Update-Info

07.01.2015: Ich wünsche allen ein (verspätetes) frohes neues Jahr! :)

Bei uns hat das Jahr leider mit einer Krebsdiagnose begonnen. Nicht meine, aber dennoch werden die Kapitel in absehbarer Zeit nur sehr unregelmäßig erscheinen.

Montag, 17. Dezember 2012

Wieder und wieder 07:

Temporäre Triumphe. Leberfleckische Lockrufe. Voreilige Vorschläge.


2,7.
Zwei.
Komma.
Sieben.
Ach du heilige Scheiße, das stand da wirklich. Hatte er sich vertippt? Egal, ich würde ihn sicher nicht darauf aufmerksam machen. Wenn Professor Leixner sich beim Noteneingeben vertippte, war das sein Problem, nicht meines.
Zwei Komma Sieben!
Auf meinem Gesicht breitete sich ein gigantisches Grinsen aus. Ich warf noch einen letzten Blick auf die Note, dann klickte ich auf Logout und fuhr den Computer gleich darauf hinunter. Das Wochenende hatte wirklich genial angefangen!
Thomas und Mischa saßen in der Küche und frühstückten. Als ich hereinkam, sahen sie auf. Thomas musterte mich überrascht aber erfreut.
„Na, du strahlst ja heute mit der Sonne um die Wette.“
„Und du gewinnst haushoch“, fügte Mischa hinzu, „die Sonne streikt heute. Mal wieder.“ Er stand auf und setzte neuen Kaffee auf. „Warum leben wir eigentlich nicht im Süden?“
Thomas grinste und rollte die Augen. „Weil wir Nordmänner sind, Großer. Und die kennen weder Schmerz noch Kälte!“
„Deswegen hat dir Katja auch unbedingt Wintersocken besorgen müssen, ja?“ Ich holte mir meine übliche Schüssel Schokopops und stellte mich neben Mischa, um die Milch aus dem Kühlschrank zu holen.

In der vergangenen Woche hatte sich die Situation zwischen uns beiden normalisiert. Ich glaubte, dass er eingesehen hatte, dass wir nicht zusammenpassten und wir behandelten uns wieder, wie sich Mitbewohner, die sich halbwegs sympathisch sind, eben behandeln. Kein Flirten, keine Blicke, keine Andeutungen, aber freundliches Miteinander. Natürlich hieß das nicht, dass ich mir seiner Körperwärme nicht überdeutlich bewusst war, als ich Milch in die Pops goss. Oder dass ich nicht bemerkte, dass er heute das dunkelgrüne Shirt trug, dass seine Augen auch grün erschienen ließ.
„Mein Herz ist das eines Nordmannen, aber meine Füße habe ich leider von meiner Nonna. Und die saß immer mit fünf Winterdecken vor dem Kamin.“ Thomas zwinkerte uns gut gelaunt zu und sah dann wieder mich an. „Mund auf, was ist Schönes passiert?“
Ich stellte das Schüsselchen auf den Tisch und kramte in der Besteckschublade nach einem sauberen Löffel. Warum versteckten die sich immer?
„Ich habe meine Note in Statistik bekommen.“
„Bestanden?“, fragte Thomas, grinste aber bereits wissend. Hätte ich nicht bestanden, würde ich ja auch nicht so grinsen.
Mit dem Löffeln in der Hand und Triumph in der Stimme drehte ich mich zu ihnen um. „Mit ’ner zwei Komma sieben.“
„Super, Milo!“, rief Thomas, aber ich bekam das nur am Rande mit.
Mischas Lächeln blendete alles andere aus. Es sah nicht nur erfreut, sondern auch stolz und warm und – 
„Geil!“, sprach’s und zog mich in eine feste Umarmung, die ganz unanständige Sachen mit meinen Gedanken anstellte. Und die, wenn ich mich nicht täuschte, einen Tick zu lange dauerte. „Ich wusste, du packst das.“
„Danke.“ Viel mehr als ein Nuscheln war das nicht, aber ich war schon überrascht davon, dass ich überhaupt etwas hervorgebracht hatte. Einen Moment lang wusste ich nämlich nicht mehr, wo ich war und weshalb er sich für mich freute, und von ihm wegbewegen konnte ich mich auch nicht.
Und dann wurde die Stimmung seltsam. Die Art von angespanntem Seltsam, die sich einstellt, wenn man angestrengt versucht, nicht an etwas zu denken, aber es für alle Anwesenden klar ersichtlich ist, dass man es dennoch tut. Aber es war doch nicht meine Schuld, dass sich Mischas Brust so gut an meinem Gesicht anfühlte!
Thomas wurde seiner Rolle als Ritter in strahlender Rüstung gerecht und rettete mich einmal mehr, indem er aufstand und mich ebenfalls umarmte.
„Glückwunsch!“ Er strahlte uns etwas zu radioaktiv an und rief: „Das muss gefeiert werden! Heute Abend koche ich!“
Mischa und ich sahen uns an.
„Meinst du nicht ‚Heute Abend bezahle ich‘?“, fragte Mischa grinsend, „Oder willst du Milo zur Feier mit Bauchschmerzen beglücken?“
„Werd nicht frech, schließlich gibt’s keinen triftigen Grund, warum ich dich mit einladen sollte.“ Thomas versuchte wenigstens, seine Stimme drohend klingen zu lassen, aber drohen war nichts, was er gut beherrschte. Den strahlenden Ritter mimte er dafür wie kein anderer.

