Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Montag, 28. Januar 2013

Wieder und wieder 12:

Sie hatte Recht. Er knallte Türen.


  
„Wann holen wir deine Sachen?“
Anita saß mir gegenüber am Küchentisch, in einen Frotteebademantel gekuschelt, ungeschminkt, die langen Haare offen und ungekämmt. Und auch wenn ihre Augen noch vom Schlaf verquollen und ihre Stimme rau war, schaffte sie es, entschieden und fast energisch zu klingen. 
„Heute noch oder morgen?“ 
Klaus, schon – oder immer noch? – in einer bequemen Hose und einem Kapuzenpulli aber nicht weniger verstrubbelt, stellte uns beiden einen Kaffee vor die Nase. Anita lächelte ihn dankbar an, ich nuschelte sogar etwas, das sich halb wie Worte anhörte. Sonntagmorgen nach einer langen, negativ-ereignisvollen und größtenteils schlaflosen Nacht war einfach eine beschissene Zeit, um am Leben zu sein.
Ich nippte an meinem Kaffee und verzog mein Gesicht beinahe schmerzhaft. Eklig, der war ja – Klaus stellte die Milch vor mich hin und grinste mich an.
Ja, ich und Geduld eben.
Ich antwortete Anita nicht, bevor ich nicht die halbe Tasse Milchkaffee getrunken und mir eine Schüssel Müsli geholt hatte, und sie drängte mich nicht. Einerseits, da sie wusste, dass sie ihre Antwort bekommen würde – was sollte ich auch tun, in Unterwäsche und Socken weglaufen? – und andererseits, weil sie so gar kein Morgenmensch war. Sie brauchte mindestens eine Stunde, um richtig aufzuwachen.
„Nein.“
Sie sah mich an. Sie sahen mich beide an, aber Anitas Blick löschte Klaus’ Blick aus.
Kurz überlegte ich, wie ich es am besten sagte, ohne das Falsche zu sagen, aber dann gab ich auf. Wenn mich die beiden nicht verstanden, dann tat es niemand.
„Ich will nicht – ich weiß, dass das Angebot lieb gemeint ist und es ist ja auch großzügig, aber ich will nicht – ich möchte nicht ausziehen. Ich fühl mich doch … eigentlich wohl bei Thomas und Mischa.“
„Und weil du dich so wohl fühlst, bist du gestern Abend hierhin geflohen, statt in dein eigenes Zimmer.“
„Das … ich brauchte etwas Abstand, das ist alles.“
„Na, wenigstens hast du das schon mal eingesehen.“

„Ta, ich krieg das hin, ich musste nur …“
Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. „Nein, du kriegst das nicht hin, nicht so! Wie willst du ihn vergessen, wenn du mit ihm zusammen wohnst, hm?“
Ich hatte wirklich keine Lust, meine eigenen Gedanken von ihr ausgesprochen zu hören. Ich wusste doch, dass sie Recht hatte, aber ich wollte einfach nicht weg, nicht von Thomas mit seinem Helfersyndrom und der lockeren Art und – und auch nicht von Mischa, auch wenn das an Selbstkasteiung grenzte – oder spätestens dann tun würde, wenn er jemand anderen fand. Aber wenn ich ihn schon nicht ‚haben‘ konnte, wollte ich ihn wenigstens sehen.
Anita seufzte und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
„Es geht hier nicht nur um dich, Milo.“ Ihre Stimme war sanfter, als ich sie je gehört hatte. „Du musst auch an ihn denken.“
„Mischa“, erinnerte ich sie.
„Mischa“, wiederholte sie, obwohl wir beide wussten, dass sie den Namen nicht vergessen, sondern bewusst nicht ausgesprochen hatte. „Wie es aussieht, hat er wirklich Gefühle für dich. Wenn du dir sicher bist, dass du dich darauf nicht einlassen willst oder kannst, dann musst du auch daran denken, dass er ebenso mit dir in einer Wohnung wohnt. Dich morgens als einer der ersten und abends einer der letzten Menschen sieht. Mitbekommt, wenn du jemanden anders kennenlernst oder dir einen Kerl für eine Nacht schnappst.“ Etwas blitzte in ihren Augen auf. „Dir beim Masturbieren zuhören muss.“
Tischgespräche waren auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.
Ich stopfte mir einen Löffel Müsli in den Mund und kaute ohne zu schmecken. Anitas Worte gefielen mir nicht, aber … ich konnte sie auch nicht als Blödsinn abtun. Auch wenn ich mich dafür entschied, lieber neben ihm als ohne ihn zu leben, hatte ich denn das Recht, das für ihn mitzuentscheiden? Ich konnte schlecht erwarten, dass er auszog. Es waren denkbar schlechte Voraussetzungen für ein harmonisches WG-Leben.
Wir aßen einige Minuten in Schweigen weiter, bis sie schließlich sagte:
„Denk darüber nach, ja?“
Ich nickte. Das musste ich wohl.

