie Rubin den zerstören könnte – auch, wenn ich genau das als Ausrede benutzt hatte, um nicht mit ihm ins Kino oder ins Restaurant essen gehen zu müssen. Aber Ausreden waren per Definition nie die ganze Sachlage und mein Ruf würde so was überleben.
… Hoffte ich wenigstens.
Jetzt grinste er wirklich. „Beweise es.“
Ich zögerte. Es war immer noch Schwachsinn. Ich wusste, es würde nichts bringen. Schließlich redete ich mir meine Antipathie ihm gegenüber ja nicht nur ein. Nein, liebe Damen und Herren, die war waschecht, seit dem ersten Tag. Und wenn nichts anderes, dann würde dieser ‚Versuch‘ zumindest das beweisen.
Genau.
Und dann würde meine Familie das auch einsehen und Ruhe geben müssen.
„Von mir aus.“

Rubins Grübchen feierten ihr Comeback und er stieß sich von der Anrichte ab und kam auf mich zu. Die Arme hatte er immer noch vor der Brust verschränkt.
„Hallo. Ich bin Rubin.“
Och nein, das tat er jetzt nicht wirklich, oder? Wollte er echt so tun, als ob wir uns gerade zum ersten Mal sahen? Wie lahm. Und nervig. Und kindisch. Trotzdem spielte ich mit, vorerst, halbwegs. Irgendwie.
Von wegen gutem Willen und so.
„Vyvyan.“
„Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Vyvyan.“ Er blieb stehen, musterte mich und kam dann noch einen Schritt näher. „Darf ich fragen, was du in meiner Küche machst?“
„Panna Cotta – zumindest hatte ich das vor.“
„Wirklich …?“ Er schmunzelte.
Wieder hielt er die anstandsmäßige Armlänge Abstand, wieder schaffte er es, durch die Art, mich anzusehen, viel näher zu wirken. Nicht unangenehm nah, aber nah eben. Auch nicht Zitronengras-nah. Dazu bräuchte es noch mindestens einen Schritt. Eineinhalb.
„Du weißt offensichtlich, wie man einen guten ersten Eindruck macht.“
Das tat ich tatsächlich, im Gegensatz zu ihm. Aber wir wollten ja alles vergessen, was vor den Ferien gewesen war. Alles, was mit Schule zu tun hatte.
„Aber ich muss sagen, normalerweise lerne ich Leute doch eher auf Partys oder in Clubs kennen. Das ist das erste Mal, dass ein Kerl einfach in meiner Küche auftaucht und für mich kocht.“
„Es ist auch das erste Mal, dass ich einfach in jemandes Küche auftauche, halbfertige Panna Cotta auf dem Herd inklusive.“
Rubin ging in Clubs? Zum tanzen und … ‚Leute kennenlernen‘. ‚Leute‘ oder ‚Männer‘? Irgendwie war die Vorstellung von Rubin in einem Schwulenclub seltsam. Ich meine, ich wusste – genauer, als mir lieb war – dass er Männern zumindest nicht abgeneigt war und offenbar schon Erfahrung gesammelt hatte, aber … dennoch …
Abgesehen davon war er noch zu jung. Hallo, siebzehn? Diese Clubs waren doch eh immer ab achtzehn. Das war also illegal. Genau.
„Vielleicht hat dich ja eine gute Fee geschickt?“, führte er das Spiel weiter, „Oder es ist Schicksal.“
Wieder der spöttische Unterton, der dennoch nicht angreifend war. Zumindest fühlte er sich nicht so an.
Aber ich hatte genug. Langsam wurde es lächerlich.
„Wenn es mein Schicksal sein sollte, für einen fremden Kerl eine Panna Cotta zu machen, dann wäre das echt … willkürlich, seltsam und uncool.“ Ich stieß mich von der Tischkante ab und ging wieder zu meiner Pfanne. „Außerdem: Wenn ich nicht langsam weiter rühre, brennt das noch an.“
Würde es nicht; es musste insgesamt gut fünfzehn Minuten vor sich hinköcheln, und eigentlich war umrühren optional, aber es gab mir etwas zu tun.
Vyvyan …“
Ich seufzte. Was denn noch? Wenn das noch lange so weiterging, war ich wirklich morgen noch hier – und nein, bei dem Gedanken kamen keine Erinnerungen an die letzte Nacht, die wir im selben Haus verbracht haben, zurück. Vor allem nicht daran, was nicht passiert war. Absolut gar keine.
Ich drehte mich noch einmal um und sah ihn fragend an. 
Rubin öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fragte schließlich:
„Wie wär’s, wenn du, anstatt es alleine zuzubereiten, mir beibringst, wie es geht? Dann wäre ich das nächste Mal, wenn meine Eltern alleine verreisen, nicht so stark auf dich angewiesen. Und, wer weiß – vielleicht gibt es ja etwas, dass ich dir im Gegenzug beibringen könnte?“ Grübchen, wenn auch mit Schieflage. „In Englisch zum Beispiel bin ich ziemlich bewandert.“