***

Am Nachmittag lag ich mit der Nase im neunten Band vom Lied von Eis und Feuer und mit dem Hintern auf dem Sofa, als Mischa aus seinem Zimmer kam. Ich war sofort weg aus Westeros und zurück in unserem Wohnzimmer, aber ich starrte weiterhin auf die Seiten und versuchte so zu tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt. Er musste ja nicht wissen, dass er auf meine Aufmerksamkeit wie ein Magnet wirkte. Immer noch.
Er kam auf das Sofa zu und ich dachte, er wolle daran vorbei und in die Küche, aber dann blieb er hinter der Rückenlehne stehen.
Okay. Aber ich war ja so in mein Buch vertieft. Einmal Blättern, bitte.
Mischa räusperte sich. Na toll, jetzt musste ich doch aufschauen und mir mal wieder der Tatsache bewusst werden, dass er einer der wenigen Menschen war, bei denen ich es sogar mochte, wenn sie auf mich herabsahen – nur wortwörtlich, natürlich.
„Wie willst du eigentlich den Fortsetzungskurs in Statistik bestehen?“
Meine Laune sank trotz seines engen Shirts einige Stockwerke tiefer. Was sollte die Frage denn jetzt? Da wäre ich doch besser bei John Schnee geblieben.
„Eigentlich wollte ich mich heute einfach nur über die Note freuen“, antwortete ich säuerlich, aber natürlich hatten seine Worte die Bedenken bereits wieder aus der geistigen Kiste geholt. Klar, Statistik 1 hatte ich bestanden und ich durfte von nun an offiziell an Statistik 2 teilnehmen, das ich bis dato nur provisorisch besucht hatte, aber mal abgesehen davon, dass ich ohne die Grundlagen zu verstehen auch die bisherigen darauf aufbauenden Lektionen nicht gerafft hatte, war Statistik an sich immer noch ein Buch mit sieb…zig Siegeln. Noch dazu musste ich auch die restlichen Lektionen des Semesters irgendwie in meinen Kopf kriegen … 
Aber dafür hatte ich ja zwei Semester Zeit, einmal durfte man schließlich durchfallen.
„Ich werd mir wahrscheinlich jemand suchen, der mir Nachhilfe gibt“, fügte ich etwas freundlicher hinzu, „Sollte nicht allzu schwer sein.“ Jemanden zu finden, der Nachhilfe in Statistik anbot, nicht; jemanden zu finden, der die Scheiße für mich verständlich erklären konnte allerdings … aber darüber würde ich mir morgen Gedanken machen. Bei Scarlett O’Hara hatte das doch auch ganz wunderbar funktioniert, wie ich dank meiner kleinen Schwester nur zu gut wusste.
Mischa nickte und ich wandte mich wieder meinem Buch zu. So weit, so gut. Eigentlich war die Unterhaltung, wenn man sie denn so nennen konnte, beendet, aber er bewegte sich nicht vom Fleck.
„Also“, begann er nach über einer Minute Stille, „wenn du willst – ich könnte dir wieder Nachhilfe geben. Regelmäßig.“
Ich ließ das Buch sinken und musterte ihn, aber sein Gesicht ließ nichts erkennen. Ich konnte nur hoffen, dass ich meine Mimik ebenso gut unter Kontrolle hatte, und er nicht das Chaos erkannte, das seine Worte, mal wieder, in mir ausgelöst hatten.
Mischa wollte mir Nachhilfe geben. Einerseits war das perfekt, weil er wirklich so verdammt gut darin war; zweierseits war das schön, weil das bedeutete, dass er trotz unseres Streits (?) vor zwei Wochen nichts dagegen hatte, mehr als nur das Nötigste an Zeit mit mir zu verbringen; aber dritterseits war es, zumindest für mich, nicht weniger gefährlich als es das erste Mal gewesen war. Regelmäßig alleine Zeit mit Mischa zu verbringen schien eine ganz absurd schlechte Idee zu sein.
Dennoch hörte ich jemanden mit meiner Stimme fragen: „Und was würdest du dafür wollen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Pancakes?“ Ich muss ziemlich dumm dreingeschaut haben, denn er begann zu grinsen. „Die waren echt lecker. Oder du kochst sonst was Essbares. Oder …“ Das Grinsen wurde breiter. „… du leistest mir bei einem Zombiefilm Gesellschaft. Alleine macht das nur halb so viel Spaß.“
„Klar, weil du dich nicht darüber amüsieren kannst, dass ich mir gleich in die Hose mache.“  
Das Grinsen verschwand. „Ich hab mich nicht über dich amüsiert.“
Ja, das wusste ich. Aber mir war nichts anderes eingefallen, das ich sagen konnte, um noch ein wenig Aufschub zu bekommen.
„Du hast wenigstens mitgeguckt, im Gegensatz zu Thomas, der dann immer ganz plötzlich was Besseres zu tun hat.“
„Warum musst du auch ausgerechnet auf Zombies stehen?“
„Hey“, protestierte er, „man kann sich seinen Fetisch nun mal nicht aussuchen!“
„Fetisch?“, rief ich und verzog das Gesicht, „Boah, Mischa, das Kopfkino hätt ich jetzt echt nicht gebraucht!“
Er lachte, was bei seiner tiefen Stimme verdammt gut kam. Und ich schob es auf dieses Lachen, dass ich auf die Frage „Also, willst du oder nicht?“ nur mit dem Kopf nickte.
Er sah zufrieden aus. Und das wiederum reichte schon fast, um mich davon zu überzeugen, dass es die richtige Antwort gewesen war.

