Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Wieder und wieder 04:

WG-Bewohnerabend: neue Bekanntschaften und altbekannte Vorlieben



„Und, wie läuft das Abhärten?“
Anita saß mir gegenüber und genoss ihr Eis. Mir war es eindeutig zu kalt dafür, denn seit einigen Tagen waren die Temperaturen alles andere als sommerlich, aber ihr machte das nichts aus.
„Ganz gut.“ Offenbar hatte sich das in ihren Ohren noch unglaubwürdiger angehört als in meinen, denn sie hob gekonnt eine Augenbraue.
„Ich …“ brach ab. Es lief eigentlich gut, nur das mit dem Abhärten hatte ich irgendwie vergessen. Oder vielleicht hatte ich auch einfach nur aufgegeben.
„Mischa scheint echt voll in Ordnung zu sein. Er ist ganz …“
„… anders als die bisher, Ta, wirklich!“, unterbrach sie mich mit hoher Liebchen-vom-Lande-Stimme, „Er ist nett und verständnisvoll und mag mich echt – er will mich nicht nur ficken, er will eine Beziehung mit mir! Er hat Gefühle für mich! Diesmal wird es anders, diesmal ist es der Richtige, ich bin mir ganz sicher. Freu dich bitte für mich!“ Kaum war sie fertig, verschwand der naive Ausdruck aus ihrem Gesicht und die zynisch angehobene Augenbraue feierte ihr verfrühtes Comeback.
„So rede ich nicht.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Dem Sinn nach stimmt es.“
„Ja, aber Mischa macht sich nicht an mich ran.“
„Sondern?“
„Er verhält sich wie ein guter Kumpel und ich dachte, vielleicht …“
„Tu uns allen einen Gefallen und hör gleich wieder auf zu denken.“ Sie stellte ihren Becher auf den Tisch. „Du hast selbst gesagt, dass der Typ aus einem deiner feuchten Träume kommen könnte. Mit so was ist man nicht befreundet, so etwas himmelt man an, bis es mit dem Finger schnippt und man sich ihm vor die Füße wirft.“
Ich schnaufte und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wir können nicht alle unseren Klaus bereits in der Oberschule finden.“
„Stimmt“, antwortete sie mit einem Lächeln, das etwas zwei Sekunden anhielt, „aber Klaus und ich sind deine Freunde, Milo, auch wenn du das manchmal zu vergessen scheinst, und wir wollen nicht, dass dir wieder wehgetan wird. Ich sage nicht, dass alle Kerle dieses Typs zwangsläufig Arschlöcher sein müssen, aber deine bisherige Quote ist was? Neun zu null? Zehn?“
Kaffe war lecker, vor allem, wenn es Latte Macchiato war. Und noch ein bisschen leckerer schmeckte er, wenn man ihn als Vorwand benutzte, um nicht antworten zu müssen.
Ich würde ihr nicht sagen, dass sie Recht hatte, aber leider hatte sie genau das. Dennoch wollte ich es noch nicht mal denken, denn Mischa wurde mir echt mit jedem Tag sympathischer. Wir hatten den Sonntagabend nach dem Lernen wieder mit einem Film verbracht, diesmal aber gütigerweise ohne den Horroranteil. Und als Thomas nach Hause gekommen war, strahlend, weil das Wochenende ein voller Erfolg gewesen war und er sich mit den Eltern seiner Freundin super verstanden hatte, hatte Mischa sich ehrlich für ihn gefreut. Und noch mehr: Thomas hatte ihn angegrinst (die folgenden zwei Tage tat er nichts anderes als grinsen) und gesagt: ‚Keine Angst, Großer, du findest schon noch deinen Traumprinzen – ihr beide werdet das.‘ Mischas Lächeln daraufhin war zwar etwas schief gewesen, aber seine Stimme dennoch zuversichtlich. ‚Das will ich doch hoffen.‘
Und was sagte mir das? Mischa suchte nach Mr. Right! Mischa wollte eine Beziehung, so grundsätzlich. Und das wollte ich doch auch.
Aber Michael hatte ja auch eine Beziehung gewollt – und, wer weiß, die anderen vor ihm vielleicht ja auch, nur eben nicht mit mir.
Dennoch … habe ich schon erwähnt, dass Mischa sich auch darüber gefreut hatte, dass die Klausur dem Gefühl nach gut gelaufen war? So richtig ehrlich, zumindest meiner Einschätzung nach?
„Ich weiß, dass ihr meine Freunde seid“, sagte ich schließlich und lächelte Anita an. Sie erwiderte es, wenn auch ein winziges bisschen spöttisch, mit dem typischen ‚Ach nee?‘-Blick, den sie für gute Freunde reserviert hatte. Also für mich und noch drei andere Leute, plus Klaus. Wenn wir etwas gemeinsam hatten, dann, dass wir beide nicht sehr sozial waren. Obwohl ich zugeben musste, dass ich schlimmer war als sie. „Aber mir geht es gut bei Thomas und Mischa. Ich habe das im Griff. Wirklich.“
Ich konnte ihr ansehen, dass ihr diese Antwort nicht gefiel, aber sie nickte dennoch.
„Wenn irgendwas ist …“
„… rufe ich an.“
„Diesmal wirklich, ja Milo?“
Versprochen.