Ich ließ mir den Vorschlag durch den Kopf gehen. Und wenn ich ehrlich war, dann hörte es sich ziemlich gut an. Immerhin hatte ich nicht mit dem Kochen an sich ein Problem – das musste ich zu Hause schließlich auch tun und hier hatte ich zusätzlich noch den Luxus einer Spülmaschine – sondern damit, für Rubin den Koch zu spielen, während er mir schon während der Nachhilfe sagen konnte, was richtig und was falsch war. Wenn ich aber nicht für ihn kochte, sondern ihm zeigte, wie es ging, dann konnte ich ihm sagen, was richtig und falsch war und das würde mich sicher ein wenig für die Stunden davor entschädigen – und vor allem griff es mein Ego nicht an.
„Deal.“
„Gut!“ Das zweite Grübchen kam endlich aus der Versenkung und er zu mir. „Also dann, was …“
„Hände waschen.“
Er grinste und tat wie ihm geheißen.
Hm, doch, das könnte mir gefallen.
„Und jetzt?“
„Rühren und sanft weiterköcheln, noch so … sieben, acht Minuten. Und nebenbei die Gelatine einweichen.“ Ich zeigte auf die Schüssel. „Habt ihr ein Sieb?“
„Sicher, irgendwo.“
Sehr informativ, danke.
„Was dagegen, wenn ich danach suche, während du rührst?“
„Absolut nicht.“ Er sah kurz zu mir. „Meine Küche ist deine Küche.“
Gut, super.
Jetzt blieb nur noch die Frage, wie er das meinte, ‚dann wäre ich nächstes Mal, wenn meine Eltern alleine verreisen, nicht so stark auf dich angewiesen‘. Wie kam er darauf, dass ich ihm ‚nächstes Mal’ überhaupt helfen würde?!

***

Als ich kurz nach sechs Rubins Zimmer betrat, konnte ich einen leisen Pfiff nicht unterdrücken. Im Gegensatz zu gestern war der Raum in perfekter Ordnung, kein Stift lag schief. Der Boden war frei, das Bett gemacht und mit dunkelgrauer Bettwäsche bezogen, die beiden Schreibtische wieder benutzbar. Sogar die Bücher im Bücherregal sahen ordentlicher aus, aber das konnte auch am Rest des Zimmers liegen.
„Du hast richtig aufgeräumt.“
„Wie gesagt, es hatte es nötig.“ Er ging an mir vorbei und stellte die obligatorische Colaflasche und die beiden Gläser auf den Schreibtisch, den ich gestern schon benutzt hatte. Dann drehte er sich zu mir um. „Außerdem kannst du das doch gar nicht wissen; du bist ja das erste Mal hier.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wie lange willst du das noch durchziehen?“
Er grinste. „Bis es Wirkung zeigt.“
Welche Wirkung erhoffte er sich denn? Aber bevor ich fragen konnte, hielt er mir Papier und Stift hin.
„Das Rezept für die Panna Cotta, wenn ich bitten darf.“
Ich nickte, setzte mich auf den Stuhl und schrieb es auf, während er den anderen Stuhl heranzog und sich neben mich setzte.
„Bereit?“
Sicher, immer doch. Quäl mich mit Englisch, Baby.