***

„Und was soll daran bitte eine gute Idee sein?“
Das hatte ich mich, sobald Mischa das Wohnzimmer verlassen hatte, auch gefragt. Allerdings hörten sich dieselben Worte von Anita ausgesprochen einiges bedrohlicher an.
Ich zuckte mit den Schultern. „Sieh’s doch einfach als Crashkurs in Abhärtung.“
„Brauchst du den denn? Immer noch?
Wie schaffte sie es bloß, so mir nichts, dir nichts den Kern der Sache herauszupicken? Manchmal waren aufmerksame Leute echt anstrengend.
Bejahen wollte ich die Frage nicht, denn dann würde sie mich wahrscheinlich kurzerhand dazu verdonnern, doch zu ihr und Klaus zu ziehen. Verneinen konnte ich sie nicht. Also was blieb?
„Vielleicht.“ Mit einem raschen: „Aber bisher hat das auch geklappt und das Schlimmste habe ich bereits hinter mir.“ Nämlich Mischa, der zugab, dass er eifersüchtig auf einen nebensächlichen Kerl war, und der mich so ansah und sich mir näherte und – „Ich krieg das hin.“
Anita seufzte. „Du willst wirklich in der Wohnung bleiben, hm?“
„Ich fühl mich wohl.“
Sie nickte und nippte an ihrem Kaffee. Ich wusste nicht, ob sie es absichtlich machte, aber sie setzte die Lippen immer wieder an der Stelle an, an der sie bereits beim ersten Schluck einen roten Abdruck hinterlassen hatten. Was ich noch viel weniger verstand, war, wie ihr Mund immer noch perfekt geschminkt aussehen konnte – obwohl, bei ihr hätte mich alles andere noch mehr verwirrt.
„Hm.“ Zwei feine Goldreife, die großen Brüder der Kreolen in ihren Ohren, klirrten an ihrem rechten Handgelenk, als sie sich die altrosa Seidenbluse glattstrich. Eigentlich hätte sie in der Bluse, dem beigen Bleistiftrock und den klassischen Pumps viel zu elegant aussehen müssen für die Unimensa, aber sie schaffte es, vielmehr die Mensa samt ihren derzeitigen Gästen underdressed erscheinen zu lassen. Wie sie in dem Outfit nicht erfror, war mir ein noch größeres Rätsel. Ich an ihrer Stelle hätte den schicken weißen Wintermantel, den sie dabei hatte, gar nicht erst abgelegt.
„Vielleicht solltest du dich beim Unisport anmelden“, sagte sie nach einer kurzen Gesprächspause.
„Ich soll was?“
„Dich beim Unisport anmelden“, wiederholte sie und legte die manikürten Hände um die Kaffeetasse, „Die haben einen Fitnessraum, mit Geräten, Gewichten und allem, was man sonst in einem Fitnesscenter finden würde, plus Aufsicht.“
Ich krauste die Stirn und biss in mein Snickers. „Schlägst du mir wirklich vor, Mischa aus dem Kopf zu kriegen indem ich mich mit anderen Muskelpaketen umgebe?“
„Natürlich nicht. Von den Anabolikahuldigern lässt du gefälligst die Finger.“ Sie verzog missbilligend den Mund. „So gut solltest du mich kennen, Milo. Ich schlage dir vor, selbst ans Werk zu gehen.“