***

„Heute Abend, ihr und ich!“ Thomas stand plötzlich vor der Couch und strahlte mit dem nächstgelegenen AKW um die Wette.
Mischa sah noch nicht einmal von seiner Zeitschrift auf. „Sorry, aber ich steh nicht auf Dreier. Außerdem wollte ich zu Mike’s.“
„Boxen kannst du sieben Tage die Woche, mit uns weggehen nicht.“ Thomas verdrehte die Augen und sah dann lieber mich beim Weiterreden an.
„Es ist höchste Zeit für einen WG-Bewohnerabend! Und weil ihr in der Überzahl seid – und weil ich hoffe, damit gleichzeitig Pluspunkte bei Katja zu sammeln – bin ich bereit, mit euch in einen Schwulenclub eurer Wahl zu gehen.“
„Warum sammelst du damit Pluspunkte?“, fragte ich, „Sie weiß doch, dass du nicht im Geringsten homophob bist.“
„Darum geht’s nicht.“ Nun ließ Mischa die Zeitschrift doch sinken und grinste mich an. „Obwohl er mit Kumpels weggeht und sie also nichts mitbekommen würde, verzichtet er so von vornherein darauf, auch nur die kleinste Chance zu haben, eine andere Frau anzuschauen.“
 Ich sah von Mischa zu Thomas, der keine Anstalten machte, ihm zu widersprechen.
„Wir sind also nur Mittel zum Zweck?“ Ich konnte mein Grinsen gerade noch im Zaum halten, aber Thomas hatte trotzdem gemerkt, dass ich nur spaßte. Er kannte mich inzwischen erstaunlich gut.
„Ich würde sagen, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Und vergiss nicht, du hast es mir versprochen!“ Hatte ich, an dem Abend mit Alex, an den ich lieber nicht zurückdachte. Wegen Alex und Mischa. Vor allem Mischa. „Also?“
Eigentlich hatte ich erwartet, dass Mischa antwortete, aber als ich zu ihm sah, sah er mich genauso abwartend an wie Thomas. Offenbar lag die Entscheidung bei mir.
„Okay.“
Ich bereute das Wort schon beim Aussprechen, aber zurücknehmen tat ich es dann doch nicht. Ich wusste, dass es eine schlechte Idee war, mit Mischa wegzugehen, vor allem in einen Schwulenclub. Ich wollte nicht sehen, wie er mit anderen flirtete und tanzte und weiss-ich-was-noch tat, aber gleichzeitig wollte ich mit ihm weg. Ich wollte ihn tanzen sehen, ich wollte sehen, wie er sich in einem Club verhielt und ich …
Vielleicht würde es mir ja helfen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Träumen durfte man ja noch.

