Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Samstag, 1. Dezember 2012

Wieder und wieder 01:

Unser Schlafzimmer. Zwei Stimmen. Ich trat ein.


Verdammte. Scheiße.
In den ersten schrecklich langen Augenblicken war das alles, was ich denken konnte. In diesen Augenblicken war ich auch noch erstaunlich ruhig. Dann brach in meinem Kopf die Hölle los.
Ich hätte es wissen sollen! Es war einfach zu schön, um wahr zu sein – natürlich hatte die Sache einen Haken, natürlich war dieser Haken genau das, was ich absolut hatte vermeiden wollen. Was hatte ich auch erwartet, bei der wunderbaren Glückssträhne, die mich in letzter Zeit gefangen hielt, hm? Es wäre schließlich zu viel verlangt gewesen, mir ein Mal eine Pause zu gönnen. Nur eine kleine, vielleicht ein halbes Jahr lang. Ich hätte misstrauisch werden sollen, als ich das Angebot am schwarzen Brett entdeckt und gleich heruntergerissen hatte, noch misstrauischer, als Thomas sich dann auch noch als absolut sympathischer, absolut schwulenunfeindlicher und absolut mir gegenüber positiv eingestellter Typ herausstellte. Und als er dann auch noch meinte, ich könne sofort einziehen und er würde mir auch helfen, hätte ich das Weite suchen sollen. Dann hätte ich mich danach zwar für meine Feigheit gehasst, aber wenigstens wäre ich sicher gewesen.
Aber, verdammt noch einmal, ich konnte ja nicht wissen, dass der zweite Mitbewohner, der die zwei Monate bis zum neuen Semester verreist gewesen war, ausgerechnet … ausgerechnet zu dem Typ Mensch gehörte?
… Selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte es etwas geändert? Ich hatte dringend eine Unterkunft gebraucht, denn zurück in Michas Wohnung konnte ich nicht.
Michaels Wohnung.
Das war sie immer gewesen, nicht wahr? Nie ‚unsere‘, immer seine. Und ich, ich war ein Untermieter oder – ein Haustier. Ja, so hatte es sich angefühlt, aber das habe ich ja erst im Nachhinein gemerkt. Und Thomas war wirklich mein Ritter in strahlender Rüstung gewesen, denn auch wenn das Zimmer nur knapp zehn Quadratmeter umfasste, war die Wohnung schön und gemütlich eingerichtet und die Miete erschwinglich. Und Thomas half mir, wirklich und ohne dass ich mich deswegen schlecht gefühlt hätte. Nicht nur beim Kistentragen, sondern auch dabei, in Michas Wohnung zurückzugehen und die Kisten – Thomas’ Kisten, wohlgemerkt – erst einmal zu füllen. Vor allem aber hatte er mir den Rücken gestärkt, als ich Micha sagte, dass er sich seine Entschuldigungen sonst wohin stecken konnte. Thomas hatte sich wie ein genialer bester Freund verhalten, obwohl wir uns erst ein paar Stunden gekannt hatten. Es war fast zu schön gewesen und jetzt kassierte ich das längst überfällige Karma dafür.
Vielleicht sollte ich aufhören zu starren. Und sicherstellen, dass da auch kein Sabber über mein Kinn lief.
Verdammte Scheiße!
Warme haselnussbraune Augen, die mich anlachten, etwas dunklere kurze Haare, ein freundliches, offenes Grinsen und eine große Hand, die sich mir entgegenstreckten. Und natürlich die Muskeln, die durch das schwarze Muskelshirt so schön zu Geltung kamen und die dafür sorgten, dass mein Mund nicht wusste, ob er austrocknen oder überschwemmen sollte. Keine aufgepumpten Dinger à la Arni in seinen jungen Jahren, sondern schöne, wohlgeformte …
Freut mich, Milo.“
Natürlich, seine Stimme war auch der perfekte Bassbariton, nicht zu tief und nicht zu hoch. Hatte er das ‚Freut’ eben wirklich betont?
„Ich hoffe, du hast dich schon ein bisschen eingelebt?“
Das einzig Gute an dieser Situation war, dass ich schön öfter in einer ähnlichen gesteckt hatte – wenn es Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Situationen gab, dann war das hier nicht nur die normale Schwester von den anderen, sondern die Zwi… Achtlingsschwester. Oder Neunling? Ich beschloss, besser nicht nachzuzählen. Aber eben durch diese Übung schüttelte ich ganz automatisch seine Hand und erwiderte:
„In Null Komma nichts. Thomas hat es mir leicht gemacht.“ Da, ich hatte sogar noch ein Lächeln gefunden, ganz tief in meinem Notfallreaktionenarsenal versteckt. Und ich fand, das war eine adäquate Entschädigung für das fehlende ‚Mich auch‘, auch wenn ich natürlich hoffte, dass keiner der beiden das bemerkte.
 Okay, jetzt konnte er mich wieder loslassen. Wirklich. Und den Augenkontakt hielt er auch einen Tick länger, als erwünscht war, vor allem, weil das ein Wettkribbeln zwischen meinem Bauch und meinem Schritt auslöste. Das war nicht gut.
Und Thomas, dieser Engel, eilte wieder zu meiner Rettung, wenn auch unbewusst.
„Wer hat Lust auf Pizza? Ich denke, wenn wir vier Maxi bestellen, sollte es hinkommen.“
Vier?“, kam es gleichzeitig von uns. Er grinste mich schelmisch an und das Kribbeln wurde stärker.
„Dürfen wir uns jetzt was wünschen?“
Hoffentlich. Dann wünschte ich mir, dass mein Körper Mischa-immun wurde.
Ja, er hieß Mischa. Tut er natürlich immer noch. Die äußerlichen Ähnlichkeiten zu Micha – Michael, Michael! Nie mehr Micha – waren schließlich nicht genug, nein, die Namen mussten auch noch fast gleich sein.
Keine Angst, Universum, ich hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Finger weg, glasklar.
„Ihr dürft euch die Beläge wünschen, Großer, von ganzen drei Maxipizzen; Milo frisst nämlich genauso viel wie du.“ Thomas schüttelte den Kopf und schnappte sich das Menü seines Lieblingslieferanten vom Couchtisch. „Wenn mein Brüderchen nicht wäre, würde ich glatt denken, das liegt an eurer tragischen Veranlagung.“
Mischa lachte und die beiden warfen sich einen Blick zu, der offensichtlich machte, dass der Ausdruck ein Insider war. Es störte mich nicht, dass ich die Anspielung nicht verstand; ich verstand dafür, was zwischen den Zeilen lag: Mischa war ebenfalls schwul. Das hatte ich zwar schon gewusst, aber zu wissen, dass der ‚andere Mitbewohner‘ schwul war und zu wissen, dass Mischa mit dem frechen Grinsen und dem anbetungswürdigen Körper schwul war, waren zwei paar Stiefel.
Und spätestens jetzt wusste Mischa auch, dass ich ebenfalls schwul war. Natürlich redete ich mir ein, dass ihm das genauso egal war wie mir – obwohl, besser nicht, denn mir war es eben nicht egal. Nicht, wenn ich ganz ehrlich war, so einhundertzwanzig Prozent ehrlich.
„Vielleicht ist die Veranlagung von Timi ja nicht ganz so tragisch wie unsere“, antwortete Mischa und schnappte sich das Menü aus Thomas’ Händen. „Gib her!“
„Schön wär’s …“ Thomas seufzte übertrieben, bevor er das Grinsen nicht mehr zurückhalten konnte. „Wozu siehst du dir das jedes Mal an? Du nimmst ja doch immer dasselbe!“
„Vielleicht habe ich diesmal Lust auf etwas Neues …“ Mischa sah mich an. „Worauf hast du Lust?“
Auf dich?
Nein, nein, nein, damit durfte ich gar nicht anfangen. Und genau deshalb stand ich auf.
„Sorry, aber ich hab was vor. Ich sollte mich auch langsam umziehen …“
„Ausgerechnet heute traust du dich vor die Tür? So’n Mist.“ Thomas seufzte und sah wirklich enttäuscht aus. Er war ein echter Goldkerl.
Ich murmelte noch etwas in freundlichem Tonfall zu Mischa, das er gerne interpretieren durfte, wie er wollte, und flüchtete aus dem Wohnzimmer. Die Nachricht war schnell getippt und falls Anita keine Zeit hatte, würde ich eben alleine in ein Café gehen. Ich brauchte etwas Abstand, um die neusten Entwicklungen zu begreifen und einen Plan zu machen, wie ich damit umgehen würde.
In letzter Zeit schien ich fast nur damit beschäftigt zu sein, solche Pläne zu machen. Wo blieb meine verdammte Pause?!

***
„Na, du treulose Tomate?“ Anita gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf und ließ sich mir gegenüber auf den Stuhl fallen. „Hast du dich daran erinnert, dass es mich gibt oder einfach die erstbeste Nummer im Handy gewählt?“
„Ganz so schlimm bin ich nicht …“
„Sagte er, nachdem er sich zweieinhalb Monate nicht mehr gemeldet hatte.“
„Sorry.“
Sie verzog die linke Seite ihres dunkelrot geschminkten Mundes zu einer Grimasse, die ihr Lächeln darstellte – auf den ersten Blick kein besonders liebevolles Lächeln, sondern eher ein zynisch-sardonisch–herablassendes, aber wenn man sich mal daran gewöhnt hatte, lernte man es zu schätzen – oder zumindest lernte man, dass es in den wenigsten Fällen zynisch-sardonisch-herablassend gemeint war. Meist nur zwei von den drei Dingen, wenn man Glück hatte sogar nur eines, aber das passierte so einmal im Jahr.
„Immer noch mit Miiiiicha zusammen?“
Ich schüttelte den Kopf und die perfekt gezupften Augenbrauen hoben sich anerkennend und, wenn ich mich nicht täuschte, erfreut.
„Sag bloß.“
„Hab ihn vorletzten Monat im Bett mit so ’nem siebzehnjährigen Winzkerl erwischt. Hat nicht mal aufgehört, als er mich in der Tür entdeckt hat.“
„Arschloch.“ 
„Hm“, brummte ich zustimmend, „außerdem quiekte der Winzkerl bei jedem Stoss wie ’ne Tusse. Ah-uh-ah!
Sie schnaubte – schnauben war Anitas Version von lachen – und holte den Kellner mit einer kurzen Handbewegung an den Tisch. Ich hatte immer noch nicht verstanden, warum das bei ihr immer funktionierte und bei mir nie.
„Karamell Macchiato mit einem Schuss Vanille.“
Wetten, dass sie ihn dreimal schneller bekommen würde als ich meinen Latte?
„Und jetzt?“
„Na ja, ich hatte Glück und habe durch Zufall gleich am selben Tag ein Zimmer gefunden“, begann ich und erzählte ihr von Thomas, davon, dass er mit angepackt hatte und sogar mit zu Micha…el gekommen war.
„Schwul?“
„Hetero.“
„Huh. Also Helfersyndrom. Na, da hat er sich ja den richtigen geangelt.“ Sie bekam ihren Macchiato – wie ich mir gedacht hatte im Rekordtempo – und löffelte den Karamellsirup mitsamt dem Milchschaum.
„Du hättest anrufen können.“ Sie klang nicht anklagend, sondern so, als ob sie gesagt hätte, dass Kaffee aus Kaffeebohnen gemacht wird.
„Ich weiß.“
Wenn Anita einen musterte, fühlte man sich nie ganz wohl in seiner Haut. Ich glaube, es ist, weil man den Blick einfach erwidern musste, ob man nun wollte oder nicht, ob man den Mut dazu hatte oder nicht. Wenigstens waren es die mit Abstand schönsten Augen, die ich je gesehen hatte: groß, mit dichten, besonders an den äußeren Winkeln langen Wimpern und von einem leuchtenden Blaugrün, bei dem sogar das karibische Meer neidisch werden würde. Ich hatte immer gedacht, dass meine eigenen blauen Augen ganz ansehnlich waren und vor allem im Kontrast zu den schwarzen Haaren meine langweilig-normale Statur und meinen etwas … eigenbrötlerischen Charakter zumindest ansatzweise wieder gutmachten, aber gegen Anitas Augen konnten meine nicht anstinken. Ihre waren wirklich umwerfend. Leider war der Blick daraus meist undurchdringlich und, auch wenn sie gute Laune hatte, einschüchternd genug, um einem das Gefühl zu geben wieder sieben Jahre alt zu sein und gerade von der ersten Lehrerin in der Grundschule ausgeschimpft zu werden.
Das Gute war, dass sie ebenfalls – wen überrascht es? – den Geh-weg-oder-stirb-Blick perfektioniert hatte und damit sogar in einer überfüllten Disco für Privatsphäre sorgen konnte. Es hatte eben alles seine Vor- und Nachteile.
Schließlich entließ sie mich aus dem Blickduell, das sie sowieso innerhalb der ersten Nanosekunde gewonnen hatte, und ich atmete erleichtert auf.
„Was ist mit dem geheimnisvollen zweiten Mitbewohner? Hast du den schon getroffen?“
Zu früh gefreut.

***

„Auf keinen Fall.“
„Ich weiß.“
„Nein, tust du nicht.“ Ihre Stimme war nicht besonders laut, aber scharf genug, dass ich zusammenzuckte. „Auf gar keinen Fall!“
„Ich brauche das Zimmer.“
„Du kommst zu uns. Das hättest du von Anfang an tun sollen.“
„Ta, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.“
„Aber noch einmal auf so einen Anabolika-Huldiger hereinzufallen ist eine gute Idee oder was?“ Ihre Augen blitzten und sie erinnerte mich mehr denn je an eine Raubkatze; dass sie die kerzengeraden Haare wie immer streng nach hinten in einem Pferdeschwanz trug, was ihre prominenten Wangenknochen betonte, half natürlich auch nicht. Eigentlich sollte Anita nicht so einschüchternd wirken. Sie war nur eins fünfundsiebzig und so schlank, dass sie fast zierlich wirkte (Betonung auf ‚fast‘), hatte einen sehr mondänen Stil in Make-up wie in Mode und beides war immer perfekt. Immer. Das war schon fast gruselig. Eigentlich hätte man sie anschauen und als dummes Modepüppchen abtun sollen, aber ich war davon überzeugt, dass das noch niemand getan hatte – und falls doch, dass er es spätestens fünf Minuten später bereute. Denn, wie gesagt: Eigentlich hätte sie nicht so einschüchternd wirken sollen, Tatsache war aber, dass meine Kronjuwelen jedes Mal, wenn ihre sowieso schon tiefe Stimme noch ein bisschen dunkler wurde, auf Erdnussgrösse zusammenschrumpften. Wie in genau diesem Moment.
„Wie oft bis jetzt, Milo?“ Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. „Wie oft noch?“
Was konnte ich darauf schon antworten? Immerhin hatte sie Recht. Meine bisherigen ‚mehr oder weniger romantischen Begegnungen‘, die einzige feste Beziehung miteingeschlossen, hatten zwei Dinge gemeinsam: Die Kerle waren alle überdurchschnittlich muskulös und hatten mich überdurchschnittlich scheiße behandelt. Michael war da leider keine Ausnahme gewesen, auch wenn ich die Augen fast ein ganzes Jahr lang so sehr zusammengekniffen hatte, dass es wehtat. Genau deshalb hatte ich auch beschlossen, in Zukunft die Finger von solchen Typen zu lassen – zugegeben, nicht zum ersten Mal, aber sehr wohl zum ersten Mal war es mir ernst damit. Mit jemandem wie Mischa zusammenzuwohnen war da natürlich kontraproduktiv. Nur ein bisschen.
Ich schwieg und benetzte meine Lippen mit Kaffee ohne zu trinken.
Ich mochte die Wohnung. Mein Zimmer. Die Lage. Ich mochte Thomas. Ich mochte den niedrigen Mietpreis und ich mochte es, unabhängig zu sein. Natürlich hätte ich zu Anita und Klaus können, aber ich wollte weder ihnen zur Last fallen, noch mich daran zu gewöhnen Anita immer da zu haben. Denn eines war sicher: Wenn man mit Anita zusammen war, dann war das einzige, wovor man Angst haben musste, Anita. Vor allem anderen beschützte sie einen und es wäre viel zu einfach, sich daran zu gewöhnen, und viel zu schwierig, danach wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Und das würde ich irgendwann müssen.
„Ich muss lernen, mit Männern wie Mischa umzugehen.“ Auf gut Deutsch: Mich ihnen nicht gleich vor die Füße zu werfen und zu schreien: ‚Nimm mich! Bitte, bitte!‘
Anitas Kiefer arbeitete stärker, als das Kaffeegebäck erforderte. Schließlich sah sie mich noch einmal forschend an, bevor sie langsam antwortete:
„Wenn es schief läuft, hol ich dich da raus – und wenn ich dich an den Füssen rausschleifen muss.“
Ich nickte.
„Und ich will, dass du dich öfter meldest. Allerspätestens alle zwei Wochen. Damit ich merke, wenn es anfängt schief zu laufen.“
„Versprochen.“
Sie schnaubte. „Als ob ich dem noch glauben würde.“ Ihre Mundwinkel verzogen sich erneut. „Aber diesmal hältst du dich besser dran, Süßer, denn falls nicht …“
Sie musste den Satz nicht vollenden, ich verstand auch so: Ich würde es bereuen. Und da es hier um Anita ging, glaubte ich ihr.

***

Am nächsten Morgen sah mein Entschluss richtig gut aus. Ich würde das hinkriegen. So attraktiv war Mischa auch gar nicht, wenn man davon absah, dass er genau meinem Typ entsprach und dazu noch dieses Grinsen hatte – und die warmen Augen – und die Stimme – und …
Dennoch, es sah so aus (sprich: ich redete mir ein), als ob ich eine Chance hätte, es durchzuziehen. Und dann kam Mischa aus seinem Zimmer.
Ich bemerkte ihn nicht gleich, denn für einen großen, breiten Kerl tapste er überraschend leise über den Küchenboden. Ich war gerade dabei, mir Schokopops in eine Schüssel zu füllen, um mein Frühstück nach den Toastscheiben mit etwas Süßem abzuschließen, als er von hinten an mich herantrat und über mich hinweg nach der gesünderen Cerealien-Variante griff.
„Morgen …“
Und weg war meine Standfestigkeit. Alles, was es gebraucht hatte, war Mischas vom Schlaf raue Stimme in der unmittelbaren Nähe meines Ohres. Wer hätte das gedacht.
Zugegebenermaßen reagierte ich langsamer als normal, aber das war bloß, weil in den ersten Sekunden das Kribbeln in meinem Ohr, meinem Rücken und meinem Schritt überwältigend war. Natürlich war das nicht ganz unverständlich, immerhin war es mehr als zwei Monate her, da durfte man als gesunder junger Mann ruhig etwas überempfindlich werden. Allerdings fiel mir dann siedend heiß wieder ein, dass das genau die Reaktion war, die ich vermeiden wollte und ich zuckte zurück – und stieß gegen ihn. Unabsichtlich, natürlich. Absolut unabsichtlich.
„Vorsicht!“
Auch wenn es eine instinktive Reaktion war, empfand ich die Hand an meinem Oberarm als überflüssig, da ich sicher nicht umgefallen wäre, und überflüssigerweise verstärkte sie das Kribbeln noch. Also tat ich das einzig Akzeptable und entwand mich dem Griff und seiner Nähe. Als ich mich umdrehte, setzte mein Hirn zum zweiten Mal an dem Morgen aus.
Es war nicht genug, dass er nur in Unterwäsche vor mir stand – in einem Stück Unterwäsche, ohne Unterhemd oder ähnlich geniale Erfindungen – nein, er musste auch noch verschlafen, verzaust und verwirrt und dadurch einfach nur anbetungswürdig süß aussehen. Natürlich war es ein sehr männliches Süß, aber sind das nicht sowieso die besten?
„Alles in Ordnung?“  
Mein Blick fokussierte sich auf seine Augen, aber das half leider nicht. Also schloss ich meine und gab mir einen Moment, bevor ich ihn wieder ansah.
„Ich …“ … räuspere mich und fing noch einmal an: „Ich wäre dir dankbar, wenn du etwas Abstand halten könntest. Ich bin kein Kuscheltyp.“
„Sicher?“ Ein freches Grinsen stahl sich auf Mischas Lippen. „Vielleicht hast du’s nur nie richtig gelernt. Ich bin ein ganz akzeptabler Lehrer …“
O nein, das Kopfkino konnte ich nun wirklich nicht brauchen.  
„Hör zu, ich will dir nicht unterstellen, dass du mich attraktiv findest oder ähnliches, aber ich möchte etwas klarstellen, von Anfang an.“ Seine Augenbrauen hoben sich fragend und sein Blick wurde wacher. Scheiße, sogar das sah sexy aus.
„Zwischen uns wird nichts laufen. Und ich wäre dir ebenfalls dankbar, wenn du solche Kommentare lassen würdest.“
„‚Solche’?“
„Anzügliche.“
Er nickte langsam und musterte mich dann einmal von oben nach unten. „Und weil du mich körperlich so wenig attraktiv findest, dass du dir jetzt schon sicher sein kannst, dass zwischen uns nie was laufen wird, hast du auch solche Probleme, den Blick von meinem Oberkörper zu loszureißen …?“
Ich fühlte mich, als hätte er einen Eimer Eiswasser über mich geschüttet. Er hatte es bemerkt; das war nicht geplant gewesen. Zugegeben, wahrscheinlich war es ebenso wenig zu übersehen gewesen, aber dennoch … Mein Herz begann nach der ersten Schreckenssekunde zu rasen und mein Gesicht wurde heiß. Um so wichtiger war es, nach außen hin ruhig zu wirken.
„Du hast einen gut trainierten, schönen Oberkörper. Jeder normale Kerl wäre ein bisschen neidisch, wenn es zu den ersten Dingen gehört, die er frühmorgens zu Gesicht bekommt.“ Natürlich gehörte Neid nicht den Reaktionen, die der Anblick in meinem Körper hervorrief, und sowieso war das Ganze eine heillose Untertreibung, aber das musste er ja nicht erfahren. Und nach den hochgerechnet zehn Minuten, die wir insgesamt zusammen verbracht hatten, konnte er mich auch noch nicht gut genug kennen, um zu wissen, dass da höchstens fünfzig Prozent Wahrheit dringesteckt hatten. „Frag Thomas, wenn du’s mir nicht glaubst.“
Seine Reaktion kam leicht verzögert. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass die Kerle ihm nachliefen. Alle – oder zumindest alle, die nicht so aussahen wie er. Michael war das auch gewesen. Und so etwas wie eine feste Beziehung hatte ihn offensichtlich auch nicht davon abgehalten, sie mit offenen Armen zu empfangen.
‚So viel Mühe, wie ich in meinen Körper stecke und dann soll ich noch nicht einmal ab und zu was ernten dürfen? Findest du das nicht ein bisschen unfair?‘
Sicher, er war wütend und verzweifelt gewesen, als er das gesagt hatte, aber dennoch: Narzisstisch war noch nicht einmal der Anfang. Wahrscheinlich brauchte man auch eine gute Portion Narzissmus, um sich für ein paar Muskeln so abzurackern. Und Narzissten waren bekanntlich alle Arschlöcher. Und ich stand auf Muskelprotze, die ja Narzissten waren – und somit stand ich auf Arschlöcher. Ergo war es das Beste, wenn ich Kerlen, auf die ich stand, aus dem Weg ging. QED und all der Scheiß. 
Schließlich antwortete Mischa: „Okay. Ich werde Kuschel- und Flirtattacken sein lassen.“
Wer hatte hier etwas von Flirten gesagt? Er hatte nicht geflirtet. Aber wenn er auch nicht damit anfangen würde, sollte mir das recht sein.
„Danke.“
Mischa nickte und ging wieder zurück zu seinem Zimmer. Kurz, bevor er an der Küchentür ankam, drehte er sich noch einmal um.
„Du musst mir übrigens nichts unterstellen.“
Hä?
Er sah mich an. „Ich finde dich attraktiv. Sehr sogar.“
Damit ging er weg und ließ mich mit meinem Herzschlag auf Speed zurück. Auf die Schokopops hatte ich keine Lust mehr, also schüttete ich sie zurück in die Schachtel. Dass Mischa die Küche ohne Frühstück verlassen hatte, bemerkte ich erst, als ich seine Cerealien im Küchenschrank sah.  

***

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