***

 Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, stand Thomas im Türrahmen zur Küche. Ich spürte seinen Blick auf mir, während ich mir Mantel und Schuhe auszog.
„Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Es lag ein leichter Vorwurf in seiner Stimme.
„Hab bei Anita und Klaus geschlafen.“ Ich nahm nicht an, dass ich ihm erklären musste, wieso. Ansonsten hätte er sich auch keine Sorgen gemacht, denn eigentlich war es meine Sache, wo ich meine Nächste verbrachte, und bisher hatte er auch nicht darüber Buch geführt. Wäre auch ein langweiliges Buch geworden. 
„Hab ich gehofft, aber eine SMS wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, oder?“ Er musterte mich. „Alles okay?“
Ich wollte die Frage bejahen, damit ich bald in mein Zimmer kam, aber was würde das bringen, wenn man mir die Lüge gleich ansah? Das brächte doch nur unnötige Fragen mit sich. Also zuckte ich mit den Schultern. „Bin müde. War ’ne lange Nacht.“
Thomas sah aus, als wolle er etwas sagen, aber dann lächelte er nur leicht gequält und schüttelte den Kopf. „Was macht ihr bloß für Sachen? Jedes Mal, wenn ich denke, dass ihr es endlich hinkriegt, geht es wieder schief.“
Ich wusste nicht wirklich etwas zu erwidern und deutete deshalb nur ein Schulterzucken an.
„Milo … so kann das nicht weitergehen.“
Ich nickte. „Ich weiß.“ Dann wandte ich mich ab und wollte in mein Zimmer. Mitten im ersten Schritt hielt ich inne, drehte meinen Oberkörper so, dass ich ansehen konnte und sagte:
„Ich zieh aus.“
Hätte man mich noch vor fünf Minuten gefragt, ob ich bleiben oder gehen wollte, hätte ich auf bleiben bestanden. Und irgendwie … wollte ich das auch jetzt noch, aber mir war klar, dass ich das nicht konnte. Anita hatte Recht. Sogar wenn ich für mich entschied, dass ich ihn wenigstens sehen wollte, hieß das nicht, dass Mischa ebenso dachte. Er hatte ja gesagt, dass wir keine Freunde sein konnten – und das war eine Umschreibung für ‚ganz oder gar nicht‘. Und in diesem Fall hieß ‚gar nicht‘ wohl nicht, Zimmer an Zimmer voneinander zu wohnen.
„Du – was?“ Thomas starrte mich an und ich drehte mich vollends zu ihm um.
Ich würde ihn vermissen. Thomas. Die Erkenntnis war plötzlich und überraschend, auch wenn sie es auf den zweiten Blick nicht hätte sein sollen. Noch etwas seltsamer war, dass ich mir gleichzeitig sicher wurde, dass mein Auszug das Richtige war.
Also wiederholte ich: „Ich ziehe aus.“