***

Eine halbe Stunde später war ich bereit, diesen letzten Gedanken noch einmal zu revidieren. Er hatte gestern ja gesagt, dass er zu etwas schwierigeren Aufgaben übergehen wollte, aber ich glaubte, er überschätzte mich etwas. Das hier, das war nicht ‚etwas schwieriger‘, das war einfach nur noch ‚hä?!‘. Ganz unabhängig davon saß er neben mir statt irgendwo anders im Zimmer. Und mir zugewandt – wie sollte ich Aufgaben lösen, wenn ich jedes Mal, wenn er sich zu mir lehnte, um mir etwas zu erklären, das verflixte Shampoo riechen konnte? Und er war hier immerhin der Lehrer – das war unsittlich!
… Und ja, vielleicht leicht ablenkend. Aber nur ein bisschen. 
Aber egal, da musste ich durch. Leider schon wieder ohne meine Lollis, denn die hatte ich natürlich vergessen. Ich lief ja auch nicht ständig damit herum.
Also sah ich auf den Text, den er mir gegeben hatte und bei dem ich jede direkte Rede in indirekte und umgekehrt umwandeln musste. Warum brauchten die Engländer überhaupt indirekte Rede? Wozu gab es denn Anführungszeichen? Und sowieso: Warum konnte wir nicht einfach alle Deutsch sprechen? So global von heute auf morgen entscheiden, dass alles außer Deutsch total überflüssig war?
Wenigstens war Rubins Laune immer noch erträglich; keine Schulstimme, kein herablassendes Getue, einfach nur neutrales Lehrersein. Er lobte mich sogar, wenn ich etwas gut gemacht hatte, was dann doch fast gruselig war. Aber irgendwie okay-gruselig. Leider gab’s nicht viel zu loben.
Gut, jetzt starrte ich denselben Satz sicher schon eine Minute lang an. Vielleicht sollte ich mich dazu überwinden, Rubin nach diesem Wort zu fragen, dass ich nicht verstand, aber ich wusste, dass ich es eigentlich wusste, es fiel mir nur nicht ein. Clavicle, das war ein Körperteil, nicht? Sicher, sonst könnte es diese Mary ja nicht gebrochen haben. Clavicle, clavicle, dafür musste es doch auch ein deutsches Wort geben – Klavikel? Nein, das hörte sich falsch an. Clavicul? Auch noch nicht wirklich … Clavicula? Das hörte sich schon vertrauter an. Als hätte ich es schon einmal gehört, wahrscheinlich bei Mum. Nur: Was war es? Oder wo? Im Arm? Schulter? Bein? Verdammt, warum fiel es mir nicht ein? So schwierig konnte es doch nicht sein, ich hatte das Ding schließlich auch!
… Oder? Vielleicht war es ja ein Mädchen-Ding?
Ich schloss einen Moment lang die Augen und versuchte mich zu beruhigen. Die verdammte Clavicula war nicht das Problem. Natürlich war sie das nicht, denn genau genommen brauchte ich gar nicht zu wissen, was sie war, um die Aufgabe lösen zu können. Der Clavicula war es nämlich genauso egal wie der/dem clavicle, ob ihr Satz nun in direkter oder indirekter Rede stand. Und trotzdem dachte ich darüber nach, hängte mich richtiggehend daran auf. Warum?
Weil ich, solange ich mich auf sie konzentrierte, nicht an andere Dinge denken musste. Wie die Aufgabe, die ich nicht hinkriegte oder die Tatsache, dass er seelenruhig vor sich hinknisterte, während ich hier verzweifelt eine Übersetzung brauchte. Und je länger ich mich mit der Clavicula aufhielt, desto länger würde es gehen, bis ich die Aufgaben fertig hatte und wir kochen konnten, damit wir etwas in den Magen bekamen. So langsam fühlte sich meiner nämlich leer an und das half nicht, mein Gehirn anzutreiben. Ganz und gar nicht.
Hera, Hades und Hephaistos, wenn ich nicht gleich –
„Willst du?“
Plötzlich schob sich eine dunkelrote Kugel vor mein Gesicht. Eine dunkelrote Kugel an einem weißen Plastikstengel. Eine dunkelrote Kugel an einem weißen Plastikstengel, die nach künstlichem Kirscharoma gemischt mit einer Überportion an künstlichen Süßstoffen roch.
Ich riss den Blick davon los und sah zu Rubin. „Woher …?“
Und was tat er? Zuckte mit den Schultern, als wäre es nur natürlich, dass er Kirschlollis zu Hause hatte.
„Beim ersten Mal bist du besser vorangekommen, nachdem du dir einen von diesen genommen hast, deshalb dachte ich, es könnte nicht schaden, ein paar hier zu haben.“
Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich sah ihn an, wie er auf seinem Schreibtischstuhl saß, mir den Lutscher hinhielt und langsam anfing, die Stirn zu runzeln.  
„Willst du jetzt oder nicht?“
Ich nickte. Ich wollte.
Die Grübchen flashten einen Sekundenbruchteil lang über sein Gesicht. Ich wollte die Hand heben, um den Lolli zu nehmen, doch er stupste einfach damit gegen meine Lippen. Und ich? Ich öffnete sie. Das tat man ja auch, nicht wahr? Wenn etwas Leckeres gegen die eigenen Lippen stupste, dann öffnete man sie, generell eben.
Genau.
Und nein, die Formulierung war nicht zweideutig. Nicht in meinem Fall.
Ich schmeckte Kirsche; er ließ los. Mein Hirn registrierte zwei Dinge gleichzeitig: Erstens ging es mir gleich besser; zweitens hatte er sich nicht nur gemerkt, welche Marke und Geschmackssorte ich mochte, er hatte sie auch noch gekauft – irgendwann zwischen gestern Nachmittag und heute Abend um zwanzig nach fünf. Innerhalb etwas mehr als vierundzwanzig Stunden also. Das war aufmerksam. Und zuvorkommend. Und nur für mich.
Und ging eindeutig über die Pflichten eines Nachhilfelehrers hinaus.
Äh … jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Nein, jetzt war Englisch-Zeit. Englisch und nichts als Englisch!
Rubin stand auf, ging zum Papiereimer und warf das Papier des Lutschers weg – warum eigentlich Papier? Es war doch schließlich aus Plastik. Egal.
Danach ging mir die Aufgabe gefühlte tausend Mal leichter von der Hand.