Ich stand wohl gerade auf dem Schlauch und machte das passende Gesicht dazu.
„Du sollst anfangen zu trainieren. Leg dir ein paar Muskeln zu“, erklärte sie und begann abwesend, mit dem Zeigefinger den Tassenrand zu umkreisen. „Uns fällt schließlich bei anderen oft negativ auf, was uns an uns selber stört – und positiv, was wir selbst gerne hätten. Vielleicht lässt deine Fixation auf Muskeln nach, wenn du selber welche hast.“ Ihr Finger hielt inne und sie zuckte mit den Schultern. „Und wenn nicht, dann hilft es wenigstens, Stress abzubauen, gibt dir was zu tun – außerhalb deines Zimmers – und ist dazu noch gesund.“
„Aber“, fing ich an und versuchte, den maulenden Tonfall auf ein Minimum zu beschränken, „aber das ist so anstrengend.“
„Wie gesagt, es wird dir gut tun.“
Ich hatte nicht mitbekommen, wann aus ‚du solltest‘ und ‚es würde‘ ‚es wird‘ geworden war, aber irgendwie störte mich das auch nicht. Auch wenn ich selbst nie darauf gekommen wäre, fand ich die Idee gar nicht so schlecht. Neue Erfahrungen, ein wenig Zeit nur für mich und die Möglichkeit, den Kopf mal auszuschalten – alles in einem und das für nur siebzehn Euro im Semester. Und vielleicht funktionierte es ja sogar.
Ich nickte. „Ich werd’s versuchen.“
Sie musterte mich argwöhnisch. „Ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet.“
„Hätte ja sowieso nichts gebracht“, erwiderte ich grinsend und sie schnaubte belustigt.
„Stimmt. Wo du grad so fügsam bist und wir von deinem Äußeren sprechen …“ Der Blick aus ihren atemberaubenden Augen wanderte bezeichnend über meine Haare. „Du musst mal wieder zum Friseur.“
Ich fuhr mir verlegen durch den Pony, der zugegebenermaßen sein Haltbarkeitsdatum überschritten hatte. Aber nur um ein paar Wochen.
„Das trifft sich übrigens wunderbar“, säuselte sie und sah mich an wie die Spinne die Fliege, die sich im Netz verfangen hat – was in Anita-Mimik in etwa mit ‚zufrieden‘ gleichzusetzen war, „Klaus ist nämlich längst überfällig; ihr könnt zusammen hin und danach noch ein Bierchen oder zwei trinken gehen. Ich mach euch einen Termin.“
„Lass mich raten: Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Klaus sich nicht im letzten Moment davor drückt?“
Ihr Lächeln war … raubtierhaft. „Ganz genau. Dafür gehen die Bierchen auf mich.“
Na, so was musste man einem armen Studenten nicht zweimal sagen.
„Ta, du weißt doch, das ich dir nie etwas abschlagen könnte“, erwiderte ich zuckersüß und erntete noch ein Schnauben.
„Danke Mi“, sagte sie dennoch, nachdem sie den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte „es wird ihm gut tun, ein bisschen raus zu kommen.“
„Uns beiden.“