„Das meinst du nicht wirklich. Wo willst du denn hin?“ Er schüttelte den Kopf und kam einen Schritt auf mich zu. „Milo, beruhig dich erst mal, dann lass uns in Ruhe …“
„Ich bin ruhig.“ Ich seufzte. „Ich werd erstmal zu Anita und Klaus. Danach suche ich mir was Neues.“ Ohne sexy Mitbewohner. Am besten vielleicht in eine Mädchen-WG – obwohl, nein, was, wenn da eine ’nen sexy Kumpel oder Freund hatte? Also besser in ’ne Lesben-WG. Eine, bei der die Bewohnerinnen grundsätzlich keine Männer mochten und deshalb nicht mit ihnen befreundet waren – und die bei mir dennoch eine Ausnahme machten und mich einziehen ließen. Gut, dass ich keine groß komplizierten Ansprüche hatte …
„Wenn du zu den beiden kannst, warum hast du das letztes Mal nicht getan?“, fragte er ein bisschen verwirrt.
„Ich wollte lieber etwas Eigenes finden.“ Hätte ich das nicht getan, wäre die Möglichkeit ja immer noch da gewesen.
„Du wolltest also nicht zu ihnen?“
Mir war klar, dass er das nicht verstand, da sie meine engsten Freunde waren, aber ich hatte nicht die Energie, es ihm jetzt zu erklären. Ich bezweifelte sowieso, dass er es verstehen würde, vor allem, ohne Anita zu kennen.
„Jetzt will ich es.“
Thomas betrachtete mich schweigend, bevor sich seine Augenbrauen leicht zusammenzogen. „Du gibst auf?“
„Thomas …“, begann ich plötzlich verärgert, weil ich mich in die Defensive gedrängt fühlte, aber dann zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Brachte ja alles nichts, die Fakten sprachen für sich. „Mischa will keine Freundschaft, ich keine Beziehung. Nur Mitbewohner haben wir probiert, aber es hat nicht geklappt, und ‚Mitbewohner, die sich gegenseitig möglichst aus dem Weg gehen‘ ist auf Dauer keine Lösung.“
„Du bist dir sicher, dass …“
„Ja“, unterbrach ich ihn, weil ich wusste, was er fragen wollte. Ich war mir sicher – wäre ich es nicht, wäre ich Mischa gestern nach oder hätte mich umentschieden oder irgendwas. Hatte ich aber nicht. Warum auch? Ich vertraute Mischa ja nicht.
Vielleicht lag es daran, dass ich diesen Satz schon so oft stumm vor mich hingebetet hatte, aber er fühlte sich seltsam leer an.
„Für die drei Monate Kündigungsfrist werde ich dir die Miete natürlich überweisen.“ Das würden drei knappe Monate werden, denn für umme wollte ich auch nicht bei Anita und Klaus unterkommen. Aber es würde schon gehen, irgendwie. Und mit etwas Glück fand Thomas schnell Ersatz.
Der betrachtete mich noch einen Moment, schüttelte nur den Kopf und fluchte leise. „Ach, macht doch was ihr wollt!“

