Temporäre Triumphe. Leberfleckische Lockrufe. Voreilige Vorschläge.
2,7.
Zwei.
Komma.
Sieben.
Ach du heilige
Scheiße, das stand da wirklich. Hatte er sich vertippt? Egal, ich würde ihn
sicher nicht darauf aufmerksam machen. Wenn Professor Leixner sich beim
Noteneingeben vertippte, war das sein Problem, nicht meines.
Zwei Komma Sieben!
Auf meinem Gesicht
breitete sich ein gigantisches Grinsen aus. Ich warf noch einen letzten Blick
auf die Note, dann klickte ich auf Logout und fuhr den Computer gleich darauf
hinunter. Das Wochenende hatte wirklich genial angefangen!
Thomas und Mischa
saßen in der Küche und frühstückten. Als ich hereinkam, sahen sie auf. Thomas
musterte mich überrascht aber erfreut.
„Na, du strahlst ja
heute mit der Sonne um die Wette.“
„Und du gewinnst
haushoch“, fügte Mischa hinzu, „die Sonne streikt heute. Mal wieder.“ Er stand
auf und setzte neuen Kaffee auf. „Warum leben wir eigentlich nicht im Süden?“
Thomas grinste und
rollte die Augen. „Weil wir Nordmänner sind, Großer. Und die kennen weder
Schmerz noch Kälte!“
„Deswegen hat dir
Katja auch unbedingt Wintersocken besorgen müssen, ja?“ Ich holte mir meine
übliche Schüssel Schokopops und stellte mich neben Mischa, um die Milch aus dem
Kühlschrank zu holen.
In der vergangenen
Woche hatte sich die Situation zwischen uns beiden normalisiert. Ich glaubte,
dass er eingesehen hatte, dass wir nicht zusammenpassten und wir behandelten
uns wieder, wie sich Mitbewohner, die sich halbwegs sympathisch sind, eben
behandeln. Kein Flirten, keine Blicke, keine Andeutungen, aber freundliches
Miteinander. Natürlich hieß das nicht, dass ich mir seiner Körperwärme nicht
überdeutlich bewusst war, als ich Milch in die Pops goss. Oder dass ich nicht
bemerkte, dass er heute das dunkelgrüne Shirt trug, dass seine Augen auch grün
erschienen ließ.
„Mein Herz ist das
eines Nordmannen, aber meine Füße habe ich leider von meiner Nonna. Und die saß
immer mit fünf Winterdecken vor dem Kamin.“ Thomas zwinkerte uns gut gelaunt zu
und sah dann wieder mich an. „Mund auf, was ist Schönes passiert?“
Ich stellte das
Schüsselchen auf den Tisch und kramte in der Besteckschublade nach einem
sauberen Löffel. Warum versteckten die sich immer?
„Ich habe meine Note
in Statistik bekommen.“
„Bestanden?“, fragte
Thomas, grinste aber bereits wissend. Hätte ich nicht bestanden, würde ich ja
auch nicht so grinsen.
Mit dem Löffeln in der
Hand und Triumph in der Stimme drehte ich mich zu ihnen um. „Mit ’ner zwei
Komma sieben.“
„Super, Milo!“, rief
Thomas, aber ich bekam das nur am Rande mit.
Mischas Lächeln
blendete alles andere aus. Es sah nicht nur erfreut, sondern auch stolz und
warm und –
„Geil!“, sprach’s und
zog mich in eine feste Umarmung, die ganz unanständige Sachen mit meinen
Gedanken anstellte. Und die, wenn ich mich nicht täuschte, einen Tick zu lange
dauerte. „Ich wusste, du packst das.“
„Danke.“ Viel mehr als
ein Nuscheln war das nicht, aber ich war schon überrascht davon, dass ich
überhaupt etwas hervorgebracht hatte. Einen Moment lang wusste ich nämlich
nicht mehr, wo ich war und weshalb er sich für mich freute, und von ihm
wegbewegen konnte ich mich auch nicht.