***

Es klopfte zweimal an meine Tür, dann schob Mischa sie auf und steckte den Kopf rein.
„Wollen wir anfangen?“
Mit einem Blick über meine Schulter nickte ich. „Bin gleich da.“ Ich sammelte den Rest der Bleistiftminen auf, die mir heruntergefallen waren, und steckte sie vorsichtig wieder in ihren Behälter.
Nachhilfe. Mit Mischa. Das war jetzt schon das dritte Mal diese Woche, da er fand, je schneller wir den bisher im Semester behandelten Stoff aufholten, desto besser. Und obwohl ich mich wirklich langsam daran gewöhnen sollte, kribbelte mein Magen davor immer wie verrückt. Dabei wusste ich, dass nichts passieren würde. Ich hatte ihm meine Meinung dazu gesagt und Mischa hatte sie akzeptiert. Außerdem hatten wir die Nachhilfe in stillem Einverständnis in die Küche verlegt, und auch wenn die gemütlich war, war sie nicht sexy. Gut, das war mein Zimmer an sich auch nicht, mit der billigen, zusammengewürfelten Einrichtung, aber Schlafzimmer hatten von Natur aus mehr Sexy-Punkte als die restlichen Räume. Und in meinem stand nicht nur ein Bett, sondern auch ein Schreibtisch. So viele Möglichkeiten.
… Die bisher von mir ungenutzt geblieben waren. Wie lange war es jetzt her seit dem letzten Mal? Dreieinhalb, vier Monate? Da konnte man schon langsam leicht angespannt werden.
Aber darüber nachdenken half leider auch nicht, also packte ich meine Sachen und ging zu Mischa in die Küche, der bereits zwei Gläser und eine Fanta auf den Tisch gestellt hatte.
Er schenkte mir ein halbes Lächeln. „Wo waren wir stehen geblieben?“
„In der Mitte von Lektion drei“, antwortete ich und schlug das Buch und mein Notizheft an besagter Stelle auf. Auf in den Kampf!