Ich ging in mein Zimmer und rief Anita an. Sie befürwortete meine Entscheidung – welch Überraschung – sagte aber nichts weiter dazu, sondern fragte ungewohnt sanft:
„Wann möchtest du kommen?“
„Diese Woche noch, wenn das okay ist“, antwortete ich und meinte damit ‚So schnell wie möglich‘.
„Hm“, machte sie „natürlich ist es das. Wir müssen schauen, ob Klaus Martins Auto leihen kann. Wahrscheinlich ist das morgens kein Problem, der schläft ja sowieso immer bis zwei.“ Sie hielt den Hörer etwas von sich weg und sagte Klaus, dass er Martin gleich mal anrufen sollte.
„Brauchst du Kartons?“, fragte sie wieder an mich gewandt.
Keine Ahnung. Tat ich das? Letztes Mal … hatte ich Thomas’ geliehen bekommen.
„Moment – Klaus hat Martin erwischt! Es gibt noch Zeichen und Wunder und all den Mist“, erklang es da und ich hörte Klaus im Hintergrund, bevor Anita mir die Zusammenfassung lieferte: „Das mit dem Auto geht klar, allerdings müsste es morgen früh sein, da er es Dienstag in den Service bringt. Sonst nächste Woche.“
Nein, solange wollte ich nicht warten. Wozu auch?
„Dann wird das aber mit den Kartons knapp. Wir müssten sie dir nachher mit der Bahn vorbeibringen. Wie viele brauchst du denn? Und brauchst du Hilfe beim Einpacken?“
„Nee, ich hab nicht viel“, erwiderte ich automatisch und murmelte dann: „Kannst du kurz warten? Wegen den Kartons?“
„Klar.“

Ich ging zurück in die Küche, doch Thomas war nicht da. Kurz darauf klopfte ich an seine Zimmertür. Sie stand offen und ich konnte ihn an seinem Schreibtisch sehen. Nun drehte er sich mit dem Stuhl zu mir um.
„Kann ich ein paar deiner Umzugskartons leihen? Bekommst sie Morgen Mittag wieder zurück.“
Er blinzelte, dann konnte ich das Klick in seinem Kopf förmlich sehen.
So schnell?!
„Wir kriegen das Auto nur morgen“, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. Bei seinem Blick begann das schlechte Gewissen mir an den Eingeweiden zu nagen. Aber es war doch richtig, zu gehen, oder? Und wenn es richtig war zu gehen, dann ja wohl auch, es nicht unnötig hinauszuschieben.
„Lass dir wenigstens bis zum Wochenende Zeit. Du musst doch nicht so überstürzt wegrennen.“
„Es ist nicht überstürzt“, begann ich und unterbrach mich dann selber, „Okay, doch, ein bisschen vielleicht. Aber das mit dem Auto stimmt, das kommt übermorgen in die Werkstatt. Und eine Woche warten …“ Ich sah ihn an, auch wenn es ein wenig Überwindung brauchte, ihm in die Augen zu sehen. „Was würde das denn bringen? Außer sieben Tage, in denen sich niemand wirklich wohl fühlt?“
Er schnalzte mit der Zunge. „Du glaubst nicht wirklich, dass die Woche besser wird, wenn du von jetzt auf gleich verschwindest, oder?“
Nein, aber … das änderte auch nichts daran. Ich hätte gleich auf Anita hören sollen. Bullenkacke. „Leihst du sie mir oder nicht?“
„Wenn nicht, würdest du dann noch etwas länger bleiben?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich würde nachher welche bei Anita abholen.“
Er fuhr sich mit beiden Händen durch die hellbraunen Haare. „Brauchst du nicht.“
„Danke.“ Das Wort fühlte sich ebenfalls hohl an, aber ich hatte weder Zeit noch Muse, groß darüber nachzudenken.
Thomas nickte und ich ging wieder in mein Zimmer. Anita war noch da, obwohl ich sie länger hatte warten lassen als geplant.
„Nein“, sagte ich zu Anita ins Telefon, als ich einige Schritte von der Küche weg war, „ich brauche keine Kartons.“
„Gut. Dann kommt Klaus morgen gegen neun vorbei, ja? Ich fange unterdessen schon mal an, das Arbeitszimmer für dich zu räumen. Und Klaus guckt nachher nach einem bezahlbaren Bett im Internet. Lieber Doppel oder Einzel?“
„Einzel reicht. Und … danke, Ta.“
„Nicht dafür, Mi.“
Als sie aufgelegt hatte, setzte ich mich einen Moment aufs Bett. Aus Michaels Wohnung auszuziehen war einfacher gewesen. Ich wusste zwar, dass es das Richtige war, aber im Gegensatz zu meinem letzten Umzug fühlte sich dieser trotzdem … trotzdem irgendwo falsch an, egal wie oft ich mir das Gegenteil sagte. Ich zwang mich, aufzuhören darüber nachzudenken und schaltete gedanklich auf Autopilot, als ich die Kartons aus dem Keller holte und anfing, alles systematisch einzupacken.

