Sie hatte Recht. Er knallte Türen.
„Wann holen wir deine
Sachen?“
Anita saß mir gegenüber am
Küchentisch, in einen Frotteebademantel gekuschelt, ungeschminkt, die langen
Haare offen und ungekämmt. Und auch wenn ihre Augen noch vom Schlaf verquollen
und ihre Stimme rau war, schaffte sie es, entschieden und fast energisch zu
klingen.
„Heute noch oder
morgen?“
Klaus, schon – oder
immer noch? – in einer bequemen Hose und einem Kapuzenpulli aber
nicht weniger verstrubbelt, stellte uns beiden einen Kaffee vor die Nase. Anita
lächelte ihn dankbar an, ich nuschelte sogar etwas, das sich halb wie Worte
anhörte. Sonntagmorgen nach einer langen, negativ-ereignisvollen und
größtenteils schlaflosen Nacht war einfach eine beschissene Zeit, um am Leben
zu sein.
Ich nippte an meinem Kaffee
und verzog mein Gesicht beinahe schmerzhaft. Eklig, der war
ja – Klaus stellte die Milch vor mich hin und grinste mich an.
Ja, ich und Geduld eben.
Ich antwortete Anita nicht,
bevor ich nicht die halbe Tasse Milchkaffee getrunken und mir eine Schüssel
Müsli geholt hatte, und sie drängte mich nicht. Einerseits, da sie wusste, dass
sie ihre Antwort bekommen würde – was sollte ich auch tun, in
Unterwäsche und Socken weglaufen? – und andererseits, weil sie so gar
kein Morgenmensch war. Sie brauchte mindestens eine Stunde, um richtig
aufzuwachen.
„Nein.“
Sie sah mich an. Sie sahen
mich beide an, aber Anitas Blick löschte Klaus’ Blick aus.
Kurz überlegte ich, wie ich
es am besten sagte, ohne das Falsche zu sagen, aber dann gab ich auf. Wenn mich
die beiden nicht verstanden, dann tat es niemand.
„Ich will
nicht – ich weiß, dass das Angebot lieb gemeint ist und es ist ja
auch großzügig, aber ich will nicht – ich möchte nicht ausziehen. Ich
fühl mich doch … eigentlich wohl bei Thomas und Mischa.“
„Und weil du dich so wohl
fühlst, bist du gestern Abend hierhin geflohen, statt in dein eigenes Zimmer.“
„Das … ich brauchte
etwas Abstand, das ist alles.“
„Na, wenigstens hast du das
schon mal eingesehen.“
„Ta, ich krieg das hin, ich
musste nur …“
Sie sah mich an und
schüttelte den Kopf. „Nein, du kriegst das nicht hin, nicht so! Wie willst du
ihn vergessen, wenn du mit ihm zusammen wohnst, hm?“
Ich hatte wirklich keine
Lust, meine eigenen Gedanken von ihr ausgesprochen zu hören. Ich wusste doch,
dass sie Recht hatte, aber ich wollte einfach nicht weg, nicht von Thomas mit
seinem Helfersyndrom und der lockeren Art und – und auch nicht von Mischa,
auch wenn das an Selbstkasteiung grenzte – oder spätestens dann tun
würde, wenn er jemand anderen fand. Aber wenn ich ihn schon nicht ‚haben‘
konnte, wollte ich ihn wenigstens sehen.
Anita seufzte und strich sich
die Haare aus dem Gesicht.
„Es geht hier nicht nur um
dich, Milo.“ Ihre Stimme war sanfter, als ich sie je gehört hatte. „Du musst
auch an ihn denken.“
„Mischa“, erinnerte ich sie.
„Mischa“, wiederholte sie,
obwohl wir beide wussten, dass sie den Namen nicht vergessen, sondern bewusst
nicht ausgesprochen hatte. „Wie es aussieht, hat er wirklich Gefühle für dich.