Und dann wurde die
Stimmung seltsam. Die Art von angespanntem Seltsam, die sich einstellt, wenn
man angestrengt versucht, nicht an etwas zu denken, aber es für alle Anwesenden
klar ersichtlich ist, dass man es dennoch tut. Aber es war doch nicht meine
Schuld, dass sich Mischas Brust so gut an meinem Gesicht anfühlte!
Thomas wurde seiner
Rolle als Ritter in strahlender Rüstung gerecht und rettete mich einmal mehr,
indem er aufstand und mich ebenfalls umarmte.
„Glückwunsch!“ Er
strahlte uns etwas zu radioaktiv an und rief: „Das muss gefeiert werden! Heute
Abend koche ich!“
Mischa und ich sahen
uns an.
„Meinst du nicht
‚Heute Abend bezahle ich‘?“, fragte Mischa grinsend, „Oder willst du Milo zur
Feier mit Bauchschmerzen beglücken?“
„Werd nicht frech,
schließlich gibt’s keinen triftigen Grund, warum ich dich mit einladen sollte.“
Thomas versuchte wenigstens, seine Stimme drohend klingen zu lassen, aber
drohen war nichts, was er gut beherrschte. Den strahlenden Ritter mimte er
dafür wie kein anderer.
***
Am Nachmittag lag ich
mit der Nase im neunten Band vom Lied von Eis und Feuer und mit dem
Hintern auf dem Sofa, als Mischa aus seinem Zimmer kam. Ich war sofort weg aus
Westeros und zurück in unserem Wohnzimmer, aber ich starrte weiterhin auf die
Seiten und versuchte so zu tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt. Er musste ja
nicht wissen, dass er auf meine Aufmerksamkeit wie ein Magnet wirkte. Immer
noch.
Er kam auf das Sofa zu
und ich dachte, er wolle daran vorbei und in die Küche, aber dann blieb er
hinter der Rückenlehne stehen.
Okay. Aber ich war ja
so in mein Buch vertieft. Einmal Blättern, bitte.
Mischa räusperte sich.
Na toll, jetzt musste ich doch aufschauen und mir mal wieder der Tatsache
bewusst werden, dass er einer der wenigen Menschen war, bei denen ich es sogar
mochte, wenn sie auf mich herabsahen – nur wortwörtlich, natürlich.
„Wie willst du
eigentlich den Fortsetzungskurs in Statistik bestehen?“
Meine Laune sank trotz
seines engen Shirts einige Stockwerke tiefer. Was sollte die Frage denn jetzt?
Da wäre ich doch besser bei John Schnee geblieben.
„Eigentlich wollte ich
mich heute einfach nur über die Note freuen“, antwortete ich säuerlich, aber
natürlich hatten seine Worte die Bedenken bereits wieder aus der geistigen
Kiste geholt. Klar, Statistik 1 hatte ich bestanden und ich durfte von
nun an offiziell an Statistik 2 teilnehmen, das ich bis dato nur
provisorisch besucht hatte, aber mal abgesehen davon, dass ich ohne die
Grundlagen zu verstehen auch die bisherigen darauf aufbauenden Lektionen nicht
gerafft hatte, war Statistik an sich immer noch ein Buch mit sieb…zig Siegeln.
Noch dazu musste ich auch die restlichen Lektionen des Semesters irgendwie in meinen
Kopf kriegen …
Aber dafür hatte ich
ja zwei Semester Zeit, einmal durfte man schließlich durchfallen.
„Ich werd mir
wahrscheinlich jemand suchen, der mir Nachhilfe gibt“, fügte ich etwas
freundlicher hinzu, „Sollte nicht allzu schwer sein.“ Jemanden zu finden, der
Nachhilfe in Statistik anbot, nicht; jemanden zu finden, der die Scheiße für
mich verständlich erklären konnte allerdings … aber darüber würde ich
mir morgen Gedanken machen. Bei Scarlett O’Hara hatte das doch auch ganz wunderbar
funktioniert, wie ich dank meiner kleinen Schwester nur zu gut wusste.
Mischa nickte und ich
wandte mich wieder meinem Buch zu. So weit, so gut. Eigentlich war die
Unterhaltung, wenn man sie denn so nennen konnte, beendet, aber er bewegte sich
nicht vom Fleck.