***

„Wow, der Lolli wirkt echte Wunder“, sagte Rubin, als er, den Rotstift noch in der Hand, von meinem Aufgabenblatt aufsah, „du hast circa drei Viertel der Aufgaben richtig.“
Hm. Das war überraschend und ein wenig seltsam, wenn man bedachte, wie müde und auch hungrig ich mittlerweile war, aber dennoch ziemlich cool.
„Wenn du hoffst, dass ich über Nacht zum Englischgenie mutiert bin, muss ich dich leider enttäuschen: Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nur eine Glückssträhne war.“
Ich stand auf und streckte mich genüsslich. Endlich, endlich fertig. Jetzt noch die Gnocchi zubereiten und dann ab nach Hause, in mein warmes Bett und endlich zurück zu Eliaseis. Da sah das Leben doch gleich schöner aus!
„Schade; es hätte dir die Nachhilfestunden sicher um einiges erleichtert.“
„Du meinst wohl, ‚es hätte die Nachhilfestunden überflüssig gemacht‘?“
„Ich habe das genauso gemeint, wie ich es gesagt habe. Die Nachhilfe würde ich wegen so einer Nebensächlichkeit nicht abbrechen.“ Er legte die Blätter auf einen ordentlichen Stapel am Rande der Tischplatte, verräumte die Stifte und drehte sich dann wieder zu mir um. „Ich will meine Empfehlung, schon vergessen?“
„Die würdest du doch auch bekommen, denn als Englischgenie würde ich eine glorreiche Note schreiben.“
„Aber es wäre nicht mein Verdienst.“
„Na und? Muss ja niemand wissen.“
Aw, Vyvyan“, machte er grinsend, „du würdest für mich lügen?“
Das, beschloss ich, brauchte keine Antwort. Verarschen konnte ich mich auch ganz gut selbst, danke auch. Also ging ich schweigend an ihm vorbei und runter in die Küche. Er folgte mir.
„Womit fangen wir an?“
„Mit den Kartoffeln. Waschen, dann in gesalztem Wasser weich kochen.“
„Ich glaube, das kriege ich hin.“ Rubin stellte den Herd an, holte eine Pfanne und füllte sie mit Wasser, bevor er die Kartoffeln nahm.
„Sag mal“, fragte ich, „habt ihr eigentlich auch eine Kartoffelpresse?“
Er hielt inne und sah mich an. „Weiß ich nicht. Wozu braucht man die?“
Um Kartoffeln durchzupressen, du Genie.
„Für Püree und ähnliches – unsere sieht aus wie ein Mini-Eimer mit Löchern unten und zwei Stilen, die man zusammenpresst.“
„Gesehen habe ich das noch nie, aber Kartoffelpüree macht Mom selber, das weiß ich. Soll ich sie suchen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Lass mal, ich mach das – deine Küche ist ja meine Küche, nicht?“
„Ganz genau.“
„Gut, dann wasch die Kartoffeln, Küchenjunge.“
Er tat wie geheißen. Ja, so gefiel mir das definitiv besser.

