Während ich auf Fee wartete, fiel mir ein, dass es vielleicht höflicher
wäre, Rubin Bescheid zu geben, wann ich etwa bei ihm sein würde. Ehrlich gesagt
hatte ich große Lust, es aus Trotz sein zu lassen und einfach irgendwann bei
ihm aufzutauchen, aber sogar ich wusste, wie kindisch das Verhalten wäre. Und
wenn ich ganz, ganz ehrlich war (etwas, das mir meist Kopfschmerzen bereitete),
dann wusste ich, dass er an dem Streit mit Mum keine Schuld
trug – noch nicht einmal indirekte, denn er konnte ja nicht wissen,
was für ein Mensch sie war und wie sie auf die Idee mit der Nachhilfe und sein
freundliches Getue reagieren würde. Bei Hera, noch nicht einmal ich hatte das
vorausgesehen und ich war seit über siebzehn Jahren ihr Sohn, die Zeit in ihrem
Bauch nicht mitgerechnet.
Also rechnete ich noch einmal kurz nach, wie lange das Kino dauern würde,
dann die Busfahrt zu ihm, plus ein Abstecher in den nächsten Supermarkt, und
schrieb ihm eine kurze Nachricht. Seine Antwort war ebenso kurz, aber irgendwie
schaffte er es, sich dabei trotzdem auf die desinteressierteste Art, die mir je
begegnet war, für die Benachrichtigung zu bedanken. Wenigstens konnte ich nun
meine dicken Handschuhe wieder anziehen.
„Vyvyan!“ Fee kam auf mich zu und rannte die letzten paar Schritte. „Hast
du lange gewartet?“
„Keine zehn Minuten“, erwiderte ich und zog sie an mich, küsste sie. Und
wie immer, wenn ich sie küsste, richtig küsste, schmiegte sie sich sofort noch
näher an mich und legte die Arme um meinen Hals. Und wie immer war Fee zu küssen – nun,
wie immer eben. Es war angenehm, es gab mir ein warmes Gefühl im Magen, aber da
war kein Feuerwerk und es war nichts, ohne dass ich nicht leben konnte. Aber
was hieß das schon? Das waren doch sowieso nur Übertreibungen, die man uns in
Büchern und Filmen vorsetzte, damit wir uns schön danach sehnen konnten und
brav weiter neue Bücher/Filme darüber kauften, unser Leben lang, denn im richtigen
Leben begegnete man so etwas eben nicht. Küssen war schön, keine Frage, aber
nichts Weltbewegendes. Und daran würde ein anderer Kusspartner nichts ändern:
Beim Küssen brauchte man schließlich nur Lippen und Zähne und Zunge und bei
diesen Dingen unterschieden sich Männchen und Weibchen nicht, solange die
Weibchen intelligent genug waren und sich nicht mit Lippenstift
oder – noch schlimmer – Gloss einschmierten. Also sollte es
mir, rein logisch betrachtet, bei beiden gleich viel Spaß machen.
… Natürlich würde ich die Theorie nicht auf die Probe stellen. Es wäre Fee
gegenüber auch unfair, denn so wie Rubin Samstag rangegangen war, war er nie
und nimmer unerfahren. Und Fee, nun … soweit ich wusste, hatte sie
sich mit Beziehungen bisher zurückgehalten. Außer ihrem Exfreund hatte es da
nur einen anderen gegeben, aber das war in einem Alter gewesen, in dem man
Küssen noch mit Sex gleichgestellt hatte. Wenn mir bei ihren Küssen also etwas
fehlte, dann gab es eine einfache und direkte Methode, dem Abhilfe zu schaffen:
Mit ihr zu üben.
Vielleicht hatte ich beschlossen, bald mit ihr Schluss zu machen musste,
aber noch war ich ihr Freund. Und sie hier. Es sprach also nichts gegen
ein bisschen üben.
Ich intensivierte den Kuss, ließ ihn ein bisschen heftiger, ein wenig
leidenschaftlicher werden, und Fee ging darauf ein, was ich als guten Anfang
betrachtete. Doch, vielleicht würde das doch noch etwas werden, mit dem Küssen.
„Das habe ich vermisst“, flüsterte ich in ihr Ohr, als ich mich schließlich
von ihr löste.
Sie lachte und flüsterte zurück: „Nur das?“
Ich grinste, sah sie einen Moment an und gab ihr dann einen Eskimokuss.
„Natürlich, was hast du denn gedacht? Wir sind schließlich nur zusammen,
weil ich deine Lippen so unwiderstehlich finde – du hattest da auch
kein Mitspracherecht, wenn ich dich erinnern darf.“
Sie boxte mich leicht in die Schulter und schürzte die Lippen. „Fieser
Kerl!“
„Fieser Kerl? An deinen Beleidigungen musst du echt noch arbeiten.“
Ich zwinkerte ihr zu, legte dann den Arm um sie und fragte: „Und, worauf hast
du Lust?“
„Da du mich einlädst: Aufs Ritz.“