„Also“, begann er nach
über einer Minute Stille, „wenn du willst – ich könnte dir wieder
Nachhilfe geben. Regelmäßig.“
Ich ließ das Buch
sinken und musterte ihn, aber sein Gesicht ließ nichts erkennen. Ich konnte nur
hoffen, dass ich meine Mimik ebenso gut unter Kontrolle hatte, und er nicht das
Chaos erkannte, das seine Worte, mal wieder, in mir ausgelöst hatten.
Mischa wollte mir
Nachhilfe geben. Einerseits war das perfekt, weil er wirklich so verdammt gut
darin war; zweierseits war das schön, weil das bedeutete, dass er trotz unseres
Streits (?) vor zwei Wochen nichts dagegen hatte, mehr als nur das Nötigste an
Zeit mit mir zu verbringen; aber dritterseits war es, zumindest für mich, nicht
weniger gefährlich als es das erste Mal gewesen war. Regelmäßig alleine
Zeit mit Mischa zu verbringen schien eine ganz absurd schlechte Idee zu sein.
Dennoch hörte ich
jemanden mit meiner Stimme fragen: „Und was würdest du dafür wollen?“
Er zuckte mit den
Schultern. „Pancakes?“ Ich muss ziemlich dumm dreingeschaut haben, denn er
begann zu grinsen. „Die waren echt lecker. Oder du kochst sonst was Essbares.
Oder …“ Das Grinsen wurde breiter. „… du leistest mir bei einem Zombiefilm
Gesellschaft. Alleine macht das nur halb so viel Spaß.“
„Klar, weil du dich
nicht darüber amüsieren kannst, dass ich mir gleich in die Hose mache.“
Das Grinsen
verschwand. „Ich hab mich nicht über dich amüsiert.“
Ja, das wusste ich.
Aber mir war nichts anderes eingefallen, das ich sagen konnte, um noch ein
wenig Aufschub zu bekommen.
„Du hast wenigstens
mitgeguckt, im Gegensatz zu Thomas, der dann immer ganz plötzlich was Besseres
zu tun hat.“
„Warum musst du auch
ausgerechnet auf Zombies stehen?“
„Hey“, protestierte
er, „man kann sich seinen Fetisch nun mal nicht aussuchen!“
„Fetisch?“, rief ich
und verzog das Gesicht, „Boah, Mischa, das Kopfkino hätt ich jetzt echt nicht
gebraucht!“
Er lachte, was bei
seiner tiefen Stimme verdammt gut kam. Und ich schob es auf dieses Lachen, dass
ich auf die Frage „Also, willst du oder nicht?“ nur mit dem Kopf nickte.
Er sah zufrieden aus.
Und das wiederum reichte schon fast, um mich davon zu überzeugen, dass es die
richtige Antwort gewesen war.
***
„Und was soll daran
bitte eine gute Idee sein?“
Das hatte ich mich,
sobald Mischa das Wohnzimmer verlassen hatte, auch gefragt. Allerdings hörten
sich dieselben Worte von Anita ausgesprochen einiges bedrohlicher an.
Ich zuckte mit den
Schultern. „Sieh’s doch einfach als Crashkurs in Abhärtung.“
„Brauchst du den denn?
Immer noch?“
Wie schaffte sie es
bloß, so mir nichts, dir nichts den Kern der Sache herauszupicken? Manchmal
waren aufmerksame Leute echt anstrengend.
Bejahen wollte ich die
Frage nicht, denn dann würde sie mich wahrscheinlich kurzerhand dazu
verdonnern, doch zu ihr und Klaus zu ziehen. Verneinen konnte ich sie nicht.
Also was blieb?