***

Die Kartoffelpresse fand ich, die Kartoffeln wurden brav weich und Rubin war konzentriert und tat, was ich ihm sagte – will heißen: Das gemeinsame Kochen verlief friedlich. Nur die Uhr tickte unaufhörlich weiter; ich hatte mir bereits ausgerechnet, dass die Gnocchi nicht vor neun Uhr fertig sein würden. Einerseits war ich überrascht, dass es schon so spät war, andererseits musste ich das aber gar nicht sein, immerhin war ich verhältnismäßig spät hier aufgetaucht. Als ich aber mein Handy hervornahm und Mum Bescheid geben wollte, dass es ein wenig später werden würde, sah ich eine SMS von ihr blinken.
Wir haben uns entschieden ins Kino zu gehen (Disney, noch mal). Wenn du mitwillst/kannst, schreib zurück. Wir fahren um 19.30h los, du kannst uns aber auch beim Kino treffen. Kuss.
Ich sah noch einmal auf die digitale Zeitanzeige, aber natürlich war ich viel zu spät; der Film hatte längst angefangen. Ich schnalzte mit der Zunge.
„Was ist?“ Rubin hatte seine Hände in der Mischung aus Kartoffeln und Mehl, schaute jetzt aber zu mir auf. Eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht und wenn er sich jetzt klischeehaft verhalten hätte, hätte er versucht, sie wegzupusten. Tat er aber nicht; er ignorierte sie.
„Meine Familie ist ins Kino gefahren. Mum hat mir um viertel nach sieben geschrieben und gefragt, ob ich mitwolle, aber ich habe es nicht bemerkt, weil ich vergessen hatte, nach dem Kino heute Nachmittag den Klingelton wieder einzuschalten.“
„Oh.“
Ja, oh.
Rubin warf einen schnellen Blick auf die Schüssel, in der er seine Hände vergraben hatte.
„Das ist dumm gelaufen. Willst du ihnen nach?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, ich wäre sowieso nicht mitgegangen.“ Er hob eine Augenbraue und ich seufzte. „Erstens war ich heute, wie gesagt, schon im Kino, zweitens habe ich den Film schon gesehen und drittens hätte ich dann nicht alle Übungen von gestern beendet und sie schon wieder aufschieben müssen. Nein danke.“
„Du siehst trotzdem nicht begeistert aus.“
„Weil Mum weiß-ich-was in die fehlende Antwort hineininterpretieren wird – wahrscheinlich schon hat.“ Und, weil sie es wahrscheinlich auf unseren Streit am Morgen zurückführen würde und mich dann ein Gespräch erwartete, wenn ich sie nicht überzeugen konnte, dass das nicht der Grund gewesen war. Wie absolut fantastisch.
Er nickte, grinste kurz und knetete dann weiter die Masse in seinen Händen. Ich überlegte, ob ich gleich zurückschreiben sollte, entschied mich aber dagegen. So, wie ich Mum kannte, hatte sie nämlich vergessen, den Klingelton auszuschalten.
„War der Film gut? Der heute?“, fragte Rubin, nachdem kurz Stille eingetreten war. Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu, aber er konzentrierte sich aufs Kneten und, nun, einseitig anstarren wollte ich ihn auch nicht. Wo kämen wir da denn hin? Also schloss ich die Augen lieber und schüttelte den Kopf.
„Er war reine Zeit- und Geldverschwendung. Aber was habe ich auch erwartet. Theo und Vic haben ihn ausgesucht.“
„So schlecht?“
„Lass es mich so formulieren: Dagegen ist ‚Ey Mann, wo is’ mein Auto‘ intellektuell anspruchsvoll.“
Poor Vyvyan“, sagte er und sah mich wieder an, „Soll ich dich trösten?“
Wa – was sollte das denn jetzt? Der Ton, der Blick, der Unterton! Er war den ganzen Abend lang halbwegs umgänglich aber auch distanziert gewesen und nun kam er plötzlich damit, aus dem Nichts? Konnte er das nicht lassen? Bitte?
Und konnte mein Kopf es lassen, gleich den passenden Film dazu abzuspielen? Bitte?!
„Denk nicht mal dran“, erwiderte ich leicht verspätet und mehr baff als warnend. Kein Wunder, dass es ihn herzlich wenig beeindruckte uns sein Grinsen nur noch breiter wurde.
„Zum Glück kannst du das nicht überprüfen.“