Wenn du dir sicher bist, dass du dich darauf nicht einlassen willst oder
kannst, dann musst du auch daran denken, dass er ebenso mit dir in einer
Wohnung wohnt. Dich morgens als einer der ersten und abends einer der letzten
Menschen sieht. Mitbekommt, wenn du jemanden anders kennenlernst oder dir einen
Kerl für eine Nacht schnappst.“ Etwas blitzte in ihren Augen auf. „Dir beim
Masturbieren zuhören muss.“
Tischgespräche waren auch
nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.
Ich stopfte mir einen Löffel
Müsli in den Mund und kaute ohne zu schmecken. Anitas Worte gefielen mir nicht,
aber … ich konnte sie auch nicht als Blödsinn abtun. Auch wenn ich
mich dafür entschied, lieber neben ihm als ohne ihn zu leben, hatte ich denn
das Recht, das für ihn mitzuentscheiden? Ich konnte schlecht erwarten, dass er
auszog. Es waren denkbar schlechte Voraussetzungen für ein harmonisches
WG-Leben.
Wir aßen einige Minuten in
Schweigen weiter, bis sie schließlich sagte:
„Denk darüber nach, ja?“
Ich nickte. Das musste ich
wohl.
***
Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, stand Thomas im
Türrahmen zur Küche. Ich spürte seinen Blick auf mir, während ich mir Mantel
und Schuhe auszog.
„Wir haben uns Sorgen
gemacht.“ Es lag ein leichter Vorwurf in seiner Stimme.
„Hab bei Anita und Klaus
geschlafen.“ Ich nahm nicht an, dass ich ihm erklären musste, wieso. Ansonsten
hätte er sich auch keine Sorgen gemacht, denn eigentlich war es meine Sache, wo
ich meine Nächste verbrachte, und bisher hatte er auch nicht darüber Buch
geführt. Wäre auch ein langweiliges Buch geworden.
„Hab ich gehofft, aber eine
SMS wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, oder?“ Er musterte mich.
„Alles okay?“
Ich wollte die Frage bejahen,
damit ich bald in mein Zimmer kam, aber was würde das bringen, wenn man mir die
Lüge gleich ansah? Das brächte doch nur unnötige Fragen mit sich. Also zuckte
ich mit den Schultern. „Bin müde. War ’ne lange Nacht.“
Thomas sah aus, als wolle er
etwas sagen, aber dann lächelte er nur leicht gequält und schüttelte den Kopf.
„Was macht ihr bloß für Sachen? Jedes Mal, wenn ich denke, dass ihr es endlich
hinkriegt, geht es wieder schief.“
Ich wusste nicht wirklich
etwas zu erwidern und deutete deshalb nur ein Schulterzucken an.
„Milo … so kann das
nicht weitergehen.“
Ich nickte. „Ich weiß.“ Dann
wandte ich mich ab und wollte in mein Zimmer. Mitten im ersten Schritt hielt
ich inne, drehte meinen Oberkörper so, dass ich ansehen konnte und sagte:
„Ich zieh aus.“
Hätte man mich noch vor fünf
Minuten gefragt, ob ich bleiben oder gehen wollte, hätte ich auf bleiben
bestanden. Und irgendwie … wollte ich das auch jetzt noch, aber mir
war klar, dass ich das nicht konnte. Anita hatte Recht. Sogar wenn ich für mich
entschied, dass ich ihn wenigstens sehen wollte, hieß das nicht, dass Mischa
ebenso dachte. Er hatte ja gesagt, dass wir keine Freunde sein
konnten – und das war eine Umschreibung für ‚ganz oder gar nicht‘.
Und in diesem Fall hieß ‚gar nicht‘ wohl nicht, Zimmer an Zimmer voneinander zu
wohnen.
„Du – was?“
Thomas starrte mich an und ich drehte mich vollends zu ihm um.
Ich würde ihn vermissen.
Thomas. Die Erkenntnis war plötzlich und überraschend, auch wenn sie es auf den
zweiten Blick nicht hätte sein sollen. Noch etwas seltsamer war, dass ich mir
gleichzeitig sicher wurde, dass mein Auszug das Richtige war.