„Vielleicht.“ Mit
einem raschen: „Aber bisher hat das auch geklappt und das Schlimmste habe ich
bereits hinter mir.“ Nämlich Mischa, der zugab, dass er eifersüchtig auf einen
nebensächlichen Kerl war, und der mich so ansah und sich mir näherte
und – „Ich krieg das hin.“
Anita seufzte. „Du
willst wirklich in der Wohnung bleiben, hm?“
„Ich fühl mich wohl.“
Sie nickte und nippte
an ihrem Kaffee. Ich wusste nicht, ob sie es absichtlich machte, aber sie
setzte die Lippen immer wieder an der Stelle an, an der sie bereits beim ersten
Schluck einen roten Abdruck hinterlassen hatten. Was ich noch viel weniger
verstand, war, wie ihr Mund immer noch perfekt geschminkt aussehen
konnte – obwohl, bei ihr hätte mich alles andere noch mehr verwirrt.
„Hm.“ Zwei feine
Goldreife, die großen Brüder der Kreolen in ihren Ohren, klirrten an ihrem
rechten Handgelenk, als sie sich die altrosa Seidenbluse glattstrich.
Eigentlich hätte sie in der Bluse, dem beigen Bleistiftrock und den klassischen
Pumps viel zu elegant aussehen müssen für die Unimensa, aber sie schaffte es,
vielmehr die Mensa samt ihren derzeitigen Gästen underdressed erscheinen zu
lassen. Wie sie in dem Outfit nicht erfror, war mir ein noch größeres Rätsel.
Ich an ihrer Stelle hätte den schicken weißen Wintermantel, den sie dabei
hatte, gar nicht erst abgelegt.
„Vielleicht solltest
du dich beim Unisport anmelden“, sagte sie nach einer kurzen Gesprächspause.
„Ich soll was?“
„Dich beim Unisport
anmelden“, wiederholte sie und legte die manikürten Hände um die Kaffeetasse,
„Die haben einen Fitnessraum, mit Geräten, Gewichten und allem, was man sonst
in einem Fitnesscenter finden würde, plus Aufsicht.“
Ich krauste die Stirn
und biss in mein Snickers. „Schlägst du mir wirklich vor, Mischa aus dem Kopf
zu kriegen indem ich mich mit anderen Muskelpaketen umgebe?“
„Natürlich nicht. Von
den Anabolikahuldigern lässt du gefälligst die Finger.“ Sie verzog
missbilligend den Mund. „So gut solltest du mich kennen, Milo. Ich schlage dir
vor, selbst ans Werk zu gehen.“
Ich stand wohl gerade
auf dem Schlauch und machte das passende Gesicht dazu.
„Du sollst anfangen zu
trainieren. Leg dir ein paar Muskeln zu“, erklärte sie und begann abwesend, mit
dem Zeigefinger den Tassenrand zu umkreisen. „Uns fällt schließlich bei anderen
oft negativ auf, was uns an uns selber stört – und positiv, was wir
selbst gerne hätten. Vielleicht lässt deine Fixation auf Muskeln nach, wenn du
selber welche hast.“ Ihr Finger hielt inne und sie zuckte mit den Schultern. „Und
wenn nicht, dann hilft es wenigstens, Stress abzubauen, gibt dir was zu
tun – außerhalb deines Zimmers – und ist dazu noch gesund.“
„Aber“, fing ich an
und versuchte, den maulenden Tonfall auf ein Minimum zu beschränken, „aber das
ist so anstrengend.“
„Wie gesagt, es wird
dir gut tun.“
Ich hatte nicht
mitbekommen, wann aus ‚du solltest‘ und ‚es würde‘ ‚es wird‘ geworden war, aber
irgendwie störte mich das auch nicht. Auch wenn ich selbst nie darauf gekommen
wäre, fand ich die Idee gar nicht so schlecht. Neue Erfahrungen, ein wenig Zeit
nur für mich und die Möglichkeit, den Kopf mal auszuschalten – alles
in einem und das für nur siebzehn Euro im Semester. Und vielleicht
funktionierte es ja sogar.
Ich nickte. „Ich
werd’s versuchen.“
Sie musterte mich argwöhnisch.
„Ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet.“
„Hätte ja sowieso
nichts gebracht“, erwiderte ich grinsend und sie schnaubte belustigt.