***

Eine knappe Stunde später klopfte es an meiner Tür. Ich war erstaunlich gut vorangekommen, die Bücher, Ordner, generellen Unisachen und Kleider waren schnell verstaut gewesen, und ich wickelte gerade die wenigen Bilderrahmen, die ich hier hatte in Zeitungspapier ein. Bilder mit Michael hatte ich keine aus seiner Wohnung mitgenommen, sondern nur die, die ich beim Einzug auch mitgebracht hatte: Von meinen Eltern und Rosa, von Anita und Klaus, und noch drei oder vier Schnappschüsse aus der Schulzeit im Dorf. Ich sollte mal wieder nach Hause, am Besten noch vor Weihnachten. Vielleicht kamen die beiden ja mit, dann konnten wir uns ein Auto besorgen.
„Ja?“, rief ich Thomas entgegen und wickelte den zweitletzten Rahmen ein, ohne aufzugucken. Hirnausschalten hatte sich als gute Idee herausgestellt und eine simple mechanische Aufgabe wie Dinge einpacken war dafür perfekt. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte ich nicht aus dem Rhythmus kommen. 
Die Tür ging auf, aber Thomas sagte nichts. Ich legte das Bild in den Karton, wickelte das nächste ein und dachte mir, dass es ihm nicht ähnlich sah, mich mit Schweigen zu bestrafen.
Als er dann doch sprach, war es nicht Thomas.
„Es stimmt also.“
Das eingewickelte Bild fiel mir aus den Händen und landete mit einem dumpfen Geräusch auf den anderen. Ich starrte ihn an und sprang auf die Füße. Vor ihm auf dem Boden kauern wollte ich nicht, generell und sowieso nicht bei dem Gesichtsausdruck – oder sollte ich sagen, bei den Gesichtsausdrücken? Die wechselten nämlich innerhalb von Nanosekunden.
„Du haust ab?!“ Er starrte mich ebenso an wie ich ihn, aber im Gegensatz zu mir hatte er keinen zerebralen Totalausfall. „Du kannst doch nicht einfach so ausziehen!“
„Ich hab Thomas schon gesagt, ich bezahl die Miete noch die vereinbarten drei Monate.“ Der einzige Grund, warum ich mir sicher war, dass ich die Worte gesprochen hatte, war, dass Mischas Mund zu einem Strich gepresst und sonst niemand in der Nähe war. Das hatte ich nicht gesagt, oder? Verdammt, manchmal war ich so eloquent wie eine Stechmücke. Obwohl, vielleicht tat ich den Stechmücken gerade Unrecht.
„Darum geht’s nicht und das weißt du genau!“ Mischa kam einen Schritt ins Zimmer hinein und fixierte erst die bereits verschlossenen drei Kartons, dann die noch geöffneten. „Was soll das denn jetzt?“
„Thomas hat Recht: So kann das mit uns nicht weitergehen.“
„Thomas hat dir aber garantiert nicht vorgeschlagen, deswegen eine andere Bleibe zu suchen.“
„Ich fühle mich hier nicht mehr wohl.“
Obwohl es irgendwo die Wahrheit war, war es ein Schlag unter die Gürtellinie und ich bereute die Worte sofort, als ich den Schmerz in seinem Gesicht sah. Ich wollte ihn doch nicht noch mehr verletzen. Warum konnte ich nicht endlich damit aufhören, statt es immer schlimmer zu machen?
Er öffnete den Mund, stockte aber, bevor der erste Laut über seine Lippen kam, und wurde blass. „Hättest du es mir gesagt?“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Dass du ausziehst. Hättest du es mir gesagt?“ Seine Stimme wurde einige Grade kälter. „Oder wärest du morgen, wenn ich nach Hause komme, einfach weg gewesen?“
Ich … ich hätte gerne geantwortet, dass ich es ihm natürlich gesagt hätte und was er denn von mir dachte, aber ich konnte nicht. Ich hatte bisher nicht einmal darüber nachgedacht. Wie scheiße war das denn?
Mischas Gesicht wurde starr. Und dann sah er plötzlich richtig wütend aus.
„Verdammte Scheiße, Milo! Sag mir, dass du dich nicht klammheimlich verpisst hättest!“
Ich machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts und wäre fast über irgendetwas auf dem Boden gestolpert, fing mich aber noch. Ich wollte hier weg. Ich wollte nicht zugeben müssen, dass ich nicht weiter als bis über meine eigene Nasenspitze gedacht hatte. Aber das ging natürlich nicht und das nicht nur, weil er die Tür genauso effektiv wie unbewusst versperrte.
Eigentlich sollte ein großer, kräftiger Kerl wie Mischa angsteinflößend aussehen mit so viel Wut im Bauch, aber auf mich wirkte er nur hilflos und das machte es noch schlimmer. Fast wünschte ich mir, er würde mir eine reinhauen, damit ich nicht das einzige Arschloch im Raum war.
„Ich …“ Die Worte kämpften dagegen an, ausgesprochen zu werden, aber sie mussten dennoch raus. „… weiß es nicht. Ich hab …“ Ich zuckte mit den Schultern. Das tat ich heute oft. „Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es nicht?“ Er schüttelte den Kopf, aber sein Blick haftete dabei auf mir und die kurzen, abgehakten Bewegungen waren von Wut durchtränkt. „Wie jetzt, hätte ich eine Fünfzig-Fünfzig-Chance gehabt, je nachdem, ob wir uns vor morgen früh noch über den Weg gelaufen wären oder nicht?“
„Es tut mir leid.“
„Das sollte es verdammt noch mal auch!“
„Aber … es ist doch wirklich das Beste, wenn wir nicht mehr zusammenwohnen und uns nicht mehr täglich sehen“, wiederholte ich mein kleines Mantra laut. Mantras waren schließlich dafür da, um wiederholt zu werden.
„Das Beste für wen?“
„Uns beide.“
Er lachte ton- und humorlos. „Du hast kein Recht, zu entscheiden, was das Beste für mich ist.“
Das stimmte. Aber ich tat es trotzdem.
„Natürlich nicht, aber … Ich mein, die Situation ist doch ziemlich verfahren und so schnell wird sich da wohl nichts ändern und … also … so laufen wir keine Gefahr, noch mehr Fehler zu begehen.“
Er sah mich eindringlich an. „Was für Fehler haben wir denn deiner Meinung nach alles begannen, hm?“
Ich schloss die Augen und sah weg. Ich würde den Teufel tun und das aussprechen, was er erwartete. Denn auch wenn ich wusste, dass Freitagnacht ein Fehler gewesen war, wollte ich es nicht laut sagen. Und, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wollte ich auch den Samstag bis zum zweiten Teil des Cafébesuchs nicht als Fehler bezeichnen. Nicht laut und schon gar nicht vor Mischa.
Ich öffnete die Augen wieder, obwohl ich sie am liebsten geschlossen gelassen hätte, bis er ging.
Mischa sah mich an, stierte schon fast. Seine ganze Körperhaltung verlangte nach einer Antwort, obwohl ich nicht verstand, warum er es unbedingt hören wollte. Ich sah überall hin, nur nicht in sein Gesicht.
„Hör auf“, sagte ich leise, mehr Bitte als Befehl.
Er schnaubte, lehnte den Körper aber etwas zurück und gab mir mehr Luft zum Atmen.