*********

„Ich mag seine Mutter!“
„Ja, jetzt musst du dir noch nicht mal überlegen, wie du ihn dazu bringst, nach der Nachhilfe noch ein Weilchen zu bleiben. Good for you!“
Ja, gut für mich.
„Und du glaubst, das mit dem ‚Neuanfang‘ wird etwas bringen?“
Ich zuckte mit den Schultern, was sie natürlich übers Telefon nicht sehen konnte. „Keine Ahnung. Schlimmer machen kann es aber auch nichts. Und …“
„… Ja?“
„Ich hab ihm gesagt, dass er falsch liegt. Dass die Antipathie nicht auf Gegenseitigkeit beruht.“
Kurz Stille. „Du hast ihm gesagt, dass du ihn magst?!“
Musste sie sich so ungläubig anhören?
„Dass er mir sympathisch ist.“
„Sag, honey, dir ist schon klar, dass du da mächtig untertrieben hast – right?“
„Wer hat mir gesagt, ich soll ihn nicht überfordern?“
„Auch wieder wahr. Wie hat er reagiert?“
„Ich denke, er hat mir erst nicht geglaubt. Aber … er hat auch nicht noch einmal betont, dass es auf seiner Seite anders aussieht. Das werte ich als positiv.“
„Na, immerhin bleibst du optimistisch.“
„Wie auch nicht, wenn er sich hier offenbar so wohl fühlt, dass er schon wieder schläft?“
Ich musste mir für den nächsten Vatertag etwas richtig Gutes einfallen lassen. Denn Betsy war ganz klar die beste Idee seines Lebens gewesen und es war an der Zeit, dass ich ihm dafür dankte.
„Willst du ihn nicht lieber wecken?“
„Ich hab’s versucht, wenn auch halbherzig. Das muss reichen.“

6 Kommentare:

  1. Hey!
    Hoffe bei dir baut sich der Stress langsam ab.
    Mir gefällt die Geschichte, auch wenn man sich manchmal ein bisschen mehr Dynamik wünscht.^^
    Und ich weiß nicht ob es an meinem Browser oder irgendwelchen Einstellungen bei mir liegt, aber im Text überlappen sich regelmäßig Wörter, oft in Verbindung mit Kursivschreibung. Das stört im Lesefluss ein bisschen, aber das kann wie gesagt ja auch an mir liegen.
    Zur Geschichte selbst:
    Vyvyan is irgendwie schon ein ziemlicher Arsch. Rubin hingegen finde ich ziemlich süß in seiner Art.^^
    Aber warten wir mal ab wie sich das nun noch entwickeln wird.
    Ich bin jedenfalls gespannt und freu mich auf das nächste Kapitel.
    LG