***

Sobald wir das WaWaWoom betraten, wusste ich wieder, warum ich nicht öfters in Diskotheken rumhing: zu laut, zu stickig, zu gedrängt. Und dass ich auf dem kurzen Weg zwischen Eingang und Hauptraum schon drei Kerle ausmachen konnte, die Mischa nicht nur abcheckten, sondern mit den Blicken fast auszogen, machte das nicht besser. Nicht, dass es mich etwas anging, aber dennoch …
„Ich glaub’s nicht!“, rief Thomas plötzlich und schnappte sich mein Handgelenk, „Komm, ich stell dir wen vor!“
Er zog mich einmal quer durch den Club, bis wir vor einer Sitzecke ankamen, die von drei Typen belagert wurde. Zwei sahen aus wie Anfang zwanzig, beim letzten war ich mir nicht sicher, ob er schon achtzehn war.
Thomas begrüßte die drei herzlich, Mischa freundlich, dann zog Thomas einen der beiden älteren vor mich. Er war ein bisschen größer als ich, aber definitiv noch unter eins achtzig, blond und helläugig und hatte sowohl Thomas als auch Mischa überschwänglich umarmt. 
„Milo, das ist Timi, mein kleiner Bruder. Timi, Milo, ich habe dir von ihm erzählt.“
„Natürlich, der neue Mitbewohner!“ Obwohl sie sich sonst nicht besonders ähnlich sahen, erkannte man zumindest im Strahlen der beiden die Verwandtschaft – und vielleicht noch in der Körperkontaktfreudigkeit, den Tim zog mich erst in eine Umarmung und drückte mir dann einen Kuss auf die Backe. „Freut mich! Ich dachte schon, Tom würde dich noch ewig vor mir versteckt halten.“ Er zwinkerte mir zu und wich im nächsten Moment der Kopfnuss von seinem Bruder aus.
„Du hast ja nie Zeit, vorbeizukommen!“
Tim lachte und stellte mir dann die anderen beiden vor. Konstantin war ein ausgesprochen schöner Junge und Tims Freund und Maximilian – oder Maxi, wie er mir gleich vorschlug – war sogar schon fast neunzehn. Gut für ihn.
Sie luden uns ein, uns zu ihnen zu setzten und da es von den Sitzplätzen her genau reichte, nahmen wir dankend an. Nur leider rückten die drei zusammen und Thomas setzte sich als erster, was dazu führte, dass nur noch der etwas knapp bemessene Doppelsessel übrig blieb. Für Mischa und mich.
Keine. Gute. Idee.
Tim zog Mischa hinunter und gestikulierte mir, dass ich mich auch setzen sollte, aber ich brauchte einen Moment, um mich darauf vorzubereiten, halb auf Mischa drauf zu sitzen. Deshalb rief ich laut genug, dass alle es hören konnten:
„Ich geh die Drinks holen. Was wollt ihr?“ 
Whisky Cola und Wodka Red Bull. Lecker.
Ich kämpfte mich zur Bar durch und hatte sogar das Glück, dass zwei sich genau dann, als ich ankam, auf den Weg auf die Tanzfläche machten und ich den freigewordenen Platz ergattern konnte.
Obwohl, warum hatte ich es eigentlich so eilig? Zurück und doch noch mit Mischa kuscheln wollte ich ja nicht – also eigentlich doch, aber eben trotzdem nicht. Drum konnte ich mir auch dabei Zeit lassen, einen Barkeeper herzu… 
Natürlich stand plötzlich einer vor mir und grinste mich an. Natürlich. Wenn man am verdursten war, waren sie nicht aufzufinden, aber wenn man sie eigentlich nicht brauchte, schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Aber egal, ich bestellte die beiden Drinks zusammen mit einem Long Island Iced Tea für mich – ich hatte das Gefühl, dass ich den an diesem Abend brauchen konnte – und lehnte mich an die Bar.
Die Getränke waren noch nicht ganz fertig, als plötzlich Mischa neben mir auftauchte. Ich schaute ihn fragend an und er lehnte sich zu mir, um nicht so schreien zu müssen.
Musste sich sein Atem auf meiner Haut so verdammt gut anfühlen?
„Ich helfe beim Tragen.“
Er wollte sich wieder entfernen, aber ich hielt ihn an der Schulter zurück.
„Weil drei Gläser so schwer sind?“
Er nahm etwas Abstand und musterte mich, dann grinste er und kam wieder näher – sogar noch näher als vorher, wenn ich mich nicht täuschte.
„Genau!“
Spinner.