„Dann war’s das jetzt also?“
Es wäre so einfach gewesen, ich hätte noch nicht einmal Ja sagen müssen. Ein Nicken hätte gereicht, aber ich konnte nicht, ich konnte auch das nicht eingestehen. Dennoch: Mein Schweigen sprach Bände.
„Milo, ich will es hören. Ich bin nicht dumm, ich weiß, dass wir uns nicht ‚nicht mehr täglich‘ sehen werden, sondern gar nicht mehr. Oder hast du etwa vor, ab und zu auf ein Bier vorbeizukommen?“
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich nicht.
„Dann sag es.“
Ich schluckte. Nur zwei Silben, aber sie schienen Tonnen zu wiegen. Viel zu schwer für meinen Sprechapparat. Dennoch zwang ich sie meine Kehle hinauf, zwischen den Zähnen hindurch und über die Lippen. „Das war’s.“
Die Worte hingen im Raum, und mir wurde erst bewusst, dass ich meine Augen wieder geschlossen hatte, als ich das Kratzen von Socken auf dem Teppich hörte. An der Tür hielt er inne.
Ein Herzschlag, zwei, drei. Dann seine raue Stimme:
„Für jemanden, der solche Angst davor hat, verletzt zu werden, fällt es dir erstaunlich leicht, andere zu verletzen.“
Noch ein paar Schritte, dann meine Zimmertür. Kurz darauf Thomas Stimme:
„Wo gehst du hin?“
„Mike’s.“
„Du warst doch eben erst beim Training.“
„Ich brauch ’ne zweite Runde!“
„Komm schon, Großer, das bringt doch nichts. Wollen wir nicht …“
„Nein!“
„Mischa …“
„Lass mich in Ruhe, ich hab keinen Bock auf dein Gelaber!“ Irgendetwas fiel zu Boden. „Hilft ja eh nichts.“
„Aber die halbe Nacht auf ’nen Sandsack einzuprügeln tut der Seele gut, oder was?“ Sie waren beide lauter geworden. „Oder hast du vor, dir im Zweifelsfall danach noch die Birne wegzusaufen?“
„Und wenn schon – das geht dich nichts an!“
Natürlich geht es mich was an! Ich bin dein Freund.“
„Ich will aber nicht reden und ich will auch keine Gesellschaft, also halt dich raus, verdammt!“
„Ich habe mich die ganze Zeit rausgehalten – und schau, wie das ausgegangen ist!“
Einen Moment war es fast gespenstisch still, dann knallte die Haustür mit einer Lautstärke zu, dass ich fürchtete, sie sei dabei zu Bruch gegangen.

***

Ich traute mich erst nach mehreren Minuten ins Wohnzimmer. Thomas stand an den Türrahmen gelehnt da, sah aber auf, als er mich bemerkte.
„Es tut mir leid, das … wollte ich nicht.“
Er fuhr sich über die Augen und atmete geräuschvoll aus. „Ich bin grad echt überfordert.“ Sein Blick huschte über mein Gesicht, dann verzog er den Mund zu etwas, das an anderen Tagen ein Lächeln geworden wäre. „Sind wir wohl alle.“
Er ging auf das Sofa zu und ließ sich rücklings darauf fallen. Ich umrundete es und sah ihn an. Ich hatte es gründlich verbockt und keine Ahnung, was ich tun konnte, um die Situation besser zu machen. Vielleicht war ich für Beziehungen einfach nicht geschaffen, egal ob romantische oder platonische.
Der Gedanke hatte etwas Beruhigendes, weil er eine Ausrede lieferte, sich dem vermeintlichen Schicksal zu ergeben. Aber … machte ich es mir damit nicht zu einfach?
Thomas brummte und sah mich an.
„Vielleicht“, sagte er nachdenklich, „ist es wirklich das Beste, wenn du ausziehst.“

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