***

Mischa hatte einen kleinen Leberfleck am Hals, links, zwei Zentimeter oberhalb und etwas rechts der Halsbeuge. Ich hatte den Hype um Leberflecke nie ganz nachvollziehen können, sei es bei Cindy Crawford oder Marilyn Monroe, aber ich musste zugeben, Mischas Leberfleck hatte was. Mehr als nur etwas: Genug, um meine Aufmerksamkeit weg von den faszinierenden Welten der Statistik zu lenken und mich nach wenigen Sekunden davon zu überzeugen, dass ich eine neue Sprache gelernt hatte. Leberfleckisch. Und mit diesem Wissen konnte ich mit einhundertsiebzig prozentiger Sicherheit sagen, dass dieser eine Leberfleck sich danach sehnte, geküsst zu werden. Er war momentan wirklich, wirklich einsam und jeder, der ihm diesen bescheidenen Wunsch verwehrte, war ein garstiges Monster, schlimmer als Frankenstein, Dracula und … wer auch immer der berühmteste Werwolf von allen war, zusammen.
Ich schüttelte lautlos seufzend den Kopf über mich. Ich wurde albern. ‚Leberfleckisch’, so ’ne gequirlte Scheiße.
Mischa erklärte mir gerade etwas, aber seit ich den Leberfleck entdeckt hatte, bereitete mir Deutsch deutlich Probleme; dennoch, seine sonore Stimme machte sich verdammt gut als Hintergrundmusik. Zumindest bis er mit der Hand vor meinem Gesicht herumwedelte.
„… Milo?“ Meinen Namen. Den erkannte ich gerade noch.
Ich riss meinen Blick von dem hellbraunen Kreis weg und sah auf, direkt in seine Augen. Auch nicht viel besser für mein Hirn, aber gut.
„Alles okay?“
„Sorry“, erwiderte ich und war fast erstaunt, dass da wirklich verständliche Worte meinen Mund verließen, „ich war grad gedanklich abwesend. Was hast du gesagt?“ Mein Grinsen war schief aber entschuldigend.
Und Mischa? Anstatt sich darüber aufzuregen, dass ich seine Zeit verschwendete, schenkte er mir ein Lächeln. „Vielleicht sollten wir eine Pause machen?“
Ich nickte und schob Stift und Heft von mir weg. Gute Idee. Wenn er mir zehn Minuten gab, konnte ich schnell eine kalte Dusche nehmen.
„So schlimm?“
Der Leberfleck und seine Auswirkungen auf mein Hirn? Ja.
Moment, was?
Mischa deutete auf meine Schreibsachen, die nun in der Mitte des Tisches lagen.
„Liegt nicht an dir“, erwiderte ich, obwohl es sehr wohl an ihm lag. Es stellte sich nämlich heraus, dass ich einfach nicht mehr als sechzig, maximal neunzig Minuten ignorieren konnte, dass Mischa Mischa war. Wie verdammt gut er aussah. Wie sexy seine Stimme war. Wie geduldig er mir alles auch fünfmal erklärte, wie viel Mühe er sich gab und wie gerne ich ihn knutschen wollte, wenn er sich ehrlich für mich freute, dass sich ein Knoten in meinem Hirn gelöst hatte. Wie einsam sein Leberfleck war.
„Dann bin ich ja beruhigt.“ Ich konnte es nicht ausstehen, wenn die Figuren in Filmen, Fernsehserien oder Büchern sagten, dass jemand ‚für sein Lächeln einen Waffenschein brauchte‘, aber ich verstand, was sie meinten. Obwohl ich es an seiner Stelle nicht lizenzieren, sondern patentieren würde. „Hast du dir schon überlegt, wie du mich heute bekochen willst?“
Ich schüttelte den Kopf und versuchte nicht daran zu denken, wie sich das anhörte. „Ich dachte, du weißt am besten, worauf du Lust hast.“
Er streckte sich, verursachte damit kurzzeitig Gehirnausfall bei allen Anwesenden im Raum – also mir und meiner versauten Seite – und grinste dann breit und zufrieden. „Ich lass mich gerne überraschen. Vor allem bei einem Drei-Gänge-Menü.“
„Bitte was?“ Mein Hirn brauchte zum Neustart immer etwas länger. Es war nicht mehr das Neuste.