Also wiederholte ich: „Ich
ziehe aus.“
„Das meinst du nicht
wirklich. Wo willst du denn hin?“ Er schüttelte den Kopf und kam einen Schritt
auf mich zu. „Milo, beruhig dich erst mal, dann lass uns in Ruhe …“
„Ich bin ruhig.“ Ich seufzte.
„Ich werd erstmal zu Anita und Klaus. Danach suche ich mir was Neues.“ Ohne
sexy Mitbewohner. Am besten vielleicht in eine Mädchen-WG – obwohl,
nein, was, wenn da eine ’nen sexy Kumpel oder Freund hatte? Also besser in ’ne
Lesben-WG. Eine, bei der die Bewohnerinnen grundsätzlich keine Männer mochten
und deshalb nicht mit ihnen befreundet waren – und die bei mir
dennoch eine Ausnahme machten und mich einziehen ließen. Gut, dass ich keine
groß komplizierten Ansprüche hatte …
„Wenn du zu den beiden
kannst, warum hast du das letztes Mal nicht getan?“, fragte er ein bisschen
verwirrt.
„Ich wollte lieber etwas
Eigenes finden.“ Hätte ich das nicht getan, wäre die Möglichkeit ja immer noch
da gewesen.
„Du wolltest also
nicht zu ihnen?“
Mir war klar, dass er das
nicht verstand, da sie meine engsten Freunde waren, aber ich hatte nicht die
Energie, es ihm jetzt zu erklären. Ich bezweifelte sowieso, dass er es
verstehen würde, vor allem, ohne Anita zu kennen.
„Jetzt will ich es.“
Thomas betrachtete mich
schweigend, bevor sich seine Augenbrauen leicht zusammenzogen. „Du gibst auf?“
„Thomas …“, begann ich
plötzlich verärgert, weil ich mich in die Defensive gedrängt fühlte, aber dann
zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Brachte ja alles nichts, die Fakten sprachen
für sich. „Mischa will keine Freundschaft, ich keine Beziehung. Nur Mitbewohner
haben wir probiert, aber es hat nicht geklappt, und ‚Mitbewohner, die sich
gegenseitig möglichst aus dem Weg gehen‘ ist auf Dauer keine Lösung.“
„Du bist dir sicher,
dass …“
„Ja“, unterbrach ich ihn,
weil ich wusste, was er fragen wollte. Ich war mir sicher – wäre ich
es nicht, wäre ich Mischa gestern nach oder hätte mich umentschieden oder irgendwas.
Hatte ich aber nicht. Warum auch? Ich vertraute Mischa ja nicht.
Vielleicht lag es daran, dass
ich diesen Satz schon so oft stumm vor mich hingebetet hatte, aber er fühlte
sich seltsam leer an.
„Für die drei Monate
Kündigungsfrist werde ich dir die Miete natürlich überweisen.“ Das würden drei
knappe Monate werden, denn für umme wollte ich auch nicht bei Anita und Klaus
unterkommen. Aber es würde schon gehen, irgendwie. Und mit etwas Glück fand
Thomas schnell Ersatz.
Der betrachtete mich noch
einen Moment, schüttelte nur den Kopf und fluchte leise. „Ach, macht doch was
ihr wollt!“
Ich ging in mein Zimmer und
rief Anita an. Sie befürwortete meine Entscheidung – welch
Überraschung – sagte aber nichts weiter dazu, sondern fragte
ungewohnt sanft:
„Wann möchtest du kommen?“
„Diese Woche noch, wenn das
okay ist“, antwortete ich und meinte damit ‚So schnell wie möglich‘.
„Hm“, machte sie „natürlich
ist es das. Wir müssen schauen, ob Klaus Martins Auto leihen kann.
Wahrscheinlich ist das morgens kein Problem, der schläft ja sowieso immer bis
zwei.“ Sie hielt den Hörer etwas von sich weg und sagte Klaus, dass er Martin
gleich mal anrufen sollte.
„Brauchst du Kartons?“,
fragte sie wieder an mich gewandt.
Keine Ahnung. Tat ich das?