Als ich mich mit zwei Getränken in den Händen umdrehte, stieß ich fast mit einem Typen zusammen, verschüttete aber zum Glück nichts. Ich grinste den Fremden entschuldigend an und schlängelte dann zurück zu den andern. Mischa folgte mir.
Ich gab Thomas seinen Drink und setzte mich auf die Armlehne des Sessels, möglichst so, dass es entspannt und bequem aussah. Es war ja auch bequem, nur hatte ich die Stelle nicht deswegen ausgesucht. Mischa setzte sich direkt in die Mitte; einerseits war ich ihm dankbar, weil meine Position so natürlicher erschien, andererseits war es näher als erhofft und ich war mir seiner Nähe unnatürlich deutlich bewusst – noch deutlicher, als wenn ich zu Hause neben ihm auf dem Sofa saß. Als er dann auch noch einen Arm auf die Rückenlehne legte, war es für mich auch mit dem letzten Fitzelchen Entspannung vorbei. Ich sah aus den Augenwinkeln zu ihm, aber er war bereits wieder mit den anderen in ein Gespräch vertieft, dem ich einfach nicht folgen konnte, weil meine ganze Aufmerksamkeit auf ihm lag. Und als er seinen Blick doch von der Gruppe löste, guckte er zur Bar rüber. Ich versuchte zu erkennen, wohin, aber da waren einfach zu viele Menschen, zu viel Gedränge und die Lichtverhältnisse waren natürlich auch nicht die besten. Dafür blitze plötzlich ein Bild durch meinen Kopf: Von der Bar aus musste es so aussehen, als ob er seinen Arm um mich hatte.
Tims Freund sprach mich an und ich gab mein Bestes, mich mit ihm zu unterhalten, aber es war anstrengend. Es gab schon einen Grund, warum ich nicht gerade ein Partymäuschen war: Mich auf mehr als ein oder zwei Personen zu konzentrieren erschöpfte mich, besonders, wenn ich sie nicht gut kannte, das war schon immer so gewesen. Und wie gesagt: Gerade verschlang Mischa meine volle Aufmerksamkeit, da blieb keinen Platz mehr für … Konstantin.
„Noch jemand Lust auf Tanzen?“ Mischas Frage war in die Runde gestellt, aber ich hatte das Gefühl, dass sie in erster Linie an mich gerichtet war, denn als ich mich zu ihm drehte, begegnete ich gleich seinem Blick. Tanzen mit Mischa …
Auf gar keinen Fall.
„Sicher?“, fragte er nach, als ich den Kopf schüttelte.
„Ich habe noch nicht genug Alk intus.“ Das war wahr – ohne Alkohol tanzte ich nicht, was daran lag, dass Rhythmusgefühl und ich uns gegenseitig ausschlossen. Dass ich mir vorgenommen hatte, mit dem nötigen Promillegehalt im Blut schon gar nicht mit ihm nicht auf die Tanzfläche zu gehen, musste ich ihm ja nicht unter die Nase binden.
Er sah noch einmal kurz zur Bar, aber dann wurde er von Tim, der beim Wort ‚tanzen‘ gleich begeistert aufgesprungen war, hochgezogen. Konstantin ging mit ihnen mit, Thomas und Maxi blieben sitzen. Wenigstens blieb ich nicht alleine zurück.

***

Anfangs hatte ich mich ziemlich gut im Griff, wie ich fand. Ich sah nur ab und zu Mischa rüber und meist auch nur aus den Augenwinkeln. Ich schaffte es sogar, zwei oder drei Sätze zu dem Gespräch zwischen Maxi und Thomas beizutragen, aber dann musste unbedingt dieser kleine, dürre Kerl auftauchen, mit seiner hautengen Hose und den Wuschelhaaren und absolut perfektem Rhythmusgefühl. Mit meiner Nonchalance war es vorbei.
Und natürlich ging Mischa darauf ein, als er von ihm angetanzt wurde. Von wegen, er stand nicht auf Spargeltarzane! Wenn das keiner war, dann wusste ich auch nicht.
Das Gespräch mit Thomas und Maxi war für mich gelaufen, denn schon nach wenigen Augenblicken konnte ich nicht mehr sagen, ob sie sich über Maxis Studienwunsch oder Hühnerfarmen in Chile unterhielten. Egal, wie oft ich versuchte, den Blick von Mischa abzuwenden, so klebte er gleich darauf wieder an ihm. Und als mein Long Island Iced Tea plötzlich von halbvoll zu ganzleer wechselte, musste ich mir eingestehen, dass ich eifersüchtig war. Nicht nur neidisch darauf, dass der Twink mit einem heißen Typen wie Mischa tanzte, während ich hier rumsaß, sondern eifersüchtig, weil er mit Mischa tanzte – und das viel zu gut und aufreizend und sowieso! Die Art von eifersüchtig, die man nur sein konnte, wenn man Besitzansprüche stellte – was ich nicht tun wollte, denn ich hatte eindeutig keinen Anspruch auf Mischa, aber anscheinend hatte mein Magen das noch nicht mitbekommen, denn er fühlte sich wie ein glühender Metallklumpen an.   
Ich stand abrupt auf und griff nach meinem Glas. Ein kurzer fragender Blick auf die beiden anderen, aber sie hatten noch. Auch gut.
Diesmal kam es mir schwieriger vor, zur Bar zu kommen. All die Leute um mich herum schienen mir die Luft zum Atmen zu nehmen, ihre Körper strahlten zu viel Hitze aus und waren dazu noch verschwitzt und stanken ziemlich sicher auch, nur roch man nichts, weil man sich hier drinnen schnell daran gewöhnte. Überlebensinstinkt eben. Ha. Ha.  
Als wäre das nicht schon genug, kam ich hinter einem Pärchen zu stehen, dass offensichtlich nichts bestellen wollte. Warum manche Leute in solchen Lokalitäten unbedingt darauf bestanden, sich an der Bar ein Ohr abzukauen und damit den anderen im Weg herumzustehen, anstatt sich in eine ruhige Ecke oder gar den Darkroom – oder nach Hause – zu verziehen, würde ich nie verstehen. Links von mir Gedränge, rechts von mir eine Masse erhitzter Körper, vor mir diese Egozentriker und hinter mir schon die nächsten Durstigen. Der absolute Himmel.
Ich versuchte erst, rechts an ihnen vorbeizukommen, aber das war unmöglich, also gab ich der linken Seite eine Chance – und tatsächlich, plötzlich bewegte sich einer und es tat sich eine Lücke auf! Schnell drängte ich mich hinein. Als ich hochschaute, um mich bei dem Kerl, der mir den Platz verschafft hatte, gleichzeitig stumm für das Drängeln zu entschuldigen und für die Mini-Lücke zu bedanken, blickte ich in ein Gesicht, das mir seltsam bekannt vorkam. Es dauerte einen Moment, aber dann konnte ich ihn zuordnen: Es war der Typ, mit dem ich bei meinem ersten Abstecher zur Bar fast zusammengestoßen wäre.
Er grinste mich an und beugte sich dann zu mir.
„Was trinkst du?“
„Long Island“, antwortete ich ohne nachzudenken und fragte mich, warum er das wissen wollte. Erst, als er sich umdrehte und für mich bestellte, dämmerte mir, dass ich gerade angemacht wurde.
Hm.
Dass ich schon leicht angetrunken war trug sicher auch dazu bei, aber sogar in dem Moment wusste ich, dass der Anblick, wie Mischa mit dem Spargeltarzan getanzt hatte und sicher immer noch tanzte, den Ausschlag gab, als ich mich entschied, darauf einzugehen. Ich war mindestens so frei wie Mischa! Außerdem sah der Typ gut aus, auch wenn er nicht unbedingt in mein übliches ‚Beuteschema‘ passte. Aber er war groß, dunkelhaarig, schlank und hatte einen schönen, klar definierten Unterkiefer. Und in etwa so generisch wie meine Beschreibung von ihm war auch mein Interesse – ich wusste, dass es nie mehr als ein bisschen Spaß für eine Nacht werden würde, aber das war okay. Bei ihm war das okay, denn ihn würde ich nicht täglich wiedersehen müssen. Und bei ihm spielte mein Herz auch nicht schon seit dem ersten Augenblick verrückt.
Der Drink kam, er bezahlte und reichte ihn mir, dann deute er auf eine freie Sitzecke ziemlich weit von Thomas und Maxi entfernt. Ich nickte und ging voraus.
Wir setzten uns nebeneinander und prosteten uns zu.
„Wie heißt du?“
„Milo.“
„Leon“, beantwortete er die Frage, die ich nicht gestellt hatte und lehnte sich noch ein bisschen näher an mich ran. Nah genug, damit mir sein Aftershave in die Nase stieg – oder ich es mir zumindest einbildete. „Ich dachte schon, du würdest dich heute gar nicht mehr von deinen Freunden entfernen.“
Ich lehnte mich weit genug weg, damit ich ihm ins Gesicht schauen konnte. „Du hast mich beobachtet?“
Er grinste. „Du bist mir gleich aufgefallen.“
Ich konnte nicht anders, als meinen Blick über die Tanzfläche schweifen zu lassen. Als wir uns hingesetzt hatten, hatte ich sie nicht sehen können, aber vielleicht waren ja inzwischen ein paar Tänzer zur Bar migriert.
„Kunststück. Ich hätte dich ja auch fast mit meinem Drink überschüttet.“
Tatsächlich, da waren sie. Tim und Konstantin konnte ich nicht sehen, aber Mischa und sein neues Anhängsel tauchten in der Masse auf. Näher zusammen als eben noch. Und von hier aus konnte ich auch das laszive Lächeln des Spargeltarzans sehen.
Als Leon sich diesmal zu mir beugte, berührten seine Lippen mein Ohr.
„Dann hättest du mir helfen müssen, mich wieder sauber zu kriegen.“ Seine Finger streiften wie zufällig mein Knie. Normalerweise wäre mir das sogar für einen One-Night-Stand zu schnell gegangen, aber dann sah ich, wie Spargeltarzan seine dünnen Ärmchen um Mischas Hals schlang und sich zu ihm hochzog und –
Das musste ich mir nicht antun.
Da ich den Anblick und das Kopfkino, das er ausgelöst hatte, so schnell wie möglich wieder vergessen wollte, folgte ich dem erstbesten Impuls und tat etwas, das ich sonst nicht getan hätte: Ich wandte mich Leon ganz zu und küsste ihn. Wenn das nicht half auf andere Gedanken zu kommen, dann wusste ich auch nicht weiter.
Leon grinste an meinen Lippen, bevor er in die Haare in meinem Nacken griff und mich näher an ihn heranzog.
Ich will nicht lügen: Er konnte verdammt gut küssen. Er war dabei sehr bestimmt, fast schon dominant. Ich mochte es, auch wenn ich es nicht erwartet hatte, zumindest nicht so ausgeprägt. 
 Ob es an seiner Kusstechnik oder meinem Kussentzug lag, konnte ich nicht sagen, aber er schaffte es tatsächlich, meine Aufmerksamkeit für kurze Zeit von Mischa abzulenken. Und als wir uns wieder voneinander lösten, war von dem und seinem Twink nichts mehr zu sehen.
Wahrscheinlich hatten sie das Vorspiel woanders hin verlegt. Darkroom oder bei einem von beiden zu Hause? Ich wusste es nicht, aber ich würde den Teufel tun und das Risiko eingehen, nach Hause zu kommen, wenn die gerade beschäftigt waren – oder dem Spargeltarzan morgen beim Frühstück übern Weg zu laufen.
Wenn ich bis dahin noch leichte Zweifel gehabt hatte, ob das mit Leon eine gute Idee war oder nicht, dann waren diese nun restlos verpufft.

***

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