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    1. Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Mehr Dynamik inwiefern? Zwischen Vyv&Rubin oder generell mehr Action?
      Was deine Probleme mit der Textanzeige angeht: Ich weiß nicht, was für eine System-Browser-Kombi du benutzt, aber ich habe es jetzt unter Linux und OSX jeweils mit Firefox und Chrome getestet (wenn du Internet Explorer benutzt, ist dir eh nicht mehr zu helfen ;P), und ich hatte keinerlei Probleme oder Überlappungen im Text feststellen können. Also kann ich dir dabei leider nicht helfen. :/
      Ja, Vyvyan ist in gewisser Hinsicht ein Arschloch. Er verhält sich alles andere als korrekt, vor allem, was Fee und seine Freunde angeht. Ich hoffe, er ist trotzdem noch "likeable". Schön, dass du aber Rubin magst. :)
      Vielen Dank für deinen Kommentar. :)

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  2. Hi, ich würde dir eigentlich viel lieber unanonym schreiben, aber ohne ein Konto weder der hier angebotenen Möglichkeiten noch bei FF geht das schlecht.
    So hab ich dich übrigens gefunden, über FanFiktion.
    Und ich muss dir einfach sagen, ich bin voll und ganz begeistert, von deiner Geschichte und omg, vor allem von deinem Schreibstil. Ich lese viele Geschichten auf Fanfiktion und es sind wenig Autoren dabei, die mich so fesseln wie du.
    Und deswegen muss ich dir auch leider sagen, dass du mich ganz schön quälst, mit dieser, mir scheint es, endlosen Wartezeit.
    Ich hoffe einfach, dass du dich auskuriert hast und es bald weiter geht, ich bin nämlich so gut wie jeden Tag auf deinem Blog ( ich bin von FF hier her gewechselt, weil ich die Geschichte somit 1 Tag früher lesen konnte, hab sie bisher 2 weitere Male in deiner Abwesenheit gelesen..).
    Würd mich einfach unendlich freuen, bald wieder lesen zu können.

    MGF Eva :-)
    und mach weiter so !!!! Nur ohne Krank und Stress und mich foltern :-( Bis dann:-)

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    1. Haha, ja, ohne ein Konto sieht's schlecht aus mit der Un-Anonymität. ;) Schön, dass du über ff.de hergekommen bist - das mit dem "einen Tag früher im Blog" war ursprünglich eher für mich, damit ich das Kapitel dann sicher zum "normalen" Uploadtag fertig haben würde, aber wenn es Leuten, die ähnlich ungeduldig sind, wie ich, nebenbei noch die Wartezeit verkürzt, ist das super. Ich weiß nicht, wie oft ich mir schon gewünscht habe, dass eine Geschichte/Serie/Buch einen Tag früher rauskommt… ;)
      Es freut mich sehr, dass dich meine Geschichte und mein Schreibstil fesseln! :D Die Wartezeit tut mir echt leid - ist eigentlich nicht meine Art, aber gerade läuft so alles schief, was nur schieflaufen kann - und irgendwann ist's dann einfach zu Ende mit der eigenen Energie. :( Ich hoffe trotzdem, endlich wieder ein bisschen Muse für die Geschichte finden zu können.
      Danke dir vielmals für deinen Kommentar!

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  3. N'Abend!
    Wie geht's?
    Ist im März noch mit einem neuen Kapitel zu rechnen, oder sieht das eher schlecht aus?
    Würde mich sehr freuen, wenn's weiter geht.
    Bin schon so gespannt. *hihi*
    Fühl dich geknuddelt!
    Kari

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    1. Tach! :) Ging schon besser, aber es wird wieder. Bezüglich eines März-Updates… äh, ich hoffe? Ich war ziemlich weit beim nächsten Kapitel, als mein RealLife alle Muse aus mir rausgeprügelt hat. Ich hoffe, dass ich diesen Monat wenigstens das Kapitel fertigstellen und hochladen kann, auch wenn ich bezweifle, dass es danach so regelmäßig wie davor weitergehen wird - rein aus zeit- und energietechnischen Gründen. :(
      Aber es freut mich, dass du dich trotz der langen, langen Wartezeit auf die Fortsetzung freust. Und danke dir für den Kommentar. :)

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