„Na, das ist heute die dritte Nachhilfe. Ich an deiner Stelle würde die Schulden abarbeiten, bevor die Woche zu Ende ist; ab Montag gibt’s Zinsen drauf.“
Ich runzelte die Stirn. „Seit wann? Davon hast du nichts gesagt.“
Er sah mich an und sein Gesicht wurde ernst. Dann sagte er mit perfekter Hollywood-Mafiosi-Stimme: „Du hätteste die Kleinegedruckte lesen sollen, bambino.“ 
„Schwierig, bei einem mündlichen Vertrag.“ Ich schnaubte und fragte dann spöttisch: „Und was, wenn ich mich weigere, die Zinsen zu zahlen? Bekomm ich dann Betonschuhe verpasst?“
„O no, no!“, rief er und schnalzte mit der Zunge, „Io wurde –“
… Ja?
Mischa schüttelte den Kopf. „Sorry.“
„Wofür?“
„Das …“ Sein Blick wanderte über mein Gesicht, dann kurz an mir hinunter, bevor er die Augen schloss und noch einmal den Kopf schüttelte. „… wäre jetzt unangebracht gewesen.“
O…kay …?
Und mit diesem einen Satz hatte er es geschafft, die entspannte Stimmung zu versauen. Danke schön, Hübscher, aber von jetzt an würdest du gut daran tun, deinem Leberfleck das Reden zu überlassen.
Die Stille hielt an. Wunderbar, einfach fantastisch! Hatte das jetzt sein müssen? Hätte er nicht einfach irgendetwas sagen können, nur nicht das, was er hatte sagen wollen oder das, was er gesagt hatte?
„Wir“, begann ich und wusste erst, was ich sagte, als ich es hörte, „können ja jeder einen Gang bestimmen: Du, Thomas, ich. Dann ist sicher für jeden was dabei.“ Kein Geniestreich, kein eleganter Themawechsel, aber ich hatte schon schlechter improvisiert. Viel schlechter.
Mischa sah mich wieder an, erst erstaunt, dann leicht lächelnd den Kopf schüttelnd. „Ich glaube nicht, dass Thomas heute nach Hause kommt. Er meinte, er wolle nach der Uni zu Katja.“
Oh. Das hatte ich nicht mitbekommen, mal wieder.
Dann … hieß das, dass ich nur für Mischa und mich kochen würde? Und dann auch noch drei –
Na super, da konnte ich ja gleich Kerzen auf den Tisch stellen und die Kuschelrock-CD aus meinen frühen Teeniejahren auflegen.
„Ähm …“, begann ich geistreich, „vielleicht verschieben wir das dann besser auf morgen? Wenn, also … wenn ich schon so lange in der Küche stehe … besser für … drei.“
Ich hasste mich.
Mischa hatte bereits nach dem ersten Satz verletzt ausgesehen, aber ich war dennoch nicht im Stande gewesen, meine Klappe zu halten. Nein, ich musste es ja schlimmer machen, indem ich unsinniges Zeug blubberte.
Er zwang sich zu einem Lächeln. „Klar, hast Recht.“ Aber ich wusste, dass er verstanden hatte, dass ich nicht alleine mit ihm so richtig zu Abend essen wollte. Nicht mit allem Drum und Dran – eigentlich noch nicht einmal ohne das Drum und Dran.
Sein Zusammenzucken zu sehen war scheiße gewesen, aber was mir den Rest gab, war, dass er sich auch noch alle Mühe gab, es zu überspielen. Verdammt noch mal, ich wollte Mischa nicht so sehen! Ich wollte, dass er grinste und lächelte und lachte und mir tausend Schmetterlinge im Magen –
Obwohl, nein, ohne die Schmetterlinge. Dennoch, das hier … das stellte zwar auch einiges mit meinem Bauch an, aber leider nicht Gutes.
„Hast du Lust auf einen Zombiefilm?“
Hatte ich eben noch gedacht, dass ich schon schlechter improvisiert hatte? Dieses Mal war ich mir nicht so sicher. Was zum Teufel hatte ich gerade vorgeschlagen?
Ich war nicht als einziger überrascht.
„Heute? Zusammen?“ Täuschte ich mich, oder so Mischa leicht skeptisch aus?