Letztes Mal … hatte ich Thomas’ geliehen bekommen.
„Moment – Klaus hat
Martin erwischt! Es gibt noch Zeichen und Wunder und all den Mist“, erklang es
da und ich hörte Klaus im Hintergrund, bevor Anita mir die Zusammenfassung
lieferte: „Das mit dem Auto geht klar, allerdings müsste es morgen früh sein,
da er es Dienstag in den Service bringt. Sonst nächste Woche.“
Nein, solange wollte ich
nicht warten. Wozu auch?
„Dann wird das aber mit den
Kartons knapp. Wir müssten sie dir nachher mit der Bahn vorbeibringen. Wie
viele brauchst du denn? Und brauchst du Hilfe beim Einpacken?“
„Nee, ich hab nicht viel“,
erwiderte ich automatisch und murmelte dann: „Kannst du kurz warten? Wegen den
Kartons?“
„Klar.“
Ich ging zurück in die Küche,
doch Thomas war nicht da. Kurz darauf klopfte ich an seine Zimmertür. Sie stand
offen und ich konnte ihn an seinem Schreibtisch sehen. Nun drehte er sich mit
dem Stuhl zu mir um.
„Kann ich ein paar deiner
Umzugskartons leihen? Bekommst sie Morgen Mittag wieder zurück.“
Er blinzelte, dann konnte ich
das Klick in seinem Kopf förmlich sehen.
„So schnell?!“
„Wir kriegen das Auto nur
morgen“, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. Bei seinem Blick begann
das schlechte Gewissen mir an den Eingeweiden zu nagen. Aber es war doch
richtig, zu gehen, oder? Und wenn es richtig war zu gehen, dann ja wohl auch,
es nicht unnötig hinauszuschieben.
„Lass dir wenigstens bis zum
Wochenende Zeit. Du musst doch nicht so überstürzt wegrennen.“
„Es ist nicht überstürzt“,
begann ich und unterbrach mich dann selber, „Okay, doch, ein bisschen
vielleicht. Aber das mit dem Auto stimmt, das kommt übermorgen in die
Werkstatt. Und eine Woche warten …“ Ich sah ihn an, auch wenn es ein wenig
Überwindung brauchte, ihm in die Augen zu sehen. „Was würde das denn bringen?
Außer sieben Tage, in denen sich niemand wirklich wohl fühlt?“
Er schnalzte mit der Zunge.
„Du glaubst nicht wirklich, dass die Woche besser wird, wenn du von jetzt auf
gleich verschwindest, oder?“
Nein, aber … das
änderte auch nichts daran. Ich hätte gleich auf Anita hören sollen.
Bullenkacke. „Leihst du sie mir oder nicht?“
„Wenn nicht, würdest du dann
noch etwas länger bleiben?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich
würde nachher welche bei Anita abholen.“
Er fuhr sich mit beiden
Händen durch die hellbraunen Haare. „Brauchst du nicht.“
„Danke.“ Das Wort fühlte sich
ebenfalls hohl an, aber ich hatte weder Zeit noch Muse, groß darüber
nachzudenken.
Thomas nickte und ich ging
wieder in mein Zimmer. Anita war noch da, obwohl ich sie länger hatte warten
lassen als geplant.
„Nein“, sagte ich zu Anita
ins Telefon, als ich einige Schritte von der Küche weg war, „ich brauche keine
Kartons.“
„Gut. Dann kommt Klaus morgen
gegen neun vorbei, ja? Ich fange unterdessen schon mal an, das Arbeitszimmer
für dich zu räumen. Und Klaus guckt nachher nach einem bezahlbaren Bett im
Internet. Lieber Doppel oder Einzel?“
„Einzel reicht. Und
… danke, Ta.“
„Nicht dafür, Mi.“
Als sie aufgelegt hatte,
setzte ich mich einen Moment aufs Bett. Aus Michaels Wohnung auszuziehen war
einfacher gewesen. Ich wusste zwar, dass es das Richtige war, aber im Gegensatz
zu meinem letzten Umzug fühlte sich dieser trotzdem … trotzdem
irgendwo falsch an, egal wie oft ich mir das Gegenteil sagte. Ich zwang mich,
aufzuhören darüber nachzudenken und schaltete gedanklich auf Autopilot, als ich
die Kartons aus dem Keller holte und anfing, alles systematisch einzupacken.
***
Eine knappe Stunde später
klopfte es an meiner Tür. Ich war erstaunlich gut vorangekommen, die Bücher,
Ordner, generellen Unisachen und Kleider waren schnell verstaut gewesen, und
ich wickelte gerade die wenigen Bilderrahmen, die ich hier hatte in
Zeitungspapier ein. Bilder mit Michael hatte ich keine aus seiner Wohnung
mitgenommen, sondern nur die, die ich beim Einzug auch mitgebracht hatte: Von
meinen Eltern und Rosa, von Anita und Klaus, und noch drei oder vier
Schnappschüsse aus der Schulzeit im Dorf. Ich sollte mal wieder nach Hause, am
Besten noch vor Weihnachten. Vielleicht kamen die beiden ja mit, dann konnten
wir uns ein Auto besorgen.
„Ja?“, rief ich Thomas
entgegen und wickelte den zweitletzten Rahmen ein, ohne aufzugucken.
Hirnausschalten hatte sich als gute Idee herausgestellt und eine simple
mechanische Aufgabe wie Dinge einpacken war dafür perfekt. Wenn es sich
vermeiden ließ, wollte ich nicht aus dem Rhythmus kommen.
Die Tür ging auf, aber Thomas
sagte nichts. Ich legte das Bild in den Karton, wickelte das nächste ein und
dachte mir, dass es ihm nicht ähnlich sah, mich mit Schweigen zu bestrafen.
Als er dann doch sprach, war
es nicht Thomas.
„Es stimmt also.“
Das eingewickelte Bild fiel
mir aus den Händen und landete mit einem dumpfen Geräusch auf den anderen. Ich
starrte ihn an und sprang auf die Füße. Vor ihm auf dem Boden kauern wollte ich
nicht, generell und sowieso nicht bei dem Gesichtsausdruck – oder
sollte ich sagen, bei den Gesichtsausdrücken? Die wechselten nämlich innerhalb
von Nanosekunden.
„Du haust ab?!“ Er
starrte mich ebenso an wie ich ihn, aber im Gegensatz zu mir hatte er keinen
zerebralen Totalausfall. „Du kannst doch nicht einfach so ausziehen!“
„Ich hab Thomas schon gesagt,
ich bezahl die Miete noch die vereinbarten drei Monate.“ Der einzige Grund,
warum ich mir sicher war, dass ich die Worte gesprochen hatte, war, dass
Mischas Mund zu einem Strich gepresst und sonst niemand in der Nähe war. Das
hatte ich nicht gesagt, oder? Verdammt, manchmal war ich so eloquent wie
eine Stechmücke. Obwohl, vielleicht tat ich den Stechmücken gerade Unrecht.
„Darum geht’s nicht und das
weißt du genau!“ Mischa kam einen Schritt ins Zimmer hinein und fixierte erst
die bereits verschlossenen drei Kartons, dann die noch geöffneten. „Was soll
das denn jetzt?“
„Thomas hat Recht: So kann
das mit uns nicht weitergehen.“
„Thomas hat dir aber
garantiert nicht vorgeschlagen, deswegen eine andere Bleibe zu suchen.“
„Ich fühle mich hier nicht
mehr wohl.“
Obwohl es irgendwo die
Wahrheit war, war es ein Schlag unter die Gürtellinie und ich bereute die Worte
sofort, als ich den Schmerz in seinem Gesicht sah. Ich wollte ihn doch nicht
noch mehr verletzen. Warum konnte ich nicht endlich damit aufhören, statt es
immer schlimmer zu machen?
Er öffnete den Mund, stockte
aber, bevor der erste Laut über seine Lippen kam, und wurde blass. „Hättest du
es mir gesagt?“
Ich sah ihn verständnislos
an.
„Dass du ausziehst.
Hättest du es mir gesagt?“ Seine Stimme wurde einige Grade kälter. „Oder
wärest du morgen, wenn ich nach Hause komme, einfach weg gewesen?“
Ich … ich hätte
gerne geantwortet, dass ich es ihm natürlich gesagt hätte und was er
denn von mir dachte, aber ich konnte nicht. Ich hatte bisher nicht einmal
darüber nachgedacht. Wie scheiße war das denn?
Mischas Gesicht wurde starr.
Und dann sah er plötzlich richtig wütend aus.
„Verdammte Scheiße, Milo! Sag
mir, dass du dich nicht klammheimlich verpisst hättest!“
Ich machte unwillkürlich
einen Schritt rückwärts und wäre fast über irgendetwas auf dem Boden
gestolpert, fing mich aber noch. Ich wollte hier weg. Ich wollte nicht zugeben
müssen, dass ich nicht weiter als bis über meine eigene Nasenspitze gedacht
hatte. Aber das ging natürlich nicht und das nicht nur, weil er die Tür genauso
effektiv wie unbewusst versperrte.
Eigentlich sollte ein großer,
kräftiger Kerl wie Mischa angsteinflößend aussehen mit so viel Wut im Bauch,
aber auf mich wirkte er nur hilflos und das machte es noch schlimmer. Fast
wünschte ich mir, er würde mir eine reinhauen, damit ich nicht das einzige
Arschloch im Raum war.
„Ich …“ Die Worte
kämpften dagegen an, ausgesprochen zu werden, aber sie mussten dennoch raus.
„… weiß es nicht. Ich hab …“ Ich zuckte mit den Schultern. Das tat
ich heute oft. „Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es nicht?“ Er
schüttelte den Kopf, aber sein Blick haftete dabei auf mir und die kurzen,
abgehakten Bewegungen waren von Wut durchtränkt. „Wie jetzt, hätte ich eine Fünfzig-Fünfzig-Chance
gehabt, je nachdem, ob wir uns vor morgen früh noch über den Weg gelaufen wären
oder nicht?“
„Es tut mir leid.“
„Das sollte es verdammt noch
mal auch!“
„Aber … es ist doch
wirklich das Beste, wenn wir nicht mehr zusammenwohnen und uns nicht mehr
täglich sehen“, wiederholte ich mein kleines Mantra laut. Mantras waren
schließlich dafür da, um wiederholt zu werden.
„Das Beste für wen?“
„Uns beide.“
Er lachte ton- und humorlos.
„Du hast kein Recht, zu entscheiden, was das Beste für mich ist.“
Das stimmte. Aber ich tat es
trotzdem.
„Natürlich nicht,
aber … Ich mein, die Situation ist doch ziemlich verfahren und so
schnell wird sich da wohl nichts ändern und … also … so
laufen wir keine Gefahr, noch mehr Fehler zu begehen.“
Er sah mich eindringlich an.
„Was für Fehler haben wir denn deiner Meinung nach alles begannen, hm?“
Ich schloss die Augen und sah
weg. Ich würde den Teufel tun und das aussprechen, was er erwartete. Denn auch
wenn ich wusste, dass Freitagnacht ein Fehler gewesen war, wollte ich es nicht
laut sagen. Und, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wollte ich auch den
Samstag bis zum zweiten Teil des Cafébesuchs nicht als Fehler bezeichnen. Nicht
laut und schon gar nicht vor Mischa.
Ich öffnete die Augen wieder,
obwohl ich sie am liebsten geschlossen gelassen hätte, bis er ging.
Mischa sah mich an, stierte
schon fast. Seine ganze Körperhaltung verlangte nach einer Antwort, obwohl ich
nicht verstand, warum er es unbedingt hören wollte. Ich sah überall hin, nur
nicht in sein Gesicht.
„Hör auf“, sagte ich leise,
mehr Bitte als Befehl.
Er schnaubte, lehnte den
Körper aber etwas zurück und gab mir mehr Luft zum Atmen.
„Dann war’s das jetzt also?“
Es wäre so einfach gewesen,
ich hätte noch nicht einmal Ja sagen müssen. Ein Nicken hätte gereicht, aber
ich konnte nicht, ich konnte auch das nicht eingestehen. Dennoch: Mein
Schweigen sprach Bände.
„Milo, ich will es hören. Ich
bin nicht dumm, ich weiß, dass wir uns nicht ‚nicht mehr täglich‘ sehen
werden, sondern gar nicht mehr. Oder hast du etwa vor, ab und zu auf ein Bier
vorbeizukommen?“
Ich schüttelte den Kopf.
Natürlich nicht.
„Dann sag es.“
Ich schluckte. Nur zwei
Silben, aber sie schienen Tonnen zu wiegen. Viel zu schwer für meinen
Sprechapparat. Dennoch zwang ich sie meine Kehle hinauf, zwischen den Zähnen
hindurch und über die Lippen. „Das war’s.“
Die Worte hingen im Raum, und
mir wurde erst bewusst, dass ich meine Augen wieder geschlossen hatte, als ich
das Kratzen von Socken auf dem Teppich hörte. An der Tür hielt er inne.
Ein Herzschlag, zwei, drei.
Dann seine raue Stimme:
„Für jemanden, der solche
Angst davor hat, verletzt zu werden, fällt es dir erstaunlich leicht, andere zu
verletzen.“
Noch ein paar Schritte, dann
meine Zimmertür. Kurz darauf Thomas Stimme:
„Wo gehst du hin?“
„Mike’s.“
„Du warst doch eben erst beim
Training.“
„Ich brauch ’ne zweite
Runde!“
„Komm schon, Großer, das
bringt doch nichts. Wollen wir nicht …“
„Nein!“
„Mischa …“
„Lass mich in Ruhe, ich hab
keinen Bock auf dein Gelaber!“ Irgendetwas fiel zu Boden. „Hilft ja eh nichts.“
„Aber die halbe Nacht auf
’nen Sandsack einzuprügeln tut der Seele gut, oder was?“ Sie waren beide lauter
geworden. „Oder hast du vor, dir im Zweifelsfall danach noch die Birne
wegzusaufen?“
„Und wenn
schon – das geht dich nichts an!“
„Natürlich geht es
mich was an! Ich bin dein Freund.“
„Ich will aber nicht reden
und ich will auch keine Gesellschaft, also halt dich raus, verdammt!“
„Ich habe mich die ganze Zeit
rausgehalten – und schau, wie das ausgegangen ist!“
Einen Moment war es fast
gespenstisch still, dann knallte die Haustür mit einer Lautstärke zu, dass ich
fürchtete, sie sei dabei zu Bruch gegangen.
***
Ich traute mich erst nach
mehreren Minuten ins Wohnzimmer. Thomas stand an den Türrahmen gelehnt da, sah
aber auf, als er mich bemerkte.
„Es tut mir leid,
das … wollte ich nicht.“
Er fuhr sich über die Augen
und atmete geräuschvoll aus. „Ich bin grad echt überfordert.“ Sein Blick
huschte über mein Gesicht, dann verzog er den Mund zu etwas, das an anderen
Tagen ein Lächeln geworden wäre. „Sind wir wohl alle.“
Er ging auf das Sofa zu und
ließ sich rücklings darauf fallen. Ich umrundete es und sah ihn an. Ich hatte
es gründlich verbockt und keine Ahnung, was ich tun konnte, um die Situation
besser zu machen. Vielleicht war ich für Beziehungen einfach nicht geschaffen,
egal ob romantische oder platonische.
Der Gedanke hatte etwas
Beruhigendes, weil er eine Ausrede lieferte, sich dem vermeintlichen Schicksal
zu ergeben. Aber … machte ich es mir damit nicht zu einfach?
Thomas brummte und sah mich
an.
„Vielleicht“, sagte er nachdenklich, „ist es wirklich das Beste, wenn du
ausziehst.“
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