„Stimmt. Wo du grad so
fügsam bist und wir von deinem Äußeren sprechen …“ Der Blick aus ihren
atemberaubenden Augen wanderte bezeichnend über meine Haare. „Du musst mal
wieder zum Friseur.“
Ich fuhr mir verlegen
durch den Pony, der zugegebenermaßen sein Haltbarkeitsdatum überschritten
hatte. Aber nur um ein paar Wochen.
„Das trifft sich
übrigens wunderbar“, säuselte sie und sah mich an wie die Spinne die Fliege,
die sich im Netz verfangen hat – was in Anita-Mimik in etwa mit
‚zufrieden‘ gleichzusetzen war, „Klaus ist nämlich längst überfällig;
ihr könnt zusammen hin und danach noch ein Bierchen oder zwei trinken gehen.
Ich mach euch einen Termin.“
„Lass mich raten:
Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Klaus sich nicht im letzten Moment
davor drückt?“
Ihr Lächeln
war … raubtierhaft. „Ganz genau. Dafür gehen die Bierchen auf mich.“
Na, so was musste man
einem armen Studenten nicht zweimal sagen.
„Ta, du weißt doch,
das ich dir nie etwas abschlagen könnte“, erwiderte ich zuckersüß und erntete
noch ein Schnauben.
„Danke Mi“, sagte sie
dennoch, nachdem sie den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte „es wird ihm gut
tun, ein bisschen raus zu kommen.“
„Uns beiden.“
***
Es klopfte zweimal an
meine Tür, dann schob Mischa sie auf und steckte den Kopf rein.
„Wollen wir anfangen?“
Mit einem Blick über
meine Schulter nickte ich. „Bin gleich da.“ Ich sammelte den Rest der
Bleistiftminen auf, die mir heruntergefallen waren, und steckte sie vorsichtig
wieder in ihren Behälter.
Nachhilfe. Mit Mischa.
Das war jetzt schon das dritte Mal diese Woche, da er fand, je schneller wir
den bisher im Semester behandelten Stoff aufholten, desto besser. Und obwohl
ich mich wirklich langsam daran gewöhnen sollte, kribbelte mein Magen davor
immer wie verrückt. Dabei wusste ich, dass nichts passieren würde. Ich
hatte ihm meine Meinung dazu gesagt und Mischa hatte sie akzeptiert. Außerdem
hatten wir die Nachhilfe in stillem Einverständnis in die Küche verlegt, und
auch wenn die gemütlich war, war sie nicht sexy. Gut, das war mein Zimmer an
sich auch nicht, mit der billigen, zusammengewürfelten Einrichtung, aber
Schlafzimmer hatten von Natur aus mehr Sexy-Punkte als die restlichen Räume.
Und in meinem stand nicht nur ein Bett, sondern auch ein Schreibtisch. So viele
Möglichkeiten.
… Die bisher von mir
ungenutzt geblieben waren. Wie lange war es jetzt her seit dem letzten Mal?
Dreieinhalb, vier Monate? Da konnte man schon langsam leicht angespannt werden.
Aber darüber
nachdenken half leider auch nicht, also packte ich meine Sachen und ging zu
Mischa in die Küche, der bereits zwei Gläser und eine Fanta auf den Tisch
gestellt hatte.
Er schenkte mir ein
halbes Lächeln. „Wo waren wir stehen geblieben?“
„In der Mitte von
Lektion drei“, antwortete ich und schlug das Buch und mein Notizheft an
besagter Stelle auf. Auf in den Kampf!
***
Mischa hatte einen
kleinen Leberfleck am Hals, links, zwei Zentimeter oberhalb und etwas rechts
der Halsbeuge. Ich hatte den Hype um Leberflecke nie ganz nachvollziehen
können, sei es bei Cindy Crawford oder Marilyn Monroe, aber ich musste zugeben,
Mischas Leberfleck hatte was. Mehr als nur etwas: Genug, um meine Aufmerksamkeit
weg von den faszinierenden Welten der Statistik zu lenken und mich nach wenigen
Sekunden davon zu überzeugen, dass ich eine neue Sprache gelernt hatte.
Leberfleckisch. Und mit diesem Wissen konnte ich mit einhundertsiebzig
prozentiger Sicherheit sagen, dass dieser eine Leberfleck sich danach sehnte,
geküsst zu werden. Er war momentan wirklich, wirklich einsam und jeder, der ihm
diesen bescheidenen Wunsch verwehrte, war ein garstiges Monster, schlimmer als
Frankenstein, Dracula und … wer auch immer der berühmteste Werwolf
von allen war, zusammen.
Ich schüttelte lautlos
seufzend den Kopf über mich. Ich wurde albern. ‚Leberfleckisch’, so ’ne gequirlte
Scheiße.
Mischa erklärte mir
gerade etwas, aber seit ich den Leberfleck entdeckt hatte, bereitete mir
Deutsch deutlich Probleme; dennoch, seine sonore Stimme machte sich verdammt
gut als Hintergrundmusik. Zumindest bis er mit der Hand vor meinem Gesicht
herumwedelte.
„… Milo?“ Meinen
Namen. Den erkannte ich gerade noch.
Ich riss meinen Blick
von dem hellbraunen Kreis weg und sah auf, direkt in seine Augen. Auch nicht
viel besser für mein Hirn, aber gut.
„Alles okay?“
„Sorry“, erwiderte ich
und war fast erstaunt, dass da wirklich verständliche Worte meinen Mund
verließen, „ich war grad gedanklich abwesend. Was hast du gesagt?“ Mein Grinsen
war schief aber entschuldigend.
Und Mischa? Anstatt
sich darüber aufzuregen, dass ich seine Zeit verschwendete, schenkte er mir ein
Lächeln. „Vielleicht sollten wir eine Pause machen?“
Ich nickte und schob
Stift und Heft von mir weg. Gute Idee. Wenn er mir zehn Minuten gab, konnte ich
schnell eine kalte Dusche nehmen.
„So schlimm?“
Der Leberfleck und
seine Auswirkungen auf mein Hirn? Ja.
Moment, was?
Mischa deutete auf
meine Schreibsachen, die nun in der Mitte des Tisches lagen.
„Liegt nicht an dir“,
erwiderte ich, obwohl es sehr wohl an ihm lag. Es stellte sich nämlich heraus,
dass ich einfach nicht mehr als sechzig, maximal neunzig Minuten ignorieren
konnte, dass Mischa Mischa war. Wie verdammt gut er aussah. Wie sexy seine
Stimme war. Wie geduldig er mir alles auch fünfmal erklärte, wie viel Mühe er
sich gab und wie gerne ich ihn knutschen wollte, wenn er sich ehrlich für mich
freute, dass sich ein Knoten in meinem Hirn gelöst hatte. Wie einsam sein
Leberfleck war.
„Dann bin ich ja
beruhigt.“ Ich konnte es nicht ausstehen, wenn die Figuren in Filmen,
Fernsehserien oder Büchern sagten, dass jemand ‚für sein Lächeln einen
Waffenschein brauchte‘, aber ich verstand, was sie meinten. Obwohl ich es an
seiner Stelle nicht lizenzieren, sondern patentieren würde. „Hast du dir schon
überlegt, wie du mich heute bekochen willst?“
Ich schüttelte den
Kopf und versuchte nicht daran zu denken, wie sich das anhörte. „Ich dachte, du
weißt am besten, worauf du Lust hast.“
Er streckte sich,
verursachte damit kurzzeitig Gehirnausfall bei allen Anwesenden im
Raum – also mir und meiner versauten Seite – und grinste
dann breit und zufrieden. „Ich lass mich gerne überraschen. Vor allem bei einem
Drei-Gänge-Menü.“
„Bitte was?“ Mein Hirn
brauchte zum Neustart immer etwas länger. Es war nicht mehr das Neuste.
„Na, das ist heute die
dritte Nachhilfe. Ich an deiner Stelle würde die Schulden abarbeiten, bevor die
Woche zu Ende ist; ab Montag gibt’s Zinsen drauf.“
Ich runzelte die
Stirn. „Seit wann? Davon hast du nichts gesagt.“
Er sah mich an und
sein Gesicht wurde ernst. Dann sagte er mit perfekter Hollywood-Mafiosi-Stimme:
„Du hätteste die Kleinegedruckte lesen sollen, bambino.“
„Schwierig, bei einem
mündlichen Vertrag.“ Ich schnaubte und fragte dann spöttisch: „Und was, wenn
ich mich weigere, die Zinsen zu zahlen? Bekomm ich dann Betonschuhe verpasst?“
„O no, no!“, rief er
und schnalzte mit der Zunge, „Io wurde –“
… Ja?
Mischa schüttelte den
Kopf. „Sorry.“
„Wofür?“
„Das …“ Sein Blick
wanderte über mein Gesicht, dann kurz an mir hinunter, bevor er die Augen
schloss und noch einmal den Kopf schüttelte. „… wäre jetzt unangebracht
gewesen.“
O…kay …?
Und mit diesem einen
Satz hatte er es geschafft, die entspannte Stimmung zu versauen. Danke schön,
Hübscher, aber von jetzt an würdest du gut daran tun, deinem Leberfleck das
Reden zu überlassen.
Die Stille hielt an.
Wunderbar, einfach fantastisch! Hatte das jetzt sein müssen? Hätte er nicht
einfach irgendetwas sagen können, nur nicht das, was er hatte sagen
wollen oder das, was er gesagt hatte?
„Wir“, begann ich und
wusste erst, was ich sagte, als ich es hörte, „können ja jeder einen Gang
bestimmen: Du, Thomas, ich. Dann ist sicher für jeden was dabei.“ Kein
Geniestreich, kein eleganter Themawechsel, aber ich hatte schon schlechter
improvisiert. Viel schlechter.
Mischa sah mich wieder
an, erst erstaunt, dann leicht lächelnd den Kopf schüttelnd. „Ich glaube nicht,
dass Thomas heute nach Hause kommt. Er meinte, er wolle nach der Uni zu Katja.“
Oh. Das hatte ich
nicht mitbekommen, mal wieder.
Dann … hieß
das, dass ich nur für Mischa und mich kochen würde? Und dann auch noch
drei –
Na super, da konnte
ich ja gleich Kerzen auf den Tisch stellen und die Kuschelrock-CD aus meinen
frühen Teeniejahren auflegen.
„Ähm …“, begann
ich geistreich, „vielleicht verschieben wir das dann besser auf morgen? Wenn,
also … wenn ich schon so lange in der Küche stehe … besser
für … drei.“
Ich hasste mich.
Mischa hatte bereits
nach dem ersten Satz verletzt ausgesehen, aber ich war dennoch nicht im Stande
gewesen, meine Klappe zu halten. Nein, ich musste es ja schlimmer machen, indem
ich unsinniges Zeug blubberte.
Er zwang sich zu einem
Lächeln. „Klar, hast Recht.“ Aber ich wusste, dass er verstanden hatte, dass ich
nicht alleine mit ihm so richtig zu Abend essen wollte. Nicht mit allem
Drum und Dran – eigentlich noch nicht einmal ohne das Drum und Dran.
Sein Zusammenzucken zu
sehen war scheiße gewesen, aber was mir den Rest gab, war, dass er sich auch
noch alle Mühe gab, es zu überspielen. Verdammt noch mal, ich wollte Mischa
nicht so sehen! Ich wollte, dass er grinste und lächelte und lachte und mir
tausend Schmetterlinge im Magen –
Obwohl, nein, ohne die
Schmetterlinge. Dennoch, das hier … das stellte zwar auch einiges mit
meinem Bauch an, aber leider nicht Gutes.
„Hast du Lust auf
einen Zombiefilm?“
Hatte ich eben noch
gedacht, dass ich schon schlechter improvisiert hatte? Dieses Mal war ich mir
nicht so sicher. Was zum Teufel hatte ich gerade vorgeschlagen?
Ich war nicht als
einziger überrascht.
„Heute? Zusammen?“
Täuschte ich mich, oder so Mischa leicht skeptisch aus?
Viel wichtiger: Hatte
ich denn meinen Verstand verloren?! Offenbar ja, denn ich nickte.
„Du suchst den Film
aus, ich geh Snacks kaufen. Und Take-away vom Chinesen?“ Er starrte immer noch,
als wäre ich Jesus 2.0 und ich fügte rasch hinzu: „Du hast dir doch letztens
einen neuen gekauft – wir könnten ja den schauen, wenn du ihn noch
nicht gesehen hast.“
„Rec?“ Er runzelte die Stirn. „Ich glaub nicht, dass der was für
dich ist. Er soll echt gut sein und du – also, nichts für ungut, aber
dir war ja auch bei der Horrorkomödie letztens unwohl.“
Das sollte eine Komödie gewesen sein? Das, was wir
nach dem allerersten Mal Statistik geschaut hatten? …
Horrorfans hatten
einen echt seltsamen und gut versteckten Humor.
„Ich halte das schon
aus. Bin ja ein großer Junge.“ Vor allem einer, der ein schlechtes Gewissen
wegen nicht lächelnden Mitbewohnern hatte und sich so offenbar willentlich in
die Scheiße ritt.
„Meinst du das ernst?“
Anscheinend schon. Ich
war nicht weniger unüberzeugt von der Idee als er, aber skeptisch war ein
deutlich besserer Look für ihn als verletzt.
„Mischa, ich würde
heute gerne mit dir einen … Zom…“
Ich räusperte mich, zögerte, und ging dann den Weg des geringsten Widerstands.
„Mischa, ich würde heute mit dir einen Zombiefilm schauen. Wenn du magst.“
Das Lächeln war
zurück, zusammen mit einem Funkeln in den Augen, das mir kalte Schauer über den
Rücken jagte.
„Wenn ich mag?“
„M-hm.“ Ich nickte und
verfluchte mich innerlich für meine Dummheit. Der Gesichtsausdruck war auf ganz
andere Art und Weise ungut.
Verdammt noch mal! Was
machte es schon, wenn er mal drei Minuten nicht lächelte?! Wenn meine
Selbstdisziplin beim Sport auch so mies war, dann würde das ja witzig werden
mit dem Gewichtestemmen. Ganz abgesehen davon hatte Mischa garantiert Besseres
zu tun, als einen Freitagabend vor der Glotze –
Genau! Genau das hatte
er sicher.
„Ich mein, wenn du
schon etwas vorhast, dann versteh ich das natürlich“, brachte ich rasch hervor,
„war ja auch eine spontane Idee und ich hab nicht dran gedacht, dass andere
Leute nicht so introvertiert sind wie ich. Ich versteh das aber vollkommen, wir
können das mit dem Film ja irgendwann mal …“
„Stopp, Milo!“ Mischa
hielt die Hand hoch und grinste fast schon sadistisch. „Denk nicht, dass du
dich da wieder herausreden kannst.“
Ich schloss meinen
Mund und sah ihn säuerlich an. Konnte er bitte aufhören, mich immer zu
durchschauen?
„Ich habe heute nichts
vor. Ich würde mich also sehr freuen, nachher mit dir Rec zu gucken. Und Chinesisch geht
sowieso immer.“
Na toll. Am Schlimmste
fand ich, dass ein viel zu großer Teil von mir einfach nur erleichtert über
sein zufriedenes Lächeln war. Dicht gefolgt davon, dass sich derselbe Teil ein
bisschen zu sehr darauf freute, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
„Lass bloß Thomas
nicht hören, dass du an einem Freitag nichts vor hast“, sagte ich, um meine
undefinierbare Laune zu überspielen, „sonst hält er dich auch noch für einen
Stubenhocker.“
Mischa zuckte mit den
Schultern. „Finde ich nicht schlimm. Jeder ist halt so, wie er ist.“
Ja, und ich war ein
Idiot.
„Wollen wir
weitermachen?“, fragte er und deutete auf mein Heft.
Ah ja, da war ja noch
was.
„Muss noch kurz aufs
Klo.“ Er nickte, ich stand auf und ging um den Tisch herum und aus der Küche.
Ich war schon im Flur, als er leise seufzte:
„Du machst es einem
echt nicht einfach.“
***
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen