Unser Schlafzimmer. Zwei Stimmen. Ich trat ein.
Verdammte. Scheiße.
In den ersten schrecklich langen Augenblicken war
das alles, was ich denken konnte. In diesen Augenblicken war ich auch noch
erstaunlich ruhig. Dann brach in meinem Kopf die Hölle los.
Ich hätte es wissen sollen! Es war einfach zu
schön, um wahr zu sein – natürlich hatte die Sache einen
Haken, natürlich war dieser Haken genau das, was ich absolut hatte
vermeiden wollen. Was hatte ich auch erwartet, bei der wunderbaren
Glückssträhne, die mich in letzter Zeit gefangen hielt, hm? Es wäre schließlich
zu viel verlangt gewesen, mir ein Mal eine Pause zu gönnen. Nur eine kleine,
vielleicht ein halbes Jahr lang. Ich hätte misstrauisch werden sollen, als ich
das Angebot am schwarzen Brett entdeckt und gleich heruntergerissen hatte, noch
misstrauischer, als Thomas sich dann auch noch als absolut sympathischer,
absolut schwulenunfeindlicher und absolut mir gegenüber positiv eingestellter
Typ herausstellte. Und als er dann auch noch meinte, ich könne sofort einziehen
und er würde mir auch helfen, hätte ich das Weite suchen sollen. Dann hätte ich
mich danach zwar für meine Feigheit gehasst, aber wenigstens wäre ich sicher
gewesen.
Aber, verdammt noch einmal, ich konnte ja nicht
wissen, dass der zweite Mitbewohner, der die zwei Monate bis zum neuen Semester
verreist gewesen war, ausgerechnet … ausgerechnet zu dem Typ
Mensch gehörte?
… Selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte es
etwas geändert? Ich hatte dringend eine Unterkunft gebraucht, denn zurück in
Michas Wohnung konnte ich nicht.
Michaels Wohnung.
Das war sie immer gewesen, nicht wahr? Nie
‚unsere‘, immer seine. Und ich, ich war ein Untermieter oder – ein
Haustier. Ja, so hatte es sich angefühlt, aber das habe ich ja erst im
Nachhinein gemerkt. Und Thomas war wirklich mein Ritter in strahlender Rüstung
gewesen, denn auch wenn das Zimmer nur knapp zehn Quadratmeter umfasste, war
die Wohnung schön und gemütlich eingerichtet und die Miete erschwinglich. Und
Thomas half mir, wirklich und ohne dass ich mich deswegen schlecht
gefühlt hätte. Nicht nur beim Kistentragen, sondern auch dabei, in Michas
Wohnung zurückzugehen und die Kisten – Thomas’ Kisten,
wohlgemerkt – erst einmal zu füllen. Vor allem aber hatte er mir den
Rücken gestärkt, als ich Micha sagte, dass er sich seine Entschuldigungen sonst
wohin stecken konnte. Thomas hatte sich wie ein genialer bester Freund
verhalten, obwohl wir uns erst ein paar Stunden gekannt hatten. Es war fast zu
schön gewesen und jetzt kassierte ich das längst überfällige Karma dafür.
Vielleicht sollte ich aufhören zu starren. Und
sicherstellen, dass da auch kein Sabber über mein Kinn lief.
Verdammte Scheiße!
Warme haselnussbraune Augen, die mich anlachten,
etwas dunklere kurze Haare, ein freundliches, offenes Grinsen und eine große
Hand, die sich mir entgegenstreckten. Und natürlich die Muskeln, die durch das
schwarze Muskelshirt so schön zu Geltung kamen und die dafür sorgten, dass mein
Mund nicht wusste, ob er austrocknen oder überschwemmen sollte. Keine
aufgepumpten Dinger à la Arni in seinen jungen Jahren, sondern schöne,
wohlgeformte …
„Freut mich, Milo.“
Natürlich, seine Stimme war auch der perfekte
Bassbariton, nicht zu tief und nicht zu hoch. Hatte er das ‚Freut’ eben
wirklich betont?
„Ich hoffe, du hast dich schon ein bisschen
eingelebt?“
Das einzig Gute an dieser Situation war, dass ich
schön öfter in einer ähnlichen gesteckt hatte – wenn es
Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Situationen gab, dann war das hier nicht
nur die normale Schwester von den anderen, sondern die
Zwi… Achtlingsschwester. Oder Neunling? Ich beschloss, besser nicht
nachzuzählen. Aber eben durch diese Übung schüttelte ich ganz automatisch seine
Hand und erwiderte:
„In Null Komma nichts. Thomas hat es mir leicht
gemacht.“ Da, ich hatte sogar noch ein Lächeln gefunden, ganz tief in meinem
Notfallreaktionenarsenal versteckt. Und ich fand, das war eine adäquate
Entschädigung für das fehlende ‚Mich auch‘, auch wenn ich natürlich hoffte,
dass keiner der beiden das bemerkte.
Okay,
jetzt konnte er mich wieder loslassen. Wirklich. Und den Augenkontakt hielt er
auch einen Tick länger, als erwünscht war, vor allem, weil das ein Wettkribbeln
zwischen meinem Bauch und meinem Schritt auslöste. Das war nicht gut.
Und Thomas, dieser Engel, eilte wieder zu
meiner Rettung, wenn auch unbewusst.
„Wer hat Lust auf Pizza? Ich denke, wenn wir vier
Maxi bestellen, sollte es hinkommen.“
„Vier?“, kam es gleichzeitig von uns. Er
grinste mich schelmisch an und das Kribbeln wurde stärker.
„Dürfen wir uns jetzt was wünschen?“
Hoffentlich. Dann wünschte ich mir, dass mein
Körper Mischa-immun wurde.
Ja, er hieß Mischa. Tut er natürlich immer noch.
Die äußerlichen Ähnlichkeiten zu Micha – Michael, Michael! Nie
mehr Micha – waren schließlich nicht genug, nein, die Namen
mussten auch noch fast gleich sein.
Keine Angst, Universum, ich hatte den Wink mit dem
Zaunpfahl verstanden. Finger weg, glasklar.
„Ihr dürft euch die Beläge wünschen, Großer, von
ganzen drei Maxipizzen; Milo frisst nämlich genauso viel wie du.“ Thomas
schüttelte den Kopf und schnappte sich das Menü seines Lieblingslieferanten vom
Couchtisch. „Wenn mein Brüderchen nicht wäre, würde ich glatt denken, das liegt
an eurer tragischen Veranlagung.“
Mischa lachte und die beiden warfen sich einen
Blick zu, der offensichtlich machte, dass der Ausdruck ein Insider war. Es
störte mich nicht, dass ich die Anspielung nicht verstand; ich verstand dafür,
was zwischen den Zeilen lag: Mischa war ebenfalls schwul. Das hatte ich zwar
schon gewusst, aber zu wissen, dass der ‚andere Mitbewohner‘ schwul war und zu
wissen, dass Mischa mit dem frechen Grinsen und dem anbetungswürdigen Körper
schwul war, waren zwei paar Stiefel.
Und spätestens jetzt wusste Mischa auch, dass ich
ebenfalls schwul war. Natürlich redete ich mir ein, dass ihm das genauso
egal war wie mir – obwohl, besser nicht, denn mir war es eben nicht
egal. Nicht, wenn ich ganz ehrlich war, so einhundertzwanzig Prozent ehrlich.
„Vielleicht ist die Veranlagung von Timi ja nicht
ganz so tragisch wie unsere“, antwortete Mischa und schnappte sich das Menü aus
Thomas’ Händen. „Gib her!“
„Schön wär’s …“ Thomas seufzte übertrieben,
bevor er das Grinsen nicht mehr zurückhalten konnte. „Wozu siehst du dir das
jedes Mal an? Du nimmst ja doch immer dasselbe!“
„Vielleicht habe ich diesmal Lust auf etwas
Neues …“ Mischa sah mich an. „Worauf hast du Lust?“
Auf dich?
Nein, nein, nein, damit durfte ich gar nicht
anfangen. Und genau deshalb stand ich auf.
„Sorry, aber ich hab was vor. Ich sollte mich auch
langsam umziehen …“
„Ausgerechnet heute traust du dich vor die Tür?
So’n Mist.“ Thomas seufzte und sah wirklich enttäuscht aus. Er war ein echter
Goldkerl.
Ich murmelte noch etwas in freundlichem Tonfall zu
Mischa, das er gerne interpretieren durfte, wie er wollte, und flüchtete aus
dem Wohnzimmer. Die Nachricht war schnell getippt und falls Anita keine Zeit
hatte, würde ich eben alleine in ein Café gehen. Ich brauchte etwas Abstand, um
die neusten Entwicklungen zu begreifen und einen Plan zu machen, wie ich damit
umgehen würde.
In letzter Zeit schien ich fast nur damit
beschäftigt zu sein, solche Pläne zu machen. Wo blieb meine verdammte Pause?!
***
„Na, du treulose Tomate?“
Anita gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf und ließ sich mir gegenüber auf
den Stuhl fallen. „Hast du dich daran erinnert, dass es mich gibt oder einfach
die erstbeste Nummer im Handy gewählt?“
„Ganz so schlimm bin ich nicht …“
„Sagte er, nachdem er sich zweieinhalb Monate
nicht mehr gemeldet hatte.“
„Sorry.“
Sie verzog die linke Seite ihres dunkelrot
geschminkten Mundes zu einer Grimasse, die ihr Lächeln
darstellte – auf den ersten Blick kein besonders liebevolles Lächeln,
sondern eher ein zynisch-sardonisch–herablassendes, aber wenn man sich mal
daran gewöhnt hatte, lernte man es zu schätzen – oder zumindest
lernte man, dass es in den wenigsten Fällen zynisch-sardonisch-herablassend
gemeint war. Meist nur zwei von den drei Dingen, wenn man Glück hatte sogar nur
eines, aber das passierte so einmal im Jahr.
„Immer noch mit Miiiiicha zusammen?“
Ich schüttelte den Kopf und die perfekt gezupften
Augenbrauen hoben sich anerkennend und, wenn ich mich nicht täuschte, erfreut.
„Sag bloß.“
„Hab ihn vorletzten Monat im Bett mit so ’nem
siebzehnjährigen Winzkerl erwischt. Hat nicht mal aufgehört, als er mich in der
Tür entdeckt hat.“
„Arschloch.“
„Hm“, brummte ich zustimmend, „außerdem quiekte
der Winzkerl bei jedem Stoss wie ’ne Tusse. Ah-uh-ah!“
Sie schnaubte – schnauben war Anitas
Version von lachen – und holte den Kellner mit einer kurzen
Handbewegung an den Tisch. Ich hatte immer noch nicht verstanden, warum das bei
ihr immer funktionierte und bei mir nie.
„Karamell Macchiato mit einem Schuss Vanille.“
Wetten, dass sie ihn dreimal schneller bekommen
würde als ich meinen Latte?
„Und jetzt?“
„Na ja, ich hatte Glück und habe durch Zufall
gleich am selben Tag ein Zimmer gefunden“, begann ich und erzählte ihr von
Thomas, davon, dass er mit angepackt hatte und sogar mit zu Micha…el
gekommen war.
„Schwul?“
„Hetero.“
„Huh. Also Helfersyndrom. Na, da hat er sich ja
den richtigen geangelt.“ Sie bekam ihren Macchiato – wie ich mir
gedacht hatte im Rekordtempo – und löffelte den Karamellsirup mitsamt
dem Milchschaum.
„Du hättest anrufen können.“ Sie klang nicht
anklagend, sondern so, als ob sie gesagt hätte, dass Kaffee aus Kaffeebohnen
gemacht wird.
„Ich weiß.“
Wenn Anita einen musterte, fühlte man sich nie
ganz wohl in seiner Haut. Ich glaube, es ist, weil man den Blick einfach
erwidern musste, ob man nun wollte oder nicht, ob man den Mut dazu hatte
oder nicht. Wenigstens waren es die mit Abstand schönsten Augen, die ich je
gesehen hatte: groß, mit dichten, besonders an den äußeren Winkeln langen
Wimpern und von einem leuchtenden Blaugrün, bei dem sogar das karibische Meer
neidisch werden würde. Ich hatte immer gedacht, dass meine eigenen blauen Augen
ganz ansehnlich waren und vor allem im Kontrast zu den schwarzen Haaren meine
langweilig-normale Statur und meinen etwas … eigenbrötlerischen
Charakter zumindest ansatzweise wieder gutmachten, aber gegen Anitas Augen
konnten meine nicht anstinken. Ihre waren wirklich umwerfend. Leider war der
Blick daraus meist undurchdringlich und, auch wenn sie gute Laune hatte,
einschüchternd genug, um einem das Gefühl zu geben wieder sieben Jahre alt zu
sein und gerade von der ersten Lehrerin in der Grundschule ausgeschimpft zu
werden.
Das Gute war, dass sie ebenfalls – wen
überrascht es? – den Geh-weg-oder-stirb-Blick perfektioniert hatte
und damit sogar in einer überfüllten Disco für Privatsphäre sorgen konnte. Es
hatte eben alles seine Vor- und Nachteile.
Schließlich entließ sie mich aus dem Blickduell,
das sie sowieso innerhalb der ersten Nanosekunde gewonnen hatte, und ich atmete
erleichtert auf.
„Was ist mit dem geheimnisvollen zweiten
Mitbewohner? Hast du den schon getroffen?“
Zu früh gefreut.
***
„Auf keinen Fall.“
„Ich weiß.“
„Nein, tust du nicht.“ Ihre Stimme war nicht
besonders laut, aber scharf genug, dass ich zusammenzuckte. „Auf gar keinen
Fall!“
„Ich brauche das Zimmer.“
„Du kommst zu uns. Das hättest du von Anfang an
tun sollen.“
„Ta, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee
wäre.“
„Aber noch einmal auf so einen Anabolika-Huldiger
hereinzufallen ist eine gute Idee oder was?“ Ihre Augen blitzten und sie
erinnerte mich mehr denn je an eine Raubkatze; dass sie die kerzengeraden Haare
wie immer streng nach hinten in einem Pferdeschwanz trug, was ihre prominenten
Wangenknochen betonte, half natürlich auch nicht. Eigentlich sollte Anita nicht
so einschüchternd wirken. Sie war nur eins fünfundsiebzig und so schlank, dass
sie fast zierlich wirkte (Betonung auf ‚fast‘), hatte einen sehr mondänen Stil
in Make-up wie in Mode und beides war immer perfekt. Immer. Das war
schon fast gruselig. Eigentlich hätte man sie anschauen und als dummes
Modepüppchen abtun sollen, aber ich war davon überzeugt, dass das noch niemand
getan hatte – und falls doch, dass er es spätestens fünf Minuten
später bereute. Denn, wie gesagt: Eigentlich hätte sie nicht so
einschüchternd wirken sollen, Tatsache war aber, dass meine Kronjuwelen jedes
Mal, wenn ihre sowieso schon tiefe Stimme noch ein bisschen dunkler wurde, auf
Erdnussgrösse zusammenschrumpften. Wie in genau diesem Moment.
„Wie oft bis jetzt, Milo?“ Ich rutschte unruhig
auf meinem Stuhl hin und her. „Wie oft noch?“
Was konnte ich darauf schon antworten? Immerhin
hatte sie Recht. Meine bisherigen ‚mehr oder weniger romantischen Begegnungen‘,
die einzige feste Beziehung miteingeschlossen, hatten zwei Dinge gemeinsam: Die
Kerle waren alle überdurchschnittlich muskulös und hatten mich
überdurchschnittlich scheiße behandelt. Michael war da leider keine Ausnahme
gewesen, auch wenn ich die Augen fast ein ganzes Jahr lang so sehr
zusammengekniffen hatte, dass es wehtat. Genau deshalb hatte ich auch
beschlossen, in Zukunft die Finger von solchen Typen zu
lassen – zugegeben, nicht zum ersten Mal, aber sehr wohl zum ersten
Mal war es mir ernst damit. Mit jemandem wie Mischa zusammenzuwohnen war da
natürlich kontraproduktiv. Nur ein bisschen.
Ich schwieg und benetzte meine Lippen mit Kaffee
ohne zu trinken.
Ich mochte die Wohnung. Mein Zimmer. Die
Lage. Ich mochte Thomas. Ich mochte den niedrigen Mietpreis und ich mochte es,
unabhängig zu sein. Natürlich hätte ich zu Anita und Klaus können, aber ich
wollte weder ihnen zur Last fallen, noch mich daran zu gewöhnen Anita immer da
zu haben. Denn eines war sicher: Wenn man mit Anita zusammen war, dann war das
einzige, wovor man Angst haben musste, Anita. Vor allem anderen beschützte sie
einen und es wäre viel zu einfach, sich daran zu gewöhnen, und viel zu
schwierig, danach wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Und das würde ich
irgendwann müssen.
„Ich muss lernen, mit Männern wie Mischa
umzugehen.“ Auf gut Deutsch: Mich ihnen nicht gleich vor die Füße zu werfen und
zu schreien: ‚Nimm mich! Bitte, bitte!‘
Anitas Kiefer arbeitete stärker, als das
Kaffeegebäck erforderte. Schließlich sah sie mich noch einmal forschend an,
bevor sie langsam antwortete:
„Wenn es schief läuft, hol ich dich da
raus – und wenn ich dich an den Füssen rausschleifen muss.“
Ich nickte.
„Und ich will, dass du dich öfter meldest. Allerspätestens
alle zwei Wochen. Damit ich merke, wenn es anfängt schief zu laufen.“
„Versprochen.“
Sie schnaubte. „Als ob ich dem noch glauben
würde.“ Ihre Mundwinkel verzogen sich erneut. „Aber diesmal hältst du dich
besser dran, Süßer, denn falls nicht …“
Sie musste den Satz nicht vollenden, ich verstand
auch so: Ich würde es bereuen. Und da es hier um Anita ging, glaubte ich ihr.
***
Am nächsten Morgen sah mein Entschluss richtig gut
aus. Ich würde das hinkriegen. So attraktiv war Mischa auch gar nicht,
wenn man davon absah, dass er genau meinem Typ entsprach und dazu noch dieses
Grinsen hatte – und die warmen Augen – und die
Stimme – und …
Dennoch, es sah so aus (sprich: ich redete mir
ein), als ob ich eine Chance hätte, es durchzuziehen. Und dann kam Mischa aus
seinem Zimmer.
Ich bemerkte ihn nicht gleich, denn für einen
großen, breiten Kerl tapste er überraschend leise über den Küchenboden. Ich war
gerade dabei, mir Schokopops in eine Schüssel zu füllen, um mein Frühstück nach
den Toastscheiben mit etwas Süßem abzuschließen, als er von hinten an mich
herantrat und über mich hinweg nach der gesünderen Cerealien-Variante griff.
„Morgen …“
Und weg war meine Standfestigkeit. Alles, was es
gebraucht hatte, war Mischas vom Schlaf raue Stimme in der unmittelbaren Nähe
meines Ohres. Wer hätte das gedacht.
Zugegebenermaßen reagierte ich langsamer als
normal, aber das war bloß, weil in den ersten Sekunden das Kribbeln in meinem
Ohr, meinem Rücken und meinem Schritt überwältigend war. Natürlich war das
nicht ganz unverständlich, immerhin war es mehr als zwei Monate her, da
durfte man als gesunder junger Mann ruhig etwas überempfindlich werden.
Allerdings fiel mir dann siedend heiß wieder ein, dass das genau die Reaktion
war, die ich vermeiden wollte und ich zuckte zurück – und stieß gegen
ihn. Unabsichtlich, natürlich. Absolut unabsichtlich.
„Vorsicht!“
Auch wenn es eine instinktive Reaktion war,
empfand ich die Hand an meinem Oberarm als überflüssig, da ich sicher nicht
umgefallen wäre, und überflüssigerweise verstärkte sie das Kribbeln noch. Also
tat ich das einzig Akzeptable und entwand mich dem Griff und seiner Nähe. Als
ich mich umdrehte, setzte mein Hirn zum zweiten Mal an dem Morgen aus.
Es war nicht genug, dass er nur in Unterwäsche vor
mir stand – in einem Stück Unterwäsche, ohne Unterhemd oder
ähnlich geniale Erfindungen – nein, er musste auch noch verschlafen,
verzaust und verwirrt und dadurch einfach nur anbetungswürdig süß aussehen.
Natürlich war es ein sehr männliches Süß, aber sind das nicht sowieso die
besten?
„Alles in Ordnung?“
Mein Blick fokussierte sich auf seine Augen, aber
das half leider nicht. Also schloss ich meine und gab mir einen Moment, bevor
ich ihn wieder ansah.
„Ich …“ … räuspere mich und fing noch
einmal an: „Ich wäre dir dankbar, wenn du etwas Abstand halten könntest. Ich
bin kein Kuscheltyp.“
„Sicher?“ Ein freches Grinsen stahl sich auf
Mischas Lippen. „Vielleicht hast du’s nur nie richtig gelernt. Ich bin ein ganz
akzeptabler Lehrer …“
O nein, das Kopfkino konnte ich nun
wirklich nicht brauchen.
„Hör zu, ich will dir nicht unterstellen, dass du
mich attraktiv findest oder ähnliches, aber ich möchte etwas klarstellen, von
Anfang an.“ Seine Augenbrauen hoben sich fragend und sein Blick wurde wacher.
Scheiße, sogar das sah sexy aus.
„Zwischen uns wird nichts laufen. Und ich wäre dir
ebenfalls dankbar, wenn du solche Kommentare lassen würdest.“
„‚Solche’?“
„Anzügliche.“
Er nickte langsam und musterte mich dann einmal
von oben nach unten. „Und weil du mich körperlich so wenig attraktiv findest,
dass du dir jetzt schon sicher sein kannst, dass zwischen uns nie was laufen
wird, hast du auch solche Probleme, den Blick von meinem Oberkörper zu
loszureißen …?“
Ich fühlte mich, als hätte er einen Eimer
Eiswasser über mich geschüttet. Er hatte es bemerkt; das war nicht geplant
gewesen. Zugegeben, wahrscheinlich war es ebenso wenig zu übersehen gewesen,
aber dennoch … Mein Herz begann nach der ersten Schreckenssekunde zu rasen
und mein Gesicht wurde heiß. Um so wichtiger war es, nach außen hin ruhig zu
wirken.
„Du hast einen gut trainierten, schönen
Oberkörper. Jeder normale Kerl wäre ein bisschen neidisch, wenn es zu den
ersten Dingen gehört, die er frühmorgens zu Gesicht bekommt.“ Natürlich gehörte
Neid nicht den Reaktionen, die der Anblick in meinem Körper hervorrief, und
sowieso war das Ganze eine heillose Untertreibung, aber das musste er ja nicht
erfahren. Und nach den hochgerechnet zehn Minuten, die wir insgesamt zusammen
verbracht hatten, konnte er mich auch noch nicht gut genug kennen, um zu
wissen, dass da höchstens fünfzig Prozent Wahrheit dringesteckt hatten. „Frag
Thomas, wenn du’s mir nicht glaubst.“
Seine Reaktion kam leicht verzögert.
Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass die Kerle ihm nachliefen.
Alle – oder zumindest alle, die nicht so aussahen wie er. Michael
war das auch gewesen. Und so etwas wie eine feste Beziehung hatte ihn
offensichtlich auch nicht davon abgehalten, sie mit offenen Armen zu empfangen.
‚So viel Mühe, wie ich in meinen Körper stecke und
dann soll ich noch nicht einmal ab und zu was ernten dürfen? Findest du das
nicht ein bisschen unfair?‘
Sicher, er war wütend und verzweifelt gewesen, als
er das gesagt hatte, aber dennoch: Narzisstisch war noch nicht einmal der
Anfang. Wahrscheinlich brauchte man auch eine gute Portion Narzissmus, um sich
für ein paar Muskeln so abzurackern. Und Narzissten waren bekanntlich alle
Arschlöcher. Und ich stand auf Muskelprotze, die ja Narzissten
waren – und somit stand ich auf Arschlöcher. Ergo war es das Beste,
wenn ich Kerlen, auf die ich stand, aus dem Weg ging. QED und all der
Scheiß.
Schließlich antwortete Mischa: „Okay. Ich werde
Kuschel- und Flirtattacken sein lassen.“
Wer hatte hier etwas von Flirten gesagt? Er hatte
nicht geflirtet. Aber wenn er auch nicht damit anfangen würde, sollte mir das
recht sein.
„Danke.“
Mischa nickte und ging wieder zurück zu seinem
Zimmer. Kurz, bevor er an der Küchentür ankam, drehte er sich noch einmal um.
„Du musst mir übrigens nichts unterstellen.“
Hä?
Er sah mich an. „Ich finde dich attraktiv. Sehr
sogar.“
Damit ging er weg und ließ mich mit meinem
Herzschlag auf Speed zurück. Auf die Schokopops hatte ich keine Lust mehr, also
schüttete ich sie zurück in die Schachtel. Dass Mischa die Küche ohne Frühstück
verlassen hatte, bemerkte ich erst, als ich seine Cerealien im Küchenschrank
sah.
***
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen