WG-Bewohnerabend: neue Bekanntschaften und altbekannte Vorlieben
„Und, wie läuft das
Abhärten?“
Anita saß mir gegenüber und
genoss ihr Eis. Mir war es eindeutig zu kalt dafür, denn seit einigen Tagen
waren die Temperaturen alles andere als sommerlich, aber ihr machte das nichts
aus.
„Ganz gut.“ Offenbar hatte
sich das in ihren Ohren noch unglaubwürdiger angehört als in meinen, denn sie
hob gekonnt eine Augenbraue.
„Ich …“ brach ab. Es
lief eigentlich gut, nur das mit dem Abhärten hatte ich irgendwie vergessen.
Oder vielleicht hatte ich auch einfach nur aufgegeben.
„Mischa scheint echt voll in
Ordnung zu sein. Er ist ganz …“
„… anders als die
bisher, Ta, wirklich!“, unterbrach sie mich mit hoher
Liebchen-vom-Lande-Stimme, „Er ist nett und verständnisvoll und mag mich
echt – er will mich nicht nur ficken, er will eine Beziehung mit mir!
Er hat Gefühle für mich! Diesmal wird es anders, diesmal ist es der Richtige,
ich bin mir ganz sicher. Freu dich bitte für mich!“ Kaum war sie fertig,
verschwand der naive Ausdruck aus ihrem Gesicht und die zynisch angehobene
Augenbraue feierte ihr verfrühtes Comeback.
„So rede ich nicht.“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Dem Sinn nach stimmt es.“
„Ja, aber Mischa macht sich
nicht an mich ran.“
„Sondern?“
„Er verhält sich wie ein
guter Kumpel und ich dachte, vielleicht …“
„Tu uns allen einen Gefallen
und hör gleich wieder auf zu denken.“ Sie stellte ihren Becher auf den Tisch.
„Du hast selbst gesagt, dass der Typ aus einem deiner feuchten Träume kommen
könnte. Mit so was ist man nicht befreundet, so etwas himmelt man an, bis es
mit dem Finger schnippt und man sich ihm vor die Füße wirft.“
Ich schnaufte und
verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wir können nicht alle
unseren Klaus bereits in der Oberschule finden.“
„Stimmt“, antwortete sie mit
einem Lächeln, das etwas zwei Sekunden anhielt, „aber Klaus und ich sind deine
Freunde, Milo, auch wenn du das manchmal zu vergessen scheinst, und wir wollen
nicht, dass dir wieder wehgetan wird. Ich sage nicht, dass alle Kerle dieses Typs
zwangsläufig Arschlöcher sein müssen, aber deine bisherige Quote ist was? Neun
zu null? Zehn?“
Kaffe war lecker, vor allem,
wenn es Latte Macchiato war. Und noch ein bisschen leckerer schmeckte er, wenn
man ihn als Vorwand benutzte, um nicht antworten zu müssen.
Ich würde ihr nicht sagen,
dass sie Recht hatte, aber leider hatte sie genau das. Dennoch wollte ich es
noch nicht mal denken, denn Mischa wurde mir echt mit jedem Tag sympathischer.
Wir hatten den Sonntagabend nach dem Lernen wieder mit einem Film verbracht,
diesmal aber gütigerweise ohne den Horroranteil. Und als Thomas nach Hause
gekommen war, strahlend, weil das Wochenende ein voller Erfolg gewesen war und
er sich mit den Eltern seiner Freundin super verstanden hatte, hatte Mischa
sich ehrlich für ihn gefreut. Und noch mehr: Thomas hatte ihn angegrinst (die
folgenden zwei Tage tat er nichts anderes als grinsen) und gesagt: ‚Keine
Angst, Großer, du findest schon noch deinen Traumprinzen – ihr beide
werdet das.‘ Mischas Lächeln daraufhin war zwar etwas schief gewesen, aber
seine Stimme dennoch zuversichtlich. ‚Das will ich doch hoffen.‘
Und was sagte mir das? Mischa
suchte nach Mr. Right! Mischa wollte eine Beziehung, so grundsätzlich. Und das
wollte ich doch auch.
Aber Michael hatte ja auch eine
Beziehung gewollt – und, wer weiß, die anderen vor ihm vielleicht ja
auch, nur eben nicht mit mir.
Dennoch … habe ich
schon erwähnt, dass Mischa sich auch darüber gefreut hatte, dass die Klausur
dem Gefühl nach gut gelaufen war? So richtig ehrlich, zumindest meiner
Einschätzung nach?
„Ich weiß, dass ihr meine
Freunde seid“, sagte ich schließlich und lächelte Anita an. Sie erwiderte es,
wenn auch ein winziges bisschen spöttisch, mit dem typischen ‚Ach nee?‘-Blick,
den sie für gute Freunde reserviert hatte. Also für mich und noch drei andere
Leute, plus Klaus. Wenn wir etwas gemeinsam hatten, dann, dass wir beide nicht
sehr sozial waren. Obwohl ich zugeben musste, dass ich schlimmer war als sie.
„Aber mir geht es gut bei Thomas und Mischa. Ich habe das im Griff. Wirklich.“
Ich konnte ihr ansehen, dass
ihr diese Antwort nicht gefiel, aber sie nickte dennoch.
„Wenn irgendwas ist …“
„… rufe ich an.“
„Diesmal wirklich, ja Milo?“
Versprochen.
***
„Heute Abend, ihr und ich!“
Thomas stand plötzlich vor der Couch und strahlte mit dem nächstgelegenen AKW
um die Wette.
Mischa sah noch nicht einmal
von seiner Zeitschrift auf. „Sorry, aber ich steh nicht auf Dreier. Außerdem
wollte ich zu Mike’s.“
„Boxen kannst du sieben Tage
die Woche, mit uns weggehen nicht.“ Thomas verdrehte die Augen und sah dann
lieber mich beim Weiterreden an.
„Es ist höchste Zeit für
einen WG-Bewohnerabend! Und weil ihr in der Überzahl seid – und weil
ich hoffe, damit gleichzeitig Pluspunkte bei Katja zu sammeln – bin
ich bereit, mit euch in einen Schwulenclub eurer Wahl zu gehen.“
„Warum sammelst du damit
Pluspunkte?“, fragte ich, „Sie weiß doch, dass du nicht im Geringsten homophob
bist.“
„Darum geht’s nicht.“ Nun ließ
Mischa die Zeitschrift doch sinken und grinste mich an. „Obwohl er mit Kumpels
weggeht und sie also nichts mitbekommen würde, verzichtet er so von vornherein
darauf, auch nur die kleinste Chance zu haben, eine andere Frau anzuschauen.“
Ich sah von Mischa zu Thomas, der keine Anstalten machte, ihm
zu widersprechen.
„Wir sind also nur Mittel zum
Zweck?“ Ich konnte mein Grinsen gerade noch im Zaum halten, aber Thomas hatte
trotzdem gemerkt, dass ich nur spaßte. Er kannte mich inzwischen erstaunlich
gut.
„Ich würde sagen, ich schlage
zwei Fliegen mit einer Klappe. Und vergiss nicht, du hast es mir versprochen!“
Hatte ich, an dem Abend mit Alex, an den ich lieber nicht zurückdachte. Wegen
Alex und Mischa. Vor allem Mischa. „Also?“
Eigentlich hatte ich
erwartet, dass Mischa antwortete, aber als ich zu ihm sah, sah er mich genauso
abwartend an wie Thomas. Offenbar lag die Entscheidung bei mir.
„Okay.“
Ich bereute das Wort schon
beim Aussprechen, aber zurücknehmen tat ich es dann doch nicht. Ich wusste,
dass es eine schlechte Idee war, mit Mischa wegzugehen, vor allem in einen
Schwulenclub. Ich wollte nicht sehen, wie er mit anderen flirtete und tanzte
und weiss-ich-was-noch tat, aber gleichzeitig wollte ich mit ihm weg. Ich
wollte ihn tanzen sehen, ich wollte sehen, wie er sich in einem Club verhielt
und ich …
Vielleicht würde es mir ja
helfen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Träumen durfte man ja noch.
***
Sobald wir das WaWaWoom
betraten, wusste ich wieder, warum ich nicht öfters in Diskotheken rumhing: zu
laut, zu stickig, zu gedrängt. Und dass ich auf dem kurzen Weg zwischen Eingang
und Hauptraum schon drei Kerle ausmachen konnte, die Mischa nicht nur
abcheckten, sondern mit den Blicken fast auszogen, machte das nicht besser.
Nicht, dass es mich etwas anging, aber dennoch …
„Ich glaub’s nicht!“, rief
Thomas plötzlich und schnappte sich mein Handgelenk, „Komm, ich stell dir wen
vor!“
Er zog mich einmal quer durch
den Club, bis wir vor einer Sitzecke ankamen, die von drei Typen belagert
wurde. Zwei sahen aus wie Anfang zwanzig, beim letzten war ich mir nicht
sicher, ob er schon achtzehn war.
Thomas begrüßte die drei
herzlich, Mischa freundlich, dann zog Thomas einen der beiden älteren vor mich.
Er war ein bisschen größer als ich, aber definitiv noch unter eins achtzig,
blond und helläugig und hatte sowohl Thomas als auch Mischa überschwänglich
umarmt.
„Milo, das ist Timi, mein
kleiner Bruder. Timi, Milo, ich habe dir von ihm erzählt.“
„Natürlich, der neue
Mitbewohner!“ Obwohl sie sich sonst nicht besonders ähnlich sahen, erkannte man
zumindest im Strahlen der beiden die Verwandtschaft – und vielleicht
noch in der Körperkontaktfreudigkeit, den Tim zog mich erst in eine Umarmung
und drückte mir dann einen Kuss auf die Backe. „Freut mich! Ich dachte schon,
Tom würde dich noch ewig vor mir versteckt halten.“ Er zwinkerte mir zu und
wich im nächsten Moment der Kopfnuss von seinem Bruder aus.
„Du hast ja nie Zeit,
vorbeizukommen!“
Tim lachte und stellte mir
dann die anderen beiden vor. Konstantin war ein ausgesprochen schöner Junge und
Tims Freund und Maximilian – oder Maxi, wie er mir gleich
vorschlug – war sogar schon fast neunzehn. Gut für ihn.
Sie luden uns ein, uns zu
ihnen zu setzten und da es von den Sitzplätzen her genau reichte, nahmen wir
dankend an. Nur leider rückten die drei zusammen und Thomas setzte sich als erster,
was dazu führte, dass nur noch der etwas knapp bemessene Doppelsessel übrig
blieb. Für Mischa und mich.
Keine. Gute. Idee.
Tim zog Mischa hinunter und
gestikulierte mir, dass ich mich auch setzen sollte, aber ich brauchte einen
Moment, um mich darauf vorzubereiten, halb auf Mischa drauf zu sitzen. Deshalb
rief ich laut genug, dass alle es hören konnten:
„Ich geh die Drinks holen.
Was wollt ihr?“
Whisky Cola und Wodka Red
Bull. Lecker.
Ich kämpfte mich zur Bar
durch und hatte sogar das Glück, dass zwei sich genau dann, als ich ankam, auf
den Weg auf die Tanzfläche machten und ich den freigewordenen Platz ergattern
konnte.
Obwohl, warum hatte ich es
eigentlich so eilig? Zurück und doch noch mit Mischa kuscheln wollte ich ja
nicht – also eigentlich doch, aber eben trotzdem nicht. Drum konnte
ich mir auch dabei Zeit lassen, einen Barkeeper herzu…
Natürlich stand plötzlich
einer vor mir und grinste mich an. Natürlich. Wenn man am verdursten
war, waren sie nicht aufzufinden, aber wenn man sie eigentlich nicht brauchte,
schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Aber egal, ich bestellte die beiden
Drinks zusammen mit einem Long Island Iced Tea für mich – ich hatte
das Gefühl, dass ich den an diesem Abend brauchen konnte – und lehnte
mich an die Bar.
Die Getränke waren noch nicht
ganz fertig, als plötzlich Mischa neben mir auftauchte. Ich schaute ihn fragend
an und er lehnte sich zu mir, um nicht so schreien zu müssen.
Musste sich sein Atem auf
meiner Haut so verdammt gut anfühlen?
„Ich helfe beim Tragen.“
Er wollte sich wieder
entfernen, aber ich hielt ihn an der Schulter zurück.
„Weil drei Gläser so schwer
sind?“
Er nahm etwas Abstand und
musterte mich, dann grinste er und kam wieder näher – sogar noch
näher als vorher, wenn ich mich nicht täuschte.
„Genau!“
Spinner.
Als ich mich mit zwei
Getränken in den Händen umdrehte, stieß ich fast mit einem Typen zusammen,
verschüttete aber zum Glück nichts. Ich grinste den Fremden entschuldigend an
und schlängelte dann zurück zu den andern. Mischa folgte mir.
Ich gab Thomas seinen Drink
und setzte mich auf die Armlehne des Sessels, möglichst so, dass es entspannt
und bequem aussah. Es war ja auch bequem, nur hatte ich die Stelle nicht
deswegen ausgesucht. Mischa setzte sich direkt in die Mitte; einerseits war ich
ihm dankbar, weil meine Position so natürlicher erschien, andererseits war es
näher als erhofft und ich war mir seiner Nähe unnatürlich deutlich
bewusst – noch deutlicher, als wenn ich zu Hause neben ihm auf dem
Sofa saß. Als er dann auch noch einen Arm auf die Rückenlehne legte, war es für
mich auch mit dem letzten Fitzelchen Entspannung vorbei. Ich sah aus den
Augenwinkeln zu ihm, aber er war bereits wieder mit den anderen in ein Gespräch
vertieft, dem ich einfach nicht folgen konnte, weil meine ganze Aufmerksamkeit
auf ihm lag. Und als er seinen Blick doch von der Gruppe löste, guckte er zur
Bar rüber. Ich versuchte zu erkennen, wohin, aber da waren einfach zu viele
Menschen, zu viel Gedränge und die Lichtverhältnisse waren natürlich auch nicht
die besten. Dafür blitze plötzlich ein Bild durch meinen Kopf: Von der Bar aus
musste es so aussehen, als ob er seinen Arm um mich hatte.
Tims Freund sprach mich an
und ich gab mein Bestes, mich mit ihm zu unterhalten, aber es war anstrengend.
Es gab schon einen Grund, warum ich nicht gerade ein Partymäuschen war: Mich
auf mehr als ein oder zwei Personen zu konzentrieren erschöpfte mich,
besonders, wenn ich sie nicht gut kannte, das war schon immer so gewesen. Und
wie gesagt: Gerade verschlang Mischa meine volle Aufmerksamkeit, da blieb
keinen Platz mehr für … Konstantin.
„Noch jemand Lust auf
Tanzen?“ Mischas Frage war in die Runde gestellt, aber ich hatte das Gefühl,
dass sie in erster Linie an mich gerichtet war, denn als ich mich zu ihm
drehte, begegnete ich gleich seinem Blick. Tanzen mit Mischa …
Auf gar keinen Fall.
„Sicher?“, fragte er nach,
als ich den Kopf schüttelte.
„Ich habe noch nicht genug
Alk intus.“ Das war wahr – ohne Alkohol tanzte ich nicht, was daran
lag, dass Rhythmusgefühl und ich uns gegenseitig ausschlossen. Dass ich mir
vorgenommen hatte, mit dem nötigen Promillegehalt im Blut schon gar nicht
mit ihm nicht auf die Tanzfläche zu gehen, musste ich ihm ja nicht unter die
Nase binden.
Er sah noch einmal kurz zur
Bar, aber dann wurde er von Tim, der beim Wort ‚tanzen‘ gleich begeistert
aufgesprungen war, hochgezogen. Konstantin ging mit ihnen mit, Thomas und Maxi
blieben sitzen. Wenigstens blieb ich nicht alleine zurück.
***
Anfangs hatte ich mich
ziemlich gut im Griff, wie ich fand. Ich sah nur ab und zu Mischa rüber und
meist auch nur aus den Augenwinkeln. Ich schaffte es sogar, zwei oder drei
Sätze zu dem Gespräch zwischen Maxi und Thomas beizutragen, aber dann musste
unbedingt dieser kleine, dürre Kerl auftauchen, mit seiner hautengen Hose und
den Wuschelhaaren und absolut perfektem Rhythmusgefühl. Mit meiner
Nonchalance war es vorbei.
Und natürlich ging Mischa
darauf ein, als er von ihm angetanzt wurde. Von wegen, er stand nicht auf
Spargeltarzane! Wenn das keiner war, dann wusste ich auch nicht.
Das Gespräch mit Thomas und
Maxi war für mich gelaufen, denn schon nach wenigen Augenblicken konnte ich
nicht mehr sagen, ob sie sich über Maxis Studienwunsch oder Hühnerfarmen in
Chile unterhielten. Egal, wie oft ich versuchte, den Blick von Mischa
abzuwenden, so klebte er gleich darauf wieder an ihm. Und als mein Long Island
Iced Tea plötzlich von halbvoll zu ganzleer wechselte, musste ich mir
eingestehen, dass ich eifersüchtig war. Nicht nur neidisch darauf, dass der
Twink mit einem heißen Typen wie Mischa tanzte, während ich hier rumsaß,
sondern eifersüchtig, weil er mit Mischa tanzte – und das viel
zu gut und aufreizend und sowieso! Die Art von eifersüchtig, die man nur sein
konnte, wenn man Besitzansprüche stellte – was ich nicht tun wollte,
denn ich hatte eindeutig keinen Anspruch auf Mischa, aber anscheinend hatte
mein Magen das noch nicht mitbekommen, denn er fühlte sich wie ein glühender
Metallklumpen an.
Ich stand abrupt auf und
griff nach meinem Glas. Ein kurzer fragender Blick auf die beiden anderen, aber
sie hatten noch. Auch gut.
Diesmal kam es mir
schwieriger vor, zur Bar zu kommen. All die Leute um mich herum schienen mir
die Luft zum Atmen zu nehmen, ihre Körper strahlten zu viel Hitze aus und waren
dazu noch verschwitzt und stanken ziemlich sicher auch, nur roch man nichts,
weil man sich hier drinnen schnell daran gewöhnte. Überlebensinstinkt
eben. Ha. Ha.
Als wäre das nicht schon
genug, kam ich hinter einem Pärchen zu stehen, dass offensichtlich nichts
bestellen wollte. Warum manche Leute in solchen Lokalitäten unbedingt darauf
bestanden, sich an der Bar ein Ohr abzukauen und damit den anderen im Weg
herumzustehen, anstatt sich in eine ruhige Ecke oder gar den
Darkroom – oder nach Hause – zu verziehen, würde ich nie
verstehen. Links von mir Gedränge, rechts von mir eine Masse erhitzter Körper,
vor mir diese Egozentriker und hinter mir schon die nächsten Durstigen. Der
absolute Himmel.
Ich versuchte erst, rechts an
ihnen vorbeizukommen, aber das war unmöglich, also gab ich der linken Seite
eine Chance – und tatsächlich, plötzlich bewegte sich einer und es
tat sich eine Lücke auf! Schnell drängte ich mich hinein. Als ich hochschaute,
um mich bei dem Kerl, der mir den Platz verschafft hatte, gleichzeitig stumm
für das Drängeln zu entschuldigen und für die Mini-Lücke zu bedanken, blickte
ich in ein Gesicht, das mir seltsam bekannt vorkam. Es dauerte einen Moment,
aber dann konnte ich ihn zuordnen: Es war der Typ, mit dem ich bei meinem
ersten Abstecher zur Bar fast zusammengestoßen wäre.
Er grinste mich an und beugte
sich dann zu mir.
„Was trinkst du?“
„Long Island“, antwortete ich
ohne nachzudenken und fragte mich, warum er das wissen wollte. Erst, als er
sich umdrehte und für mich bestellte, dämmerte mir, dass ich gerade angemacht
wurde.
Hm.
Dass ich schon leicht
angetrunken war trug sicher auch dazu bei, aber sogar in dem Moment wusste ich,
dass der Anblick, wie Mischa mit dem Spargeltarzan getanzt hatte und sicher
immer noch tanzte, den Ausschlag gab, als ich mich entschied, darauf
einzugehen. Ich war mindestens so frei wie Mischa! Außerdem sah der Typ gut
aus, auch wenn er nicht unbedingt in mein übliches ‚Beuteschema‘ passte. Aber
er war groß, dunkelhaarig, schlank und hatte einen schönen, klar definierten
Unterkiefer. Und in etwa so generisch wie meine Beschreibung von ihm war auch
mein Interesse – ich wusste, dass es nie mehr als ein bisschen Spaß
für eine Nacht werden würde, aber das war okay. Bei ihm war das okay, denn ihn
würde ich nicht täglich wiedersehen müssen. Und bei ihm spielte mein Herz auch
nicht schon seit dem ersten Augenblick verrückt.
Der Drink kam, er bezahlte
und reichte ihn mir, dann deute er auf eine freie Sitzecke ziemlich weit von
Thomas und Maxi entfernt. Ich nickte und ging voraus.
Wir setzten uns nebeneinander
und prosteten uns zu.
„Wie heißt du?“
„Milo.“
„Leon“, beantwortete er die
Frage, die ich nicht gestellt hatte und lehnte sich noch ein bisschen näher an
mich ran. Nah genug, damit mir sein Aftershave in die Nase
stieg – oder ich es mir zumindest einbildete. „Ich dachte schon, du
würdest dich heute gar nicht mehr von deinen Freunden entfernen.“
Ich lehnte mich weit genug
weg, damit ich ihm ins Gesicht schauen konnte. „Du hast mich beobachtet?“
Er grinste. „Du bist mir
gleich aufgefallen.“
Ich konnte nicht anders, als
meinen Blick über die Tanzfläche schweifen zu lassen. Als wir uns hingesetzt
hatten, hatte ich sie nicht sehen können, aber vielleicht waren ja inzwischen
ein paar Tänzer zur Bar migriert.
„Kunststück. Ich hätte dich
ja auch fast mit meinem Drink überschüttet.“
Tatsächlich, da waren sie.
Tim und Konstantin konnte ich nicht sehen, aber Mischa und sein neues Anhängsel
tauchten in der Masse auf. Näher zusammen als eben noch. Und von hier aus
konnte ich auch das laszive Lächeln des Spargeltarzans sehen.
Als Leon sich diesmal zu mir
beugte, berührten seine Lippen mein Ohr.
„Dann hättest du mir helfen
müssen, mich wieder sauber zu kriegen.“ Seine Finger streiften wie zufällig
mein Knie. Normalerweise wäre mir das sogar für einen One-Night-Stand zu
schnell gegangen, aber dann sah ich, wie Spargeltarzan seine dünnen Ärmchen um
Mischas Hals schlang und sich zu ihm hochzog und –
Das musste ich mir nicht
antun.
Da ich den Anblick und das
Kopfkino, das er ausgelöst hatte, so schnell wie möglich wieder vergessen
wollte, folgte ich dem erstbesten Impuls und tat etwas, das ich sonst nicht
getan hätte: Ich wandte mich Leon ganz zu und küsste ihn. Wenn das nicht half
auf andere Gedanken zu kommen, dann wusste ich auch nicht weiter.
Leon grinste an meinen
Lippen, bevor er in die Haare in meinem Nacken griff und mich näher an ihn
heranzog.
Ich will nicht lügen: Er
konnte verdammt gut küssen. Er war dabei sehr bestimmt, fast schon dominant. Ich
mochte es, auch wenn ich es nicht erwartet hatte, zumindest nicht so
ausgeprägt.
Ob es an seiner Kusstechnik oder meinem Kussentzug lag,
konnte ich nicht sagen, aber er schaffte es tatsächlich, meine Aufmerksamkeit
für kurze Zeit von Mischa abzulenken. Und als wir uns wieder voneinander lösten,
war von dem und seinem Twink nichts mehr zu sehen.
Wahrscheinlich hatten sie das
Vorspiel woanders hin verlegt. Darkroom oder bei einem von beiden zu Hause? Ich
wusste es nicht, aber ich würde den Teufel tun und das Risiko eingehen, nach
Hause zu kommen, wenn die gerade beschäftigt waren – oder dem
Spargeltarzan morgen beim Frühstück übern Weg zu laufen.
Wenn ich bis dahin noch
leichte Zweifel gehabt hatte, ob das mit Leon eine gute Idee war oder nicht,
dann waren diese nun restlos verpufft.
***
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