Viel wichtiger: Hatte ich denn meinen Verstand verloren?! Offenbar ja, denn ich nickte.
„Du suchst den Film aus, ich geh Snacks kaufen. Und Take-away vom Chinesen?“ Er starrte immer noch, als wäre ich Jesus 2.0 und ich fügte rasch hinzu: „Du hast dir doch letztens einen neuen gekauft – wir könnten ja den schauen, wenn du ihn noch nicht gesehen hast.“
Rec?“ Er runzelte die Stirn. „Ich glaub nicht, dass der was für dich ist. Er soll echt gut sein und du – also, nichts für ungut, aber dir war ja auch bei der Horrorkomödie letztens unwohl.“
Das sollte eine Komödie gewesen sein? Das, was wir nach dem allerersten Mal Statistik geschaut hatten? …
Horrorfans hatten einen echt seltsamen und gut versteckten Humor.
„Ich halte das schon aus. Bin ja ein großer Junge.“ Vor allem einer, der ein schlechtes Gewissen wegen nicht lächelnden Mitbewohnern hatte und sich so offenbar willentlich in die Scheiße ritt.
„Meinst du das ernst?“
Anscheinend schon. Ich war nicht weniger unüberzeugt von der Idee als er, aber skeptisch war ein deutlich besserer Look für ihn als verletzt.
„Mischa, ich würde heute gerne mit dir einen … Zom…“ Ich räusperte mich, zögerte, und ging dann den Weg des geringsten Widerstands. „Mischa, ich würde heute mit dir einen Zombiefilm schauen. Wenn du magst.“
Das Lächeln war zurück, zusammen mit einem Funkeln in den Augen, das mir kalte Schauer über den Rücken jagte.
„Wenn ich mag?“
„M-hm.“ Ich nickte und verfluchte mich innerlich für meine Dummheit. Der Gesichtsausdruck war auf ganz andere Art und Weise ungut.
Verdammt noch mal! Was machte es schon, wenn er mal drei Minuten nicht lächelte?! Wenn meine Selbstdisziplin beim Sport auch so mies war, dann würde das ja witzig werden mit dem Gewichtestemmen. Ganz abgesehen davon hatte Mischa garantiert Besseres zu tun, als einen Freitagabend vor der Glotze –
Genau! Genau das hatte er sicher.
„Ich mein, wenn du schon etwas vorhast, dann versteh ich das natürlich“, brachte ich rasch hervor, „war ja auch eine spontane Idee und ich hab nicht dran gedacht, dass andere Leute nicht so introvertiert sind wie ich. Ich versteh das aber vollkommen, wir können das mit dem Film ja irgendwann mal …“
„Stopp, Milo!“ Mischa hielt die Hand hoch und grinste fast schon sadistisch. „Denk nicht, dass du dich da wieder herausreden kannst.“
Ich schloss meinen Mund und sah ihn säuerlich an. Konnte er bitte aufhören, mich immer zu durchschauen?
„Ich habe heute nichts vor. Ich würde mich also sehr freuen, nachher mit dir Rec zu gucken. Und Chinesisch geht sowieso immer.“ 
Na toll. Am Schlimmste fand ich, dass ein viel zu großer Teil von mir einfach nur erleichtert über sein zufriedenes Lächeln war. Dicht gefolgt davon, dass sich derselbe Teil ein bisschen zu sehr darauf freute, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
„Lass bloß Thomas nicht hören, dass du an einem Freitag nichts vor hast“, sagte ich, um meine undefinierbare Laune zu überspielen, „sonst hält er dich auch noch für einen Stubenhocker.“
Mischa zuckte mit den Schultern. „Finde ich nicht schlimm. Jeder ist halt so, wie er ist.“
Ja, und ich war ein Idiot.
„Wollen wir weitermachen?“, fragte er und deutete auf mein Heft.
Ah ja, da war ja noch was.
„Muss noch kurz aufs Klo.“ Er nickte, ich stand auf und ging um den Tisch herum und aus der Küche. Ich war schon im Flur, als er leise seufzte:
„Du machst es einem echt nicht einfach.“

***

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